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Von Aleppo nach Harran.

Nach Rohrbach in der »Hilfe« 1911.

Von Beirut über den Libanon nach Damaskus geht seit 1895 eine Schmalspurbahn. Sie ist fast in jeder Beziehung ein Musterbeispiel dafür, wie Eisenbahnen im Orient nicht gebaut werden sollen. Eine französische Gesellschaft hatte die Konzession erhalten; statt aber eine bau- und betriebstechnisch günstige Trace über das Gebirge zu suchen, was eine einfache Sache gewesen wäre, verband man Terrainspekulationen im Libanon mit der Linienführung der Bahn und kam so zu Steigungsverhältnissen, die Zahnradstrecken von über dreißig Kilometer Länge notwendig machten und den Betrieb von vornherein wenig leistungsfähig und unrentabel gestalten mußten. An diese erste syrische Stammlinie wurde vor einigen Jahren ein wichtiger, längerer Strang angesetzt, der bei Rayak, in dem Hochtal zwischen Libanon und Antilibanon, abzweigt und über die Städte Hama und Homs nach Aleppo geht. Diese Linie hat wegen des Anschlusses an die Bagdadbahn von vornherein Normalspur erhalten, und sie wird sich in naher Zukunft zu der eigentlichen syrischen Hauptlinie entwickeln. Die Konzession hat dieselbe Gesellschaft, die auch die Bahn von Beirut nach Damaskus erbaute. Betrieb und Einrichtung der Züge nach Aleppo lassen leider so gut wie alles zu wünschen übrig; namentlich sind die Interessen der türkischen Regierung durch den noch unter dem alten Regime geschlossenen Vertrag mit der Gesellschaft recht mangelhaft gewahrt.

Bei Aleppo hört vorläufig die Eisenbahn auf, in kurzem aber wird sich das ändern, denn die Bagdadbahn geht jetzt mächtig voran und wird nach den neuesten Entschließungen nicht nur eine Zweiglinie nach Aleppo entsenden, wie früher geplant war, sondern selbst über den Platz geführt werden. Besondere Freude aber herrscht hier, daß die Gesellschaft auch die Konzession Osmanij–Alexandretta erhalten hat. Zu diesem Entschluß können sich beide, die Türkei und die Bagdadbahngesellschaft beglückwünschen. Der nächste Hafen an der Bagdadbahnlinie für Aleppo sollte nach dem früheren Plan nicht Alexandretta sein, sondern das weit entfernte Mersina an der Südküste von Cilicien. Diese Gestaltung des Projekts wird dadurch verständlich, daß aus strategischen Gründen die Bagdadbahn nirgends das Meer berühren soll. Verkehrspolitisch und technisch wäre es das vorteilhafteste, sie nach Überwindung des Taurus, d.h. von Adana aus, direkt an dem Golf von Alexandretta heran, und dann unmittelbar an der Küste entlang bis zu diesem Platze selbst zu führen. Von Alexandretta aus wäre dann die Überwindung des Amanusgebirges durch einen Tunnel von mehreren Kilometern Länge erfolgt, wonach weiter ostwärts bis nach Bagdad und bis zum Persischen Golf mit Ausnahme der Überbrückung der Ströme keine weiteren Schwierigkeiten vorlagen. Eine Bahn aber, die nahe der Meeresküste um den Golf von Alexandretta läuft, kann durch eine feindliche Flotte so unter Feuer genommen werden, daß sie an dieser Stelle völlig unterbrochen ist. Was das im Ernstfall für die Türkei bedeuten würde, lehrt ein Blick auf die Karte. Gesetzt, eine feindliche Macht bedrohte Bagdad oder schickte sich an, von Ägypten her nach Syrien einzudringen, so käme es darauf an, die Truppen aus dem Kernlande Anatolien dorthin zu dirigieren. Ist aber die Bagdadbahn am Golf von Alexandretta unterbrochen, so sind Syrien, Mesopotamien und Arabien außer Verbindung mit dem übrigen Reich. Daher bestand die türkische Heeresleitung von Anfang an auf Führung der Trace durch das Binnenland. Eine zeitlang wurde auch erwogen, ob man die Bahn nicht doch an der Küste entlang bauen und zu ihrem Schutz Befestigungen am Eingange des Golfs errichten solle. Man mußte sich indessen überzeugen, daß die Kosten hierfür in keinem Verhältnis zu dem Gewinn gestanden hätten. Die Notwendigkeit, Alexandretta in Verbindung mit der Bagdadbahn zu bringen, blieb aber unabhängig davon bestehen, denn erstens war mittlerweile klar geworden, daß Alexandretta gute, Mersina dagegen, abgesehen von seiner Entfernung, sehr schlechte natürliche Hafenverhältnisse besitzt, und zweitens hätte England versucht, Alexandretta zum Anfangspunkt einer englischen Linie in das Euphratgebiet hinein zu machen.

