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III.

Vetter Wilhelm war kein Schuster, sondern ein Musselinweber. Ob ihm der Musselin in Wolle oder Baumwolle, in pure laine oder laine coton besser gelang, weiß der Neffe nicht zu bestimmen, aber es lebte in diesem kleinen vertrockneten Männchen ein seltener Geist, vor allem ein Gottvertrauen und eine spekulative Mystik, die ihn zu einer der merkwürdigsten Personen macht, deren Kunde nur in ein junges Menschenleben dringen kann. Wenn wir die Kunst der Musselinweberei der Stadt Moßul in Mesopotamien verdanken, so lebte der Vetter in seinem Webstuhle auch wirklich nur wie in Mesopotamien. Seines Geistes Heimath waren die öden Steppen des Euphrat, die grünen Triften des Tigris. Von den Früchten des Oelbaumes und den Datteln der Palme, ja selbst von Heuschrecken, wie Johannes in der Wüste, hätte unser Vetter allein leben können. Der kleine, magre, dürre, ewige Junggesell hatte schwarzumbuschte, feurige Augen. Sein Blick war voll Geist und Leben, seine Rede scharf und sicher, aber zurückhaltend, da sich ja zuviel des Heidenthums und der Weltlichkeit in üppiger Selbstsicherheit unter den Menschen bewegt. Vetter Wilhelm war seinem innersten Wesen nach ein aufrichtiger, von jeder Heuchelei entfernter, wirklich gläubiger Pietist aus der alten Spenerschen Schule und das mit theologischem Anstrich. Er kannte vollkommen Jacob Böhme, rühmte dessen Glauben und tadelte nur das Uebermaaß seines Witzes und das Spiel seiner Phantasie. Der Vetter hatte nicht die Spur von einem Kopfhänger, sondern lachte über jeden guten Spaß und seufzte nur, wenn er die reine Weltlichkeit der meisten, auch der guten Menschen so gar sicher sich ergehend sah. Keinem Unchristlichgestimmten war er etwa in offener Feindseligkeit gram. Er ließ die ganze Mannichfaltigkeit des Lebens und das Durcheinander dieses Menschengewühls gelten und wünschte nur, daß immer mehr bei Seite treten, immer mehr in ihr Kämmerlein gehen und vor Christo, dem Seligmacher, ihre eigne »Selbstgerechtigkeit« bekennen möchten. Es war die Wiedergeburt, für die er nicht etwa richtend und eifrig, ketzermacherisch, sondern still und gelassen Proselyten warb. Er begnügte sich, wenn er rathlose Zustände, blinde Leidenschaft und ihre Folgen sah, aus dem Winkelchen heraus, wo er saß und seine Pfeife schmauchte, die Achseln zu zucken und mit ruhiger Gelassenheit zu sagen: »Das ist es, wenn man Jesum Christum nicht erkennt!« Vetter Wilhelm theilte alle Menschen in drei Klassen: in Solche, die wiedergeboren sind, in Solche, die ihren Tag von Damaskus noch erleben würden und in Solche, die »dahinfahren.« Die letztere Klasse war ihm leider die große Mehrzahl aller Menschheit. Und er mußte leider nicht nur die Völler, die Säufer, die Lügner, die Ehebrecher allein zu den Dahinfahrenden rechnen, sondern auch so viele Vornehme, die Reichen, die Gewaltigen und die, denen es am Schlimmsten von Allen ergehen würde, die berühmtesten Schriftgelehrten und bewundertsten Hohenpriester und Pharisäer. Der Stall-Thurm lag dicht an der Universität. Unter ihren Professoren, wenn sie so selbstzufrieden aus ihren Collegien kamen, waren Wenige nur, die für den Vetter nicht zu den Dahinfahrenden gehörten. Dabei sei aber ausdrücklich bemerkt, daß er nicht etwa in blinder puritanischer Bibelklauberei so sicher sprach, sondern daß er ein in seiner Art gelehrter Mann war, wenigstens die ganze Geschichte Roms, Griechenlands, der Deutschen und der Franzosen kannte. Er hatte, so arm er war, sich die Uebersetzungen der Schriften von Pascal und Bossuet zu verschaffen gewußt. Er kannte Schröckhs Weltgeschichte, hatte alle nur erdenklichen Erbauungsschriften von Spener, Arndt, J. V. Andreä an bis zu den neuesten Werken von Neander, dem Berliner Strauß, Lisco, Conard, besonders aber dem Convertiten Goßner gelesen. Er kannte nicht nur Sokrates und die Allgemeinheiten der altgriechischen Philosophie, nicht nur manche Schrift von Jacob Böhme und Einiges von Tauler und den Scholastikern, sondern sogar allgemeinste Umrisse von Schelling und Hegel, bei denen er natürlich nur den ohnmächtig sich abmühenden Menschenwitz und ein gelehrtes Heidenthum belächelte. Er verwelschte dabei die wissenschaftlichen Ausdrücke auf die sonderbarste Art; doch ahnte er, was Subject und Object, Idealität und Realität heißen sollten. Auch in der Politik stand er weit über den Berliner Zeitungen. Es hat lange gewährt, bis der Knabe sich über eine seiner stehenden Terminologieen klar werden konnte. Sie hieß: »die Propriande«. Schon dem Kinde stellte nämlich der Vetter den Lauf der Welt im apokalyptischen Sinne dar. Er prophezeite mit ruhig lächelnder, unerschütterlich sicherer Ueberzeugung alle Weltalter nach der Offenbarung Johannis. Das große siebenköpfige Thier, mit dem die Könige buhlten, war ihm Rom, der Papst, der Antichrist; Napoleon war ihm eines der größten Zeichen, die »der Wiederkunft des Herrn« vorangingen. Die »Propriande« nun arbeitete nach des Vetters Auslegung für die Zukunft des Gerichts, für den allgemeinen Sieg des Antichrists, dessen Zeit erst voll werden müsse, bis die Zornschaalen überliefen. Vetter Wilhelm verstand unter dieser Propriande, dieser wühlenden päpstlichen Genossenschaft, die Propaganda, und zwar in dem doppelten Sinne der reinrömischen und der weltlichpariserischen Propaganda. Die Propriande, die Krug in Leipzig bekämpfte, und die, die der Minister von Kamptz verfolgte, war ihm eine und dieselbe, die Jesuiten und die Turner, die an der Hausvogtei wagenweise abgeladen und wagenweise nächtlich nach Köpenick gebracht wurden, waren ihm Aeste und Ausläufer desselben Baumes, der in Rom wurzelte; die Aeste wußten es nur nicht. Vetter Wilhelm war ein Meister in der Kunst, alle Erscheinungen der Geschichte auf die einzelnen Zahlen und Begriffe der Apokalypse zu deuten. Er las auch nur darum in weltlichen Büchern, um überall das wiederzufinden, was ihm wie Felsen so fest in der Offenbarung Johannis und Bengels Auslegungen stand. Jeder große Factor der Geschichte hatte bei ihm seine apokalyptische Zahl. Gregor, Innocenz, Friedrich der Hohenstaufe, Papst Leo, Wallenstein, Friedrich der Große, Voltaire, Napoleon, alle waren ihm stigmatisirt schon in der Geburt mit irgend einem Zeichen aus jenem Buche aller Bücher, von dem er nur bedauerte, daß sein Erklärer Bengel aus Ungeduld, die Wiederkunft Christi zu beschleunigen, in seinen Auslegungen Sprünge gemacht hätte, die durch die unendlich reiche gegenwärtige apokalyptische Zeit sich als übereilt erwiesen.

Wenn Vetter Wilhelm »keine Arbeit« hatte, schlief er dicht in der Nähe der Kinder. Er war zünftiger Meister seines Gewerbes, hatte aber mit dem ersten »Stuhle«, auf dem er für eigne Rechnung Musselin zu weben begann, Unglück und konnte sich in Zukunft nur noch als Gesell zu andern, meist fast eben so armen Meistern halten. Wenn der Vetter zu lange arbeitslos gewesen war, auch zu lange das Herz im Bruche der getäuschten Erwartung zucken mußte, so hörte der Knabe oft des Nachts ein so laut aufseufzendes, jammervolles Athmen neben sich, daß er davon erwachen mußte. Es rangen sich dann die tiefsten Wehrufe von des armen Vetters Herzen und ein fast hörbares Klopfen seiner Brust steigerte sich so, daß er zuletzt laut betete, und das fast so, als wüßte er selbst nichts von seinen Worten. Der Erzähler hört ihn noch jetzt, wie er in einer Nacht, wo sein Schmerz den neben ihm Schlafenden geweckt hatte, mit auf der Brust gefalteten Händen sprach: »Du, mein Heiland, nimm mich zu dir, so es dein Wille ist! Laß mich in meines Herrn Freude eingehen, so es dein Wille ist! Laß mich sterben, o mein Gott, und deine Herrlichkeit schauen, so es dein Wille ist!« Zitternd rief das Kind: »Vetter, schlafen Sie denn nicht?« Er schwieg. Er hatte den Anruf nicht gehört. Es war, als lebte sein Geist schon gelöst in fremden Welten. Diese Nacht blieb dem Kinde unvergeßlich. Doch lebte Vetter Wilhelm noch viele Jahre darnach. Er nannte solche Zwiesprache mit Gott »das Gebet im Kämmerlein.«

Die Schwester eines so stillen und sinnigen Bruders mußte dem stürmischen Charakter des Vaters eine imposante Ruhe entgegenstellen. Aber diese Ruhe war nicht Phlegma, nicht einmal Selbstbeherrschung, es war vielmehr die Ruhe, die eine nicht minder lebhafte Beweglichkeit giebt, aber die Beweglichkeit eines Gemüths, wo Verstand und Herz im glücklichsten Gleichgewicht leben. Es ist hier von armen geringen Menschen die Rede, und wirkt es nicht wohlthuend und beruhigend, wenn wir in den Urquellen des Volkes so viel Reinheit, Lauterkeit und ohne alle wissenschaftliche Bildung einen doch immer flüggen Verstand antreffen? Es darf uns nicht gegenwärtig genug bleiben, was wir im Volke auf die meist allein geschilderten Ausnahmen von der guten Regel doch im Großen und Breiten noch so viel Grundstoff und ächte Bodenkraft unsres Lebens verbreitet antreffen. Der Autor spricht von allen diesen Menschen nicht, weil sie in Beziehung zu ihm standen, sondern weil er meinen muß, es kann nur Freude gewähren, so auch einmal in das Gewöhnlichste und Unbelauschteste, des Lebens einzublicken.

