Georg Groddeck
Der Seelensucher
Georg Groddeck

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Der Seelensucher

Zweiter Teil.

Anmerkung: Der erste Teil des Seelensuchers erschien vor einigen Jahren im psychoanalytischen Verlag, Wien, Andreasgasse 3. Er endete mit dem feierlichen Begräbnis des Helden August Müller, der sich aus eigener Machtvollkommenheit den Namen Thomas Weltlein gegeben hatte, man wußte nicht recht, ob es in einem Anfall lustiger Laune oder infolge einer Verrücktheit geschehen war. Letzteres ist die Annahme des Berichterstatters, der diese seltsame Geschichte genau nach den Mitteilungen der nunmehr verstorbenen Schwester Augusts erzählt; Agathe selbst, eben die Schwester unsers Helden und die einzige unbefangene Zeugin aller Abenteuer ihres Bruders, ließ nicht von dem Glauben, daß August Müller in Wahrheit der einzige geistig völlig Gesunde unsers Zeitalters gewesen sei, und daß er nur deshalb einen so elenden Tod gefunden habe, weil er, trotz ihrer, Agathes, flehentlichen Warnungen den aussichtslosen Kampf unternommen habe, Ungeziefer, Wanzen, die sich in seinem Haus eingenistet hatten, wieder auszurotten.

Die Erzählung beginnt, wie gesagt, in dem Moment, wo Agathe in Begleitung ihres alten Freundes Lachmann von dem Begräbnis der verstümmelten Überreste einer Leiche zurückkehrt, die von ihr und allen Andern als die ihres Bruders August anerkannt worden ist; nur ihre Tochter Alwine hat sich geweigert, in diesem unter den Trümmern zweier zusammengestoßener Eisenbahnzüge hervorgezogenen Körper ihren Onkel wieder zu erkennen. Infolgedessen hat sie sich auch nicht an dem Begräbnis beteiligt, sondern hat sich mit Kopfschmerzen zu Bett gelegt. 317

 

Sie schläft«, flüsterte Agathe dem Dr. Lachmann zu und verließ ihren Lauscherposten an der verschlossenen Tür ihrer Tochter, um in das Wohnzimmer zu gehen. Schon hatte sie die Klinke in der Hand, da erstarrte plötzlich ihr Blick und die ganze Gestalt, sie ließ die Klinke los und wich, die entsetzten Augen unverwandt nach der Mitte der Türe richtend, wo nichts weiter zu sehen war, als ein gedruckter Zettel mit den Worten »Nicht zu Hause«, Schritt für Schritt zurück. Selbst die drei Stufen, die von der Straße breit und behaglich zur Haustür emporführten, ging sie rückwärts hinunter; sobald sie aber auf der Gasse war, rannte sie spornstreichs den Weg zum Kirchhof zurück, von wo sie eben gekommen war. Lachmann keuchte hinter ihr her, aber sie kümmerte sich nicht um sein Rufen, mit dem er ihre Eile zu mäßigen suchte. Sie schoß weiter dem Friedhof zu, hinter ihr flatterte der schwarze Kaschmirschal und ihr berühmter Agathenhut baumelte, nur von den Bändern gehalten, in ihrem Nacken, als ob er sie durch Kopfnüsse vorwärts jagen wollte. Lachmann sah noch, wie sie aus dem Pompadour, den sie im Laufen wie eine Wurfscheibe schwang, ein großes Bund Schlüssel hervorzog, dann verschwand sie zwischen den Gräbern. Als er atemlos am Eingang des Friedhofs anlangte, kam sie ihm entgegen.

»Ich hatte vergessen, ihn einzuschließen«, sagte sie und sah ihren Freund mit Augen an, die einen schweren Vorwurf ausdrückten. »Sie hätten mich daran erinnern sollen.«

»Wen haben Sie nicht eingeschlossen?« Er schaute verwundert zu, wie Agathe sich wieder an dem Schlüsselbund zu tun machte; offenbar suchte sie, während sie den kleinen Schlüssel, den sie in der Hand hielt, am Ring hinuntergleiten ließ, nach einem von erheblicher Größe.

318 »Wen, fragt er.« Agathes Stimme bebte vor Verachtung über die Frage. »August natürlich – oder wenn Sie wollen Thomas; man weiß doch nicht, unter welchem Namen er dahingegangen ist. Aber jetzt kann er nicht mehr heraus: das Erbbegräbnis hat ein gutes Schloß.«

»Aber er ist doch tot und begraben, wie soll er denn herauskommen?«

»Manchmal sprechen Sie wie ein kleines Kind, Lachmann«, sagte Agathe würdevoll. »Glauben Sie, daß das bißchen Erde, das man darauf geschmissen hat, ein Hindernis für meinen Bruder ist? Wenn noch ein ordentlicher Grabstein auf seiner Brust läge, vorläufig schützt uns nur etwas lockere Erde.« Sie probierte eifrig einen Schlüssel nach dem andern an der niedrigen Eingangstür des kleinen, wenig benutzten Friedhofs. »Bitte, lachen Sie nicht bei so ernsten Sachen, das verletzt mein schwesterliches Gefühl.«

»Aber er ist doch tot«, war das einzige, was Lachmann erwidern konnte.

»Wissen Sie das so genau? An der Wohnzimmertür hängt der Zettel mit der Meldung, daß er nicht zu Hause ist, also sitzt er ganz bestimmt im Wohnzimmer; er sagte immer das Gegenteil von dem, was er tat. Übrigens, was gibt das für eine Sicherheit, wenn einer auch tot und begraben ist, daß er nicht doch wieder kommt. Alle Augenblicke liest man von Scheintoten und so weiter –. Wenn von den verflixten Schlüsseln keiner passen will, – sie warf die Tür mit einem Knall ins Schloß – wälzen wir einen Stein davor. Helfen Sie mir, Lachmann!« Mit großer Anstrengung und unter Beihilfe des verwunderten Freundes schob sie einen der alten ausgegrabenen Leichensteine verfallener Gräber, die an der 319 Kirchhofsmauer lehnten, vor die Eingangstür. »So«, sagte sie dann befriedigt, und wischte sich den Schmutz von den Händen, während Lachmann sich den Schweiß abtrocknete, »wenn er nun auch aus der Erde vorkrabbelt, über das Grabgitter und über die Tür hier kann er nicht weg.«

»Na, na«, spottete Lachmann. »Wer aus dem Grabe aufersteht, kommt wohl auch aus dem Kirchhof heraus.«

»Sie denken nicht nach, Lachmann.« Agathe schritt nach einem rasch-verstohlenen Griff nach dem Capothut langsam den Weg nach Hause hinab. »Beide Beine sind ihm verbrannt, er kann nicht klettern.«

»Dann kann er auch nicht gehen.«

Agathe blieb stehen. »Da haben Sie eigentlich Recht. Aber das hindert nicht, daß es unverantwortlich von dem Schlosser ist, an solch einem wichtigen Tor, wie es ein Kirchhofstor ist, kein anständiges Schloß anzubringen. Wie soll man da vor den Toten sicher sein?«

Lachmann steckte die Hände behaglich in die Hosentaschen. »Die Alten hatten besser für Sicherheit gesorgt, aber es läßt sich doch nicht leugnen, daß unsre Trauer und Pietät gegen die Toten auch allerlei nette Sachen erfunden hat. Die Särge pflegen fest zugenagelt zu werden und sechs Fuß Erde sind auch keine Kleinigkeit. Dann der Leichenstein« –

»Man müßte ihn gleich drauf setzen, später nützt er doch nichts mehr.«

»Das sollten Sie nicht sagen«, versetzte Lachmann. Sie schritten wieder vorwärts, aber er bemerkte, daß Agathe immer zögernder ging. »Man hat es doch mit Gespenstern zu tun. Wenn so ein Gespenst wirklich sich entschließt, mit den Fingern die Erde aufzuwühlen, ist es vermutlich etwas müde, 320 jedenfalls ist ihm Staub in Nase, Mund und Augen gekommen. Was wird es tun? Es setzt sich erst einmal gemütlich auf das Grab, und weil der Mond scheint, liest es die Inschrift auf dem Grabstein. Es ist sehr angenehm, sich gedruckt zu sehen; warum sollte das Gespenst nicht sich mit dieser feierlichen Veröffentlichung seines Namens zufrieden geben, sich in Träumereien über die Leichenrede und all die Trauer um seinen Tod versenken. So lieb, wie am Tage seines Begräbnisses hat man ihn doch sonst nicht gehabt. Ich könnte mir denken, daß ob solchen Sinnens die Geisterstunde vorübergehen könnte. Jedenfalls aber erleichtert der Leichenstein dem Toten, sich wieder zu seiner Lagerstätte zurückzufinden, und das ist es, worauf es ankommt. Ein gelegentlicher Besuch lieber Toten, etwa während des Traums, ist nicht unter allen Umständen unangenehm, aber wenn beispielsweise August –«

»Ich verbitte mir ernsthaft derartige Dummheiten, Lachmann«, sagte Agathe scharf. »August Müller ist tot, definitiv tot und öffentlich begraben. Nur Mediziner können so rohe Scherze im Angesicht der Majestät des Todes treiben, aber Sie befinden sich in Gegenwart von Damen – ich spreche auch im Namen meiner Tochter – und da sind derlei Seziersaalflegeleien nicht am Platze.«

»Er müßte also auf die August-Müller-Existenz mit all ihren Rechten verzichten und ein für alle Mal Thomas Weltlein sein.«

Agathe blieb zum zweiten Male stehen. Langsam, nachdrücklich und aus tiefster Seele dankbar sagte sie: »Aus dem Munde der Kinder und Narren, wollte sagen Ärzte, hört man die Wahrheit. Natürlich, so muß es gemacht werden. Kommen Sie, rasch, rasch!« Sie hatte Lachmann am Arm gepackt und zerrte ihn mit sich.

321 »Um Gotteswillen rennen Sie doch nicht so!« wehrte sich der Doktor entsetzt. »Bedenken Sie, daß ich nicht so dürr bin wie Sie. Ich habe keine Lust, einen Schlaganfall zu bekommen. Was soll denn diese verrückte Eile?«

Agathe suchte sich loszureißen. »Er muß fort. Die Uhr! Ich hatte sie ihm ans Kopfende seiner letzen Ruhestätte gelegt, wie er es gewohnt war. Ich muß sie ihm doch geben, und dann muß er gleich weg.«

»Wer?« Er hielt sie am Arm fest und wiederholte: »Wer?«

»Er. Alwine hat Recht gehabt; wir haben den Falschen begraben, der Richtige sitzt zu Hause im Wohnzimmer und frühstückt.«

Der Doktor ließ seine Freundin los und bog sich vor Lachen. »August?«

»Himmelkreuzdonnerwetterschockschwerenotbombenundgranaten – Thomas! Es ist immer dasselbe mit so einem Arzt: Ihr ahnt das Richtige, wagt es aber aus lauter Angstmeierei nicht durchzuführen, ehe Ihr nicht die sichere Diagnose habt.« Sie stand auf der obersten Stufe des Hauseingangs, drehte sich zu Lachmann um und sagte, feierlich den Zeigefinger erhebend und senkend: »Thomas –« Heben und Senken – »Thomas heißt er –« dieselbe Bewegung, noch langsamer, noch feierlicher – »Thomas«.

Agathe rückte ihren Hut gerade und trat ein.

Kopfschüttelnd sah ihr Lachmann nach. Was war das mit seiner alten Liebe? Eine Viertelstunde hatte sie gehandelt und gesprochen, als ob sie ebenso verrückt wäre, wie ihr seliger Bruder, und nun stellte sich heraus, daß sie die Gespenstergeschichte geschauspielert hatte, daß sie nur Zeit gewinnen wollte. Wenn der Selige, der ja offenbar gar nicht selig war, 322 sondern frühstückte, auch nur mit all seinen Verrücktheiten gespielt hätte? Er schritt die Stufen empor und kam gerade zur rechten Zeit, um das Wiedersehen der beiden Geschwister mit anzusehen.

Agathe hatte einen Augenblick horchend an der Wohnzimmertür gestanden. Nein, es war kein Zweifel, das war der vertraute Takt, in dem August von Kindheit an mit Messer und Gabel auf dem Teller gearbeitet hatte, wenn es ihm schmeckte. Sie riß die Tür auf und mit dem Ausruf: »Augustthomas, wollte ich sagen«, stürzte sie auf den Bruder zu, kniete neben seinem Stuhl nieder, griff nach seiner Hand und suchte sie zu küssen. August-Thomas-Müller-Weltlein sah mißbilligend auf sie nieder, entzog ihr seine Hand, in der er seine Taufgeschenkgabel, angeblich von Schön-Rottraut stammend, mit einem dicken Stück Cervelatwurst hielt, und sagte: »Du weißt, ich liebe es nicht, wenn man mich in der Arbeit stört.« Er nickte dabei bedeutsam nach dem Goetheschen Scherenschnitt des Seelensuchers hin, der in ein ledernes Photographientäschchen gesteckt gegen eine Bierflasche gestellt ihm gegenüber prangte. »Außerdem habe ich einen Mordshunger; lebendig Begrabenwerden und sich dann mühsam herausbuddeln strengt an.« Er hatte seine Wurstscheibe in den Mund gesteckt und wollte gerade von dem Butterbrod, das auf dem Tischtuch lag, ein Stück abschneiden, als Agathe aufstehend seine Hand festhielt und empört ausrief: »Es ist eins von den guten Tischtüchern.«

»Um Gotteswillen!« rief Lachmann von der Türe her und vergaß vor Aufregung, daß das Du zwischen ihm und Agathe aufgehoben worden war. »Nimm dich in Acht, seine Nase wird rot.«

Thomas hatte sich erhoben, tatsächlich funkelte seine Nase 323 plötzlich wie eine Glühbirne. »Ich bin im höchsten Grade erstaunt, Agathe«, sagte er. »Es wäre ja denkbar, daß du mich für den Lumpenwilhelm hältst, den du in meinem angestammten Grabe begraben hast. Aber ich bin immer noch Thomas Weltlein, der Mann, der die Welt von einer ihrer größten Plagen befreit hat. Es sind, wie ich mich überzeugt habe, keine Wanzen mehr in dem Scharlachzimmer. Ich habe sie vollkommen besiegt, ich, der Wanzentöter. Und du wagst es, mir mit dieser elenden Tischdeckengeschichte zu kommen? Du, die du dich nicht gescheut hast, mein Heiligtum, mein Wanzenzimmer der Magd Rottraut wieder einzuräumen, sie dort zu dulden, wo ich in schlaflosen Nächten die innere Ansteckung erfand, das Geheimnis der Geheimnisse, das große Mysterium, das Niemand bei Namen nennen darf, das ich selbst nur als das Es zu bezeichnen wage?« Er ergriff den Seelensucher, klappte das Täschchen zu und setzte seinen Hut auf. »Warum erkundigst du dich nicht nach Alwine?« fragte er unvermittelt und sah seine Schwester triumphierend an.