Schon seit Jahrzehnten stehen sich zwei verschiedene Bagdadpläne gegenüber: einer im türkischen, d. h, unter den gegenwärtigen Verhältnissen im türkischdeutschen, und einer im englischen Interesse. Für das politische, militärische und wirtschaftliche Erstarken der Türkei kommt es darauf an, daß die entfernten Provinzen des Reiches durch Bahnbauten in Verbindung mit dem Schwerpunkt des ganzen, Anatolien und Konstantinopel, gebracht werden. Die Entwicklung des Eisenbahnsystems muß daher folgerichtig vom politischen Zentrum nach der Peripherie zu fortschreiten und die Provinzen fest an die Autorität der Zentrale binden. Diesem Prinzip entspricht auch der Plan der jetzt im Bau begriffenen Bagdadbahn, die eine türkische Staatsbahn unter technischer Verwaltung der Bagdadbahngesellschaft wird. Die englische Politik dagegen befolgt andere, entgegengesetzte Ziele. Willcocks, der berühmte Wasserbauingenieur, der jetzt an der Wiederherstellung der alten babylonischen Kanäle im Gebiet von Bagdad arbeitet, hat vorgeschlagen, eine Bahn zu bauen, die von Bagdad parallel dem Euphrat nach einem Hafen an der syrischen Mittelmeerküste führen soll. Bagdad selbst liegt vorläufig, solange die Eisenbahn von Kleinasien und Syrien her es noch nicht erreicht, im Einflußgebiet Englands von Indien und vom Persischen Golfe her. Die bequemste, wenn auch nicht die kürzeste Verbindung dorthin führt gegenwärtig über Aden, Bombay und Basra. Von Basra aufwärts bis Bagdad ist der Tigris für größere Flußdampfer fast zu allen Jahreszeiten schiffbar. Daher richteten sich die englischen Bestrebungen auch auf Gewinnung des Schifffahrtsmonopols in den mesopotamischen Strömen, Bestrebungen, die durch den Widerstand der Bevölkerung und die Einsicht der türkischen Autoritäten vorläufig ergebnislos geblieben sind. Bei Lichte besehen heißt also der Willcockssche Plan, daß eine Bahn gebaut werden soll, die im Wirkungsbereich der den Persischen Meerbusen beherrschenden englischen Macht anfängt und zwischen den beiden Positionen Englands im Mittelmeer, Cypern und Ägypten, endet. Es ist klar, daß die Türkei im Falle politischer Verwicklungen von einer derartigen Linie nicht nur keinen Nutzen hätte, sondern daß ihr eher Gefahren entständen. Namentlich verbietet das türkische Interesse, daß Bagdad von einer andern Bahn erreicht und dieser wichtige Platz der Gefahr auswärtiger aggressiver Tendenzen preisgegeben wird, bevor die türkische Bagdadbahn die Verbindung zwischen der Provinz Irak, dem Vilajet von Bagdad, und den Kernländern des Staates sichert. Neben diesen politisch-militärischen Gesichtspunkt tritt für die Bagdadbahn natürlich auch der wirtschaftliche, und nach dieser Seite hin ist es selbstverständlich, daß der Güterverkehr zwischen Mesopotamien und dem Westen einen Hafen braucht, der den teuren Eisenbahntransport möglichst verkürzt. Es ist ausgeschlossen, daß die Waren von und nach Aleppo, Mossul und Bagdad per Bahn durch ganz Kleinasien gefahren werden, und hier liegt die große Bedeutung des Entschlusses, den besten Hafen Nordsyriens, Alexandretta, durch die bei Osmanijé abzweigende Seitenlinie an die Bagdadbahn anzuschließen. Auf diese Weise wird gleichzeitig den militärischen wie den handelswirtschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung getragen, und allen auf Durchkreuzung des vorhin charakterisierten Systems abzielenden Wünschen von dritter Seite wird von vornherein der Boden entzogen.