Diese Mutter hatte fünf Kinder, von denen zwei früh starben. Sie war klein, von zarter Haut, sanften Gesichtsformen und einer Lebhaftigkeit der Mienen, die Freude und Schmerz, Furcht oder Liebe, Theilnahme oder Abneigung im Augenblick wiedergaben. Weiter aber als bis zur Miene erstreckte sich die Leidenschaft dieser immer regen Natur nur dann, wenn Beherrschung eine Niederlage gewesen wäre. Sonst ein immer strahlendes, bald dunkles, bald helles Auge, immer blitzend, die Gedanken fast mit einem eignen Blinken begleitend, einem Nicken, wo Zustimmung, einem Zusammenziehen des Auges, wo Abneigung verrathen wurde. Aber Alles verrieth sich nicht so bald. Die gutmüthigste Schlauheit ließ hier einen Narren plaudern, bis er ermüdet war und behielt sich doch die eigne Meinung, ohne darum eine andre falsche herauszuhängen. Die erlaubte List der Diplomatie wurde hier eben so klug geübt, wie die unerlaubte verabscheut. Ruhig wurde entgegengenommen, was des Andern Absicht und Begehr. Stimmte sie nicht mit den eignen Wünschen oder Verhältnissen, so war die Abweisung kurz und bündig. Für neutrales Verhalten gab es sanfte und milde oder nur kurze, zum Abwarten rathende Worte. Der Befreundete wurde mit frohem herzinnigem Gruß empfangen, ohne Ueberschwall. Kam diese Mutter zu Andern, so brachte sie vor Allem sich selbst mit, und das galt mindestens so viel, wie ein ganzer Korb voll Neuigkeiten. Trotz der langstrichigen Haube, die sie trug, und trotz des kattunenen Kleides oder grobwollenen Ueberrockes war es eine Person und ein Wesen, das sie darstellte. Bescheiden gegen Vornehme und doch nicht unterwürfig. Nie zudringlich, nur zutraulich. Schnell gleich dem Menschlichen nahe und für Jedes Freud und Leid gewonnen. Hülfreich, aber nach dem Maße des Könnens, am liebsten mit der eignen Person dienend bei Kranken und Gebrechlichen. Bei einem weinenden Kinde auf der Straße nicht nur Trost spendend, sondern auch Nachfrage haltend, Untersuchung, Strafe oder Drohung äußernd gegen die Bedränger. Immer prüfend und auf der Hut gegen alles, was Schlimmes von Menschen oder vom Schicksal überhaupt kommen kann. Im Sommer Sorge für den Winter, im Winter Sorge für den Sommer. Dem eignen Blut oder dem Gatten in gesunden, fröhlichen Zeitläuften ein scharfes Auge, oft mit schmählendem und lärmendem Munde über Thörichtes, Unerlaubtes, Willkürliches, oft auch genug strafend, dann aber mit vollem Ausbruch des eignen Ingrimms, nicht etwa mit pädagogischer Kühle oder dem grausamen, sogenannten »kalten Blute«. Wiederum dafür in Krankheit, beim geringsten angewehten Uebel oder auch nur bei Hülflosigkeit, und wäre der Jammer von einem fehlenden Knopfe gekommen, eine überströmend helfende Heilige, in allen Händen dann Rath und That und zuthunliche Liebe.

Diese Mutter konnte nur lesen, nicht schreiben, und kannte von wissenswürdigen Dingen nichts, als die nächste Sphäre ihres Lebens und einen kleinen Hausschatz von Kinderliedern, mit denen sie ihre Lieben zu wahren Paradiesesträumen einzusummen wußte. Je weniger sie auf dem Wissen ausruhte, je weniger sie für ihren Verstand konnte die Schule eintreten lassen, desto ureigner mußte auch ihr Geist wirken. Bei begabten Naturen ist das Wissen eine Waffe, bei minderbegabten oft ein niedergerissener Wall. Begabte, die nichts wissen, verschanzen sich mit sich selbst. Ihr Horizont ist eng, aber klar und rund übersehen. Diese Mutter hatte keine Vorstellung von der Größe der Welt und der Verschiedenartigkeit der Menschen und Sitten. Sie ging auf Fernes, Fremdes nie besonders wagsam ein und fragte in aller Gelassenheit: »Ob doch in Wien auch eine Spree wäre?« Das aber, was ihr scharfes Auge erreichen konnte, lag ihr dann auch um so klarer und offener vor. Sie war des Gatten unmittelbarer Gegensatz. Der immer schweifend, sich sehnend, unruhig, wie ein Strichvogel hin- und herschießend, voll Enthusiasmus, voll Liebe, voll Zorn, je nachdem; sie die Maaßhaltende, Besonnene, Vernünftige, Zügelnde und Lenkende. Es fehlten die heftigsten Conflicte nicht. Die Gutmüthigkeit und die Gewöhnung lösten sie immer glücklich wieder auf.

In einer solchen Welt, umgeben von so bunten Eindrücken erwachte des Kindes Bewußtsein mit jener Unbestimmtheit, die die Natur des Traumlebens ist. Das Wirkliche und Unwirkliche rinnt in erster Kindheit zusammen. Eine logische Aufeinanderfolge des allmäligen Erwachens aus dem vegetativen Leben wird sich Niemand nachrechnen können. Nur so einzelne Lichtstreifen fahren in der Erinnerung, oft bis zum Greisenalter bewahrt, über diese erste Nacht des schlummernden Bewußtseins. Es sind Erinnerungen das vom Zufälligsten und für die allmälige Menschwerdung vielleicht Unwesentlichsten. Oder bedingten grade diese unwesentlich scheinenden Lichtblitze doch die ganze spätere Hellung? Wer in seine erste Jugend zurückgreift, Momente festhalten will, was hält ihm Stand? Nichts von dem, was ihm vielleicht Andre erzählen von seiner Art oder Unart, er hascht nur kleine fliegende blaue, rothe, grüne Flecken, wie Einer, der in die Sonne gesehen. Wie summt und singt das im Ohr von den Liedern, die man auf dem Mutterschooß vernahm! Wie gegenwärtig ist der Glaube an den »Reiter zu Pferd,« den »Hobermann,« den man »mit blanken Stiefeln« auf dem Mutterknie spielen durfte! Wie heimisch ist man in dem baum-nest-vogel-eierreichen Zauberlande, das sich ankündigte: »Muhme Reelen hat 'en Garten, hier 'en Garten, dort 'en Garten, und das war 'en runder Garten!« Ein gewaltiges Erlebniß wird sich freilich festhalten. Daß den Knaben eine Schwester auf ihrem Nacken reiten ließ, der Reiter aber niederstürzte, im Blute schwamm, lebenslang davon Narben behielt, steht selbst nach dem Orte noch, wo der Unfall geschah, vor dem Auge des damals Dreijährigen. Aber sonst sind die Erinnerungen bunt durcheinandergewürfelt und knüpfen sich an Spiele, Natureindrücke, Geschenke, Ueberraschungen, Besuche, heftige Strafen, besonders die ungerecht erlittenen, an. Zwischendurch tönt eine eigne Melodie, wie ein ewiges Klingen. Es ist das eine so eigne Musik, die uns aus der Jugend herübertönt, wie wenn man große Meermuscheln ans Ohr hält und ein räthselhaftes Brausen hört, das von fernen Welten zu kommen scheint.