Agathe wurde blaß. »Was ist mit Alwine? Ist sie krank?«

Thomas schnaubte sich lange und umständlich die Nase. »Das Kind ist glücklich unterwegs. Du regst dich über Tischtücher auf, aber daß Alwine innerlich zerrissen ist und daß das Unglück wächst, das beachtest du nicht.«

Agathe war auf einen Stuhl gesunken und starrte ihren Bruder erschrocken an: »Was meinst du? Was ist mit dem Kinde? Alwine!« rief sie und wollte zur Tür laufen. »Da kannst du lange rufen«, sagte Thomas ernst. »Dein Kind ist auch unterwegs auf dem Weg nach Berlin.«

»Thomas, was hast du mit Alwine angestellt?«

»Ich nichts, aber der Hans Treu, der jetzt tot ist, den will 324 sie noch einmal sehen. Es wird ihr aber nichts helfen, er ist schon begraben, und sie wird sich mit seinem Abbild begnügen müssen, das sie in sich trägt. Ich reise ihr jetzt nach.«

»Dann komme ich mit«, rief Agathe eifrig und setzte ihren Hut wieder auf.

»Nein,« sagte der Bruder einfach und bestimmt. »Du kommst nicht mit.« Er drückte sie auf den Stuhl nieder und sagte in einem Ton, als ob er nie krank gewesen wäre: »Deine Tochter kann dich jetzt nicht brauchen. Hans Treu ist in dem Zuge, in dem ich verunglückt sein soll, zerschmettert worden. Ich sah ihn zufällig, als ich einstieg, und das war der Grund, warum ich sofort wieder den Zug verließ; ich wollte ihn nicht sprechen, weil er eine ziemlich alberne Seelensucherei nicht ohne Folgen betrieb.« Er war wieder in seinen gewohnten Ton verfallen, bei dem man nie wußte, war es Ernst oder Scherz. »Ich hatte mir vorgenommen, ihm an Hand des Scherenschnitts« – er holte das Täschchen wieder vor, klappte es auf und betrachtete zärtlich den SeelensucherAnm.: Der Seelensucher ist ein Scheerenschnitt aus Goethes Nachlaß; er stellt einen Mann auf der Weltkugel sitzend dar, wie er aufmerksam mit einer Lupe ein nacktes weibliches Figürchen betrachtet. – »in einer schriftlichen Abhandlung auseinander zu setzen«. Er unterbrach sich plötzlich, packte seine Schwester, die sich an ihm vorbei zur Türe schleichen wollte, an dem Handgelenk und sagte: »Wenn du es wagst, Alwine nachzureisen, geschieht ein Unglück.« Seine Augen waren hart vor Wut und seine Nase glühte noch mehr auf.

»Ich lasse mir von dir keine Vorschriften darüber machen, was ich mit meinem Kinde zu tun habe.«

Thomas lachte höhnisch. »So, nun ist es auf einmal dein Kind. Wohl weil du das Mädel die berühmten neun Monate im 325 Bauch getragen hast? Sie ist wohl gar dein Fleisch und Blut? Na, wir haben ja Gott sei Dank einen Fachmann hier, laß dir von dem sagen, wie gering der Anteil der elterlichen Personen an der Entstehung und Entwicklung eines Kindes ist. Vorwärts, Lachmann, setz der mütterlichen Pfauhenne auseinander, was man über die Zeugung weiß. Du bist zwar nicht geneigt, den Dingen ins Gesicht zu sehen, aber bring deine Weisheit vor! Die Schlußfolgerungen daraus werde ich der Agathe schon klar machen.«

Lachmann hatte schon lange versucht, durch Augenplinken und Zupfen an ihrem Kleide Agathen zum Nachgeben zu bewegen. Jetzt warf er sich in die Positur des Gelehrten und sagte, bedeutsam die Hand erhebend, als ob er einen Schwur auf die Richtigkeit seiner Aussage leisten wollte: »Es läßt sich nicht leugnen, daß bei den Zeugungs- und Entwicklungsvorgängen die Personen der Eltern als solche nur Träger und Beförderer des Keimplasmas sind, daß die Mutter, wissenschaftlich gesprochen, nur eine Art Speisekammer für das Kind ist.« –

Wie eine Furie fuhr Agathe auf ihn los: »Das ist wieder einmal echt Mann. Weil ihr keine Kinder kriegen könnt, Waschlappen, die ihr seid.« –

»Sag lieber gleich Schlappschwänze«, warf Thomas dazwischen.

»Mit dir rede ich nicht. Was versteht ihr Männer überhaupt von Kindern und vom Muttersein.«

Thomas schlug sich auf den Bauch. »Was ich davon verstehe? Der ist auch schwanger. Aber darauf kommt es nicht an. Hör zu!« Er schloß die Tür, die Agathe schon wieder aufgerissen hatte, führte sie höflich zu dem Stuhl und sagte, als sie alle Platz genommen hatten: »Hans Treu ist also tot, das ist 326 die Wahrheit. Er hat aber Alwinen eine Erbschaft hinterlassen und um die zu regeln, reist Alwine mit mir.« –

Agathe war totenblaß geworden und starrte ihren Bruder entsetzt an.

»Und du bleibst gefälligst hier und hältst im Interesse des Kindes dem Klatsch stand. Ich werde versuchen, ob ich nicht ein paar Minister herumkriegen kann, daß sie die fahrplanmäßige Abfahrt und Ankunft des Kindes bestätigen, und wenn die es nicht können, so kann es vielleicht der Kaiser.«

Er hatte sich erhoben, zog seinen Paletot an und setzte den Hut auf. »Ich werde, so lange das Kind unterwegs ist, dafür sorgen, darauf kannst du dich verlassen, und da ihr mich offiziell begraben habt, wird niemand erfahren, wo Alwine ist. Du sagst den Leuten, daß sie nach den erschütternden Ereignissen – Tod des Onkels und des Bräutigams – zu unsern englischen Freunden aufs Land geschickt worden ist; nach Engelland, was ja der Wahrheit allenfalls entspricht, da ihr mich mit eurer Begräbnisdummheit zum Engel gemacht habt.«

Er reichte Agathe die Hand, nickte seinem Freunde zu und ging.

»Total verrückt«, sagte Lachmann, »aber gutartig verrückt.«

Agathe richtete sich auf, band die Schleife ihres Huts auf, legte ihn sorgfältig und zärtlich bei Seite und sagte: »Ich hätte nicht gedacht, daß man Geheimer Sanitätsrat werden könnte, wenn man so begriffsstutzig ist wie Sie, Lachmann. Sie haben rein gar nichts verstanden. Na der liebe Gott wird ja wohl wissen, warum er solche Leute wie Sie Ärzte werden läßt.« Lachmann wollte auffahren, aber er kam nicht dazu. Agathe war ohnmächtig geworden. 327

 

Am Tage nach seiner Beerdigung saß Thomas Weltlein in dem Wartezimmer des Rechtsanwalts Justizrat Wohlich, eines bekannten Spezialisten in Ehesachen. Er hatte einen alten Band der Gartenlaube vor sich liegen und blätterte darin, als sich die Tür öffnete und ein neuer Klient eintrat, ein vierschrötiger Mann mit aufgedunsenen bleichen Hängebacken, der kurzatmig ganze Wolken von Schnapsgestank auspustete. Umständlich nahm er neben Thomas Platz, legte seine auffallend weißen Hände gefaltet auf den Tisch und drehte, aus weitvorspringenden Gieraugen seinen Nachbar anstierend, die Daumen.

»Wissen Sie auch schon, daß es zwei waren?« fragte Thomas gereizt und legte seine große Hand so fest auf die des pustenden Mannes, daß der mit Daumendrehen aufhören mußte.

»Zwei? Daß ich nicht wüßte. Aber einen habe ich bei ihr erwischt. Und jetzt werde ich sie los. Gott seis getrommelt und gepfiffen. So ein Aas!« Er hatte das letzte Wort mit so wollüstigem Genießen hervorgestoßen, daß er sich die Lippen leckte, um dann umständlich sein Taschentuch zu ziehen und sich den Mund zu wischen.

Thomas runzelte mißbilligend die Stirn, er war noch immer mit dem Gespräch beschäftigt, das er soeben mit seiner Nichte Alwine gehabt hatte, und der Ausdruck Aas schien ihm ohne das versöhnende Beiwort »kleines« zu scharf. Plötzlich glätteten sich seine Züge und mit den Worten: »Ah, Sie sprechen von Ihrer Frau«, lehnte er sich im Stuhl zurück und begann seinerseits mit den Fingern so heftig auf den Tisch zu trommeln, daß man wirklich hätte glauben können, er täte es zur größeren Ehre Gottes. »Sie wollen sich also scheiden lassen?«, fuhr er fort und ging von der Melodie des Liedes »Da seh i mein herztausige Schatz bei em Andern stehn«, unvermittelt in den 328 Hohenfriedberger Marsch über. »Ich verstehe das gar nicht: erst seid ihr Männer so dumm und heiratet, und wenn euch dann die Frau untreu wird, laßt ihr euch scheiden, um eine andre zu heiraten. Das wollen Sie doch wohl?«

»Das habe ich noch nicht gesagt, das kommt darauf an. Möglich wäre es schon. Die Lili, wissen Sie, die Destillenwirtin –«.

»Tun Sie es nicht!« sagte Thomas und sah seinen Nachbar streng an. »Beim Dienstbotenwechsel kommt nie etwas heraus, man wechselt nur die Fehler.« Er strich sich wohlweise das Kinn. »Sehen Sie, mein Lieber, unsre Vorfahren waren darin viel vernünftiger. Wenn denen die Frau untreu wurde, dann machten sie kein Geschrei davon beim Rechtsanwalt, sondern schnitten sich einen Haselstock und ließen ihr Weib einmal tanzen und schreien, und dann war es wieder gut.«

»Das darf man heutigen Tages nicht mehr, und außerdem – na, Abwechslung ist das halbe Leben.«

»Sie verstehen von der Sache nichts; das verhält sich ganz anders.«

»Erlauben Sie mal, ich verstehe von der Sache nichts, sagen Sie? Wie kommen Sie mir denn vor? Kennen Sie überhaupt meine Frau? Sind Sie etwa auch so eine Art Bettverwandter von mir?« Er hatte sich halb erhoben und fauchte dem guten Thomas eine ganze Ladung Destillengestank ins Gesicht.

»Jetzt hören Sie mal gefälligst zu! Sie haben eine Frau, die ist Ihnen also untreu geworden. Ja, wer ist denn daran Schuld? Doch nicht die Frau. Eine Frau wird nicht untreu, wenn ihr Mann leistungsfähig ist und sie genügend oft ausfüllt. Aber wie wollen Sie impotenter Säufer das machen?«

329 Der Mann wollte wieder aufspringen, aber Thomas schrie ihn an: »Sie sollen zuhören! Sind Sie einmal in Britisch-Indien gewesen? Nein? Nun, ich auch nicht. Das macht aber nichts. Die Inder, sehen Sie, die verstehen etwas von den Weibern, wie er denn überhaupt viel mehr taugt als der Europäer; Sie können das in jedem ernsthaften Tagebuch denkender Reisenden lesen. Also diese Leute, die eine viel tiefere und ältere Kultur haben als wir – mein Gott, Sie müssen doch als gebildeter Mann wissen, daß Christus nur so eine Art Plagiat tiefster indischer Weisheit gelehrt hat –«.

»Hören Sie auf mit Ihrem Geschwätz, Sie Narr, Sie konfuser!«

»Konfucius heißt der Mann nicht, die Chinesen haben nur einsilbige Wörter in ihrer Sprache. Aber glauben Sie denn, daß ich jede Mode mitmachen kann? Überlassen Sie doch die Chinesen den Universitätsmannequins! Wir haben es hier mit den Indern zu tun, und ich kann nur wiederholen, daß Leute, die acht Wochen dort gewesen sind, die also Bescheid wissen, dicke Bücher über indische Lebensweisheit geschrieben haben. Ich habe sie nicht gelesen, aber man braucht das heutzutage nicht; jede gebildete Dame kann Ihnen darüber einen Vortrag halten, und welche Dame wäre nicht gebildet?«

»Meine ist es nicht,« sagte der Mann und sah trotzig drein.

»Aber Mensch! Und die wollen Sie heiraten! Also, die Inder, diese vornehmen Lebenskünstler, haben sich davon überzeugt, daß es für den toten Menschen viel angenehmer ist, sich verbrennen zu lassen als begraben zu werden.« Thomas wurde plötzlich nachdenklich. »Übrigens ist das ein Irrtum, es ist ganz nett, begraben zu sein. Sie waren es wohl noch nie?«

Der Schnapsmann gähnte und schüttelte den Kopf.