1. Ausflug nach Urfa.

Wie weit es von Aleppo nach Urfa dem alten Edessa der Kreuzzüge ist, kann niemand genau sagen, denn im Orient werden die Wege nicht nach Kilometern gemessen. Ob es zweihundert sind oder etwas mehr oder weniger, ist gleichgültig, denn nicht die Länge des Weges entscheidet, sondern welche Hindernisse sich auf ihm finden. Die Hauptfrage ist, ob man fahren kann, oder ob man reiten muß. Zum Fahren würde nach unsern Begriffen eine Straße gehören. Das ist hierzulande nicht nötig; man fährt durchs Gelände, und wenn es irgendwo zu bergig und steinig wird, dann hört das Fahren eben auf, oder man fährt trotzdem. Natürlich kann es dabei passieren, daß der Wagen umfällt oder zerbricht und daß man unterwegs liegen bleibt. Aber ob sich so etwas ereignet, das hat Allah vorherbestimmt, und dazu kann kein Mensch etwas tun. Unter diesem Vorbehalt läßt sich sagen, daß man bei Eile und trockenem Wetter in zweieinhalb Tagen von Aleppo nach Urfa kommen kann; will man bequem fahren, so braucht man einen Tag mehr. Wenn es geregnet hat und der Boden aufgeweicht ist, so kann es noch viel länger dauern. Zunächst also wurde der Wagen gemietet.

Wir bekamen ein sehr gutes, neues und bequemes Gefährt mit einem verständigen Kutscher; dazu einen dienstbaren Geist, einen armenischen Schuhmacher, der aus Urfa stammte und etwas Englisch gelernt hatte, und einen Saptié (berittenen Gendarmen) zur Bedeckung. Notwendig ist die Eskorte hier noch nicht, aber es reist sich angenehmer damit. Früh mit Sonnenaufgang ging es aus dem engen Basar von Aleppo hinaus.

Am nächsten Morgen wurde wieder möglichst früh aufgebrochen, aber leider doch nicht früh genug, denn als wir nach drei Stunden an den Euphrat kamen, stand dort schon eine ganze Anzahl Wagen vor uns. Wir mußten also warten, bis die übergesetzt waren, und waren erst um ein Uhr mittags so weit, daß drüben wieder eingespannt werden konnte.

Der letzte Abstieg zum Euphrat ist sehr steil; vorsichtige Leute, zu denen in diesem Falle auch wir alle gehörten, steigen hier aus dem Wagen und gehen zu Fuß bis ans Wasser hinunter. Dagegen streitet freilich der Ehrgeiz mancher Kutscher. Unsrer, der auf den alttestamentlichen Prophetennamen Nahum hört, arabisch Naum, ist aber ein vorsichtiger Mann und war ganz zufrieden, allein auf dem Bock zu bleiben. Landschaftlich enttäuscht der Euphrat an dieser Stelle sehr, und meine Frau gab dem Gefühl auch unverhohlen Ausdruck. Um diese Jahreszeit ist der Fluß hoch geschwollen, aber die graugelben schaumigen Wassermassen wälzen sich durch ein ganz totes Gelände. Das rechte Ufer ist hoch; ausgebuchtete und gegen den Fluß hin steil abgewaschene Wände von Kreidekalk ziehen sich stromauf und stromab, soweit der Blick reicht; gegenüber ist flaches Land. Nur der große alte Stadtberg Tell Achmar erhebt sich einige hundert Meter vom Ufer, an ihn gelehnt das Dorf gleichen Namens, dessen Bewohner den Fährdienst besorgen. Nicht ein einziger Baum, nicht ein grüner Strauch ist nah und fern zu entdecken. Eine Insel, die bei Tell Achmar durch das Hochwasser entsteht, erleichtert etwas die Überfahrt; ihre einzigen Bewohner sind schwarze Ibisse von einer seltenen, heilig gehaltenen Art. Man wird erst in einem plumpen großen Boot, das einen Wagen und drei bis vier Pferde aufnehmen kann, bis auf die Insel gebracht; dann ziehen die Fährleute das Boot um die Spitze der Insel und schleppen es auf dem andern Ufer mühsam ein großes Stück in die Höhe. Dort steigt man wieder ein, das Fahrzeug wird abgestoßen und treibt nun, mit langen Stangen gerudert und gesteuert, reißend schnell über den Hauptarm des Euphrat. Es sieht manchmal ängstlich aus, ist aber nicht weiter gefährlich. Für jeden Wagen wird eine Medschidijé, ca. 3½ Mark, an Fährgeld erhoben. Unser Armenier erzählte, daß die Leute aus diesem Dorf große Banditen seien und sich nachts an den Weg legten, um gelegentlich einen kleinen Überfall zu probieren. Was Tell Achmar im Altertum gewesen ist, weiß man noch nicht sicher. Einige Stunden oberhalb, bei Dscherablus, wo ich 1900 in der Nacht der Jahrhundertwende an den Euphrat kam, hat man das alte Circesium oder Karkemisch gesucht. Dort besiegte der babylonische Kronprinz Nebukadnezar 606 vor Christus den Pharao Necho, und eine englische Gesellschaft macht jetzt am Platz bedeutende Ausgrabungen. Karkemisch soll aber nach neueren Ergebnissen bedeutend weiter stromab gelegen haben. Von Tell Achmar an waren wir also in Mesopotamien. Stundenlang führte der Weg durch ein vollkommen ödes Gelände, zerfurchte und zerfressene Kalkhügel von karstartigem Charakter. Heute gibt es hier nichts zu sehen, als hier und da eine Schafherde, einen kurdischen Hirten und nach etwa zwei Stunden ein einziges einsames Dorf. Die Leute dort sollten natürlich wieder Räuber sein; räubermäßig genug sahen sie diesmal aus. In früheren Zeiten muß auch diese scheinbar wirklich sterile Landschaft viel besser bevölkert gewesen sein, denn wo sich irgendein kleines Tal mit ebenem Boden zeigte, lag auch ein Tell darin, und alte Grundmauern, bis auf den Erdboden herab, zerstört und abgeschliffen, liefen öfters quer über den Weg. So ging es beinahe vier Stunden, bis jenseits einer kleinen Paßhöhe, auf der zahllose winzige Steinpyramiden, von den Vorübergehenden aufgebaut, standen. Dann rasch hinunter in die große, gut angebaute Ebene von Surudsch, die wie ein flaches, rings geschlossenes Becken in die Karstlandschaft eingesenkt ist.