In stillen wehmüthigen Stunden des Alters ziehen die zitternden Klänge der ersten Jugend an uns vorüber. Es sind so glückliche, traumselige Klänge und Empfindungen, wenn sie auch von Dingen herkommen, für deren Aeußerung unsere Sinne jetzt sich völlig abgestumpft haben. Das Liegen im Grase! Haben unsre Geruchsnerven noch den Reiz, die Düfte nachzuempfinden, die dem Knaben die langen Blätter der Grashalme ausströmten, die gelben Butter- und Kuhblumen, die zarten Gespinnste des Löwenzahns, dessen Kronen man im Alter nur noch abbläst, um die Lungenkraft zu prüfen, in der Kindheit aber, um einfach zu zeigen, daß man »Lichter ausblasen« könne und aus dessen weißsaftigen Stengeln man sich Ringelkränze windet? Hat man noch Appetit für jenes Kraut, dessen abgewirbelte Saamenstengel man wie die Ziegen selber zerknirschte und vor allen für jene wie Salep schmeckenden abgeschälten Fruchtknoten, die die Kinder, unter Schafgarbe und Camillen suchend, »Käse« nannten? Hat unser Ohr noch einen Reiz für das Rascheln von welkem Laub, mit dem man im October und November sich Hütten, Stuben, Kammern baute und traulich sich einnistend in ihnen lagerte, bis die Pedelle der Universität kamen und die Vorsteller dieser Jung-Iffland'schen Familiengemälde unter den entlaubten Bäumen des Kastanienwaldes mit dem kritischen Stock verjagten? Alle Reize unsrer jetzigen Sinne würden diesen Scenen keinen Genuß mehr abgewinnen. Was hört nicht alles das Ohr des Kindes mit Behagen, ja mit Wollust! Das einsame Sägen in einer Holzkammer, wie dringt das zum lauschenden Kinde so feierlich sicher und majestätisch konsequent herüber! Alle Lehrworte, zum Fleiß ermahnend, wirken nicht soviel wie ein solches stilles Beispiel von hin- und herfahrender, treuer Ebenmäßigkeit, wie z. B. auch vom Heckselschnitt auf dem Stallboden. Man erinnere sich: Das Bersten des ersten Wintereises auf den Straßen unter dem vorsichtig prüfenden Fuße! Das Knirschen des gefrornen Schnees! Das Aechzen der Lastwägen über ihm her! Wie seligen Sinnenreiz gewährt das Ausschütten und Rütteln von Wallnüssen zur Weihnachtszeit! Die Vorstellungen, die sich mit diesen Lauten verbinden, sind es nicht allein, die uns wohlthaten, es sind die Laute selbst. Zu grelle Töne verwundeten das Ohr; fast physisch. Der musikliebende Mann konnte als Kind die Violine nicht streichen hören, ohne vor Schmerz zu weinen, aber vor wirklichem physischem Schmerz. Der langgehaltene Strich der Geige schien so sehr eine Resonanz im Unterleib zu suchen und zu finden, daß dieser sich ordentlich krümmte und die Eltern von jedem Tanzorte, wo sie gern zusahen, fern hielt. Alle Sinne des Kindes sind noch im reizbarsten jungfräulichen Zustande. Alles Blitzende und wären es zertretene Glasscherbenatome auf dem Straßenpflaster, reizt sie wie Diamanten. Eine Zeichnung gefällt dem Kind an sich schon. Es ist ein Luxus, sie zu illuminiren. Die bunten Bilderbücher, so gar grell ausgemalt, stumpfen den Farbensinn des Kindes eher ab, als sie ihn heben. Welche Phantasie weckt auch ein unausgetuschter Bilderbogen! Der getuschte übersättigt. Man lasse dem Auge seine Lust und gestatte dem Kinde, aus dem bunten Kasten die Farben zu wählen, die ihm die wohlthuendsten sind und malte es den Soldaten auch grüne Stiefeln und den Rittern rothe Helme; die Welt, die der Wirklichkeit entspricht, findet sich schon. Man lasse sie, ohne pedantische Belehrung, durch diejenigen Anschauungen hindurch sich entwickeln, die dem Kinde die liebsten sind. Des Kindes Ohr findet mehr Wohllaut im Spatzenlärm, als im Gesang der Nachtigall. Es liebt die rüstige, rührige Welt, die sich rüstig und rührig austönt. Eine Wassernachtigall von Porzellan, die mit aufgegossenem Wasser beim Blasen einen schmetternden Ton giebt, war dem Knaben Anfangs noch lieber, als die wirklichen Sprosser, die sich die Nachbarn hielten, oder die eigne Lerche, die in einem dunkelverhangenen Käfig ihre Sehnsucht nach dem Felde auswirbelte. Für Lerche und Nachtigall kommt das Ohr erst aus dem reisenden Herzen. Das Kind wälzt sich im Heu und Stroh mit einer Lust, die nicht blos ihre Quelle in der Ausgelassenheit selbst hat. Es strömen ihm aus Heu und Stroh Düfte entgegen, die das wahre Doppel-Patschouli und Luxus-Arom der Jugend sind. Das Naschen, das wir aus moralischen Gründen bestrafen, entspringt beim Kind meist aus physischen. Es liegen in Nüssen, Aepfeln, Birnen, in gedörrtem Obst so namenlose himmel- und höllenverlockende Wohlgeschmäcke, wie unsre Gaumen gar nicht mehr empfinden, während wir andrerseits jetzt Gefallen an Speisen haben, die dem Kinde immer widerstanden, besonders alles Schlüpfrige, Glatte, Gleitende, Molluskenartige, wozu gewiß bei den meisten Kindern der Kohlrabi und die in Fleischbrühe erweichten Kartoffeln gehören.

Und du, heilige Einsamkeit! Wie wiegst du die Kindesseele in überirdische Träume; nein in irdische; denn das Kind denkt sich grade hier, hier auf Erden noch Alles möglich. Der Erzähler war ein Virtuose im Alleinsein. Der Bruder Soldat geworden, die Schwester in der Schule, der Vater im Dienst, die Mutter zu Aller Nutzen auf dem Markt. Was grübelt da nicht, eingeschlossen im Zimmer, einen hohen Fenstertritt erkletternd, hinausblickend auf eine nicht allzubelebte Straße, hinter dem Käfig der Lerche, hinter Blumenstöcken und an Fäden rankender türkischer Kresse, ein Kinderherz! Durch ein verpapptes Fenster schnoberten dabei die Rosse und rissen an ihren Ketten oder im großen Säulenstall lärmte die Trommel und gewöhnte die Thiere an kriegerische Welt. Wo ließ sich schauerlicher träumen, als innerhalb der großen Gebäulichkeit der Akademie, dicht unter dem Präparirtische der Anatomie, wo auf einer grünen kleinen Rundung die zu lüftenden Betten oder die trocknende Wäsche der einsamen Hut des Knaben taglang überlassen blieben! Die Cürassier- und Uhlanenrosse wieherten zwar dicht in der Nähe oder tummelten sich dicht daneben auf dem Sande im Kreise, aber Mittags wurde es doch still und gegen Abend traten die Sagen deutlich genug vor die Phantasie des Wächters, die Sagen von manchem dort oben noch wimmernden Selbstmörder, von manchem nächtlichen Hülferuf aus den großen, jetzt so vom Abendlicht durchblitzten Fenstern des Schlachtsaales, von manchem, der wieder erwacht war, an Stricken sich herabgelassen hatte, stürzte und doch geopfert blieb! Dort krächzten die Raben auf Bodes Sternwarte, wo die golden blinkende Himmelskugel ihrer Prachtliebe eine willkommene Behausung schien. Oder auf den jetzt mit Neubauten ganz verdrängten großen umzäunten Wiesen der Georgenstraße – früher Katzenstieg genannt – und des »Bauhofs« fanden sich stille Plätze zum hingestreckten Dämmern an einem moosbewachsenen, umgestürzten und defecten, hieher verirrten Garten-Amor, hinter Remisen und Schobern, unter Kraut- und Lattich- und Brennnesselnumwachsenen Brettern und Ballen, überall wo es nur etwas zu kauern, zu bauen, zu spielen, den Großen nachzuahmen gab. Das Winkelleben der Jugend weckt die ersten Regungen des Bewußtseins, die ersten Regungen der Sehnsucht nach künftigen Zielen. Wer stets das Auge auf seine Kinder oder seine Zöglinge wachend und sie immer und immer beschäftigend gerichtet hat, wird Maschienen erziehen. Die Jugend muß ihre Heimath kennen, wo sie zu Hause gehört. Aber die kleinen Nester, die sie sich da und dort in der Stille selbst schon aufbaut, darf man ihr nicht zerstören. Sie brütet dort ihr selbständiges Leben, ihr Bewußtsein, ihre Zukunft aus.

O kennt ihr die heiligen Schauer, die zuweilen plötzlich, Ihr wißt nicht wie, Eure Seele durchrieseln? Kommen sie Euch in den Jahren der Reife, so sind es, gewiß nicht anders zu deuten, die Vorahnungen des Todes, die entschleierten Geheimnisse der übersinnlichen Welt. Kommen sie aber in den Jahren der Kindheit, so sind es die entschleierten Geheimnisse des Lebens, die Vorahnungen von der Größe der Welt. Das Kinderherz sinnt und träumt. Es schafft aus Sonnenstäubchen sich zauberische Welten. Wie genügt ein kleines Spielzeug seiner Phantasie, wie ergänzt der verschönerndste Gestaltensinn, ein bergeversetzender Glaube, in den großartigsten Umrissen das Kleinste, Häßlichste, Unbedeutendste! Des Kindes Auge sieht nicht wie das Auge des Erwachsenen. Was ein Stäbchen mit einem Lappen ist und eine Fahne sein soll, ist ihm eine wirkliche Fahne, die prächtigste, die etwa dem Heere des Propheten nur je von Gold und Seide vorangetragen wurde. Ein ausgestopfter häßlicher Balg ist dem Kinde kein Surrogat für das Schöne, sondern selbst etwas Madonnenschönes. So reich weiß es aus sich zu borgen, aus seiner Einbildungskraft, seinem Herzen zu entlehnen. Unendlich weit ist der Blick ins Leben von der kleinen Warte der ersten Umsicht aus. Redet dem Kinde von Gott, dem Himmel voll seiner Englein; es mag doch nicht gern sterben. Die Furcht vor dem Tode erfüllte wenigstens unsern Knaben oft quälend wie einen Verbrecher. Wie kam ihm nur diese entsetzliche Angst vor dem zu frühen Uebergang in ein himmlisches Leben, das er doch so gut kannte! Er kannte doch den Eingang des Himmels, wo Petrus mit dem Schlüssel stand. Wie oft klopfte er im Geiste schon an das Wolkenthor und dachte sich das Haupt des Apostels durch die Pforte lugend. Wer ist da? Ein kleines Kind! Er wußte, wie sich das Thor öffnet, wie die Wege links und rechts so verklärt, so lichtumflossen aufwärts gingen und eine wunderherrliche Musik den Kommenden begrüßte. Er sah den dreieinigen Gott, so schön, wie ihn drüben die Malersäle zeigten, er fühlte sich angeredet und geliebkost von dem in blauen und rothen Gewändern strahlenden Heiland und doch ängstigte ihn der Tod. Die Furcht vor der Hölle und vor der doch immer ungewissen möglichen schlimmen Entscheidung drückte vielleicht, aber noch beklemmender war das Gefühl der Entsagung. Diese Erde, so groß und so schön! Diese Welt, so rauschend, so herausfordernd zur That, so reizend zur Bewährung! Bei jedem Krankenlager bat der doch im Himmel wie in den Berliner Kirchen gleich heimische Knabe: Nur nicht sterben!