»Sie sollten es einmal versuchen. Es ist wirklich recht 330 angenehm, so aus dem Sarge heraus den Schmerz der Angehörigen mit zu erleben. Denken Sie nur, wie sorgfältig Agathe ihr Schnupftuch schonte, damit es bis zu Ende ausreichte. Ich hätte mich vor Lachen gebogen, wenn in dem alten Holzkasten mehr Raum gewesen wäre. – Der Inder also läßt sich verbrennen, und wenn es mit rechter Feierlichkeit vor sich gehen soll, dann springen all seine Weiber mit in den lodernden Scheiterhaufen und werden von den Flammen verzehrt. Wie ist das möglich? Das hängt mit der indischen Religion zusammen. Diese durch ihre Weisheit ausgezeichneten Männer haben sich nicht gescheut, trotz des lärmenden Abscheus, den die europäische Welt gegen die Sinnlichkeit predigt, sie haben sich nicht gescheut, in ihren Katechismus oder wie sie nun das Büchlein nennen mögen, das die Kinder für die Religionsstunde auswendig lernen müssen, genaue Anweisungen über die Liebesnächte zwischen Mann und Weib zu geben. So ein indischer Junge wird schon in seiner frühesten Kindheit darauf aufmerksam gemacht – Hören Sie mal,« unterbrach sich Thomas und schüttelte seinen Zuhörer, der jetzt in dumpfem Schlaf Schnaps schnarchte. »Zu meinem Vergnügen erzähle ich das nicht.«

»Entschuldigen Sie,« stammelte der also Angeschrieene und wischte sich die Augen, »ich bin verdammt müde.«

Thomas wischte, mit der flachen Hand durch die Luft fahrend, die Unterbrechung weg: »wie man ein Weib toll machen und befriedigen soll. Zunächst geschieht das natürlich theoretisch, aber ich vermute, daß die Praxis sehr bald geübt wird; wir versuchen das ja unter dem Namen Koeducation nachzuahmen; leider nicht mit dem erhofften Erfolg, weil unsre Lehrer selbst sich mit diesen Fragen nicht genügend beschäftigt haben. Oder wissen Sie es etwa, daß die Erregungskurve des Weibes 331 langsam ansteigt und langsam abfällt, während die des Mannes rasch sich erhebt und rasch zusammensinkt?«

Der Trunkenbold war auf einmal wach geworden, er merkte auf irgend eine Weise, daß der sonderbare Herr da über kitzliche Sachen sprach. »Ich habe nicht ganz verstanden,« sagte er.

»Der Organismus des Mannes fällt mit dem des Weibes nur dann zusammen, wenn die Erregungskurve des Weibes schon durch die Manipulationen des Mannes in die Höhe getrieben ist, ehe er zum eigentlichen Akt schreitet.«

»Ach, seien Sie doch so gut, und sagen Sie das noch einmal, ich habe es immer noch nicht verstanden.«

 

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zu dem Sprechzimmer, eine auffallend hübsche Dame erschien und hinter ihr, sich lächelnd die Hände reibend, der Justizrat Wohlich.

»Alle Bonöhr«, stieß der Dickschnaps hervor und musterte das Weibchen, wie sie tänzelnd und mit leichtem Gruß an ihn und Thomas zum Ausgang schritt. Sie trug ein hellblaues Leinenkleid, die rechte Hand hatte sie in die Tasche der Jacke gesteckt, die nach Männerart zugeschnitten war und über der weißen Musselinbluse offenstand, am Arm hing ein bunter Florentiner Strohhut mit Maiblümchen garniert, die leicht gewellten Haare waren schräg gescheitelt.

Thomas ließ sich nicht stören; laut dozierend fuhr er fort: »Der Hindu ist durch seine Religion verpflichtet, an sein eignes Vergnügen erst dann zu denken, wenn sein Weib, von tausend normalen und perversen Zärtlichkeiten erregt, in Seligkeit schwimmt. Also gibt es in Indien keine unglücklichen Ehen, und es ist selbstverständlich, daß die Witwe, die mit dem Mann die Glut der Leidenschaft verliert, sich in die brennende Flamme des Scheiterhaufens wirft. Lieben ist eine Kunst, die gelernt und 332 gelehrt werden muß, und nur der Europäer ist so dumm anzunehmen, man verstehe etwas von dieser Kunst, wenn man Talent, oder gar schon, wenn man Lust dazu habe. Lust dazu hat ein Jeder. Viele haben Talent, aber können muß man es. Bei der Liebe kommt alles auf das Können an.«

Die Dame war stehen geblieben und wendete sich mit der leisen Frage, wer der Herr sei, an den Justizrat, der die wollüstigen Lippen zu einem bösen Fluntsch verziehend mißbilligend über die Brille hinweg nach Thomas hinsah. Er zuckte die Achseln, und das Weiblein mit dem schiefen Scheitel und dem Florentiner warf dem eifrig gestikulierenden Liebeskönner einen schmachtenden Blick zu und flüsterte dem Justizrat noch beim Hinausgehen so laut, daß es bis an Weltleins Ohr drang, zu: »Ein interessanter Herr. Schade, daß Sie uns nicht bekannt machen können. Wenn er nur nicht so abscheulich aussähe.« Der Justizrat küßte ihr mit einem süßen Lächeln die Hand. Thomas mußte daran denken, wie ähnlich der Mann dem kleinen Lachmannjungen wurde, als der einst beim Fieber nach einem bitteren Chininpulver einen gehäuften Teelöffel Zucker bekam. Einen Augenblick später saßen sich die beiden Herren im Sprechzimmer gegenüber.

Der Justizrat musterte Thomas ein wenig, dann, da ihm die Prüfung seines Äußern nichts Günstiges über den Klienten zu sagen schien, sah er flüchtig nach der Uhr auf dem Schreibtisch und sagte: »Also, Herr« – er warf einen Blick auf die neben ihm liegende Visitenkarte – »Herr Weltlein, ich stehe zu Ihrer Verfügung. Vielleicht tragen sie mir kurz ihre Angelegenheit vor, möglichst kurz. Sie haben gesehen, es warten Leute auf mich.«

»Lassen Sie sie ruhig warten. Wir beide haben Zeit.«

333 Der Justizrat wollte entrüstet protestieren, Thomas legte ihm aber beschwichtigend die Hand auf den Arm und sagte: »Sie haben einmal – es ist schon lange her – einen großen Prozeß gegen die Firma August Müller Portland Cement verloren, nicht wahr?«

»Das heißt, ja, gewiß. Wir haben den Prozeß damals verloren, sogar in allen drei Instanzen. Aber das war von vornherein eine verlorene Sache, die Firma war viel zu reich, um ihr etwas anhaben zu können. Ich habe mich der Sache nur angenommen weil –«

»Ja, es war ein großes Objekt. Meine Angelegenheit hat damit sachlich nichts zu tun, nur persönlich. Ich bin der Erbe des damaligen Inhabers der Firma.«

»Thomas Weltlein, Thomas Weltlein? Aber mir ist doch, als hätte der alte Herr Müller zwei Kinder gehabt?«

»Ganz recht, und das eine davon, der Sohn bin ich.«

Der Justizrat sprang vom Stuhl auf: »Herr, rief er, wenn Sie hierhergekommen sind, mir so etwas zu erzählen, dann sind Sie entweder – der junge August Müller ist vor wenigen Tagen bei dem großen Eisenbahnunglück umgekommen. Ich weiß es genau, denn ich bin beauftragt, den Prozeß noch einmal aufzunehmen.«

Thomas holte eine dicke Brieftasche vor, gefüllt mit kostbaren Geldscheinen. Er suchte, nicht ohne umständlich seine Schätze zu zeigen, einen Paß heraus und sagte: »Wie Sie sehen, lebt er noch und sitzt vor Ihnen. Wenn Sie es im Interesse Ihres Prozesses wünschen, kann ich mir auf dem nächsten Paßbüro den Paß bestätigen lassen; es ist ganz zwecklos, die alte Sache wieder aufzuwärmen. Nehmen Sie sich lieber meiner Angelegenheit an.«

334 Der Justizrat hatte sich wieder gesetzt und schob die Brille zurecht. »Und die Visitenkarte? Der Name Weltlein?«

Thomas kramte weiter in seiner Brieftasche. »Hier ist ein Bankausweis der deutschen Bank vom heutigen Tage auf meinen Namen lautend. Sie sehen, ich habe das Geld noch bei mir.«

»Und die Visitenkarte«, wiederholte Wohlich scharf.

Thomas stand auf: »Wenn Sie sich meiner nicht annehmen können, will ich Sie nicht aufhalten. Ihre Zeit drängt.

»Oh, bitte durchaus nicht. Bitte, nehmen Sie wieder Platz. Also womit kann ich Ihnen dienen? Bitte, stecken Sie sich eine Zigarette an!« Er hatte den hungrigen Blick gesehen, den Thomas auf die Zigarettenschachtel warf.

»Es handelt sich um eine junge Dame, die ein Kind erwartet. Der Vater dieses Kindes – die jungen Leute standen dicht vor der Hochzeit, waren aber nicht verheiratet – ist plötzlich gestorben. Ist es juristisch möglich, zwei Menschen zu verheiraten, wenn der eine davon tot ist?«

Der Justizrat lehnte sich im Stuhl zurück und lächelte freundlich. »Das ist natürlich nicht möglich. Sie meinen, ob das Kind noch nachträglich legitimiert werden kann, so daß es den Namen des Vaters trägt. Darüber ließe sich vielleicht sprechen. Allerdings –«

»Damit ist mir nicht gedient. Mir liegt nichts an dem Kinde, wohl aber an der Heirat. Verstehen Sie? An der Heirat. Die junge Dame soll ihr Kind als verheiratete Frau bekommen. Sie soll mit dem Vater verheiratet werden. Verstehen Sie doch! Es hilft der Mutter nichts, wenn das Kind legitimiert wird.«

»Ich kann mir gar nicht denken, daß Sie diese Frage im Ernst stellen. Eine Ehe mit einem Toten –«

335 »Mit einem Lebendigen kann jeder eine Ehe schließen, das weiß ich. Nein, gerade mit einem Toten.«

»Sie hätten sich nicht an einen Rechtsanwalt wenden sollen, sondern an einen Urkundenfälscher. Der macht sowas und setzt ein Datum hin, das die legitime Entstehung des Kindes verbürgt.«

»Aber mein Gott, drücke ich mich denn so ungenau aus? Ich frage Sie nochmals, ist es rechtlich möglich, eventuell durch einen Gnadenakt des Kaisers, die Ehe jetzt noch zu schließen? Alles übrige hat doch keinen Sinn, ist nur gefährlich und kommt sofort heraus. Es muß eine richtige Hochzeit werden, Aushängen auf dem Rathaus, standesamtliche und womöglich kirchliche Trauung.«

Der Justizrat warf wieder einen forschenden Blick auf sein Gegenüber. War der Kerl verrückt oder tat er nur so? »Auf Ihrem Wege« sagte er, vorsichtig die Worte wählend, »würde die Sache einiges Aufsehen machen, vor allem die Befruchtung einer Frau durch einen Abgeschiedenen. Ein etwas weit getriebener Glaube an die okkultistischen Neigungen unsrer Zeit.« Er machte mit dem Papiermesser, das er in der Hand hielt, einen scharfen Schnitt durch die Luft. »Die eigentliche Schwierigkeit ist die Schwangerschaft.«

»Ganz richtig.«

»Schwangersein ist noch nicht ein Kind kriegen. Es gibt da allerhand Möglichkeiten.«

»Deshalb bin ich hier. Sie sitzen doch als Rechtsanwalt an der Quelle alles Wissens. Können Sie mir nicht Jemanden nennen, der – nun sagen wir eine solche Möglichkeit schafft?«

»Das ist nicht meines Amtes. Solche Dinge führen vor den Staatsanwalt, wenn nicht eine Gefahr für die Gesundheit die 336 Unterbrechung der Schwangerschaft fordert.«

»Und welcher Arzt würde nach ihrer Erfahrung eine Gefahr für diese unliebsame Schwangerschaft sein?«

Wohlich besah sich eine Weile seine Nasenspitze. »All diese Vorkommnisse entbehren nicht des Interesses. Sie glauben nicht, was alles vorkommt und wie schändlich die Menschen gegen geniale Leute vorgehen. Da liegen die Akten eines Graphologen, eines Mannes, dessen große Verdienste auf dem Gebiet der Handschriftenkunde von der Wissenschaft unbedingt anerkannt sind. Denken Sie, man hat es gewagt, einen Mann wie Dr. Brinkeisen wegen Urkundenfälschung zu denunzieren und der Staatsanwalt ist glücklich auf eine solche stupide Verleumdung hereingefallen. Na, Gott sei Dank, hat sich der vortreffliche Mann an uns gewendet. Er wird glänzend freigesprochen werden. Ja es sieht schlimm aus in der Welt. Wenn Sie ahnten, was Alles ich erfahre. Man wird Menschenverächter in unserm Beruf. Fälschungen, Meineid, Betrug, Kindsabtreibung, oh es ist ein bunter Wechsel in dem Tage eines Rechtsanwaltes. Und dabei diese Anforderungen an unsere Literaturkenntnisse. Vorher erst hat mir der Professor Frausold eine Broschüre über den künstlichen Abortus und seine Indicationen zugeschickt. All so was muß man lesen. Und schließlich steht nichts drin, was man nicht besser weiß. Ja, ja, mein verehrter Herr Müller, ich habe eine erdrückende Verantwortung zu tragen.«

»Und Sie können mir nicht aus Ihrer großen Bekanntschaft Jemanden nennen, der die Kleine rasch heiraten würde?«

»Wo denken Sie hin, Herr Müller. Ich bin doch kein Heiratsbüro. Natürlich kenne ich Leute, die gerne heiraten würden, aber so rasch läßt sich so etwas nicht machen. Vor allem sind diese Dinge sehr kostspielig.«

337 »Es handelt sich um die Erbin eines großen Vermögens.« Thomas hatte sich erhoben.