Surudsch war unser zweites Nachtquartier. Von dort bis Urfa sind noch vier bis fünf Stunden. Halbwegs erreicht man die schöne, im Bau befindliche Fahrstraße von Urfa nach Viredschik am Euphrat. Jetzt, wo die Bagdadbahn kommt, wird sie wohl kaum noch vollendet werden. Unmittelbar vor der Chaussee führt der Weg von Surudsch her durch ein felsiges Tal, an dessen Südwand alte Höhlen mit griechischen und arabischen Inschriften über dem Eingang liegen. Vor einer dieser Höhlen lagen hunderte verwesender Schafkadaver. In dem harten Winter dieses Jahres, dem schlimmsten, den Syrien und Mesopotamien seit Menschengedenken erlebt haben, sind hunderttausende von Tieren zugrunde gegangen. Auch alle Öl- und Maulbeerbäume sind erfroren. Zwischen Surudsch und Urfa beginnt jene Region Obermesopotamiens, die voll ist von eigentümlich gearteten baulichen Überresten aus dem Altertum. Sie sind zum Teil in den Kalkfels gehauen, zum Teil waren sie oberirdisch aufgebaut oder aus dem Fels herausgearbeitet. Höhlen, Zisternen, Treppenanlagen, die zu verschwundenen Gebäuden führten, Trümmer von Landhäusern und Weilern erfüllen das Kalkgebirge tagereisenweit nach Osten.

Urfa liegt auf der ersten leisen Anschwellung, wo die mesopotamische Ebene nach Norden in die dem hohen Taurus vorgelagerte Kalklandschaft übergeht, über der Stadt ragt ein steiler Bergrücken empor, der die alte Festung trägt. Er ist durch einen gewaltigen Einhau von der Hauptmasse der Höhen, deren Ausläufer er bildet, getrennt.

Bis hierher war in der Zeit der Kriegszüge die abendländliche Herrschaft nach Osten vorgedrungen. Damals hieß die Stadt noch mit ihrem hellenistischen Namen Edessa, nach Edessa in Mazedonien. Der alte syrische Name war Urhai, gräzisiert Osrhoë. Seit dem zweiten Jahrhundert vor Christus residierten hier semitische Dynasten, die »Abgare«, als Vasallen der Seleuziden und später der Römer. Der fünfte Abgar, Uchumo, soll nach einer aus dem frühen christlichen Altertum stammenden Legende mit Jesus im Briefwechsel gestanden haben! Noch Eusebius zur Zeit des Konsils von Nicäa hielt diese Briefe für echt. 1097 nach Christus eroberte Balduin, der Bruder Gottfrieds von Bouillon, an der Spitze eines Heeres, das aus niederrheinischen Deutschen bestand, Edessa und das obere Mesopotamien und wurde Lehnsträger des Königreichs Jerusalem. Nach einem halben Jahrhundert aber verlor der Fürst Jocelyn II. Stadt und Gebiet an den mohammedanischen Emir von Mossul.