Es zittert als wehmüthige Ahnung im Alter nach, was dem Knaben Dinge bedeuteten, die ihm jetzt die gleichgültigsten sind. Muscheln! Diese schlanken hohlen Ovale mit den blanken Perlmutterrändern! Paßten sie gar aufeinander, welch ein seliges Zusammenklappen! Kastanien! Grüne Dornenhülsen und der braunglänzende »scheckige« Kern! Schmetterlinge! Unter den Fichten der Hasenhaide, auf dem dürren, glattgetretenen Sand- und Nadelboden gab es herrliche Trauermäntel und Todtenköpfe. Selbst der Fang der gemeinen, einfachen, gelbweißen »Kalitte« mit den abfärbenden Flügeln machte schon glücklich. Schilfrohrblätter: lang, scharf, schneidend durch die prüfenden Finger gezogen! Fische, daumengroß, am Spreeufer mit freier Hand gefangen, scharfbewehrt mit zwei Stacheln, Ikleie oder Steckerlinge genannt, einen Moment in der Hand zappelnd, lustig, fast gefährlich, dann todt und dann sogleich reizlos! Ein Vogel, gefangen nach tagelanger, wochenlanger Fallen-List! Endlich das warme, unter den Federn klopfende zarte Leben in der Hand, ein Königreich gewonnen; aber wie elektrisch unruhig ist das Thier, wie den Kopf um sich werfend, wie die Krallen rund einziehend, wie zermartert durch Rathschlagen über seine gefangene Zukunft, wie durch die Wärme der liebenden und doch gewaltthätigen Hand schon abgemattet und zuletzt nach tausend Plänen die Freiheit gewinnend, da – neue Kostgänger von der Mutter verbeten werden! Und ein Lamm, irgendwo durch ein Gitter blöckend, eine Ziege an Nesseln nagend, ein Kaninchen, wühlend unter Kohlstrünken in einer Küche! Diese Welt, nur noch einmal nachempfunden in den Schicksalen Robinsons, noch einmal aufblitzend aus den Augen seines geliebten Lama's! Das erste gehörte Märchen vollends war dann gradezu die ganze Weltgeschichte.

Und du stillbeseligtes Aufblicken zum Sternenhimmel! Da glitzern dem Kinde die Tausende von Himmelsleuchten im weißen funkelnden Zitterschimmer, glitzern wie Thautropfen im Sonnenschein, und oft ist es, als bewegten sie sich wie Lichter im Zugwinde. Daß diese Sterne Welten sind, faßt der an diese Erde gebannte Kindessinn nicht gern. Wie könnte außer dieser großen Erde mit ihren Millionen von Menschen, mit ihren Strömen, Gebirgen und Meeren noch eine Existenz vorhanden sein, in der das Erdenleben wie ein Tropfen verschwände! Nein, dem Kinde ist die Erde der liebste Aufenthalt Gottes, der Schemel seiner Füße. Jene Strahlenpracht des Himmels ist ihm nur die äußere Zier und Herrlichkeit des im Freien schwebenden Wolkenthrones. Unter allen Sternen sucht sich das Kindesauge den funkelndsten aus und nennt ihn den Stern des Morgenlandes. Das ist der Wegweiser, der die Weisen einst nach Bethlehem geleitete und über der Krippe mit dem Jesuskinde stille stand. Dies Wandeln und Stillestehn eines Sternes, dies Führen und Leiten, dies Wissen von einem Sterne um eine Begebenheit der Erde und der Himmel übertrug sich bald auf alle diese stillen Wächter der Nacht und niemals glaubte der Knabe allein zu sein, wenn er auch einsam stand und ging und nur die Sterne auf ihn niedersahen. Im Monde vollends suchte er die Züge jenes Mannes, der aus ihm niederschauen sollte und von dem man früh genug Dinge hört, die fast glauben machen könnten, er hätte es auf jeden Einzelnen der Menschen ganz allein abgesehen. Die Nacht lehrt uns den Tag verstehen, wie später das Denken über das Nichts das Denken über das Sein. Früh schon zitterten durch den Knaben die plötzlichen Schrecken von einem möglichen Nichtvorhandensein aller Dinge. Wenn diese Erde einmal nicht wäre! Wenn diese Sterne erlöschten, diese Fackel des Mondes verglimmte, die Sonne im Meere auf ewig unterginge und alles, alles verschwände und nur Gott bliebe, nur Gott, der Herr, der Schöpfer allein für sich. – Was wäre das? Was wäre dann? Wer wäre Gott? Der Gedanke war furchtbar, schwindelerregend, die Hand mußte sich aufstemmen, halten am Nächsten, das absolute Nichts zog den Boden unter den Füßen weg, es war ein Gedanke, der auch wenig über eine Terzie lang sich festhalten ließ.

Wie stark des Kindes Heimathstrieb ist, sieht man an der behutsamen Erweiterung der Kreise, die sich um den Mittelpunkt des häuslichen Heerdes ziehen. Ein größerer Umweg, den sich ein Kind erlaubt, um in seine Schule zu kommen, ist ein Ereigniß für seine ganze Entwickelung. Es dünkt ihn dieser Umweg sicher eine große That, ja nicht selten ein Wagniß, fast ein Verbrechen. Lange glaubte der Tropf, der Ausdruck: »hinter die Schule gehen,« bedeutete so viel, als wenn man, um in die Mittelstraße nach der Dorotheenstädtischen Kirche zu kommen, hinten herum durch die Linden und die jetzige Schadowstraße gehen wollte. Denn wie neu sind nicht die Eindrücke, die ein solcher Umweg zur Folge hat! Ganz andre Häuser, andre Menschen, andre Straßen werden erblickt und im Anstaunen und Angaffen verspätet sich wohl der kühne Columbus, der neue Welten sucht. Es entspricht diese Beklommenheit unsrer gezähmten sittlichen Natur. Das Thier des Waldes schweift quer über alle Stege und Wege hin, der Wolf mit eingeklemmtem Schweife rennend schlägt überall sein Lager auf, aber das Hausthier ängstigt sich ab, wenn es die gewohnte Welt nicht sieht. Diese allmälige Welterweiterung des Kindes geht so subtil von Statten. Da war das große Gebäude mit seinen Höfen allen. Aber es war ein Argonautenzug, wenn der Knabe einmal wagte, nur in die akademischen Hofräume zu treten und in die Fenster zu lugen, wo die Gipsabgüsse standen oder die Bücher der Akademiker. Der Garten der Universität, damals eingefriedigt von einer oft erkletterten Mauer, war ein erlaubter Tummelplatz, aber nur einige Schritte vorwärts an die Fenster, wo die Schleiermacherschen Vorlesungen gehalten wurden und eine große Uhr die Stunden ohrennervenzerreißend ankündigte, wagte sich der Knabe nur wie in einen verbotenen Hesperidengarten. Da, wo jetzt die Singakademie steht, floß früher ein Spreearm, bedeckt mit Floßhölzern, die die gemeinen Leute »Carinen« nannten, als hätte ihnen ein Professor den Namen gegeben. Welche herrliche, lange »Tafelbirnen« hingen in den jetzt Magnus'schen Gärten und links und rechts in denen des Finanzministers Kleewitz! Wer da hinaus sich wagte über die »Carinen«! Und in der That wurden die Spreearme »geschützt«, d. h. des Fischfanges und der Reinigung wegen ohne Wasser gelassen, so watete man wohl wie im Nilschlamm über die »Carinen« hinweg zu dem Abfall jener Gärten; gefahrvolle Unternehmungen, die meist mit Strafgerichten endeten. Die Welt wurde immer größer, immer weiter, immer reicher. Wußte man doch, daß der Regenbogen, der sich über dem Zeughause und dem neuerbauten Dome und den Pappeln des »Lustgartens« hindehnte, an seinen beiden zur Erde sich neigenden Enden Gold auffinden ließ. Warum nicht streben, hinauszukommen über die so enge Gränze der »Letzten« und der Mittelstraße! Aber jenseits der Dorotheenstädtischen Kirche, wo die neun Pathen im Kometenjahr Gevatter gestanden hatten, jenseits dieser Heimath wurde es schon höchst schauerlich. Da verbreitete gleich dicht an die Freimaurerloge Royal-York ein eigenthümlich düstres mystisches Wesen. Der große Garten dieses von Schlüter im idealsten Kommoden-Styl gebauten Hauses zog sich zur Spree bis an den unheimlichen Katzenstieg wie ein Mysterium. Hier war noch alles unangebaut, nichts als lange, einsame Strecken von Holzhöfen, nichts als Wiesen zum Bleichen und Trocknen der Wäsche ... Die äußerste bekannte Gränze seines Horizontes nach Norden wurde dem Knaben die Kaserne der Artillerie, wo der Bruder, ein sogenannter Freiwilliger, in Hoffnung auf die doch wohl bald losbrechende Kriegsfurie kanonirte, bombardirte und feuerwerkerte ... Dies Kasernenleben war dem Knaben das erste selbstständig sich regende »Anderssein« außerhalb der Prinzenställe. Die langen dunklen Gänge der Kaserne mit den numerirten Thüren, in der Küche unten Soldaten in Kitteln, Rüben schabend, Kartoffeln schälend; der Pommer, der Polack, der Schlesier, Westphale durcheinander. (Die Garde rekrutirte sich überall.) In den nicht allzugroßen Zimmern immer ein Unteroffizier mit acht bis zehn Mann, deren Betten am Tage übereinander aufgethürmt bis an die Decke reichten; dicht an den Wänden entlang für jeden Gemeinen ein Plätzchen für Uniform, Gewehr, (damals trug die Artillerie noch Gewehre) Riemzeug, Schuhwerk und ein Schränkchen für seine nächsten Habseligkeiten und die Löhnung und sein Commisbrod; am Fenster ein freundlicherer Platz für den Unteroffizier. Unten im großen Hofe die Kanonen, meist abgeprotzt, zum Exercieren eingerichtet. Stundenlanges Bewundern des »Man so Thuns« im Richten, Auswischen, Laden, Zünden, Bewundern der Donnerwetter, die dabei mit Stentorstimme geschnarrt wurden und desto lauter ertönten, je näher die Offiziere standen. Dies Kasernenleben erzeugt in seinen Theilnehmern eine Gemeinschaftlichkeit der Stimmung, die auf den Geist schließen läßt, dessen Offenbarungen wir in unsrer Prätorianerzeit kennen gelernt haben. Der Gemeine blickt auf den Sergeanten, der Sergeant auf den Leutenant, der Leutenant auf den Hauptmann, der Hauptmann auf den Major. Da von oben herab nur Fanatismus niederwärts strömt, so breitet sich dieser auch behaglich in den untern Schichten, so wie er gewünscht wird, aus. Die kleine Chronik des Appells, der Wache, des Exercierens, der Parade, des Kirchenbesuchs, des Manövers, der Revision der Armatur und Kleidungsstücke, die Ankunft von Rekruten, das Avancement erfüllen hunderttausend Seelen wie die alleinigen Fragen der Welt und des ganzen Lebens.