»Oh, bitte; ich kann mich wirklich nicht mit derlei Geschäften befassen«, meinte der Rechtsanwalt und warf seinen Zigarettenstummel verächtlich in den Aschbecher. »Selbstverständlich werde ich mich Ihnen zu Liebe etwas umhören. – Es hat ja, wie es scheint, Eile. Vielleicht haben Sie die Güte, Ihre Adresse hier im Büro zu lassen.« Er geleitete den seltsamen Gast zum Schreibzimmer und hörte noch, wie sein Besucher dem Schreiber laut und deutlich sagte: »Thomas Weltlein, Hotel Fürstenhof«. Bedenklich den Kopf wiegend und an der Brille rückend ging er in sein Arbeitszimmer zurück.

Während der Rückfahrt zum Hotel saß Thomas regungslos in Gedanken versunken da. Von Zeit zu Zeit sog er an der Zigarette, die längst ausgegangen war, die er aber immer noch zwischen den Lippen hatte. Kaum war er in die Empfangshalle eingetreten, so setzte er sich auf die kleine Bank neben der Türe, die für die Hotelpagen bestimmt ist. Den Hut hatte er weit nach hinten geschoben, auf der Stirn stand ihm der Schweiß und den Kopf stütze er mit beiden Händen, die Ellenbogen auf den Knieen. Einer der Pagen, ein kleiner pfiffiger Bursche mit einer Stupsnase und sorgfältig gestriegeltem Haar, trat auf ihn zu und fragte nach seinen Befehlen.

Thomas sah ihn betrübt an. »Kannst Du Dir vorstellen, daß ein Kind zwei Väter hat?« fragte er in einem Ton, als ob er die berühmte Frage an das Schicksal stelle.

»Der eine, was mein richtiger Vater ist,« sagte der Knabe, »ist schon tot, der andere ist mein Stiefvater.« Als Thomas den Kopf schüttelte fuhr er fort: »Manchmal weiß man das nicht genau, ist der Vater der Vater oder ist der Schlafbursche der 338 Vater.«

»Ja, so ist es. Manchmal weiß man es nicht. Als der alte Nestor den Telemach fragt, wer er sei, antwortete der: Meine Mutter sagt, ich sei der Sohn des Odysseus.«

In diesem Augenblick trat der Gewaltige des Hotels, der wohlgenährte und von der tausendfachen Unruhe des Hotels nie erschütterte Portier, der mit tiefem Mißfallen den Gast auf der Bank der Pagen, noch dazu im Gespräch mit einem feichsenden Knaben sah, heran und fragte nach dem Begehren des Herrn und ob er nicht die Güte haben wolle, weiter hinten in der Halle für die Gäste Platz zu nehmen.

»Und es kommt vor, daß die Mutter selbst nicht weiß, wer der Vater des Kindes ist. Ja das kommt vor.« – Plötzlich fühlte Thomas, der immer noch gebeugten Hauptes dasaß, den mißbilligenden Blick des Portiers, er wurde rot, erhob sich, rückte den Hut zurecht und stöhnte: »Nicht einmal in Ruhe Angst haben darf man. Arme Menschen, arme Menschen! – Bitte lassen Sie in Nr. 248 bei der Dame, die dort wohnt, anfragen, wer Hans Treu ist. Ich bin der Onkel der Dame, Thomas Weltlein,« fügte er erklärend hinzu. Dann begann er im Geschwindschritt in der Halle auf und ab zu gehen, blieb aber regelmäßig einen Augenblick vor einer großen Anzeige stehen, auf der ein Konzert des Sängers Battistini angekündigt wurde. Als der Page zurückkehrte, lief er ihm hastig entgegen mit sorgenvollem Gesicht, aber als der ihm mitteilte, Hans Treu sei ein Kosename für Karl Ende, verzog sich sein Mund zu einem breiten Lachen, er warf dem Jungen ein Geldstück zu und eilte vor sich hinmurmelnd: »Battistini, Täufer, einen Namen müssen wir finden für Mutter und Kind oder eine Tochter des Herodes, um das Kind umzubringen,« zum Fahrstuhl.

339 Alwine ging dem Onkel entgegen, als er eintrat. Sie hatte sich kaum verändert, seit sie damals bei der Flucht Weltleins die Ohrfeige von ihrer Mutter bekommen hatte. Als Thomas sie an sich zog, schmiegte sie sich eng an ihn an und schaute mit einem verlegenen und spöttischen Lächeln zu ihm auf. Thomas setzte sich und zog sie auf seinen Schoß.

»Ich bin doch heilsfroh,« sagte er, »daß Karl Ende und Hans Treu ein und dieselbe Person sind. Denke dir, ich hatte mir eingebildet – weil du bald von Hans und bald von Karl redetest – du hättest dir eine Art männlichen Harem angeschafft.«

»Pfui, Onkel.«

»Ja, das ist aber keine schlechte Idee, so ein Männerharem.« Er lehnte sich schmunzelnd in dem Stuhl zurück. »Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß ein Harem von zweiundsiebzig Weibern, wie ihn der König David hatte, oder gar der Salomos in all seiner fünftausendfachen Herrlichkeit der modernen Finanzwirtschaft nicht entspricht; man behauptet nämlich, was du noch nicht zu wissen brauchst, daß lediglich die Nahrungssorge die Gewohnheit des Harems beseitigt habe. Wenn man nun die Frau in die Stellung brächte, die sie anstrebt und die ich ihr ohne weiteres zubillige, wenn ich sie durch ein so liebliches Geschöpf vertreten sehe, wie du eins bist, ließe sich vom rein wirtschaftlichen Standpunkt nicht viel dagegen sagen, wenn sie sich ein Dutzend Männer hielte. Vielleicht wäre das auch physiologisch das Richtige; Boccaccio, der leidlich in der Physiologie des Weibes Bescheid wußte, sagt einmal: Ein Hahn kann sechs Hennen befriedigen, aber sechs Männer nicht eine Frau.«

Alwine zog ihn an den Ohren: »Du beträgst dich sehr schlecht, Thomas Weltlein, Gar nicht, wie es sich für einen 340 Onkel schickt. Außerdem habe ich mir sagen lassen, daß eine Frau nicht einmal einen Mann bei der Treue halten kann, wie soll es ihr bei sechsen gelingen. Er ist sehr dumm, dein Bocciamann oder wie der Kerl heißt.«

Thomas lachte, daß die Wände zitterten. »Das also ist Unsterblichkeit. Dazu, Schöpfer der Novelle, lebst du im Gedächtnis der Literatur, damit ein hübscher Frauenmund dich mit dem Kugelspiel zusammenbringt. Es lohnt sich nicht, groß zu sein, das Weib öffnet den Mund und unsre Kraft sinkt schlaff zusammen, auf daß sie Mutter wird.«

Alwine brach plötzlich in Tränen aus. Sie hielt die Hände vor das Gesicht und weinte herzzerbrechend.

Der arme Thomas! Noch nie hatte er so verlegen ausgesehen wie jetzt, als er vergeblich der Nichte die Hände von den Augen wegzuziehen suchte. »Weine doch nicht, mein Kind, bitte, bitte, weine nicht! Ich kann es nicht ertragen. Es hat auch gar keinen Sinn und schadet vielleicht dem Kindchen. Und es ist doch so ein nettes kleines Wesen. Sieh mal, ich freue mich so riesig darauf, wenn der Junge erst herumkrabbelt und mit seinem lieben Stimmchen sagt: Dosser Thomas teinen Thomas heiten lassen. Herr Gott, wie scheckig wird der Bengel aussehen, von seinem Vater den Himmelaufschlag des Auges und den Gott-triefenden Mund, von der Mutter alles Schöne und Schönste und vom Onkel die Nase, ja die Nase mitsamt den Pickeln.«

Alwine ließ die Hände sinken und blitzte den Onkel streng an: »Daß du dich nicht unterstehst ihm deine scheußliche Nase zu vererben!«, und dann wieder weinend jammerte sie: »Ich arme kleine Alwine, warum muß das auch so kommen! Ich hatte es mir so nett gedacht, als Frau Pastor im Kirchenstuhl zu sitzen 341 und Karls Stimme zu hören, wenn er so herrlich weise Worte sagt, die man nicht zu verstehen wagt. Und nun läßt er mich allein sitzen und ich kriege ein Kind, das überhaupt keinen Vater hat oder nur einen im Himmel. Ich wollte, ich wäre tot und er säße hier und ängstigte sich vor den schrecklichen neun Monaten und der Entbindung und den bösen Zungen.«

Thomas setzte seine Nichte unsanft auf die Erde. »Für einen Pastor mit einem dicken Bauch ist kein Platz auf meinem Schoß«, sagte er böse.

Alwine kletterte sofort wieder auf seine Knie. »Nein, Onkel, du mußt mich nicht verstoßen. Ich habe ja Niemanden als dich. Vor der Mama fürchte ich mich, sie ist so anständig und begreift gar nicht, wie man zu einem Kinde kommen kann, und der Karl hat mich ganz im Stich gelassen.«

»Ich habe ihm nie getraut,« sagte Thomas und schob den Toten mit einer starken Bewegung der Hand bei Seite. »Wie kann man nur so dumm sein, in einen Zug zu steigen, der entgleisen wird.«

»Du bist doch selber drin gewesen.«

»Gewesen, aber ich bin doch nicht drin geblieben. So viel Verstand muß man haben. Oder vielmehr – denn mit dem Verstande hat das nichts zu tun – so viel seelische Harmonie muß man besitzen, daß man so etwas vermeidet; Menschen mit seelischer Harmonie verunglücken nicht. Verunglücken tut, wer verunglücken will, man wird nicht verunglückt, sondern man verunglückt, das heißt man benutzt den Unglücksfall, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Dieser Pastorenjüngling hat sich den Zug ausgesucht, damit er nicht der Vater eines unehelichen Kindes zu werden braucht, Er hat Angst vor seiner eignen Courage gehabt, die ihm mal zufällig in Herz und Hosen 342 gekommen war. Denn, daß er dir ohne Superintendentenerlaubnis ein Kind gemacht hat, alle Achtung!«

»Na, ob der Mut dazu nun gerade bei ihm gewachsen ist, Onkel –«

»Ich will doch nicht hoffen, daß du ihm Mut gemacht hast, Mädel. Übrigens ist das gleichgültig. Er ist tot, also kann er das Kind nicht legitimieren, also hat er sich um seine Verantwortung gedrückt. Und schändlicherweise hat er sich auch noch ganz verkohlen lassen, so daß du nicht einmal im Jenseits dein Recht bekommen kannst, der feige Drückeberger der. Womöglich hängen sie dir da den Kerl an, den sie an meiner Statt begraben haben. Denn wenn meine leibliche Schwester sich betrügen läßt, wird es dem Standesbeamten im Himmel auch nicht leicht sein, den Pastor von dem Lumpensammler zu unterscheiden. Mach dich nur auf etwas gefaßt.«

Alwine hatte nur mit halbem Ohr zugehört. »Ach der Karl, um den ist es mir nicht. Sehr amüsant war er nicht. Aber das Kind, das Kind möchte ich los sein. Glaubst du nicht, daß es abstirbt, wenn ich recht traurig bin und heule?«

»Das ist wohl ein sehr unsicherer Weg, aber –«

»Dann werde ich also nicht mehr weinen«, sagte Alwine und dabei kullerten die Tränen unaufhaltsam weiter. »Dann hat das ja keinen Sinn.« »Aber, fuhr der Onkel eifrig fort, der Justizrat hat mir eine Adresse gegeben – wo habe ich sie nur?« er fuhr in allen seinen Taschen herum, als ob ein Schaffner von ihm das Eisenbahnbillett verlangt hätte – »die Adresse von einem Arzt, der sich ein Vergnügen daraus machen wird, das Kind wegzuschaffen, wenn wir ihn ordentlich be–«

Weiter kam er nicht. Alwine war aufgesprungen und sah den Onkel mit entsetzten Augen an. »Unsern armen Junge? Nein, 343 das ist dein Ernst nicht. Lieber sterbe ich. Und ich sterbe ganz gewiß bei der Entbindung. Ich will aber nicht sterben. Wenn mich doch irgend jemand von dieser Last befreite!« Sie sah ihren Onkel kläglich an.

»Du siehst aus, wie ein Säugling, dem die Brustwarze aus dem Munde geglitten ist«, stellte Thomas behaglich und sachlich fest.

