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Sechster Abschnitt.

Japan.

Japan und seine Bewohner.

E. Haffter, »Briefe aus dem fernen Osten«. 1898.

Über dieses »Wunderland« sind in den letzten dreißig Jahren Legionen von Büchern geschrieben worden. Das verhindert aber ja nicht, daß ein einfacher Gelegenheitsreisender, auch wenn er nur relativ kurze Zeit dort zugebracht, seine subjektiven Eindrücke zu Papier bringt. Ich kam mit hochgeschraubten Erwartungen nach Japan und hatte keinerlei Enttäuschung zu erfahren. Wahrhaftig, es ist ein herrliches Land, vereinigt die Vorzüge der gemäßigten Zone mit denjenigen der Tropen, ohne ihre Nachteile zu besitzen. Das Klima ist vorzüglich und zeigt die wohltätige Abwechslung von Sommer und Winter, wenn auch nicht in der Schroffheit des nördlichen Teils der gemäßigten Zone. Die richtigste Pflanze der Tropen, den riesigen Repräsentanten der Gräser, den Bambus, das unentbehrliche Baumaterial, besitzt Japan in reichstem Maße und dabei einen Blütenschmuck, wie er dem tropischen Indien oder wohl den Tropen überhaupt fehlt, und Nadelhölzer von einer Größe und Schönheit, die unser Erstaunen erregen; die Kryptomerien, die als dichte Haine die japanischen Tempel beschatten, sind die schönsten Bäume, die ich je gesehen.

Die großenteils gebirgige Bildung des Landes ermöglicht eine Vielseitigkeit der Vegetation, auch der Fauna, die sonstwo vergebens gesucht wird. Gedeiht doch neben dem Bambusrohr und der lorbeerblätterigen wintergrünen Eiche auch die nordische Kiefer und existiert neben dem Affen auch der Bär. Die Fauna zeigt eine Reihe von bemerkenswerten Formen vom hochgestellten, rotwangigen, menschenähnlichen Affen bis hinab zu den Protozoen. Und zwar fehlen glücklicherweise, abgesehen von einigen giftigen Nattern, alle Tiere, die das Leben unter den Palmen ungemütlich machen: große Schlangen, wilde Katzenarten, große Eidechsen, Skorpionen usw., und sogar die Wanze hat sich bis jetzt in dem begnadigten Lande nicht gezeigt. Den Jäger entzückt ein reiches Wild: Fasanen, Schnepfen, Wachteln, Hasen, Hirsche, Füchse, im Norden auch Bären. Im Riesensalamander, der in Japan allein vorkommt und bis 160 Zentimeter lang wird, sahen wir einen Tiertypus, der in Europa nicht mehr vorkommt.

Ein großes Damoklesschwert hängt aber über dem sonst so gesegneten Japan: es hat mehr als alle anderen Länder unter der oft verderblichen Wirkung unterirdischer Kräfte zu leiden. Erdbeben haben die Erdschichten Japans so durcheinander geworfen und verwickelt, daß ihr Studium für die Geologen eine sehr schwierige und noch kaum angefangene Arbeit ist. Der gewaltigste Vulkan Japans, der 90 Kilometer westlich von der Hauptstadt Tokio gelegene Fusi-Yama, erhebt sich über seiner breiten Basis 3750 Meter; er gehört zu Japan wie der Vesuv zu Neapel, und kehrt mit seinem schneebedeckten Gipfel tausendfältig auf japanischen Kunstwerken wieder, gemalt auf Papier, Porzellan, Lackwaren, gestickt auf Seide, ziseliert oder eingelegt in Bronze und geschnitzt aus Holz oder Elfenbein. Sein letzter großer Ausbruch fand 1707 statt; es kamen dabei 53 000 Menschen ums Leben und durch gleichzeitig stattfindende Erdbeben und Überschwemmungen weitere 200 000. Kein Jahr vergeht in Japan ohne zahlreiche kleinere oder größere Erdbeben. Die letzte große Erschütterung (November 1855) hat in Tokio 104 000 Menschen das Leben gekostet und 18 000 Häuser vernichtet.