Durch den Bruder erschloß sich manches Kasernenzimmer. Da fanden sich Stätten, wo auch die Familie ihren Heerd aufgeschlagen hatte. Ein Unteroffizier hatte sogar wieder die Nadel ergriffen und war für das Wohl seines Weibs und seiner Kinder wieder ein Schneider geworden. Es war ein eigner Anblick, die Heldengestalt, die man oft vor der Haubitze mit kräftiger Stimme hatte commandiren hören, so nun mit untergeschlagenen Beinen an einer feinen Interimsuniform für irgend einen mit Mutterpfennigen gesegneten Fähnrich sticheln und Zwirn wichsen zu sehen. Der Unteroffizier würde ohne die Liebe zu den Seinen sich wohl gehütet haben, zu einem Handwerk zurückzukehren, das er haßte und dem er hatte entfliehen wollen, als er in den Soldatenstand trat. Wie hatte er den Ziegenbock, auf dem er als Knabe reiten mußte, verwünscht und nun zwingt ihn das weinende Geständniß einer armen, ehrlichen Nätherin, die er liebte, sie zum Weibe zu nehmen und um sie und seinen gesegneten Nachwuchs von Kindern zu erhalten, wieder seinen garstigen Bock zu besteigen. Des Armen Leben wechselte zwischen Kartätschen und Nähnadeln ab, zwischen Bomben und besponnenen Knöpfen. Das war wirklich Prometheus an den Felsen geschmiedet! Zum Unglück wurde dem Armen, Richter hieß er, noch die geliebte Mutter seiner Kinder krank. Eine Entzündung der Brust bekam eine gefährliche Wendung. Schon setzten die Chirurgen ihre Messer an, um die zartesten Theile, die edelsten Werkstätten der Natur, auf Leben oder Tod wegzuschneiden, als sich ein Wunderdoktor meldet, ein ehemaliger Schäfer, der in der Vorstadt die Armen kurirt und die Brust zu heilen verspricht. Die Chirurgen lächeln und entfernen sich; Glück schon genug, daß sie nicht die Sanitätspolizei von dem Nebenbuhler in Kenntniß setzten. Und der Schäfer beginnt sein Werk, er heilt die Brust. Womit? Mit welchem Balsam? Mit dem Balsam der Geduld und Liebe. Wohl strich er kräuterreiche Salben auf die eiternden Wunden, aber sein wirksamstes Kraut war das treue Kommen, Gehen, Wiederkommen, Abwarten, Pflegen, Sorgen, Mühen und das ein ganzes Jahr hindurch. Die Chirurgie ist nur zu oft jene Heilkunde, der die Geduld gebricht. Sie schneidet weg, was sie zu heilen sich keine Zeit nimmt. Richter konnte nicht anders, als diesem wirklich »treuen Schäfer« für eine Pflege, die über ein Jahr gedauert hatte, zwanzig Thaler geben. Zwanzig Thaler! Ein Krösus-Kapital! Ein unerschwingliches, wenn der arme Held nicht ein Schneider blieb. Seinen frohen Sinn, seinen witzigen Verstand, seinen aufstrebenden glühenden Ehrgeiz, alles mußte der Arme hingeben und Westen und Uniformen nähen und Buchführen über seine schlimmen Kunden, die sich von der Löhnung nur wenig abziehen lassen konnten. Richter trieb diese Doppelexistenz lange Jahre bis er Gensdarm wurde. Er hat der Sicherheit des Staates durch unermüdliches Ausjäten von allerlei Menschenunkraut treu gedient, vortreffliche Kinder erzogen und harrt nun, da das Licht der Augen von seinem mühevollen Jugendleben fast erloschen ist, auf eine Anerkennung der Großen, die ihm wohl in Ehrenzeichen und einem Wartegeld zu Theil wurde, aber in keinem ruhigen, sein Alter fristenden Amte. Der Staat könnte aber auch seine Dienste als Krieger und Gensdarm reicher belohnen, als er that; dafür, daß er den feurigsten Jugendehrgeiz und seinen soldatischen Kastendünkel überwand, einem kranken Weibe und der Bildung seiner Kinder zu Liebe im Waffenrock noch ein Schneider blieb, dafür kann ihn nur eine jener Kronen lohnen, die auf Erden bekanntlich nicht zu finden sind.

 

Vom Soldatenleben wurde die Poesie mehr verstanden als die Prosa. Der Wachtdienst, die Ablösung, das geheimnißvolle Mittheilen einer Parole oder der betreffenden Dienstanweisung für das zu bewachende Lokal, das weiß und schwarz gestreifte Schilderhaus mit seinem darin aufbewahrten Nachtmantel, das ewige Forschen und Umblicken des Postens nach militärischen Honoratioren, die durch Geradestehen oder gar ein Präsentiren geehrt werden mußten, das Alles war Gegenstand stiller andächtiger Forschung, als wenn es sich dabei um das Wohl der Welt handelte. Von manchen Wachtlokalen erfuhr der Knabe, daß es aus ihnen spuke oder spüke, wie man im Volke sagt. Das Spüken in den Berliner Schloßgängen ist bekanntlich historisch bedeutsam und traditionell bei allen Schildwachen. Aber es spükte noch an vielen andern Orten, wo Schilderhäuser einsam standen und die Wachen mitten in Novembernächten, unter sausendem Sturm und stürzendem Regen, von ihren Bretterhäuschen aus in »pechdunkle« Nacht hinauslugen mußten. Diese Schilderhäuser vererbten ihre Spük-Tradition ebenso wie die Regel ihres Wachdienstes. So waren fast alle Wachen in der einsamen Gegend an der untern Spree spukhaft. Am Artillerie-Laboratorium, der Pulvermühle, den Pulvermagazinen, den Train- und Wagenhäusern, die jetzt alle die Hamburger Eisenbahn rasirt hat, lauerte nicht nur der Tod, dem ein einziger glimmender Funke hier eine furchtbare Feuerhochzeit bereiten konnte, sondern auch der Begleiter des Todes, das Gespenst. Mancher junge Rekrut schnürte gern aus seinem Beutelchen einen Mutterpfennig heraus und bezahlte ältere beherztere Kameraden, um nur nicht auf einem der äußersten einsamen Posten am Laboratorium Wache zu stehen. Die Posten hatten Nummern und wurden von der Hauptwache aus nach den Nummern besetzt. Auf Nummer sieben und Nummer dreizehn spükte es gewiß. Auf Nummer dreizehn »schilderte« einst der Bruder. Für sieben und einen halben Silbergroschen erbot sich ein älterer Kamerad, ihm diesen Dienst, der grade auf die Geisterstunde fiel, abzunehmen. Meine Mittel erlauben mir das nicht, sagte der junge und ging auf Nummer dreizehn. Er stammte aus der rationalistischen Zeit Berlins und wollte es getrost mit den Geistern wagen. Rings tiefe Stille. Der junge Artillerist stützt sich auf sein Gewehr; die Nacht »stichdunkel.« Fern herüber rauschten zuweilen die Tannen. Birken schimmern geisterhaft. Ein Erdwall umgiebt das pulvergefüllte Magazin. Einige Rundgänge auf ihm hin und her ... Der rationalistische Zweifler sieht, hört nichts, geht in sein Schilderhaus, schläft ein. Ein Schlaf im Stehen währt nicht lange. Eben summen von den Kirchthürmen der Stadt die Glockenschläge Zwölf herüber, als der Artillerist erwacht. Die Angst des Dienstvergehens vergrößert die Vorstellung möglicher Gefahr. Der Zweifler sieht in der That, erwachend, ein langes riesiges Gespenst. Wer da! ruft donnernd die Furcht, die bekanntlich immer lauter schreit, als der Muth – Alles still. Die lange schmale Gestalt bleibt unbeweglich. Mit gefälltem Bajonett rückt der Zweifler aus dem Schilderhause vorwärts. Einige beherzte Schritte und das Gespenst ist entflohen. Es war nicht etwa jener mit einem Laken verhüllte Kamerad, der seine sieben und einen halben Silbergroschen zu Ehren bringen wollte, sondern es war ein schmaler, langer sandiger Fußsteig, der sich zwischen dem grünen Rasen hinzog und vom Schilderhause aus gesehen leicht eine perspektivische Täuschung möglich machen konnte.