»Und nicht einmal einen Vater hat das arme Kind. Alle seine Schulkameraden werden ihn verspotten und mich erst recht. Und Mama wird mich aus dem Hause jagen.«

Thomas war aufgestanden und betrachtete tiefsinnig den Heizkörper in der Ecke des Zimmers. »Der Mensch konnte keinen ungelegeneren Augenblick zum Sterben wählen; es war kein Verlaß auf ihn und kleine Mädchen sollten sich an gereifte Männer anschließen.« Er drehte den Hahn der Zentralheizung auf Warm, fühlte interessiert die Heizröhren an und sagte mit einem Seufzer: »Freilich, warm wird die verdammte Winterröhre nicht selbst im Hochsommer der Liebe. Aber trotzdem, Kind, jetzt mußt du heiraten. Wie wäre es mit Lachmann?«

Alwine hörte plötzlich auf zu weinen und brach in ein fröhliches Lachen aus. »Den alten Kerl, der immer wie ein Weinkeller riecht. Eher heiratete ich dich.«

Thomas zog die Augenbrauen in die Höhe. »Du mutest mir da etwas zu, Alwine, was durchaus nicht der Mission entspricht, zu der mich Gott in die Welt geschickt hat. Frechheit!«

Alwine knickste. »Ich verspreche dem hohen Bräutigam Gehorsam, Demut und jeden Tag ein paar frische Wanzen.«

»Das ist unerhört,« rief Thomas erbittert und hob die Hand zu einem Faustschlage auf die Heizung, führte ihn aber nicht aus, da er ein starkes Jucken an seinem Bein verspürte. 344 »Wortansteckung«, stellte er befriedigt fest, »das muß ich mir merken«. Er kritzelte etwas auf ein Blatt Papier, kratzte sich noch einmal und fuhr dann auf Alwine los: »Wie kommst du darauf, mich heiraten zu wollen? Dazu bin ich viel zu schade.«

»Du hast nicht immer so gedacht, Onkel.«

»Ach was, damals warst du ein Kind und das Heiraten kam nicht in Frage.«

»Aber es ist doch deine Idee, daß ich heiraten soll, und im Grunde hast du ja Recht. Nun könntest du aber deinen Rat auch praktisch durchführen.«

»Dann müssen wir also zur Annonce oder zum Heiratsbüro greifen. Der Justizrat hat mir eine Adresse –«

Alwines Augen füllten sich wieder mit Tränen. Und jetzt rannen langsam Tropfen auf Tropfen die Backen herunter. Thomas sah scheu zu ihr hin, wandte sich ab, fühlte noch einmal den kalten Heizkörper an, – »im Winter wird er schon warm werden« –, trat ein paarmal von einem Fuß auf den andern, ging auf Alwine zu, zog sie an sich und sagte entsagungsvoll: »Also dann werde ich es tun.« Dann klingelte er, und als der Kellner nicht gleich da war, klingelte er eine Minute lang. Endlich erschien atemlos ein Jüngling, heftig kauend und schluckend. »Sagen Sie im Büro, daß zwei Fahrkarten nach London für mich und meine Nichte besorgt werden sollen. Wir wollen heiraten.«

Der Kellner schluckte den letzten Bissen und fragte bestürzt: »In London?«

»Ja, natürlich in London. Hier in Deutschland bin ich offiziell tot, und Tote können nicht ehelichen, sagt Justizrat Wohlich. Natürlich in London.« Er drehte sich nach seiner Nichte um. »Willst du nicht gefälligst packen? Der Zug geht in 2 Stunden.« 345

 

Wieder keine Nachricht,« sagte Agathe. Sie warf dem Dr. Lachmann, der friedlich und mit Genuß sein übliches Frühstücksei löffelte, einen bösen Blick zu, als ob er Alwinen verführt hätte, auf und davon zu gehen und seit sechs Wochen nichts von sich hören zu lassen. Dabei schleuderte sie die Briefe und Drucksachen, die sie eben durchgesehen hatte, so heftig über den Tisch, daß eine Kreuzbandsendung sich in Lachmanns Teetasse verfing und sie umwarf.

Lachmann war unglücklicherweise gerade damit beschäftigt, einen vollen Löffel herrlichsten halbweichen Eigelbs zum Munde zu führen, als die Papiere um seinen Kopf sausten; er zuckte zusammen und wehmütig auf das niedertropfende Eigelb schauend sagte er: »Es ist gut, daß ich mich von der Praxis zurückgezogen habe, meine Hand ist nicht mehr sicher. Herrlich, daß du die Teeflecken auf das reine Tischtuch gemacht hast.«

»So: also ich. Natürlich. Ist es etwa nicht deine Tasse, die umgefallen ist? Und ist das eine Entschuldigung dafür, daß du dir am frühen Morgen die Hosen bekleckerst? Schieb deine Serviette unter die Decke und komm her, damit ich dir die Hosen rein machen kann. Heiß Wasser und nachher Spucke, das hält kein Fleck aus.« Eifrig fuhr sie mit der feuchten Serviette an Lachmanns Hosenbein auf und nieder, ohne im mindesten von dem boshaften Lächeln Notiz zu nehmen, mit dem Lachmann ihre Bewegungen beobachtete; nur als sie zu hören glaubte, daß er die Melodie des Trompeterliedes vom Schöngewesensein und Nichtseinsollen pfiff, hob sie die Augen und sah ihn strafend an. »Ich ängstige mich,« sagte sie.

»Du solltest die Polizei –«

»Damit herauskommt, daß August noch am Leben ist und daß ich den Falschen begraben habe? Niemals. Er ist tot und 346 soll tot bleiben. Basta.«

In diesem Augenblick klopfte es und der Briefträger erschien mit einem ziemlich dicken Brief in der Hand. Er fuhr sich mit dem Brief unter der Nase entlang, wobei es ungewiß blieb, ob er den Tropfen daran wegwischen oder ein Lachen verbergen wollte, und knurrte mit seiner ständig heiseren Stimme, die er auf die Erkältungen im Dienst, andre auf sein stadtbekanntes Saufen zurückführten: »Ich hab mir gedacht, es wäre netter, wenn Sie den Brief vom Fräulein – ihre Handschrift ist es ja – nicht mit den andern Sachen zusammen bekämen.«

»Na ja, es ist hübscher so.« Agathes Hände zitterten, als sie nach dem Brief griff. »Er hat doch vielleicht Recht mit seiner inneren Ansteckung. Sieh nur, wie der Liedtke mit seinen vergnügten Händen mir die Finger zum Tanzen bringt. Gehen Sie zu Rottraut, Liedtke, und lassen Sie sich da eine kleine Erkältung geben.« –

Dem Briefträger traten die Augen aus den Höhlen, so ereiferte er sich. »Sie wissen, ich trinke nie Schnaps.«

»Sie kennen die grüne Flasche, Liedtke. Dem Fräulein zu Ehren werden Sie eine Ausnahme machen.«

Liedtke stand plötzlich stramm und ein breites Lächeln verzerrte seinen Mund so, daß Lachmann in Versuchung kam, in diesen Schlitz die durchweichte Teedrucksache zu stecken, so einladend glich seine Mundpartie einem Briefkasten. »Was tut ein alter Soldat nicht alles für die Damen, und noch dazu für das Fräulein Alwine.« Ganz militärisch machte Liedtke kehrt und verließ das Zimmer.

»Mein Gott, es sind ausländische Marken,« seufzte Agathe. »Was hat Alwine im Ausland zu suchen?« Sie ließ die Hand sinken, ohne den Brief zu öffnen.

347 »Das Beste wird sein, wir machen den Brief auf.« Lachmann streckte die Hand aus, aber Agathe gab ihm gereizt wie eine Löwin, der man das Junge rauben will, einen Schlag auf die Hand.

»Ich werde doch noch meiner eignen Tochter Brief öffnen dürfen, wann mir es beliebt. Hast du sie unter tausend Schmerzen geboren oder ich? Im Übrigen werde ich ihr, sobald sie wieder hier ist, Schönschreibeunterricht geben lassen. Das sieht aus, als ob sie einem Negerjungen die Haare ausgerauft und einzeln auf das Kouvert geklebt hätte.«

Lachmann war aufgestanden und sah ihr über die Schulter. »Brügge, Brügge; das muß in Belgien liegen. Wie Teufel mag sie dahin gekommen sein. Na, liederlich soll es ja da zugehen, da hat sie sicher Gelegenheit, sich die Leibeslast weg–.«

»Schäme dich, Lachmann, du sprichst von einem unschuldigen jungen Mädchen.« Plötzlich wurde Agathe feuerrot und wütend riß sie das Kouvert auf. Aber schon bei den ersten Worten hörte sie auf zu lesen, warf den Brief von sich und ließ den Kopf in ihre Hände gleiten. »Das ist ja schrecklich,« schluchzte sie. »Wen mag sie denn nun wieder haben. Und gleich geheiratet. Lachmann, ich werde verrückt.«

»Das sollte mich nicht wundern. Erblich belastet müßt ihr sein, sonst könnte August –«

»Schweig! Er ist vernünftiger als du. Lies lieber den Brief vor; mir schwimmen die Buchstaben vor den Augen.«

Lachmann faltete die Hände.

»Nun«, fragte Agathe.

»Ich flehe den Herrn um Erleuchtung an, und siehe, er hat mein Gebet erhört. Liebe Mama, kann ich schon lesen.« Als er sah, wie Agathe sich die Lippen leckte, erriet er, daß sie 348 sich zu einer längeren Strafpredigt vorbereitete; sofort fing er an, mit der Geschwindigkeit eines Wasserfalls zu lesen:

»Bist du auch so vergnügt auf der Hochzeitsreise gewesen, wie ich es bin? Mein Mann behauptet, noch nie so viel Freude erlebt zu haben wie in den letzten Wochen; du kannst dir denken, wie stolz ich bin. ER ist aber auch der beste Mensch der Welt. Weißt du, Spitzen hat ER mir gekauft, ich sage dir: Spitzen! In meinem Leben hätte ich nicht gedacht, daß es so etwas gäbe. Überhaupt wenn ich denke, in was für Hosen du mich hast rumlaufen lassen!« –

Hier unterbrach Agathe die Lektüre: »Das ist nicht wahr. Sie hat immer sehr anständige Unterho–Unterwäsche wollte ich sagen getragen, solide und anständig, und auch Spitzen waren dran, wenn auch nicht echte.«

»Hosen müssen unanständig sein«, behauptete Lachmann. »Das ist ihr ihnen vom Herrgott zuerteilter Beruf. Und ich meinesteils halte es für pure Eifersucht der Mütter, daß sie die appetitlichen jungen Mädchenbeine in steifleinene Ofenröhren stecken, während sie ihre eignen plumpen Schenkel in Battist hüllen.«

»Das ist unverschämt. Nie in meinem Leben habe ich so etwas gehört. Ich bin Mutter und ich trage ordentliche –«

»Däftige«

»Leinene, bitte, Unterhosen; dabei will ich nicht leugnen, daß ich auch etwas Spitze daran habe, aber das ist wegen der Reinlichkeit. Du kannst dich davon überzeugen.« –

»Nicht nötig: ich kann mir deine Hosen ganz deutlich vorstellen. Vermutlich sind sie denen ähnlich, die ich bei dir früher« –

349 »Ach laß doch die alberne Geschichte von dem Umkippen mit dem Stuhl. Es ist gar nicht wahr, daß du damals etwas gesehen hast.«

»Damals nicht.«

»Du willst doch nicht etwa behaupten, daß ich dir sonst Gelegenheit gegeben habe –«

»Wenn du sie mir nicht gegeben hast, was ich nicht beweisen kann, so habe ich sie mir genommen.«

Agathe war puterrot geworden. »Ich bestreite ganz entschieden, daß jemals irgend ein Mann – natürlich mit Ausnahme meines seligen Mannes – Sieh mich nicht so infam an!«

»Ich habe mir nur meine Zigarre angesteckt. Daß du dabei in meine Blickrichtung gekommen bist, war nicht beabsichtigt. Wenn dichs aber interessiert, will ich dir eine Beschreibung deiner damaligen Steifleinenen geben.«

Agathe brach in Tränen aus. Aber Lachmann blieb ungerührt. »Es war doch sehr nett damals am Hang der Waldwiese. Ich denke gern daran zurück und kann nur bedauern, wenn du meine Empfindungen bei solchen Erinnerungen nicht teilst.«

»Ach, das ist alles so lange her, daß es schon nicht mehr wahr ist. Und überhaupt« – sie ging unbedenklich zur Attacke über – »mußt du ein recht unsauberes Leben geführt haben, daß du so genau mit intimer Damentoilette Bescheid weißt.«

»Aber erlaube mal, mein Beruf bringt das so mit sich, daß man Unterwäsche zu sehen bekommt, und es ist nicht das Schlechteste, was die Damen sich aufs liebe Leibchen ziehen, wenn sie gern untersucht werden wollen. Ich kann dich versichern, ich habe niemals außerhalb meines Berufs eine Damenunterhose gesehen, natürlich mit Ausnahme des Falls, den ich 350 vorhin erwähnte.«

»Willst du nicht lieber weiter lesen. Ich brenne vor Begierde zu hören, was mein Fräulein Tochter –«

»Frau, bitte!«

»Ach was! Für mich bleibt sie ein Kind, und wenn sie hundert Männer hat.«

Gegen diese echt mütterliche Auffassung wußte Lachmann nichts einzuwenden; er griff nach dem Brief und fuhr fort vorzulesen:

»Als mein Mann die Dinger zum ersten Mal sah, hat er sich schief gelacht und sie sich als Kopfschmuck über sein erhabenes Haupt gezogen; nur mit Mühe hab ich verhindert, daß er mit dieser eigentümlichen Krone zur Table d'hote ging. Ich habe sie jedenfalls nicht wieder anziehen dürfen und bin die ganze Kanalfahrt über und auch den ersten Morgen in London hosenlos gewesen. Es hatte auch seine Vorteile. Mein Mann findet, daß ich besonders hübsche Beine habe. Er behauptet, Weiber – ER sagt immer Weiber – hätten gewöhnlich kurze und krumme Beine –«

»Und mit solch einem Wüstling ist mein armes unschuldiges Kind verheiratet. Er muß doch Erfahrungen haben, wenn er so etwas weiß.«

»Vermutlich. Aber das pflegt einem gesund denkenden Mädchen nicht unangenehm zu sein. Das Spiel ist dann nicht so genant – du weißt, August behauptet, das Weib sei von Natur ohne jede Scham, das Sichschämen lerne sie dem Manne ab; wenn er zaghaft ist, hält sie es für nötig, sich zu schämen. – Außerdem gibt es doch nichts Schöneres für ein Mädchen als den Gedanken, daß sie imstande ist, durch ihre Vorzüge ein ganzes Heer von Vorgängerinnen vergessen zu machen. Also 351 weiter im Text«:

»Weiber hätten krumme und kurze Beine, damit sie besser umschlingen könnten und damit der Weg nicht so lang sei; er aber hat lange Wege gern, und ich finde, daß er Recht damit hat. In London hat er mir dann gleich Höschen nach seinem Geschmack gekauft; die Anprobe war sehr gründlich. Ach, Mama, ich habe nicht gewußt, was so ein Mann nicht Alles – ja nun weiß ich nicht, wie es bei Gretchen weiter geht. Ich weiß nur, daß mein Mann der richtige für mich ist. – Wenn du wüßtest, was ich alles in den paar Wochen gelernt habe! Auf der Hinfahrt war es ein bißchen stürmisch und das Schiff wackelte hin und her wie eine besoffene Gans – (Vergleich von Ihm) –; da wollte ich ein klein wenig seekrank werden. Da hat er mir eine ganze Vorlesung über die Seekrankheit gehalten, daß nur schlechte Menschen seekrank würden, solche, die sich von irgend einem Unrecht gegen ihre Mutter bedrückt fühlten; denn das Meer sei unser aller Mutter – mir fiel gleich die französische Vokabel aus dem kleinen Plötz ein – aus dem Meer stamme alles Leben, Aphrodite und alle Kinder der Liebe, und das Kind selber schwimme im Meer und werde von der Mutter geschaukelt genau wie wir im Schiff. Ich habe das natürlich zuerst nicht verstanden, das von dem Schwimmen des Kindes im Meer und wieso die Mutter Schiff und Meer gleichzeitig ist. Dann hat Er es mir aber erklärt und auch aufgezeichnet – was sehr komisch war, denn ER kann gar nicht zeichnen – und als ich begriffen hatte, daß SEIN Kindchen in meinem Bauche im Wasser lebt, habe ich keine Spur von Seekrankheit gehabt. Allerdings kamen wir dann bald an Land. Auf der Rückreise war ich auch nicht seekrank; allerdings war es da auch nicht stürmisch und dauerte nur zwei Stunden. Ich 352 glaube aber, daß er damit Recht hat, daß man gut zu seiner Mutter sein muß. Jedenfalls hatte ich, ehe er mit mir so gut redete, eine schreckliche Angst vor dir – denn ich bin doch arg bös gewesen, nicht? Aber nun bin ich verheiratet und unser Kindchen soll es gut haben. An ihm will ich gut machen, was ich an dir schlecht gemacht habe. Übrigens ist mir noch gar nicht so zu Mut, als ob ich ein Kind kriegen müßte. ER ist vorläufig das A und das O meines Lebens. Und dann habe ich auch Angst vor dem Kinderkriegen. Ich bilde mir ein, daß ich daran sterben werde. ER behauptet, ich hätte irgend jemanden umgebracht, schlägt dich oder sich selber vor. Aber so sehr ich mir Mühe gebe, es zu glauben, will es mir doch nicht gelingen: ich habe euch Beide viel zu lieb, IHN besonders. Bis jetzt hat er freilich immer Recht gehabt, wenn er etwas gesagt hat, in der Mordgeschichte hat er aber doch wohl Unrecht. Er ist ein schrecklicher Besserwisser.«

Lachmann ließ den Brief sinken und sah seine alte Liebe fragend an, wobei er die Augenbrauen so hoch zog, daß sie wie Rundbögen eines Kellereingangs aussahen. »Sollte August etwa –?« Agathe unterbrach ihn unwirsch: »Undenkbar. Scheußlich. Onkel und Nichte. Lies lieber weiter!«

»Irgend Etwas wird zerreißen, das ist einmal sicher. Da ist er nun auch wieder mit einer Erklärung da: das sei ein Überbleibsel kindlicher Gebärvorstellungen; Kinder hätten die Idee, daß der Bauch bei dem Kinderkriegen aufplatze, in der linea alba. Aber das ist doch albern, ich habe das nie geglaubt. Ich habe mir eingebildet, der Nabel sei ein Knopf, der werde aufgeknöpft und dann schlüpfe das Kind heraus oder werde herausgeholt. Jetzt weiß ich natürlich, daß das Kind dort 353 herauskommt, wo es hineingegossen wird. Freilich, wie das möglich sein soll – es ist entschieden zu eng, und ich habe fürchterliche Angst. Du weißt ja, wie schlecht ich Schmerzen aushalte. ER sagt, das mit den Schmerzen sei ein dummes Geschwätz der Weiber, um ihre Wichtigkeit zu betonen. Hennen gackern auch, sagt dieses Greuel von Mann, das hindert nicht, daß sie sich vor dem Hahn gern ducken und selbst ohne Hahn Eier legen; das ganze Getue ist auf den Mann berechnet, ein Mittel, um ihn unterzukriegen. Solche abscheulichen Dinge sagt er. Und noch viel Schlimmeres, was ich kaum niederschreiben kann. Denke dir, er fragte mich, ob es schöner wäre, wenn ein Streichholz da durch ginge oder ein festes großes Männchen. Er hat mir gar nicht Zeit gelassen, chokiert zu sein, ich bin eine ganze Weile zu spät gekommen mit dem Erröten. Na, und nachher, da hat er mir auseinander gesetzt, daß der Kopf des Kindes noch viel dicker wäre, und daß infolge dessen das Gebären ein noch viel größeres Vergnügen sei; man dürfe nur nicht klemmen, und was er noch für Unsinn geredet hat, ER! Es ginge auch stoßweise, nur längere Stöße seien es. – Entschuldige! Eben kommt er und will mit mir nach Ostende in den Spielsaal fahren. Das machen wir öfters, es ist sehr lustig. Er spielt methodisch, der alte Schulmeister, der er ist, und verliert immer, und ich spiele, wie es mir gerade einfällt, und verliere auch. Und dann habe ich mich in einen schwarzen Herrn verliebt; ich glaube, es ist ein Mexikaner oder mindestens ein Spanier. Gesprochen haben wir noch nicht miteinander, aber ansehen tun wir uns. ER hat ein sehr häßliches Wort dafür, das ist aber bloß, weil ER eifersüchtig ist. Also auf Wiedersehen, süße Mama, ER zankt schon, daß ich nicht fertig bin.«

354 »Mein Gott, was für ein Kalb!« seufzte Agathe. »Was soll daraus werden. Er scheint wirklich ein Stiesel zu sein mit seinem ewigen Klugscheissen.«

»Agathe!«

»Anders kann man das nicht bezeichnen. Übrigens war Luther doch Sachverständiger in Sprachdingen und er braucht das Wort: ich weiß es zwar nicht genau, aber mir ist so, als ob mir August mal so etwas gesagt hätte, und wenn der etwas sagt, ist es richtig.« Sie schwieg, sah Lachmann von der Seite an, als ob ihm nicht ganz zu trauen wäre, und sagte dann: »Es wäre nicht so übel, wenn er der ER wäre. Fahr fort!«

»Da bin ich wieder. Und einen ganzen Haufen Gold habe ich gewonnen. Ich habe all die blanken Zwanzigfrankstücke zu Säulchen aufgebaut und ab und zu stoße ich sie um und dann muß ER die rollenden Goldstücke haschen, so lange sie kullern; kriegt er sie nicht rechtzeitig, muß er mir ein Goldstück dazu geben von seinen. Er hat nämlich auch gewonnen, aber das finde ich überflüssig, er hat genug Geld. Ich luchse es ihm ab, und ER lacht sich tot dabei. Außerdem ist es spaßhaft, IHN so herumhupfen und kriechen zu sehen. Ach, was ist es schön verheiratet zu sein! Er ist einfach goldig. Das Gold lege ich auf die Sparkasse für den kommenden Thomas« – Lachmann warf einen bedeutenden Blick auf seine Gefährtin – »der wird dann ebenso Säulen bauen und der Vater wird dann für ihn unter den Schränken suchen. – Also wir haben gewonnen, und das ging so zu. Er sagte, wir sollten auf dreizehn setzen, weil das unser Hochzeitstag ist – unsrer, nicht der im Paß steht. Er wollte nicht warten, das gäbe eine schlechte Ehe, behauptete er, wenn man sich erst von Fremden die Erlaubnis geben ließe, das heißt, das hat er mir erst nachträglich auseinander gesetzt, geheiratet 355 haben wir, wie ich sage, aus Liebe, und wie ER sagt, weil keiner von uns in das obere Schlafwagenbett steigen wollte, Scheusal, das er ist. Nichts ist IHM heilig. Wir haben also auf die Dreizehn gesetzt und zum Überfluß noch auf die Eins und die Drei, und alle Zahlen sind glatt herausgekommen. Er hat mir gestern im Bett noch eine lange Vorlesung über Zahlen gehalten, ich weiß aber nicht mehr viel davon, nur was die Sieben ist, die böse und die heilige Sieben, das werde ich nie vergessen, ER hat es mir so eingeremst, wie eben nur ER es kann. Von der Dreizehn habe ich mir gemerkt, daß man sie für eine Unglückszahl hält, weil beim Abendmahl Christus mit den zwölf Jüngern zu Dreizehn bei Tisch gesessen hätten; es sei aber sehr undankbar von den Menschen, die Dreizehn deshalb für eine unheilvolle Zahl zu halten, denn wenn Christus nicht der Dreizehnte bei Tisch gewesen wäre, wäre die Welt gar nicht erlöst worden, und damit hat er eigentlich Recht. Jeder Mensch, sagt ER, ist Christus, jeder Mensch erlöst sich und die Welt durch den Tod am Kreuz – nota bene, das habe ich nicht ganz verstanden, was er damit meinte, es muß aber sehr wichtig sein; ER sah ernst und gütig dabei aus – jeder Mensch ist aber auch Judas und verrät sich, Christus, täglich. Man kann ebensogut annehmen, daß Judas der totbestimmte Dreizehnte ist, und dann ist erst recht keine Ursache, die Zahl der Dreizehn für eine Unglückszahl zu halten. Dann hat ER noch etwas über die Dreizehn gesagt, was auch über meinen Horizont ging, was auf mich aber wie ein heiliges Wort wirkte; es kann aber auch purer Blödsinn sein, denn manchmal sagt mein Mann die größten Albernheiten, die selbst ich für Albernheiten halten muß, mit solchem Ernst, daß ich zuweilen Angst um ihn habe. Ich habe versucht, den Wortlaut im Gedächtnis zu behalten; vielleicht verstehst du, 356 was der Onkel meint.«