Für das deutsche Interesse ist Urfa durch zwei oder drei deutsche Werke, die hier getrieben werden, wichtig. Es sind das das Hospital und das Waisenhaus der deutschen Orientmission und die deutsche Teppichmanufaktur. Die Orientmission ist das Lebenswerk von Johannes Lepsius, aus dessen Armenierhilfe sie hervorgegangen ist. Ich habe vor Jahren einmal in den Preußischen Jahrbüchern eine Berechnung darüber angestellt, wieviel Geld nach den armenischen Massakers der neunziger Jahre aus Europa und Amerika nach Armenien geflossen ist; ich glaube, es waren zweieinhalb Millionen Mark, und auf Deutschland entfiel davon der vierte oder fünfte Teil. Es ist nicht zuviel gesagt, daß diese Hilfe einen großen Teil der armenischen Nation gerettet hat, denn Zehntausende, vielleicht Hunderttausende außer denen, die das Morden Abdul Hamids hinweggerafft hatte, wären noch in der Folge an Hunger, Kälte und Wunden zugrunde gegangen, wenn nicht die große Hilfsaktion im Abendland eingesetzt hätte. Als ich Urfa vor zehn Jahren besuchte, war das Innere der armenischen Kathedrale, wo die Mohammedaner 2000 Menschen hatten ersticken lassen, noch durch Rauch geschwärzt. Jetzt sind jene Tage fast vergessen, und die Kleinen, die ich damals in dem Lepsiusschen Waisenhause sah, sind herangewachsen und, wie man nach übereinstimmendem Urteil wohl sagen darf, etwas Rechtes geworden. Das Waisenhaus zählt aber immer noch etwa 150 Kinder, denn vater- und mutterlose Waisen oder solche, denen die überlebende Mutter keine Nahrung schaffen kann, gibt es unter den Armeniern noch genug. Außerdem ist eine ganze Anzahl Kinder aus Antiochien herübergebracht worden, wo im April 1909, zu derselben Zeit, wie in Adana, wieder ein Massaker stattfand, hoffentlich das letzte, das noch auf die Todeszuckungen des alten Regimes zurückzuführen war. An das Waisenhaus haben sich unter der Leitung der sehr verdienstvollen und hingebenden Vorsteherin, Fräulein Jeppe, verschiedene Handwerksmitglieder angegliedert: Weberei, Gerberei u. a. Diese Betriebe erzielen sehr schöne, auf dem Bazar von Urfa und weit darüber hinaus durch gute Preise anerkannte Leistungen. Es ist erstaunlich, mit welch organisatorischer Energie und welcher Einarbeitung in die Technik Fräulein Jeppe diese Dinge beherrscht und dirigiert; aber sie sind nicht das einzige Hervorragende, was sie geleistet hat. Sie hat es auch zustande gebracht, durch ein genial einfach erdachtes Schreib-Lesesystem den Elementarunterricht in der armenischen Sprache, um den es bisher bei den Schwierigkeiten des armenischen Alphabets und dem Mangel methodischer Ausbildung der armenischen Lehrkräfte sehr schlecht bestellt war, in einer Weise zu reformieren, daß die armenischen Lehrer und Lehrerinnen jetzt von weit und breit nach Urfa gezogen kommen, um die Jeppesche Methode zu lernen. Sie hat ferner erfolgreiche deutsche Unterrichtskurse für die älteren Zöglinge des Waisenhauses eingerichtet und regiert Kinder und Lehrerinnen, Hausväter und Hausmütter mit fester und verehrter Hand.