Im Soldatenleben scheint Alles von Außen wie über einen Kamm geschoren. Nach Innen aber giebt es keine buntere Mannichfaltigkeit der Charaktere, der Sitten, der Lebensweisen. Man hält diese gewaffneten, geschmückten Menschen für mechanisch abgerichtete willenlose Wesen zum Verwechseln und in der Kaserne, im geheimen Getriebe des Dienstes treten alle Temperamente und alle Philosophieen in lebendigst nüançirten Exemplaren zum Vorschein. Geizhälse, Stoiker, Epicuräer, Melancholiker, Alles durcheinander. Früh machte es dem Knaben einen eignen Eindruck zu wissen, daß dieser dort so steif und todt mechanisch marschierende Soldat gestern erst von einem Arrest aus der Linienstraße kam, jener hübsche Junge mit dem silbernen Portepee ein Junker war, dessen Eltern Niemand nennen wollte, weil wenigstens sein Vater ein Prinz sein sollte, jener Leutenant, der so heiter seinen Degen schwang, voller Schulden steckte, jener Capitän, der so martialisch kommandirte, zu Hause unter dem Pantoffel seiner Frau stand, und jener Oberst zu Pferde gar, der den runden blitzenden Hut voller Federn trug, daheim ein Liebhaber der Hühnerzucht, der türkischen Enten, der Tauben und der Pfauen war. Das Negligée aller dieser so kerzengrad zusammenhaltenden Menschen gab von Jedem ein anderes Bild, als er jetzt exercirte oder mit klingendem Spiel vorüberzog an dem Könige, hinter dem man, an den Pfeilern des Opernhauses sich anklammernd, wie einer von der »Suite« die Parade mitvorbeidefiliren ließ. Das da ist der tolle, lustige Langheinrich, von dem noch mancher Schwank erzählt werden soll! Das da ist der verhaßte und gehässige Fähnrich von Haase! Das da ist der treffliche, liebenswürdige, dem gemeinen Soldaten gegen die kleinen Offiziere immer beistehende Major! Wißt Ihr Alle, die Ihr hier herum»drängelt« auf den Stiegen des Opernhauses, unter den Larven und Bildsäulen der Musen, Ihr, die Ihr hier Skizzen aufnehmt zu den in jenen Jahren so beliebten Paradebildern, die von Saarlouis bis St. Petersburg mit Gold, rothen Adlerorden und Wladimirs bezahlt wurden, wißt Ihr Alle wohl so wie der Knabe, daß vor drei Tagen beim Manöver zu jener goldgelbglänzenden Kanone hinter Nixdorf die jungen Prinzen, die Söhne des Königs, herangeritten kamen und den Fähnrich von Haase gar arg in's Gebet nahmen? Was bedeuten, spricht zu ihm der jetzige Prinz von Preußen, was bedeuten die beiden Buchstaben C. F. da vorn am Mundstück Ihres Kanons? Fähnrich von Haase, über und über erröthend, erwiederte nach längerem Besinnen: Ich weiß es nicht, Königliche Hoheit! Der Prinz von Preußen will mit seinen Brüdern weiter, da sagt der Unteroffizier Langheinrich: » C. F., Königliche Hoheit, bedeutet Canon Français. Dies Geschütz war eine zeitlang in französischer Gewalt.« Die Prinzen lobten die Auskunft. Aber wer hier ringsum kennt nun des dort marschierenden Herrn von Haases böse Rache? Das Manöver ist vorüber. Jene selben dahinreitenden Pferde, Langheinrichs treuer Rinaldo an der Spitze, sollen den Staub abspühlen und in die Schwemme reiten, sich auch erquicken am klar rinnenden Wasser des – lieblichfluthenden, schilfumrandeten Schaafgrabens. Der Fähnrich von Haase commandirt vom Ufer aus: Da! Dort! Zum Himmeldonnerwetter, reiten Sie da, wo ich sage! Aber der Schaafgraben hat seine schwarzen Stellen. Er ist nicht immer, wie Rückert von der Spree am Oberbaum singt, rein wie ein Schwan, sondern nicht selten auch, wie Hafis, selbst doch aus Schweinfurt gebürtig, von der Spree am Unterbaum sagt, schmutzig wie ein u. s. w. Genug! Langheinrich will weder sein Geschütz, noch sein Gespann, noch seinen eignen treuen Rinaldo in den Morast führen. Er biegt von der kommandirten Stelle ab, sucht jenes klare Rückert'sche Schwanenwasser, findet's, ruft allen Kameraden ihm zu folgen. Aber den aus dem Wasser mit den triefenden erquickten Pferden nun zurückkehrenden, herrscht der für den erkrankten Leutenant Dienst thuende Fähnrich von Haase an: Langheinrich! Dafür sollen Sie Arrest besehen! Er meldet die Insubordination dem Capitän. Der Fall kommt an den Major. Jener brave, dort eben den Degen zum Präsentiren schwenkende Herr auf dem Apfelschimmel sagt: Herr von Haase, woher kommandirten denn Sie? Vom Ufer aus? Sie waren also nicht mit im Wasser? Künftig, wenn wir wieder manövriren werden, soll jeder Capitän seine Batterie vom Kirchthurm aus kommandiren.

Aber die Parade ist noch nicht zu Ende. Dort beim vierten Geschütz reitet unser braver Richter. In spätern Jahren würde der Knabe sich vorgestellt haben, es hinge ihm trotz seines martialischen Königl. Preußischen Aussehens hinten eine Zwirnrolle aus der Tasche, jetzt ist es ihm nur, als wäre bei dem herrlichsten Sonnenschein ein Regenschirm über ihm ausgespannt. Denn er kennt von ihm folgende Geschichte: Der Quälgeist der Compagnie, Fähnrich von Haase, läßt sich einfallen, eine Revision der Kasernenzimmer zu unternehmen. Er kommt in Richters Zimmer und findet unter dessen Geräthschaften einen Regenschirm. Wem gehört dies Mobiliar? frägt der junge Stutzer. Vorläufig mir, sagt Richter. Von Haase öffnet das Fenster und will einen Act im Style Blüchers von Wahlstatt ausführen. Er will den Regenschirm zum Fenster hinauswerfen. Halt da! ruft Richter. Der Schirm gehört meiner Braut. Von Haase, durch die kräftig zugreifende Hand des Unteroffiziers an der Ausführung eines »genialen« Einfalls verhindert, der bei Josty unter der Stechbahn würde Furore gemacht haben, beschließt Richter zu strafen. Er ergreift dessen Gewehr, untersucht es, findet die Reste der letzten Schüsse noch nicht getilgt. Richter mußte schweigen. Von Haase stürmt, als wenn er eine Fahne erbeutet hätte, hinunter in den Kasernenhof; dem gerade anwesenden Major wird die Meldung gemacht. Richter mußte folgen. Mit dem Gewehr bei Fuß steht der Arme seines Urtheils gewärtig. Aber wiederum unser herrlicher, trefflicher Major, der dort eben auf seinem Apfelschimmel zur Sonnenseite der Linden abbiegt! Wie lange ist es her, Herr von Haase, daß die Leute geschossen haben? Vierzehn Tage, Herr Oberstwachtmeister, antwortet ein Nahestehender statt von Haase's, der erblaßt. Und seit diesem Zeitraum haben Sie die Gewehre nicht revidirt? sagt der Major. Hm! Hm! Das könnte leicht die französische Comödie stören, in der Sie bei Perponchers mitspielen, wenn ich Sie dafür mit drei Tagen Stubenarrest ... doch genug – Morgen früh um 8 Uhr ist die ganze Compagnie hier zur Stelle. Nun werd' ich selbst revidiren.

O du von Haase! Schreite nicht so kühn, dilettirender Bühnenkünstler! Stolpre nicht! Deine Thaten sind aufgeschrieben noch in andern, als nur in den Parolebüchern! Unsern braven Langheinrich wolltest du für das, trotz der Comödie bei Perponchers, nicht erklärte Canon français gradezu verderben! Einem Schneider unter den Linden, dem du, beim Prinzen von Preußen ewig Verlorner, schuldetest, schuldete auch der freiwillige und auf Avancement dienende Langheinrich. Herr, sagtest du zu dem Verfertiger deiner eignen reizenden Taille, Herr, wozu haben Sie die Langmuth mit solchem Volk, das es wagt, bei einem Schneider für den hohen Adel arbeiten zu lassen? Ehrgeizig ist der Hund! Machen Sie ihm irgendwo unter seinen Kameraden eine Scene und er wird Sie bezahlen. Der vornehme Schneider bildet sich ein, eine Scene würde nirgends auffallender wirken, als irgendwo auf der Wache. Langheinrich hat die Wache am Oranienburger Thor mit acht Mann und dicht in der Nähe der »reitenden Artillerie-Kaserne«. Der elegante Adelsschneider von unter den Linden tritt ein, beginnt seine Rechnung vorzulegen, mahnt. Langheinrich thut, als wär' er taub. Aber, ich muß Ihnen sagen, länger halt' ich es nicht aus; ich verklage Sie. Langheinrich schweigt. Der Schneider erhitzt sich, lärmt. Langheinrich trommelt auf den Fensterscheiben. Der Schneider kennt keine Gränzen, sein Zorn wächst, er schlägt auf die hölzernen Tische. Langheinrich giebt den Kanonieren einen Wink. Der Schneider flucht. Er hatte Eile. Er wollte in feinster Toilette jetzt noch ins Opernhaus, um die Milder und die Seidler im Wettkampfe zu hören. Ich muß in die Olympia, Herr, wann bezahlen Sie mich oder hier die Uniform ... Langheinrich schwankt jetzt, ergreift den ihm die allerdings noch nicht ganz bezahlte Uniform angreifenden Ruhestörer, öffnet eine Thür, öffnet noch eine, drückt den Schneider in ein dunkles Loch und bedeutet ihn, dort so lange zu warten, bis die dienstthuende Ronde käme, die den Störer eines öffentlichen Wachtpostens auf die Hauptwache führen solle. Der Schneider wehrt sich, kratzt, donnert an der Thüre, ruft, droht; vergebens. Langheinrich hat den Buchstaben des Gesetzes für sich. Es schlägt sechs Uhr. Olympia beginnt. Bader hat seine erste Arie. Der vornehmste Adels- und hohe Militär-Schneider sitzt in der dunklen Wachtstube des Oranienburger Thores und zerknittert vor Wuth und Verzweiflung sein Sperrsitzbillet. Um acht Uhr kommt die Ronde, aber ohne Leutenant. Der Schneider hat nur die Wahl zu warten oder sich zu entschließen, mit diesen Leuten über die Straße zu gehen. Zu letzterem kann er sich nicht bestimmen. Man reicht ihm Wasser und Brod. All sein Bitten erlöst ihn nicht. Erst um zehn Uhr rettet ihn der Ronden-Offizier, der ihm die Freiheit giebt, ohne jedoch Langheinrich irgendwie für seine vollkommen erlaubte Selbsthülfe zu tadeln. Am folgenden Morgen kündigte aber der so schmerzlich um die Olympia und den Wetteifer der Milder und der Seidler betrogene vornehme »Civil- und Militär-Kleidermacher« auch dem schlechtesten aller Zahler, dem Fähnrich von Haase, den Credit.