Man behauptet oft, das Gemütsleben eines Volkes sei direkt abhängig von dem Naturcharakter seiner Wohnstätte; da wo die Natur mit gewaltigen Schrecknissen drohe, soll das Gemüt eingeschüchtert, verfinstert und abergläubisch werden. Japan beweist das Gegenteil: sein Volk ist das heiterste, kindlich froheste der Welt; stets zu Scherz und Schelmerei geneigt und in religiösen Dingen außerordentlich sorglos. Wer nur kurze Zeit bei den Japanern lebt und sieht, wie geschickt und leicht sich das emsige Volk die Errungenschaften europäischer Zivilisation aneignet, wie gefällig und freundlich es dem Fremden gegenüber ist, wie wohltätig seine Reinlichkeit gegenüber dem grenzenlosen Schmutz der Chinesen absticht, der wird des Lobes voll sein über das nette Völkchen. So lauten auch die Berichte vieler Reisender außerordentlich günstig über den japanischen Charakter. Wer aber lange Zeit in Japan zubrachte, lernt an den Bewohnern auch mancherlei unangenehme Seiten kennen, die dem flüchtigen Reisenden entgehen, und ich habe von einem deutschen Kaufmann in Kobe das scharfe Wort gehört: Je länger man die Japaner kennt, desto mehr verachtet man sie. Sicher ist, daß neben vielen guten Eigenschaften auch Oberflächlichkeit, Unzuverlässigkeit, Lügenhaftigkeit ihren Charakter kennzeichnen. Dagegen möchte ich nicht unbedingt in das Lamento einstimmen, welches viele Reisende über die Schamlosigkeit des japanischen Volkes erheben. Weil sie gelegentlich Japaner beiderlei Geschlechts ungeniert im selben Gemach baden sahen, oder weil sie da und dort erfuhren, daß die Nacktheit durchaus nicht als etwas Unziemliches betrachtet wird, glauben sie sich berechtigt, den Japanern den Vorwurf der Sittenlosigkeit zu machen. Dies ist ungerecht. Der Anstand ist etwas, worüber Brauch und Sitte entscheiden, und ein frommer Muselman, der sich an arabische Frauensitte gewöhnt hat, würde wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er einen europäischen Hofball mit ansähe.

Nun fällt aber allerdings jedem Fremden, der zum erstenmal nach Japan kommt, der gewaltige Kontrast zwischen Kulturstufe und gewissen Sitten auf. Einerseits hat sich das japanische Volk die wichtigsten Errungenschaften europäischer Zivilisation angeeignet, arbeitet mit Dampf und Elektrizität, studiert deutsche Philosophie, ahmt französisches Militärwesen nach; andererseits steht man noch auf dem Boden einer paradiesischen Naivität. Dieser Kontrast erklärt sich dadurch, daß die Japaner aus ihrem relativen Naturzustande fast ohne Bindeglied sich auf die obersten Sprossen der Kulturleiter hinaufgeturnt haben und nun dort herumbalancieren, ohne die vorhergehenden Stufen zu kennen oder sie kennen zu wollen. Wollen sie aber oben bleiben, dann müssen sie das Versäumte nachholen; denn soll eine errungene Qualität Bestand haben und sich vererben können, so darf sie nicht sprungweise erworben sein. Sind einmal diese Lücken ausgefüllt, dann werden auch die Begriffe von Sitte und Anstand mehr den unsern ähneln; dann wird die Zivilisation die Schlange sein, die den Japanern zeigt, daß sie nackt sind. Ob sie dann moralisch höher stehen, ist eine andere Frage.