Agathe fuhr vom Sitz auf. »Was schreibt sie da?«

»Onkel ist der Spitzname, den ich ihm gegeben habe«, fuhr Lachmann unbeirrt fort zu lesen. ER ist nämlich viel älter als ich. Mich nennt ER Mütterchen; ist das nicht nett? Dabei ist doch das Kind gar nicht von IHM. Aber er lacht nur und sagt: Es hätte doch hundertmal mein Kind sein können – das ist aber unerlaubt übertrieben. Also das waren seine Worte, oder also sprach ER, um es feierlich zu machen: 13 ist 1 und darauf folgt 3. 1 ist der Vater, 3 ist der Sohn. Zwischen ihnen ist eine Lücke, ein Luftraum, Pneuma – ich weiß ganz sicher, daß Onkelchen Pneuma sagte, obwohl ich nicht weiß, was das heißt, er behauptet, es sei der Name einer Taube, aber ich glaube ihm nicht, er ulkt nur. – 1, der Vater, verschwindet im Pneuma und erscheint wieder als Sohn, als 3. Das Pneuma ist Lust zu zweit, denn die 2 ist zwischen 1 und 3. So ist denn aller Welt Anfang und Ende, Tod und Leben in der Dreizehn enthalten. Die Dreizehn ist der Lobgesang auf den Mann, denn 1 und 3 sind absolut männlich. 2 ist das Weib, ganz Geist. Sie tötet die Eins und gebiert die Drei. Sie ist selbstverständlich wie die Luft, durch die wir alle leben; sie ist der Lebensodem, das Pneuma, sie braucht nicht benannt zu werden, das Weib ist Mutter. Der Vater stirbt im Sohne und der Sohn am Kreuz, die Mütter aber sind ewig. So ungefähr war es. Nachher zitierte er etwas aus dem zweiten Teil vom Faust, da habe ich nicht mehr zugehört. Wenn er ästhetisch wird, faselt er immer. Hoffentlich hast du es verstanden. Mir hat er keine Zeit gelassen, darüber nachzudenken; er wurde wild und behauptete fortwährend: Nun muß die 1 sterben, nun bring sie um! Wie gesagt, manchmal kommt er mir total verrückt vor, aber er bleibt doch immer ER, ein König selbst in Unterhosen. ER ist stark wie ein Gott, ich habe ihn gern. – Denke dir, er hat gar keine rote Nase mehr, wenigstens ist sie schon annähernd rosa, und die greulichen Pickeln sind ganz weg. Er behauptet, er hätte sie sich zugelegt, um mir treu bleiben zu können, damit habe er jede Versuchung in Evasgestalt von sich fortgescheucht; er spricht davon so, als ob man es in seiner Macht hätte, sich Pickel zuzulegen und sie wieder verschwinden zu lassen. Und als ich ihn direkt fragte, ob man das wirklich könne, sagte er, in gewissem Sinne könne man von Absicht reden, wenn jemand Pickel am Naser habe, doch seien es unbewußte Absichten. Und dann quatschte er etwas von Freud und von Verdrängen. Ich habe es nicht verstanden. Aber bei der Gelegenheit habe ich erfahren, wie seine frühere Geliebte hieß: Annaliese. Sie muß eine Studierte sein, oder wenigstens furchtbar gebildet, wenigstens scheint sie ihm viel Mythologie und Ethnologie und Etymologie und wie die Lügien (Ausdruck von IHM für Logik-log ich) sonst heißen mögen. Aber wahrscheinlich hat sie ihm bloß etwas vorgeschmust; wenn man ein andächtiges Gesicht macht und ab und zu wie erschlagen von seiner Weisheit tut, fällt er immer darauf herein und denkt, was er gesagt hat, hätte ich gedacht. So wird es wohl die Annaliese auch gemacht haben, Biest verdammtes! Wahrscheinlich meint er mit dem Verdrängen auch, daß dies Frauenzimmer erst mich aus seinem Herzen verdrängt hat – du weißt ja, die dumme Geschichte, über die du damals so furchtbar böse auf ihn warst, ganz mit Unrecht, denn ich habe ihn rumgekriegt, nicht er mich, – also erst hat sie mich verdrängt und jetzt ich sie. Aber das ist nur so eine Vermutung; er spricht nicht gern von der Geschichte. Als ich neulich seine Narbe tätschelte und sagte: Weißt du noch, 358 schielte er die Nase lang und wurde rot wie ein kleiner Junge und dann sagte er, ich sei naserweis und er müsse mich bestrafen. Das hat ER denn auch getan, Juch! – Heute hat er mich in das Brügger Museum geführt und hat mir die Spitzen Karls des Fünften gezeigt. Wenn Er nur nicht so gräßlich schulmeistern wollte; gleich hat er mich gefragt, ob ich etwas von Karl dem Fünften wüßte. Gott sei Dank fiel mir die Geschichte von der Sonne, die in seinem Reiche nicht unterging, ein und daß er immer Uhren aufzog und das »Nit Kopf ab, Kurfürstliche Gnaden«, was ich mir gemerkt hatte, weil es mir komisch vorkam, daß ein so großer Kaiser wie ein kleines Kind nit statt nicht sagte; er soll allerdings noch sehr jung gewesen sein, vielleicht hat er noch richtig sprechen lernen, es ist ja kaum auszudenken, ebensogut hätte er sich in die Hosen machen können. Also das imponierte meinem Dicken (ein andrer Spitzname) gewaltig. Aber nun ging es los, daß mir ganz schwumrig wurde. Es läge am Namen, daß er ein so großer Kaiser geworden sei. Namen hätten eine unglaubliche Macht – beinahe hätte ich mich bei ihm mit der inneren Ansteckung geschmiert – Karl, Kerl, das sei der Mann, jemand, der Karl hieße, wäre eben ein ganzer Kerl, er engagiere nie einen andern Diener als einen, der Karl hieße, oder mache es wenigstens zur Bedingung, daß er sich so rufen ließe; manchmal würde selbst ein untauglicher Diener dadurch ein ganzer Kerl. Wenn er Kaiser wäre, würde er dem Minister des Auswärtigen den Titel Reichskarl geben, dann –. Und da fing er eine lange Schimpflitanei über Politik an, während der ich mir den Markt unten durch das Fenster angesehen habe. Es war wundervoll, alle die Menschen inmitten der vielen Blumen, die den ganzen herrlichen Platz bedeckten, du kannst dir gar nicht denken, wie schön das ist, all die alten Gebäude. Er erzählte auch etwas in diesem Zusammenhang von Karl des Fünften Einzug in Brügge, oder war es Gent, nein, nein ich weiß schon, Antwerpen, wo ihn die schönsten Mädchen der Stadt total nackt empfangen haben. Komisch! Im Übrigen bin ich mehr für das Angezogene, wenigstens ein Bißchen soll man anhaben, das lockt viel mehr. Und das Ausgezogenwerden ist doch auch nett. In Gent hat er glaube ich eine Masse Menschen aufhängen lassen, und in Brügge sind eben seine Handschuhe und Spitzen. – Dann hat Onkelchen wieder angefangen zu schwärmen, aber ich höre das sehr gerne, er behauptet nämlich, das seien Entdeckungen der Annaliese, was ich nicht glaube, aber was mir beweist, daß er sich in jede verliebt, die ein andächtiges Gesicht zu machen versteht, wenn er seinen Kram auspackt. Er ist sich vollkommen klar darüber, daß es so ist: Alle Männer seien so, sagt ER. ER ist bestimmt so, ich habe es ausprobiert. Frauen sollen eitel sein? Wie soll man dann diese Gier nach Schmeichelei bei den Männern nennen? – Nun, er hat weiter philologiert. Der fünfte Karl, das hat er mir an den Fingern hergezählt, so etwa wie: Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen usw. Karl der Fünfte sei der kleine Finger, ein sehr brauchbarer Finger, wenn er auch nicht dem Karl dem Ersten – das sei Karl der Große gewesen – gleichkäme. Als ich ihm mit Karl dem Kahlen und Karl dem Dicken kam, wurde er böse: es müsse nicht immer alles stimmen, das Leben sei bunt und Gottes Ratschlüsse oft wunderlich. Dann wurde er nachdenklich und auf einmal strahlte sein ganzes Gesicht. Ob ich einmal was von Karl dem Vierten gehört hätte? – Das ist der mit der goldnen Bulle, sagte ich, nachdem ich eine ganze Weile ein verlegenes und nachdenkliches Gesicht gemacht hatte; ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, daß man sich 360 vor Männern noch dümmer stellen muß, als man ist, nur wenn sie einem etwas auseinandersetzen, muß man klug tun. Siehst du, schrie er förmlich vor Triumph, der vierte Finger, das ist der Goldfinger, deshalb mußte der vierte Karl die goldne Bulle verfassen. Jetzt ist überhaupt alles klar. Karl der Große das ist der Daumen, der Hauptfinger, der, in dem alle Möglichkeiten enthalten sind, alle andern Finger fakultativ schon da sind, ebenso wie in Karl dem Großen alle künftigen Kaiser schon vorgebildet waren. – Wie mein Mann auf das Folgende gekommen ist, weiß ich nicht, es ist ziemlich intim, und du brauchst es nicht zu lesen, wenn dir das Intime unangenehm ist. – Karl der Große, das ist einer, der kann, aber nicht muß. Karl der Kahle, bei dem hat sich es zurückgestreift, du weißt, was ich meine, es ist außer den Handflächen und Fußsohlen die einzige kahle Partie des Mannes, aber mit dem bloßen Entblößen der Spitze ist noch nichts getan, erst muß Karl dick werden, dann kann er als goldner Bulle ans Werk gehen, heiraten, und dann schließlich wird der fünfte kleine Karl daraus, der aber schon wieder etwas von den Qualitäten des Daumens hat und sich eventuell in einen großen Karl verwandeln kann. Ich habe meinen Dicken selten so lebendig gesehen wie in dem Moment. Ach Mama, was ist es schön verheiratet zu sein, wenigstens wenn man einen Mann hat, wie ER ist. – Er ist auch sehr generös mit Essen und Trinken und ich werde dicker und dicker.«

Lachmann ließ den Brief sinken und lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich denke, wir machen nun erst einmal eine Pause.«

»Warum?« fragte Agathe eifrig.

Lachmann sah sie scharf an, holte sich, ohne sie aus den Augen zu lassen, langsam und gemächlich eine Zigarre vor, steckte sie an, päffte und sagte: »So etwas muß dich doch 361 angreifen. Das ist schon starker Tobak, und du mit deiner zarten Seele.«

»Lachmann, das verstehst du nicht. Du hast eben nie ein Kind an der Brust liegen gehabt.«

»Weißt du das so bestimmt?«

»Ja, das weiß ich allerdings bestimmt. So etwas ist unser Privileg, dazu eignet sich der Herr der Schöpfung nicht.«

»Alexander Humboldt erzählt aus den einsamsten Cordilleren, daß er dort einen Mann gesehen und gesprochen habe, an dessen vollkommen entwickelter Brust ein Säugling lag und Vatermilch trank, richtige Menschenmilch. Die Mutter des Kindes war während der Geburt gestorben, da hatte der Vater das Ammesein probiert, da sonst weit und breit keine Milch aufzutreiben war, und es gelang ihm. August ist gar nicht so dumm mit seiner Idee über die Entstehung der Pickel. Ich schäme mich, daß ein Laie – und was für einer – Entdeckung auf Entdeckung macht, während wir vom Fach immer wieder dieselbe Suppe kochen, löffeln und löffeln lassen, die unter den verschiedensten Namen das ganze Menu der Wissenschaft ausmacht. Wenn ich doch je in meinem Leben eine einzige solche Idee gehabt hätte, wie sie dieser armselige Geisteskranke zu Dutzenden produziert.«

»Lachmann, ich verbitte mir das; du sollst meinen Bruder nicht geisteskrank nennen. Er ist –«

»Tot. Tot nach dem Willen seiner Schwester. Wollen wir nun weiter lesen?«

»Allerdings wollen wir weiter lesen. Das versteht sich, daß wir weiter lesen.«

»Agathe, ich muß mich über dich wundern. Du bist sonst die Sittsamkeit selber, siehst zur Seite, wenn du an dem 362 Knabenschwimmbad vorbeikommst, fragst den Jüngling in der Leihbibliothek, ob das Buch, das er dir gibt, auch modern sei. Denn wissen Sie, lieber, junger Mann – Lachmann versuchte Agathes Stimme nachzuahmen – ich finde diese neumodischen Dichterlinge mit ihren Pikanterien abscheulich, ja direkt langweilig; ich verstehe ja, daß Sie von Berufswegen lesen. Aber mir bitte muten Sie es nicht zu. Mir wird übel, wenn ich den Namen Strindberg oder Sudermann oder gar Casanova höre.«

»Du übertreibst; ich weiß ganz gut, daß Casanova längst tot ist, und Strindberg habe ich sogar gelesen.«

»Heimlich wohl auch Casanova.«

»Nein, den habe ich nicht gelesen. Aber ich würde ihn sicher nur heimlich lesen. Solche Heimlichkeit ist man sich selbst schuldig – wenn man nicht gerade August ist.«

»Oder Alwine. Ich finde sie reichlich offenherzig und – ich kann mir nicht helfen – ich finde ihren Brief pikant.«

»Ich finde ihn sogar schmutzig, exorbitant schmutzig. Aber ihre Windeln waren auch nicht rein, und ich habe sie doch gewaschen. Dem Reinen ist alles rein. Für eine Mutter ist ihr Kind niemals schmutzig. Merke dir das! Und nun lies weiter!«

Lachmann warf ihr noch einen überqueren Blick zu, dann las er weiter:

»In der Nacht, die jener sehr eindringlichen Belehrung über die verschiedenen Sorten Karl folgte, konnte ich lange nicht einschlafen, und da ich meinem Manne als gefügiges Eheweib gern zu Willen bin, habe ich mir etwas zurecht gedacht, was ihn geradezu entzückt hat. Ich habe alle meine geschichtlichen Erinnerungen aufgefrischt und da sind mir noch zwei Kaiser-Karle eingefallen, die habe ich ihm am nächsten Morgen zum Frühstück aufgetischt. Karl der Sechste – sicherheitshalber 363 habe ich noch einmal im Konversationslexikon nachgesehen – ist der mit der pragmatischen Sanktion. Er hatte keine Söhne und hat sein Leben im Wesentlichen damit verbracht, die Thronfolge seiner Tochter Maria Theresia durch tausendundeinen Vertrag zu sichern. Den habe ich nun meinem Dicken als Repräsentanten des weibgewordenen Mannes vorgestellt, als Muttermann gewissermaßen, weil er die Sechs ist, und Thomas behauptet immer, Weiber gäbe es eigentlich gar nicht, es würden nur Knaben geboren; den unartigen Knaben – er versteht darunter eine ganz besondere Unart, über die er sich nicht näher auslassen will, ich würde wohl allein wissen, was das für eine Unart sei, natürlich weiß ich es – den unartigen Knaben würde ihre kleine Sieben unbarmherzig vom Vater abgeschnitten, so daß nur noch ein böses Loch übrig bliebe, eine böse Sieben, eine Sechs. Er nennt das Kastration und behauptet, alle Menschen hätten einen Kastrationskomplex. Daraufhin hat ER sich etwas ausgedacht, womit er mich fürchterlich peinigt. ER hat sich nämlich ein riesiges Bratenmesser angeschafft, das liegt zu oberst in seinem Koffer und daneben liegt ein stählernes Schleifmesser, das wie ein sechseckiger scharf zugespitzter Dolch aussieht. Wenn ich nun nach seiner Ansicht unartig – natürlich nicht wie die unartigen Kinder, was ich ja nicht nötig habe – gewesen bin, steht ER mit einem Gesicht, das nur noch Augenbraue mit darunter liegenden blaugrauen Untertassen ist, auf, holt Bratenmesser und Schleifding vor und wetzt das Messer. »Deinem kleinen Thomas, dem schneide ich sein Ding ab mitsamt allem, was daran hängt«, sagt er dann, und der Ton des Wetzens und das Hin- und Herfahren des großen Messers ist so fürchterlich, daß ich sofort artig werde. Einmal habe ich 364 versucht, Widerstand zu leisten, da kam, wie er sagte, eine atavistische Lust am Menschenfressen über ihn, und er malte mir in allen Einzelheiten aus, wie er nun den Kleinen ganz schlachten, braten und aufessen werde, ich aber solle zur Strafe den Extrabissen haben, der Knabe und Mädchen unterscheide. Er macht mich noch ganz verrückt mit seinem Geschwätz.«

Agathe hatte den Kopf auf die Arme gelegt und schluchzte laut: »Das arme Kind! Der böse Mann!« Lachmann war zunächst sprachlos, dann griff er nach seinem Frühstücksmesser und der Gabel und: »Wenn du es denn nicht anders haben willst, Agathe. Ich kann das ebensogut wie August, und ein Stück Gänsebrust kriege ich zur Not trotz deines vorzüglichen Frühstücks noch herunter.« Dabei fuhr er mit majestätischen Bewegungen mit der Messerschneide an dem Gabelzinken auf und ab; seinen Mund hatte er breit verzogen und ließ aus ihm lang die Zunge heraushängen, so daß er wirklich einige Ähnlichkeit mit dem Menschenfresser im Däumling bekam; zumal ihm nach einigen Sekunden das Wasser aus dem Munde troff. Agathe sah ihn starr an, dann brach sie in ein vergnügtes Lachen aus. »Lies weiter!« Lachmann las:

»Also den Pragmatik-Karl – irgendwie fallen mir dabei immer Prager Schinken ein – den habe ich ihm als Sechs vorgestellt und daraus sein Schicksal gänzlicher Impotenz abgeleitet: der Name habe ihm keine Wahl gelassen. ER war total erschlagen; ER hatte nicht geahnt, was für eine gescheute Frau er hätte. Sage das Onkel Lachmann, er hat mich immer für dumm und minderwertig gehalten.«

Bei dieser Stelle des Briefes sah Agathe ihren alten Liebhaber, ihm die Hand auf den Arm legend, fragend und vorwurfsvoll an. Lachmann zog die Mundwinkel herunter und knarrte 365 ärgerlich: »Ach, das nennt man den männlichen Protest. Minderwertigkeitsgefühl. Sie hat mir nie die Ohrfeige verziehen, die ich ihr mal in einer günstigen Stunde verabreicht habe, als sie sich nicht in den Hals sehen lassen wollte. Weiter im Text:«

»Der Eindruck war so gewaltig, daß ich dachte, der kastrierte Karl könne nicht mehr übertroffen werden, aber ich habe mich selber übertrumpft: ich sagte IHM, ehe er noch zur Besinnung kommen konnte: Und weißt du, Karl die Sieben, der Bayer, der seines Lebens nicht froh werden konnte und ratlos hin und her zappelte, das ist Karls des Sechsten abgeschnittenes Schwänzchen. Das hättest du sehen sollen: Thomas war ganz außer sich, ich habe nie so etwas gesehen. Er packte mich und tanzte mit mir in der Stube rum, und dann ließ er mich los und hob wie ein Tanzbär abwechselnd die Beine hoch und machte mit den Armen die tölpischen Bewegungen solchen Untiers nach, daß ich vor Lachen Bauchschmerzen bekam. Und dann ist er weggelaufen und wie er wiederkam, hatte er ein Babyhemdchen und ein Spitzenhäubchen im Arm, einfach süß, sage ich dir. Und daß ER es gekauft hat. ER als erster mir etwas für den Kleinen geschenkt hat! Ich habe ihn geküßt. Na und seitdem brauchen wir, wenn wir uns über Intimitäten unterhalten wollen, für das Wichtigste den Titel Kaiser Karl der Siebente. Er ist auch feierlich von MIR gekrönt worden, wie, verrate ich nicht. – Seit jenem Morgen fange ich übrigens an, den Kastrationskomplex zu verstehen. Mir ist nämlich etwas aus meiner Kindheit eingefallen, und der Dicke behauptet, es sei sehr wichtig. Als ich noch bei Euch im Zimmer schlief, habe ich manchmal gesehen, wie du deinen falschen Zopf –«

Lachmann hob fragend den Kopf, er war frech genug, spöttisch auszusehen.