Die Compagnie ist vorüber. Das Rollen der Kanonen nimmt kein Ende. Reißen wir uns los von diesen Schwänken, die allein in ihrer ganzen militärischen Einseitigkeit von dem Knaben aufgefaßt wurden. Denn in der Jugend wiegt man im Urtheil nichts ab. Die ganze schöne Parteilichkeit der Liebe und des Hasses steht für Jedes und Alles ein, was sie einmal erfaßt hat, was sie einmal bewundert oder verabscheut.

 

Die geographischen Gränzen des Kinderhorizontes dehnte nicht allein das neugierige Gelüst, sondern allmälig auch schon mancher glückliche Zufall oder eine besondere Gunst der Eltern aus. Da wurde wohl ein neues aus Aken oder Trakehnen gekommenes Pferd eingeschirrt, ein andres für die Cabrioletfahrt eingeschult. Da jagte man wohl einmal um alle Thore und sahe Felder und Hügel, riesengroße Windmühlen, einsame gräberbedeckte Kirchhöfe, ja in einiger Entfernung schoß man sogar an dem Galgen vorbei ... Dieser Galgen ist jetzt von einer Eisenbahn wegrasirt. Ein Spielgenosse lockte einst den Knaben, als er schon zur Schule und mit ihm etwas in's »Bubenhafte« ging, zum Rosenthälerthor hinauszuwandern. Beide kommen zuerst in die Gegend, wo sich einer ausmündenden Straße gegenüber ein niedriges altes Haus mit einem Thürmchen erhebt. Dies Haus selbst, das Thürmchen genannt, stand in jener geheimnißvollen Wechselbeziehung mit dem westlichen Quadratflügel der Akademie. Zwischen dem Thürmchen und der Anatomie ging in stillem Abenddunkel regelmäßig ein polternder, dumpfhallender Karren hin und her. Da bringen sie schon wieder Einen! sagte der Vater, wenn unterm Fenster um die neunte Stunde das Rollen des schauerlichen Karrens erklang. Es war dann ein Selbstmörder, der gefahren kam, entweder zur Anatomie vom Thürmchen oder von dorther, geöffnet, zerschnitten, stückweise zurück zum Thürmchen, um dort sein stilles Grab zu finden. Wer in Berlin Hand an sein Leben legte, wurde damals zum Thürmchen gebracht. Wohl dem müden Leichnam, wenn die Prosektoren und der alte Knape aus der Charlottenstraße gemeldet hatten, sie hätten noch Material genug! Diese Art Verzeichniß von Menschen, die sich selber tödten konnten, diese laufende, unterm Fenster so hinrollende Chronik von stillen, lebensmüden oder verzweifelnden Entfernungen aus dem täglichen heitern Sonnen-Dasein prägte sich tief und schmerzenvoll in dem Kinderherzen ein. Der Vater »richtete« beim Rollen des Karrens immer streng, die Mutter seufzte milde. Jener sah den Teufel selbst hohnlachend vor dem Karren als lustigen Fuhrmann peitschen, diese blickte gen Himmel und sprach von der Gnade Gottes. Nun stand aber das Kind selbst einmal vor dem Kirchhof der Mörder am eignen Leben, vor dem grauenvollen Thürmchen. Der vorwitzige viel ältere Kamerad behauptete, man könnte Einlaß finden, wenn man nur sagte, man wollte die »Leichen« sehen. An einem großen, mit Nägeln beschlagenen Holzthor klingelte auch schon der Muthige. Schlorrende Tritte ließen sich vernehmen. Eine Alte, anzusehen wie eine Hexe, öffnete und musterte die Jungen mit unheimlichem Auge. Als der Führer sein Begehren nach den »Leichen« stotterte, schnarrte die Alte die vorwitzige junge Brut an, sagte, »die Leichen« wären nur für die Herrschaften zu sehen und würde die Uebermüthigen nicht weiter eingelassen haben, wenn nicht eine unterirdische Stimme gerufen hätte: Den Kirchhof könnt Ihr sehen! Die Stimme kam aus einem Keller im Hofe. Die Knaben schossen wie der Blitz auf den großen grünen Anger, der sich sogleich hinter einer halboffenen Thür frei und breit darbot. Hier auf dem baum- und blüthenlosen Kirchhof hing allerlei Wäsche, wurde Linnen gebleicht. Zur Rechten lagen aber die Gräber. Sie waren wohl hie und da mit dünnem verbranntem Rasen bedeckt, aber namenlos alle, ohne Kreuze, ohne den Schatten eines Baumes, ohne den Schmuck einer Blume. Vergiftet, erhängt, ersäuft alle diese Opfer der Verzweiflung. Eine offne Grube erwartete einen neuen Ankömmling, der vielleicht eben noch auf der Berliner »Morgue«, der Stadtvogtei, oder schon auf dem Sezirtische der Anatomie lag. Die Knaben hätten nun über die Mauer in die Linienstraße springen können. Sie sahen aber in dem alten Vorderhause, das nach Art eines von der noch unangebauten Stadt entlegenen Hospitals, eines klösterlichen Siechenhauses oder »Gutleuthofs«, wie man im südlichen Deutschland ähnliche Herbergen der geistig und körperlich Aussätzigen nannte, errichtet war, Welche von jenen Herrschaften eintreten, für die allein die »Leichen« des Thürmchens da sein sollten. Sie kehrten um, schlichen sich näher und wagten es, dem inzwischen aus dem Keller hervorgekrochenen freundlichen Todtengräber und den Fremden sich anzuschließen. Es hieß, diese wollten die »Muhmen« sehen. Die Kinder staunten nicht wenig, daß die weltbekannten »Leichen« des Thürmchens die Muhmen dieser Fremden sein sollten. Sie wußten noch nichts von den Mumien, weder den ägyptischen, noch denen der Hospitalstraße. Mumien aber, d. h. ausgedörrte, nicht verweste alte Leichname waren die von den Fremden besichtigten und von den Knaben an der Thür eines Kellergewölbes belauschten Merkwürdigkeiten des Thürmchens. Der Todtengräber öffnete einen alten Sarg und zeigte auf zwei braunlederne, wie von Wäscherinnenhand zusammen »gewrungene« große Lappen, die sicher Menschen gewesen waren. Die Kinder faßten die Sache fast so, als wenn diese ehemaligen Stiftsverwalter des Thürmchens noch so so, noch halb vielleicht lebten, ob sie doch gleich seit viel über hundert Jahren schon gestorben waren. Beklommen und doch neugierig traten sie näher und schüttelten sich vor Entsetzen über Menschen, die man wie gefrorne große Waschlappen hätte aufgreifen und sich damit ordentlich jagen können. Der Todtengräber versicherte wenigstens, diese »Muhmen« wären leicht wie »Flederwische«. Nach Entrichtung eines Trinkgeldes von Seiten der Fremden wurde der Rückzug angetreten. Die Knaben schossen pfeilschnell und halb bösen Gewissens voraus und wurden von der am großen düstern Holzthor wartenden Sibylle mit etwas gemilderteren Scheltworten entlassen, als anfangs begrüßt. Wie rannten sie über die Hospitalstraße zum Rosenthaler Thor hinaus! Wie übermüthig waren sie, als ihnen dieser »kühne Wurf« gelungen! Wie ging es an ein Ausmalen des Gesehenen! Die Mumien wurden jetzt die schönsten und gefälligsten Gestalten von der Welt und noch wie lebend! Der Schauer, sie gesehen zu haben, wurde ins Großartigste übertrieben und so war man denn, wie unwissentlich, gut vorbereitet, plötzlich auch an dem Galgen angekommen, auf dem noch erst kürzlich der Mörder Jakobi »gerichtet« war. Nun rieselten vollends erst Schrecken über die Rücken der jungen Melodramenliebhaber. Links lag die niedrige Scharfrichterei, rechts erhoben sich auf einem steinernen Unterbau drei hohe Balken, die oben in einem Dreieck verbunden waren. Ringsum die Korn- und Kartoffelfelder mit frohen jubilirenden Lerchen und blauen und rothen Blumen, nichts von Raben oder anderm unheimlichen Galgengeflügel. Der Kamerad war vorwitzig. Er forderte seinen jüngern Gefährten auf, mit ihm die steinerne Plattform zu besteigen. Zu groß war dessen Zagen, zu schreckend die Erinnerung an den geräderten Jakobi. Er blieb in der Ferne und bat den Freund himmelhoch, solchen Uebermuth zu unterlassen. Ha! Ha! rief dieser, ich gehe hinauf! Der Kleinere hielt den Freund zurück, sah die Vorbedeutung eines Unglücks, flehte mit ängstlich sich anklammernder Hand. Vergebens! Louis war wie Macbeth, als er sich vor den Zauberinnen nicht mehr fürchtete, seit er »mit Geistern zu Nacht gespeist.« Er verlachte alle Bedenken, sprang auf die steinernen Stufen und rief, wie aus seiner Schornsteinluke ein Essenkehrer, ein prahlendes lautschallendes Hoho! mitten auf dem Galgen, an derselben Stelle, wo Jakobi gerädert war. Dann aber plötzlich hinunterspringend von der Plattform, mußte ihn, wenn nicht das ominöse Wagniß, doch der volle, gewaltige Rundblick über alle diese Felder, Windmühlen, Häuser, Thürme hinweg doch erschreckt und plötzlich wie mit unsichtbaren Armen gefaßt, gepackt, emporgehalten haben. Es war ihm, als hätte er wirklich etwas geschaut. Es war ohne Zweifel nur das eigenthümliche Gefühl, das Jeden, der zum Reden auf eine Erhöhung tritt, die von unten hinauf gesehene Umgebung in ganz anderm Lichte erscheinen läßt. Louis wurde im Heimweg einsylbig. Lange hat sein zaghafter Gefährte das Gefühl nicht bewältigen können, daß sein Freund von dieser Versuchung noch sicher etwas Schlimmes würde zu befahren haben und Louis gerieth in der That auf irrende Bahnen, wurde wild, frech, trotzte seinen Eltern, schlug sie sogar. Immer dachte sein früherer Kumpan an das herausfordernde Hoho! auf dem Galgen und wagte nicht, Andern, die dem Wildling ein schlimmes Ende prophezeiten, davon zu erzählen. Aber die Orakel lügen zuweilen. Louis trat in die Königliche Eisengießerei vorm Oranienburger Thor als Maschinenarbeiter und brachte es durch Fleiß und Talent bis zum Ciseleur. Leider verhob er sich einst an einem schweren Eisenblock und fing trotz seiner Riesennatur an zu kränkeln. Dennoch erwarben ihm seine allgemein anerkannten Verdienste eine ehrenvolle Berufung nach Schlesien auf die Zinkwerke des Grafen Henckel von Donnersmark. Louis war dort einer der zuverlässigsten, bravsten Werkführer, heirathete, that Gutes auch seinen früher geschlagenen, jetzt ausgesöhnten armen Eltern, siechte dahin und starb in der Blüthe seiner Jahre.