In Nagasaki konnte ich mich nur wenige Stunden aufhalten. Die Stadt zählt 60 000 Einwohner und enthält ein Fremdenviertel, saubere Häuser und geräumige Straßen längs des Ufers, und ein chinesisches Quartier. Auf Desima, einer kleinen, künstlich geschaffenen Insel, wohnten von 1639–1858 als einzig geduldete Europäer die Holländer, bewacht und gedemütigt wie Verbrecher; aber – im goldbringenden Besitz des Handelsmonopols. Der Holländer Kämpfer, der Ende des 17. Jahrhunderts eine Reihe von Jahren hier lebte, hat ausführliche Berichte hinterlassen. Die kleine Insel war durch eine schmale Brücke mit Nagasaki in Verbindung. Dort wachte Tag und Nacht ein japanischer Polizeiposten. Das Verlassen der Insel war den Holländern nur mit Erlaubnis der japanischen Regierung gestattet. Die Holländer durften keinen Sonn- oder Festtag feiern, kein Gebet und christliche Gesänge hören lassen, niemals den Namen Christi nennen, kein Bild des Kreuzes mit sich führen oder in ihren Wohnungen aufstellen. Alle Jahre einmal mußte der holländische Resident mit seinen Beamten nach Jeddo ziehen, um dem Kaiser seine Huldigung darzubringen. Diese Reise war äußerst mühe- und gefahrvoll und kostete jedesmal 100 000 Francs. Die ganze Zeremonie, deretwegen sie unternommen wurde, war folgende: Die Holländer hatten sich, bewacht wie Verbrecher, im kaiserlichen Audienzsaal einzufinden; der Resident wurde vorgerufen, um dem Kaiser, der hinter einem Vorhang saß, seine Ehrerbietung zu bezeigen. Dabei mußte er auf Händen und Füßen kriechend, die Stirn am Boden, sich vorwärts bewegen und sich stillschweigend zurückziehen wie ein Krebs. Nachher führte man die Gesellschaft tiefer in das Palais, um auch den Damen ein hübsches Schauspiel zu bereiten, woran der Kaiser auch oft teilnahm. Es war die reinste Affenkomödie. Bald mußten die Fremden aufstehen, und hin- und hergehen, bald sich untereinander bekomplimentieren, dann tanzen, springen, einen betrunkenen Mann vorstellen, holländisch und deutsch lesen und singen, den Mantel bald um-, bald wegwerfen usw. »Ich für meinen Teil«, berichtet Kämpfer, »stimmte hiebei eine deutsche Liebesarie an.« Beim Abschied mußte der Resident geloben, in keine Verbindung mit der Christensekte zu treten und alljährlich dem Kaiser Mitteilungen über sie zu machen. Nicht nur ließen die Holländer sich diese demütigende Stellung gefallen, sondern es wird sogar in Geschichtswerken erzählt, daß bei Christenverfolgungen in Japan holländische Kanonen ihr gutes Teil mitgeholfen haben.

An einem der umliegenden, herrlich bewaldeten Hügel in die Höhe steigend, kam ich zu einem großen Tempel, der im Schatten riesiger Kampferbäume lag, daneben auf einer schattigen Terrasse mit herrlicher Aussicht auf Stadt und Meer ein japanisches Wirtshaus oder Teehaus. Die Teehäuser sind die Hotels und die Kneipen Japans. Der Wanderer findet dort nächtliche Unterkunft, der Hungrige Reis und Fisch, der Durstige seinen Tee oder auch Saki (Reiswein). Einen Hauptanziehungspunkt bilden namentlich für die Fremden die freundlichen, kleinen Japanerinnen, die in äußerst anmutiger und natürlicher Weise ihre Bedienung besorgen, und durch kindliches Geplauder und ihre heitere Laune mehr fesseln als der sanfte, stark gezuckerte Aufguß von japanischem Grüntee, den sie in kleinen Porzellantäßchen auflegen, oder das Rauchmaterial, das jederzeit mitserviert wird und in einem Feuerbecken mit glühenden Kohlen, einem Spucknapf, einem halbfingerhutgroßen Pfeifchen und etwas feingeschnittenem japanischem Tabak besteht.

Anläßlich der Tempel erwähne ich hier, daß in Japan zwei heidnische Kulte zur Herrschaft gelangt sind: der Shintoismus und der Buddhismus. Der Shintoismus, auch Kamilehre genannt, hat sich in den ältesten Zeiten aus der Anbetung von Sonne und Mond entwickelt und besteht in der göttlichen Verehrung der Kami oder Geister berühmter abgeschiedener Fürsten, lieber Verwandter, Gelehrter u. a. Die Sittenlehre der Shintoisten stammt von Confucius, dem chinesischen Sokrates, und enthält als oberstes Gesetz die Pietät gegen die Eltern, welche denn auch in Japan durchweg in tadelloser und oft rührender Weise geübt wird. Der Kaiser Japans ist Shintoist, und so auch der größte Teil der vornehmen Familien. Der Buddhismus gelangte in der Mitte des 6. Jahrhunderts nach Japan und fand ungeheure Verbreitung, da er die Shintogötter tolerant in sein System aufnahm und da die Schilderung der Seelenwanderungslehre und der fernen paradiesischen Welten, wo Gleichheit aller Buddhaverehrer herrscht, der japanischen Phantasie ungemein zusagte.

