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Die große sibirische Eisenbahn.

Nach »Rußland in Asien«.

Im Jahr 1886 schrieb Kaiser Alexander III. auf einen Bericht des General Gouverneurs von Ostsibirien: »Wie viele derartige Berichte habe ich schon gelesen, und mit Kummer und Scham muß ich eingestehen, daß die Regierung bis jetzt fast nichts getan hat, um die Bedürfnisse dieses reichen, aber vernachlässigten Landes zu befriedigen! Es ist aber Zeit, hohe Zeit.« Diese Randbemerkung wirkte. Noch am Ende des Jahres wurde beschlossen, Expeditionen abzusenden, um die Bodenverhältnisse für eine Bahn von Tomsk bis Irkutsk, vom Baikalsee bis Strietensk und von Wladiwostok bis Chabarowsk zu untersuchen.

Nachdem Alexander III. am 5. März 1891 seine Genehmigung erteilt hatte, wurde das Riesenwerk begonnen und zwar gleichzeitig im Westen und Osten. Am 31. Mai 1891 wurde von dem damaligen Großfürsten Thronfolger, dem heutigen Kaiser Nikolaus II., der sich damals auf einer Weltreise befand, der Grundstein zu dem Stationsgebäude in Wladiwostok gelegt und der erste Spatenstich zum Bahnbau getan. Im Westen erforderte die Frage, wo an das russische Eisenbahnnetz angeknüpft werden solle, lange Erwägungen. Schließlich entschied man sich, nicht die Linie Jekaterinburg-Tjumen, sondern weiter südlich von Samara über Ufa und Tscheljabinsk nach Osten zu bauen. Die ganze Bahn von Tscheljabinsk bis Strietensk, wo dann der Amur einsetzt und die Eisenbahn durchs Dampfschiff abgelöst wird, bis Chabarowsk, von wo dann wieder die Ussuribahn nach Wladiwostok führt, hat eine Länge von 5190 Kilometer (4865 Werst). Die Amurstrecke, deren Bau mit großen Schwierigkeiten verknüpft wäre, wurde zunächst nicht in Angriff genommen. Einen Ersatz bietet die chinesische Ostbahn, welche die Mandschurei durchzieht und eine geradlinige Verbindung mit Wladiwostok herstellt. Von ihr zweigt bei Charbin die südmandschurische Bahn nach Port Arthur ab, die aber im Frieden von Portsmouth, der den russisch-japanischen Krieg 1905 abschloß, mit ihren Zweigbahnen und allen ihren Einrichtungen an Japan abgetreten wurde.

Dies ganze Bahnnetz erforderte zu seinem Ausbau ein Kapital von etwa 2 Milliarden Mark. Die meisten Schwierigkeiten bereitete die Umgehungsbahn am Baikalsee, die erst 1905 vollendet wurde. Bis dahin behalf man sich mit einer Dampffähre, die zum Eisbrechen eingerichtet war und ganze Eisenbahnzüge aufnehmen konnte. Durch sie wurde das Ende der mittelsibirischen Bahn mit der Anfangsstation der Transbaikalbahn in Verbindung gebracht. Der Eisbrecher ist imstande, 4 Fuß dickes Eis zu durchbrechen. Seit die Umgehungsbahn fertig ist, wird der Eisbrechdampfer zur Befriedigung des Handelsverkehrs auf dem Baikalsee verwendet, denn die an ihn grenzenden Gebiete sind reich an Fundorten von Mineralien.

Am wechselvollsten waren die Geschicke der ostchinesischen Bahn. Ihre Geschichte ist mit Blut geschrieben. Denn die Kämpfe der Russen in der Mandschurei im Jahre 1900 hatten in der Hauptsache die Wiedergewinnung der von den Aufständischen zerstörten, noch im Bau begriffenen Bahn und die Befreiung der sich noch verteidigenden Mannschaften der Schutzwache und des Bahnpersonals zum Ziel.