Eine zweite Säule für das Ansehen der christlichen Deutschen in Urfa und weit darüber hinaus ist das Hospital, an dem ein Arzt, Dr. Vischer, Deutsch-Schweizer, Diakon Künzler, sowie ein armenischer Arzt und mehrere einheimische Schwestern tätig sind. Wenn auch die Zahl der christlichen Patienten überwiegt, so nimmt doch die der mohammedanischen fortdauernd zu, und der Einfluß des Hospitals reicht bis weit in die mesopotamische Steppe und bis in die kurdischen Berge. Es ist nicht zu sagen, welch ein moralisches Eroberungskapital durch das Hospital und die ganze Arbeit der deutschen Orientmission in diesem Lande zinsbringend angelegt wird, und ich begreife die Kurzsichtigkeit nicht, mit der gelegentlich an der deutschen Orientmission gerade in der Heimat Kritik geübt wird. Die Kritiker können sicher sein: besser können die Gaben, aus denen das Werk der Orientmission erhalten wird, gar nicht angelegt werden, als hier geschieht. Das gilt vom allgemein menschlichen und vom deutschen, wie vom idealreligiösen Standpunkt aus gesehen. Nur darf kein verständiger Mensch erwarten, von heute auf morgen weithin sichtbare Früchte reifen zu sehen. Was der Orient zu seiner inneren kulturellen und religiösen Umwandlung braucht, sind andere Menschen, als er jetzt hat, Menschen, die unter dem Einfluß abendländisch-christlicher Gewissenhaftigkeit und Aufrichtigkeit erzogen sind, Menschen, die an den Werken, die von diesen deutschen Christen unter ihnen getan werden, und an dem lebendigen Segen, der von diesen Werken ausgeht, einen überzeugenden Eindruck von der inneren Kraft gewonnen haben, die dieser Art Tun innewohnt. Das ist eine Arbeit, die nicht mit Flügeln des Dampfes vorangeht, aber so langsam sie wirkt, so sicher tut sie es. Von dem Geist, der in dem Waisenhaus herrscht, gab uns ein Abend, den Fräulein Jeppe für die Gäste aus Deutschland mit ihren Kindern veranstaltete, ein erfrischend lebendiges Zeugnis. Eine Anzahl von Lehrerinnen und älteren Mädchen führten, in armenischer Sprache natürlich, die uns gedolmetscht wurde, Szenen auf, wie es in dem häuslichen Leben einer armenischen Familie zugeht, die noch nach alter Art, von Schulbildung, religiöser Belebung und andern Einflüssen der neuen Zeit unberührt, ihr Dasein führt. Die niedere Stellung der Frau, die wunderlichen und törichten Sitten der alten Zeit, der krasse Aberglaube und andres der Art wurden mit erfrischendem Humor, von einzelnen Darstellern sogar mit schauspielerisch feiner Ironie veranschaulicht. Alle Rollen mit Ausnahme eines unartigen kleinen Jungen, der dazu diente, die Erziehungsfehler und die pädagogische Hilflosigkeit der besserungsfeindlichen Alten zu demonstrieren, wurden von Mädchen gegeben.

Auch den Betrieb in der Teppichmanufaktur haben wir uns ausführlich angesehen. Sie hing ursprünglich ebenfalls mit dem armenischen Hilfswerk zusammen und diente dazu, den Witwen und armen Frauen nach dem Massaker Beschäftigung und Nahrung zu geben. Jetzt ist sie selbständig organisiert und wird auf geschäftlicher Grundlage betrieben, jedoch so, daß vor allen Dingen armenische Mädchen und Frauen aus der Stadt und frühere Waisenhauskinder beschäftigt werden. Ich war erstaunt zu sehen, wie sich die Urfaer Ware seit 1901, wo ich die ersten Anfänge der Arbeit in Urfa miterlebte, entwickelt hat. Es werden fast nur noch Qualitätsteppiche zum Preise von 25–30 M. pro Quadratmeter ab Fabrik hergestellt. Durch Bezug einer besonderen Art von Teppichwolle von der persischen Grenze und durch die Erfindung einer Methode, den neuen Teppichen den berühmten, echten und unvergänglichen Altersglanz zu verleihen, ist die Teppichmanufaktur von Urfa im Begriff, sich der gesamten orientalischen Teppichproduktion, was Qualität betrifft, in die vordere Reihe zu stellen, und es bleibt nur zu wünschen übrig, daß genügend Kapital hineingesteckt werden kann, um die Herstellung auch quantitativ weiter auszudehnen.

2. Von Urfa nach Harran.

Von Urfa machten wir einen Ausflug nach Harran, Direktor Eckard, Fräulein Jeppe, die Leiterin des Waisenhauses der Orientmission, und ich. Der Zweck dieser schön gelungenen Fahrt war für mich ein doppelter: die Ruinen zu sehen und unterwegs meine beiden Reisegefährten, die durch ihren langjährigen Aufenthalt im Lande über eine sehr genaue Kenntnis der Verhältnisse verfügen, soviel wie möglich auszufragen. Beides gelang ausgezeichnet.