Noch muß ich der christlichen Religion gedenken, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts 800 000 (nach anderen dreimal mehr) Bekenner zählte. Die schrecklichen Verfolgungen, die durch Jahrzehnte fortdauerten, brachten Hunderttausenden einen qualvollen Tod; Martern, wie sie die Annalen der ersten Kirche nicht aufweisen, hatten diese japanischen Christen zu erdulden, und sie zeigten dabei eine Standhaftigkeit, wie sie die Geschichte aus den römischen Arenen und dem Kolosseum meldet. Und doch hat seit der Zeit, also durch mehr als 300 Jahre hindurch, in der Nähe von Nagasaki, ohne Wissen der Regierung, eine große Gemeinde (Urakami) ihren christlichen Glauben bewahren können. Die japanische Behörde soll 1868 bei Entdeckung dieser Tatsache anläßlich der Verkündigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht wenig überrascht gewesen sein.

Unser Schiff verließ Nagasaki nachmittags 3 Uhr und langte nach dreißigstündiger Fahrt durch die sogenannten Inlandseen in Kobe-Hiogo an. Diese Route sucht ihresgleichen an Schönheit. Meist sind ein oder beide Ufer deutlich sichtbar; schöne Wälder wechseln ab mit frischgrünen Reisfeldern; in den zahlreichen, durch Kähne aller Art belebten Buchten liegen freundliche, japanische Dörfer. Die Inlandseen sind reich an Klippen und grotesk geformten felsigen Inseln; oft verschließen diese die Perspektive derart, daß es kaum möglich scheint, einen Durchpaß zu finden; doch steuerte der von Nagasaki mitgenommene Lotse, dank überall angebrachter Leuchtschiffe unser Schiff auch bei Nacht sicher an allen Riffen vorbei, und am 23. August morgens 9 Uhr lagen wir auf der Reede von Kobe vor Anker und bewunderten schon an Bord die schöne Stadt mit der prächtigen europäischen Häuserfront längs des Ufers und dem waldzerrissenen, gebirgigen Hintergrund. In Gesellschaft eines chilenischen Pflanzers verließ ich das englische Schiff, um von Kobe aus die wichtigsten Städte, Osaka und Kioto, den früheren Sitz des Mikado, zu besuchen und erst mit zweitnächster Gelegenheit, auf einem japanischen Dampfer, nach Yokohama zu fahren. Diese drei Städte sind durch eine neuerbaute Eisenbahnlinie verbunden. Sie führt durch fruchtbare Gefilde, Reis-, Kartoffelfelder, Teeplantagen usw. und kreuzt mehrere breite Flußbette. Zu beiden Seiten der Linie liegen freundliche Dörfer, denen man die Wohlhabenheit ansieht; hie und da auch ein Tempelhain, eine dunkelgrüne Oase im hellgrünen Reismeer, oder ein mit Grabsteinen dicht besäter Friedhof. Streift das Auge weiter, so trifft es hier auf das blaue Binnenmeer, belebt durch Segelboote, dort auf einen malerischen Gebirgszug mit Wasserfällen, zerrissenen Felsen und schönen Baumgruppen. In Osaka blieben wir nur einige Stunden. Es ist die erste Handelsstadt Japans für den Binnenhandel mit 200 000 Einwohnern. Leider ist der Hafen zu seicht, und daher kann es mit Kobe oder Yokohama im Außenhandel nicht mehr konkurrieren. Imposant ist das alte Kastell, mit gewaltigen Umfassungsmauern aus Granitquadern, in dessen Umgebung während des japanischen Bürgerkriegs im Mittelalter Ströme Bluts geflossen sind.


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