Und was ist nun durch die riesigen Opfer an Geld und Blut erreicht? Es will schon etwas heißen, daß sich die etwa 8000 Kilometer lange Strecke von Moskau nach Wladiwostok jetzt in 10 Tagen zurücklegen läßt, während der Seeweg von Moskau über Odessa nach Wladiwostok mindestens 40 Tage erfordert. Aber die Bedeutung der sibirischen Bahn geht noch weiter. Mit Recht sagt Witte in seinem Bericht über seine Inspektionsreise 1903: »Die Weltbedeutung dieser Bahn wird jetzt von niemand mehr bestritten. Sie wird sowohl bei uns als im Ausland anerkannt. Durch einen fortlaufenden Schienenstrang Europa und Asien verbindend, wird diese Straße zum internationalen Transportweg werden, auf dem der Warenaustausch zwischen dem Westen und Osten vor sich gehen muß. China, Japan und Korea, deren Bevölkerung eine halbe Milliarde erreicht und deren Handelsumsätze jetzt schon eine Milliarde übersteigen, werden jetzt in engeren Beziehungen zu Europa, dem Markte hoher industrieller Kultur, treten, der der Rohmaterialien des Ostens bedarf. Der Bedarf dieser Länder an europäischen Fabrikaten wird sich steigern und europäisches Wissen und Kapital werden ein neues ausgedehntes Arbeitsfeld finden. Der asiatische Osten war bis in die letzte Zeit für die Völker Europas eine unerforschte Welt, die Jahrtausende ein Leben der Abgeschlossenheit geführt, sich von der westlichen Zivilisation ferngehalten und ihre eigene nationale Kultur geschaffen hat. Der Bau der sibirischen Bahn eröffnet Europa die Pforten zu dieser abgeschlossenen Welt und bringt es in Verbindung mit der mongolischen Rasse. Schwierig ist es freilich, alle Veränderungen vorauszusehen, zu denen die Annäherung der gelben und weißen Rasse führen wird.

Außer dieser ihrer internationalen Bedeutung wird die sibirische Bahn Rußland im innern Verkehr die verschiedensten Vorteile gewähren. Der russischen Industrie wird ein neuer Binnenmarkt erschlossen. Die Bevölkerungsüberschüsse des europäischen Rußlands werden einen Abfluß in die neuen Gebiete finden. Die Verarbeitung der natürlichen Reichtümer Sibiriens, das Anwachsen seiner Bevölkerung, die Entwicklung der Industrie werden die Produktionskräfte unseres Vaterlandes steigern, und Sibirien selbst wird ein aktiver Teilnehmer am Kulturleben werden. Der Bau der sibirischen Bahn wird in der Geschichte ohne Zweifel mit ehernen Lettern als eines der größten Weltereignisse und eine der ruhmreichsten Taten der kaiserlichen Regierung verzeichnet werden.« Witte hätte noch einen weiteren Nutzen dieser Bahn nennen können: der Jammerweg der Deportierten, die Monate lang durch die öden Gegenden geschleppt wurden, wird durch den Schienenweg abgekürzt, der Transport humaner und kommt überdies der Regierung billiger zu stehen.