Wir übersprangen einen längeren Zeitraum und im ersten Kindesleben zählt doch ein Jahr für zehn, im Jüngling ein Jahr für fünf, im Mann eins nur für Eins, im Greise ein Jahr kaum noch für drei Monate ... zurück zu der ersten noch halb bewußtlosen Altersstufe! ... Die Gegend vor dem Oranienburger Thor war die früheste sichre Eroberung des schweifenden Entdeckers. Vom unheimlichen Voigtland, den Höhlen des Pauperismus, zogen sich damals einsame, wie endlos scheinende Sandflächen bis nach Tegel, wo die Geister der Wöllnerschen Zeit »dem dicken König« den Muth zu religiöser Reaction eingespielt hatten, bis zum Gesundbrunnen und einer Saharawüste, die man den Wedding nennt, auf dessen tief im Sande angelegten Laufgräben, Schanzen und kleinen Belagerungsforts die Artillerie zu exerciren pflegte und jährlich an jedem dritten August oder »Königsgeburtstage« ein Feuerwerk abbrannte, bei dessen Licht- und Farbenzaubern, Kanonenschlägen und Transparent-Inschriften der Bruder des Bombardiers nicht fehlen konnte, so sehr ihm vor Müdigkeit fast die Glieder zusammenbrachen. Auch die Nordwestseite Berlins wurde erforscht. Dort, wo jetzt neue Straßen und ganze Stadtviertel angebaut sind, lagen sonst Wiesen, Hecken, Kornfelder, Holzhöfe und theilweise mitten in den Ringmauern der Stadt. Da gab es einen Apollosaal, das schwache erste Vorbild jetziger Tempel bacchanalischer Lust, da erhob sich die erste Anlage jener königlichen Eisengießerei an der kleinen Panke und ihren sumpfigen, mit Birken bepflanzten Ufern; da lag in stiller Zurückgezogenheit das dem Laeso, sed invicto militi gewidmete Haus, wo Friedrich des Großen Invaliden ihre hölzernen Beine im Sonnenschein ausstreckten oder auf ihnen von einigen Gewerben heimkehrten, die sie, als im Handel mit Binsen zum Ausräumen der Pfeifen, in der Stadt, wenn auch blind oder einarmig, betrieben. Da lag die schreckenerregende Charité, das große von Friedrichs des Großen Vater so schon benannte Krankenhaus, das, wie dem Volke alle Krankenhäuser, gleichbedeutend mit dem Vorzimmer des Todes war und dem Kinde auch darum so schreckhaft erschien, weil es gehört hatte, daß seine Todten in »Nasenquetschern« begraben wurden. So nannte das Volk Todtenladen, denen kein Maaß nach der Beschaffenheit der Leiche genommen wurde, sondern die passen mußten, ob auch die Nase dabei zu Grunde ging. Der Kindeslogik schien freilich den Nasenquetschern ein ganz absichtlicher Angriff grade auf die Nasen der Armen zum Grunde zu liegen. In den Garten der Narren wagte der Knabe zuweilen von der Thierarzneischule aus einzublicken. Diese großen Gartenanlagen existiren nicht mehr. Links von der Friedrichsstraße abseits betrat man ein Thor, das in eine anmuthige Wiesengegend führte, durch die sich eine Allee von Kastanienbäumen zog. Da wo jetzt die Couplets des Friedrich Wilhelmstädtischen Theaters gesungen werden, wurden sonst kranke Pferde obducirt, thierische Mißgeburten ausgebälgt, sogar einst ein großer, in voller Verwesung begriffener Wallfisch zur Schau gestellt. Diese geheimnißvolle, den kranken Thieren gewidmete Gegend gränzte an einen Garten, wo zum Thiere herabgesunkene Menschen wahnsinnig hin- und herrannten, aus Büchern laut predigten, boshaft auflachten, schnöde sich einander begrinzten und maßen oder auch still mit dem Spaten im Boden gruben und dabei weltliche und geistliche Lieder sangen. Die Astlöcher der Bretterwand erlaubten dem Knaben den Durchblick; aber die Bosheit manches Tollen, der die Lauscher bemerkte, hatte schon arge Verwundungen herbeigeführt. Die Narren lauerten mit Nadelspitzen, Holzsplittern, mit Sand, um die neugierigen Augen der übermüthigen Vernünftigen zu strafen.

Nun wuchs auch die Kenntniß der lärmenden, menschengedrängten innern Stadt. Heu und Stroh holen zu helfen vom Königlichen Magazin an der Waisenhausbrücke, welche Lust! Dies schwankende und doch sichre Thronen auf dem hochbeladenen Wagen mit vier stattlichen Rossen! Oder ein Ausflug nach der Alexanderstraße, an dem unheimlichen »Ochsenkopf«, dem Arbeitshause der Bettler, Vagabunden und rettungslos Verarmten vorüber, in die große Brodbäckerei, wo die Commis-Brod-Laibe wie Mauersteine aufgeschichtet standen und auch wie Mauersteine beim Bauen von Mann zu Mann geworfen und eben so aufgeladen wurden. Die innere stoßende und drängende Stadt, die handelsreiche Königsstraße, das alterthümliche Rathhaus mit dem Prangerhalseisen, die düstre Stadtvogtei, der Mühlendamm mit seinen mehlstaubbestreuten Colonaden, die alten ehrwürdigen Kirchen, der freundlichheitre Spittelmarkt mit seinen Obstverkäufern, runden Fischfässern, Buden, Vögelverkäufern, Kaninchenfütterern und seiner Bürgerschützenwache, den sogenannten »Rauhbeinigen«, deren Hauptquartier der Schützenplatz, eine Art Jahrmarkt von Plundersweilern war, wo gewürfelt, gezecht, gesungen, georgelt und manche Mordthat von der bemalten Leinewand erklärt und dicht über den Todten der ringsumliegenden Kirchhöfe hinweg nach dem »Vogel« geschossen wurde; der Dönhofsplatz mit seinen langen exercierenden Soldatenreihen, die Jakobsstraße und der Durchgang über den pappelbepflanzten, hollunderbuschreichen Friedhof der Louisenkirche hinüber in das gelobte Land der damaligen Jugend, die Hasenhaide der Jahnschen Turner, ... das Rondeel am Hallischen Thore mit seinem Echo, die schweigsamehrwürdige Lindenstraße mit ihrem mystischen Kammergericht, das Köpenicker Thor mit seiner einsamen, gewiß recht das Schweizerheimweh der früheren Bewohner weckenden Neufchatellerkaserne, das jenseitige Spreeufer mit seinen endlosen Gassen, wenn man den Stralower Fischzugtummelplatz erreichen wollte ... und alle diese breiten Flächen, durchzogen von so vielen geheimnißvollen Gärten mit hohen Mauern oder Zäunen, durch die blinzelnd allerlei vornehme poetische Idylle sich in dieser schwatzhaften Stadt als möglich erwies, so viel Wasser, so viel kleine Brückchen, so viel grau Alterthümliches, so viel Rokoko-Geschnörkeltes mit Hermensäulen, Karyatiden, steinernen Helmen und Medusenköpfen, so viel Winkelwerk, so viel Unbenennbares, so viel dem Kindessinn tiefinnerlichst Anonymes, selbst wenn es einen Namen hatte ... Alles, Alles das war grade deshalb eine so reiche, so vielbewegte Welt, weil diese Hauptstadt in ihrer gewaltigen bequemen Ausdehnung damals eigentlich nirgend etwas so eigentlich imposant Großstädtisches hatte, wie Paris oder London oder auch seine jetzige Uebervölkerung, sondern sich in dieser reichen Mannichfaltigkeit selbst von einem Kinde allmälig traulich und gemüthlich übersehen ließ.

Mit ganz besondern reizenden Schauern erfüllten das Knabenherz drei schon entlegenere Oertlichkeiten, das Dorf Schönhausen, die Residenz Charlottenburg, die Festung Spandau. Die Umstände, unter denen diese Orte gesehen wurden, waren keine gewöhnlichen und führen den Demokraten wieder in die Sphäre der Hohenzollern zurück.



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