Unser Kutscher von Aleppo, Naum, fuhr uns mit seinen Pferden und seinem Wagen auch nach Harran. Ich hatte ihn fragen lassen, ob die Tiere, die doch in zweieinhalb Tagen von Aleppo nach Urfa gegangen sind und in derselben Frist den Weg zurückmachen müssen, das aushalten würden, und glaubte, er würde die Fahrt ablehnen, aber er meinte kaltblütig, das könnten seine Pferde ohne weiteres leisten. Und er hat recht behalten. Aus dieser einheimischen Pferderasse ist wirklich bei einiger Pflege, und auf die versteht sich Naum, Unglaubliches herauszuholen. Erst die 200 Kilometer bis Urfa, dann ein Tag im Stall gestanden, dann gestern von morgen bis abend gute 80 Kilometer bis Harran und zurück, und übermorgen geht es wieder nach Aleppo. Das Höchste, was ich an Pferdeleistung im Orient erlebt habe, bleibt freilich die Fahrt vor anderthalb Jahren über den Taurus, von Tarsus nach Eregli in 50 Stunden, davon die Pferde 42 Stunden im Geschirr!

Der Weg von Urfa nach Harran führt ganz und gar durch die mesopotamische Ebene, die hier eine weitgedehnte Bucht in das dem Taurus vorgelagerte Kalkgebiet hinein entsendet. Am Nordrande dieser Bucht liegt Urfa; im Süden, wo sie sich mit der unendlichen Fläche von Innermesopotamien vereinigt, liegt Harran. Alle Gewässer, die in den Bergen rundum entspringen, sammeln sich in der Gegend von Harran und bilden dort den westlichen Ursprungsarm des Belich, der in der Nähe von Rakka in den Euphrat mündet und in der Regel das ganze Jahr hindurch Wasser führt.

Vor zehn Jahren hatte ich Harran nur von ferne liegen sehen; der Glockenturm der alten byzantinischen Kathedrale ist eine Tagereise weit sichtbar. Während der Fahrt zeigte sich alles Land zur Rechten und Linken vom Wege und bis an den Fuß der Berge mit Weizen bestellt. Wir passierten mehrere Dörfer und sahen auch in größerer Ferne verschiedene Ansiedlungen liegen. Allerdings standen zwischen den Häusern auch viele schwarze Beduinenzelte, denn ein Teil der Bevölkerung ist eigentlich erst halbansässig. Im Vergleich zu früher haben aber Besiedlung und Anbau der Harranebene sichtliche Fortschritte gemacht. Noch ist das freilich erst ein kleiner Anfang zu dem, was kommen wird, wenn die Bagdadbahn hier durchgeht, denn nicht nur die vierzig Kilometer zwischen Harran und Urfa, sondern ganz Ober-Mesopotamien, ein Gebiet, mindestens so groß wie Ost- und Westpreußen, kann in Kultur genommen werden, sobald die Bauern, die hier pflügen, ihres Lebens und ihres Eigentums wieder sicher sind. Das ganze Land ist erfüllt mit Tells, und jeder von diesen Hügeln bezeichnet die Stelle einer alten städtischen Siedlung. Den Anfang bildete gewöhnlich in entfernter Vorzeit eine künstliche Aufschüttung, um den befestigten, mit Mauern umgebenen Kern der Stadt darauf anzulegen. Bei dem wenig widerstandsfähigen Baumaterial, meist ungebrannte oder schwachgebrannte Lehmziegel, verfielen die Mauern und Gebäude schnell; sie wurden erneuert und erweitert, und auf diese Weise erhöhte und vergrößerte sich die Aufschüttung immer mehr. Als die Zeit der Verödung kam, verschwanden die schwachen Lehmmauern der Häuser, die solch eine Stadt bildeten, sehr schnell; auch die Burgmauern zerfielen, und nichts blieb übrig, als ein einsamer Hügel. Viele hundert solcher Tells erfüllen Mesopotamien, von Hatra südwärts Mossul über das Sindschargebirge, Nisibis und Harran bis an den Euphrat, und wo ein Flußlauf wie der Belich oder der bedeutende Charbur den südlichen steppenhaften Teil des Landes durchschneidet, begleiten ihn die Tells in dichtem Schwarm bis zur Mündung in den Hauptstrom. Nach Harran gibt es keine Straße, sondern nur Kamelpfade, aber man kann ohne Schwierigkeit überall durch die Ebene fahren. Alte steinerne Brücken zeigen, daß hier in früherer Zeit bedeutende Verkehrswege gelaufen sind, aber es ist lange her, denn die Flußläufe haben seitdem in dem weichen Erdreich ihr Bett hier und da verlegt, und unter dem freistehenden Brückenmauerwerk fließt kein Wasser mehr. Anderwärts war der Steindamm, der zum Brückenwege hinaufführt, weggespült und verfallen, so daß wir aussteigen mußten, dann faßte Naum die Tiere am Kopfzeug und führte sie vorsichtig mit dem leeren Wagen hinüber. Allmählich wuchsen der Turm von Harran und der mächtige Schuttberg, der die Stätte der alten Abrahamsstadt bezeichnet, breiter und höher am Horizont empor, und nach etwas über vier Stunden waren wir an Ort und Stelle. In einem Winkel der Ruine liegt heute ein arabisches Dorf; seine bienenkorbartigen Hütten sind aus flachen römischen Bauziegeln erbaut, von denen eine Schicht kreisförmig die zunächst darunterliegende immer etwas überragt. Nach dem System sind schon in vorhomerischer Zeit die Königsgräber von Mykenä angelegt worden. Wir gingen zunächst aber nicht ins Dorf, sondern ließen Naum bei einer alten Moschee, die vor der Mitte der westlichen Stadtmauer liegt, ausspannen.