Die hochgespannten Erwartungen gehen nur sehr allmählich in Erfüllung, und die kolossalen Opfer, die Rußland für den Bau dieser Bahn gebracht hat, hindern die Zeitgenossen an der richtigen Beurteilung ihres Wertes und ihrer Bedeutung. Wenn sie bis jetzt nicht das leistet, was von ihr erwartet wurde, so hat das zum Teil seinen Grund in der Bauausführung. Im Blick auf die riesigen Kosten wurde eingleisig gebaut, das Gewicht der Schienen verringert, ungenügendes Betriebsmaterial verwendet, kleinere Gewässer wurden mit Holzbrücken überspannt; die Rücksicht auf die Schnelligkeit des Verkehrs trat ganz zurück. Dazu kam dann noch mangelhaftes Personal im Verwaltungs- und Betriebsdienst. Daß die Mehrzahl der Beamten eine Versetzung in die menschenleeren Stationen oder gar in die Baracken der ostchinesischen Bahn nicht wünschten, liegt auf der Hand. Die meisten der nach Sibirien gesandten Beamten machten ernst mit dem Sprichwort: »Der Himmel ist hoch, und der Zar ist weit.« Kein Wunder, wenn man in den Jahren vor dem Krieg mit Japan oft den schwersten Klagen über die Behandlung der Passagiere durch das Bahnpersonal begegnet. Vornehme Reisende genossen in ihren Salonwagen einen Luxus, der auf europäischen Bahnen völlig unbekannt ist. Aber die in eisiger Winterkälte der Mandschurei auf offenen Wagen fahrenden Chinesen erfroren oft, ehe sie die Station erreichten, ohne daß sich jemand um sie kümmerte.

Inzwischen ist vieles besser geworden, und im Russisch-Japanischen Krieg hat die Bahn sich glänzend erprobt durch ihre großartige Leistung im Mobilmachungstransport. Trotz aller Mängel haben die Bahnen während des ganzen Krieges nie versagt, und dem Feind ist es nicht gelungen, sie auf weite Strecken und auf längere Zeit außer Betrieb zu setzen. Welcher Apparat an Personal dazu gehörte, von der Wolgabrücke bei Syssran ab, jede Brücke, jeden Kunstbau durch Wachen und Posten zu sichern, bedarf keiner Erläuterung. Die ostchinesische Eisenbahn litt empfindlichen Mangel an rollendem Material. Das Hinüberschaffen desselben über den Baikal, der zugefroren war, machte unendliche Schwierigkeiten. Da ordnete Fürst Chilkoff eine Maßregel an, die in der Geschichte der Eisenbahn wohl einzig dasteht. Es wurde ein Schienenstrang über den immerhin sehr ungleich gefrorenen See gelegt, auf dem dann das rollende Material, die Lokomotive in zerlegtem Zustande, hinübergeschafft wurde. Im ganzen sollen in der Zeit vom 3. bis 28. März gegen 1700 geschlossene Güterwagen, 411 geheizte Waggons, 262 offene Wagen, 65 Lokomotiven und 25 Personenwagen von der Station Baikal zur Station Tanchoj über das Eis geschafft worden sein. Bei Eintritt des Tauwetters wurde diese »Eis-Eisenbahn« abgebrochen. Zum Transport der Truppen scheint sie nie gedient zu haben. Diese haben den See auf dem Fußmarsch überschritten.

Ungünstiger als die Hinfahrt auf den Kriegsschauplatz gestaltete sich die Heimfahrt. So schreibt ein Oberarzt: »Die Eisenbahnfahrt kann einen zur Verzweiflung bringen. Alle 10 Werst kommt eine Haltestelle, wo der Zug 2-6 Stunden hält. Da gibt es nichts zu essen und zu trinken. Würde doch wenigstens für gekochtes Wasser gesorgt; um den allgemeinen Gesundheitszustand wäre es besser bestellt.« Am schlimmsten scheint es mit dem Transport der Verwundeten gestanden zu haben. Die greulichsten Tage sah die Eisenbahn nach dem Krieg, als wüsteste Anarchie herrschte und ein Eisenbahnerstreik, der bis zu den höheren Beamten hinaufreichte, den Rücktransport lahm legte. Die Bahn befand sich auf gewissen Strecken tagelang in den Händen streikender Beamter, die vom Pöbel und betrunkenen Reservisten unterstützt wurden – ein schmählicher Abschluß der glänzenden Rolle, die sie im Krieg gespielt hatte. Im ganzen hatte die eingleisige Bahn 606 Bataillone, 201 Schwadronen, 283 Batterien, 515 000 Gewehre und Säbel und 1856 Feldgeschütze befördert.


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