Ich habe es, seit ich zum erstenmal von Harran Näheres hörte, schwer begreifen können, weshalb sich die archäologische Wissenschaft noch niemals mit Ausgrabungen hierher gewandt hat. Harran ist eine der ältesten Städte, die wir in dem Lande am Euphrat und Tigris kennen.

Auf Urfa und Harran gehen die Abrahamsgeschichten zurück, und nach Harran sandte Abraham seinen Elieser, der um Rebekka, die Tochter von Abrahams Neffen Bethuel für Isaak werben sollte. Es ist daher eine richtige Erinnerung, wenn die mohammedanische Überlieferung Urfa noch heutigen Tages die Abrahamstadt nennt. Auch die berühmte Szene zwischen Elieser und Rebekka wird von den Arabern an einem Brunnen, eine Viertelstunde südlich vor den Toren von Harran lokalisiert. Dieser Brunnen, den wir auf der Rückfahrt von Urfa besuchten, hat das beste Wasser in der Umgegend. Ein anderer im Hofe der Moschee, wo wir ausspannten, ist salzig. Die Stadt selbst hat natürlich Zisternen und eine Leitung aus dem Belich gehabt, aber wenn jemand wirklich gutes Trinkwasser in seinem Hause haben wollte, so mußte er es vom Rebekkabrunnen holen lassen, wohin die Frauen und Mädchen aus dem Dorfe Harran noch heutigen Tages mit ihren Krügen auf dem Kopfe gehen. Her Brunnen besteht aus einer unterirdischen Wasserkammer, zu der eine steinerne Treppe steil hinunterführt. Daneben ist eine alte Brücke sichtbar, unter der kein Wasserlauf mehr fließt, und ein Stück alter mit weißen Quadern gepflasterter Straße.

Noch einmal warfen wir von der Höhe des alten Burgberges inmitten der Stadt einen Blick über das Trümmerfeld und suchten uns den ungeheuren Wechsel der Zeiten zu vergegenwärtigen, die dieser Ort gesehen hat. Hier in der Nähe hat auch die Macht Roms eine der schwersten Niederlagen erlitten, die sie jemals erfuhr. Die Vernichtung der Armee des Crassus im Sommer des Jahres 53 v. Chr. durch die Parther. Später behauptete Rom diesen Teil Mesopotamiens gegen die Könige des Ostens, und erst die arabische Invasion entriß die Stadt den byzantinischen Kaisern. Damals, als diese Mauern aus Quadern, die erst vom Gebirge herangebracht werden mußten, um die Stadt gezogen wurden, als Prachtbauten und dichte Häusermassen den stundenweiten Ring erfüllten, war auch das Land vor den Toren ein Besitz, wertvoll genug, um Römer, Parther, und Sassaniden jahrhundertelang blutige Kriege darum führen zu lassen. Nichts aber in der Natur Mesopotamiens hat sich seit jenen Tagen geändert. Damals wie heute tränkt der Regen das Land, und seine Fruchtbarkeit ist groß genug, um wieder wie vor Jahrtausenden Millionen von Ackerbauern statt der wenigen Beduinen zu ernähren, die es jetzt durchziehen und langsam anfangen zu einer Art Halbansässigkeit überzugehen. Und noch weit südwärts von Harran dehnt sich die unbebaute »Steppe« in die Ferne, die Steppe, die ein Weizenmeer werden wird, sobald erst der Schienenweg der Bagdadbahn vom Euphrat über Harran zum Tigris führt.


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