366 »Man trug damals falsche Zöpfe«, sagte Agathe, ohne im mindesten verlegen zu werden.

»Abends abnahmst und ans Fensterkreuz hingst, um ihn morgens wieder zu flechten und aufzustecken. Das hat mich immer furchtbar erschüttert, ohne daß ich wußte warum. Er hat mich nun belehrt. – Du hast damals, weil die Erinnerung daran, wie dein Vater dir es abgeschnitten hat, noch frischer war, gedacht, daß die erwachsenen Frauen es abnehmbar haben; am Tage tragen sie es und in der Nacht legen sie es ab und hängen es irgendwo sorgfältig auf, genau wie es deine Mutter mit dem falschen Zopf machte. – Ich bin überzeugt, daß er Recht hat.«

Agathe legte wieder die Hand auf Lachmanns Arm, zum Zeichen, daß er eine Pause machen solle. Erst nach einer ganzen Weile nahm sie den Arm wieder fort und die Lektüre ging weiter.

»Du siehst, Mama, schöner kann es deine Tochter nicht haben, ER –«

»Na nu hört alles auf,« unterbrach sich Lachmann.

»Was ist denn los? Warum liest du nicht weiter?«

»Ja, jetzt scheint die Geschichte brenzlich zu werden. Hör nur!«

»Ach, Mama, ich hätte es nicht berufen sollen; jetzt ist alles vorbei. Ach, ich bin so unglücklich. Er sitzt im Kittchen und ich – ach ich wollte, ich wäre tot mitsamt dem kleinen Thomas. Der große –«

In diesem Augenblick unterbrach ein Klopfen das Lesen und hereintrat Schön-Rottraut mit einer Depesche in der Hand. Sie warf, als sie das Telegramm ihrer Herrin übergab, einen 367 bitterbösen Blick auf Alwines Brief, zwang ihrer abscheulichen Häßlichkeit ein abschreckendes Lächeln ab und sagte in halbverständlichen Zischlauten ihres zahnlosen Mundes etwas, was so klang wie eine Erkundigung nach dem lieben Fräulein Alwine. Agathe achtete gar nicht auf sie. Am ganzen Leibe zitternd versuchte sie das Telegramm aufzureißen, was durchaus nicht gelingen wollte, da sie nach unerschütterlicher Gewohnheit zart die Verschlußstelle zu lösen versuchte, was nicht immer ganz leicht ist. »Sie werden ihn doch nicht erschießen,« murmelte sie. »Er ist doch ein Kind.«

»Ach was erschießen,« schrie Lachmann, nahm ihr die Depesche fort und riß sie so heftig auf, daß sie sich in zwei Fetzen auflöste. »Heutzutage erschießt man nicht so leicht.« Dabei versuchte er die beiden Stücke wieder zusammenzusetzen.

»Das schöne Telegramm zerreißt er«, sagte Agathe fassungslos. »Das schöne Telegramm.«

»Aus Berlin,« las Lachmann eilig. »Alles in Ordnung, sind glückselig und verliebt –«

»Das hat sicher ER hinzugefügt,« rief Agathe in Tränen lachend dazwischen.

»Erwarten dich und Lachmann so bald als möglich hier Fürstenhof Thomalwinaas.«

»Na, da hört sich denn doch Verschiedenes auf. Solch ein verdammtes Mädel, einem einen solchen Schrecken einzujagen. Das kommt davon, wenn man mit dem männlichen Protest adlert.«

Agathe sah ihn einen Augenblick verständnislos an, und Lachmann hätte wohl selber nicht angeben können, was er im Augenblick mit dem männlichen Protest meinte, dann richtete sie sich würdevoll auf, sagte: »Mein Kind ist kein verdammtes 368 Mädel, sondern eine verheiratete Frau, mit deinem besten Freunde verheiratet, und mit andern Männern gibt sie sich nicht ab, auch nicht in männlichem Protest,« und rauschte zur Tür. Dort drehte sie sich um und sagte: »Ich weiß nicht was du mit diesem albernen Wort Männlicher Protest meinst. Vermutlich irgend eine Niederträchtigkeit gegen die Frauen. Aber ich dulde nicht,« sie erklärte nicht, was sie nicht dulden wollte, da sie Lachmanns spottsprühendes Gesicht sah, »Ich packe meine Sachen für Berlin. Du wirst gut tun, das auch zu tun, wenn ich dich mitnehmen soll«. Sprach's und verschwand.

 

Zur selben Zeit, wo das alte, vom Schicksal stets böswillig auseinandergehaltene Liebespaar mit wechselnden Gefühlen den Brügger Brief entzifferten, thronte Thomas Weltlein in Hemd und Unterhosen vor dem Toilettenspiegel im Hotel Fürstenhof. Sein Haupt hielt er steif ein wenig nach hinten gestreckt und reckte mit sauersüßer Miene den nackten stoppligen Hals vor, als ob er trotz aller daraus entstehenden Bitternis seine Frau bäte, ihm ein wenig die Kehle abzuschneiden, um sich von der alles duldenden Kraft seiner Neigung zu überzeugen. Alwine saß in einem der vielen Spitzenhemdchen auf seinem Knie und rührte emsig und in ihr Spiel versunken mit dem Rasierpinsel Seifenschaum.

»Jetzt werden sie wohl unser Telegramm haben«, sagte Thomas und versuchte mit verdrehten Augen die wippende Fußspitze seiner jungen Frau zu beobachten.

»Ach das Telegramm.« Alwine zog einen Flunsch. »Ich sehne mich offen gestanden nicht sehr danach, Mama jetzt schon wiederzusehen. Wir hatten es doch sehr gemütlich, und du wirst sehen, sie wird sofort anfangen, uns zu erziehen.«

»Das ist gerade das Nette an ihr. Schade, daß sie dich nicht 369 so sitzen sieht.«

Alwine zog verängstigt ihr Hemd nach unten, was ihn dazu veranlaßte zu bemerken, wie hübsch das von der Natur eingerichtet sei, daß man sofort bei den Weibern oben einen Ersatz fürs Auge bekäme, wenn einem unten die Aussicht beschränkt werde. Alwine machte eine halbe Wendung auf seinem Knie, so daß sie ihm den Rücken kehrte, stellte den Seifnapf auf die Platte des Toilettentischs und fuhr mit dem Pinsel so energisch in dem Gefäß herum, daß man allein an dieser Bewegung feststellen konnte, wes Tochter sie war. »Das hätte ich mitansehen mögen, wie sie den Brief gelesen hat. Das hat sie ein paar Haubenbänder gekostet. So hat sie ausgesehen.« Sie preßte die Lippen eng aufeinander und ließ die Mundwinkel hängen; die Ähnlichkeit mit der Mutter wurde so groß, daß Thomas, der in seiner Verliebtheit trotz der ungeeigneten Stellung seines Kopfs mit den seltsamsten Verrenkungen seiner Augäpfel jede ihrer Bewegungen verfolgte, abwehrend seine breite Hand über ihr Gesicht legte und vorwurfsvoll sagte: »Nicht agathern! Du sollst lieb sein. Aber einseifen darfst du mich jetzt; die Nackenmuskeln tun mir schon weh.«

Alwine drehte sich ihm wieder zu, packte ihn mit der linken Hand an seiner Nase und hob den Pinsel, um ihn einzuseifen.

Plötzlich verzog sich ihr Gesicht – »Pfui! du hast wieder einen Pickel« – und, klacks! schlug sie ihn mit dem Pinsel auf die Nase, so daß der Schaum über Mund und Kinn heruntertropfte. Thomas fuhr so heftig zurück, daß er sich den Kopf an der Stuhllehne stieß, und kläglich das Gesicht verziehend und den Hinterkopf reibend sagte er: »Der Pickerich merkt sofort, wenn du mich schlecht behandelst, er läßt die Blüten treiben, sobald seinem Herrn Unrecht geschieht.«

370 »Unrecht?« fragte Alwine erstaunt. »Wann um Gotteswillen habe ich dir Unrecht getan?«

»Wie soll ich das wissen? Der Pickerich weiß es und hat es dem Naser mitgeteilt. Wir müssen ihn fragen.«

Alwine hatte ihren Mann wieder an der Nase gepackt. »Frag ihn, und daß er ja rasch antwortet! Sonst dreh ich dir das R am Schluß deines Nasers ab, daß du schmählich mit einer Weibernase herumlaufen mußt.«

Thomas machte ein Gesicht, als ob er in der Obersekunda vor der Wandtafel stände und unter dem gestrengen Blick des Mathematikgewaltigen eine schwierige Dreieckskonstruktion zu lösen hätte. »Mir fällt das Wort Brügge ein und Verrat.« Er richtete sich kerzengerade auf, faßte das Handgelenk seiner Frau, zog ihre Finger von seiner Nase und sie mit vernichtenden Augen anblitzend sagte er: »Du hast mißbilligt, was ich in Brügge tat. Du hast die Wanzenpartei ergriffen.«

»Das ist nicht wahr.«

Thomas drehte ihren Kopf mit seiner breiten Hand sich zu, so daß sie ihm in die Augen sehen mußte. »Hast du bewundert, was ich tat?«

»Bewundert? Wenn du mich allein in einem fremden Lande läßt? Wenn du ganz unnötigen Skandal machst und dich so beträgst, daß sie dich auf die Polizeiwache schleppen? Wir waren doch im Begriff abzureisen; du hättest die Sache ruhig auf sich beruhen lassen können und –«

Thomas ließ traurig die Hand seiner Frau sinken. »Nun kommt ein neuer, der Pickerich hat es gehört, daß sie gesagt hat, ich hätte es auf sich beruhen lassen sollen.« Seine Arme sanken schlaff herab und der Kopf beugte sich wie unter einer schweren Last.

371 Alwine schmiegte sich dicht an ihn, suchte mit der einen Hand seinen Kopf aufzurichten, mit der andern streichelte sie sanft seine Backen und sein Kinn, ohne darauf zu achten, daß sie ihm dabei den Seifenschaum immer mehr zwischen die Lippen strich. »Armer Dicker! Hast du ein böses Weib. Aber ich werde es schon lernen. Mir tun doch die Wanzen nichts. Du mußt Geduld haben. Ich werde es schon lernen. Du mußt Geduld haben.«

»Ihr begreift es Alle nicht: Lachmann nicht und Agathe nicht und du begreifst es auch nicht, nicht einmal du begreifst es.«

Alwine traten die Tränen in die Augen und leise mit gebrochner Stimme flüsterte sie ihm wie einem kleinen Kinde, das getröstet werden soll, zu: »Doch, Lieber, doch Lieber. Ich verstehe es.«

Thomas richtete langsam sein Gesicht hoch. »Du hältst mich nicht für verrückt? Sieh mir in die Augen! Du hältst mich nicht für verrückt?«

Alwine fühlte, daß ihr Schicksal von der Antwort abhing: ihm treuherzig und aufrichtig in die Augen blickend – das hatte sie schon gelernt, daß man beim Lügen nicht in die Pupillen des andern blicken darf, sondern das Weiße des Auges ansehen muß – log sie: »Niemals habe ich dich für verrückt gehalten.«

Sein Gesicht klärte sich langsam auf, während er sie, anfangs forschend, nach und nach zärtlich, ansah. »Ich bin es auch nicht. Sieh einmal, ich habe etwas entdeckt, etwas, was alle Menschen wissen und doch keiner weiß, etwas was das Denken umwälzt, was den Menschen zum Menschen macht, und was doch Niemand je ganz begriffen hat. Ich will nicht sagen, daß 372 ich es ganz begreife, das liegt wohl außerhalb menschlichen Vermögens. Aber es leuchtet ein Licht in mir, bald hell, bald dunkel, und dieses Licht –« Er unterbrach sich und drückte sein junges Weib mit aller Kraft an sich.

»Wenn du so Meeraugen machst, Lieber, ist mir, als ob es still würde.« Alwine flüsterte ganz leise: »Ich habe nie so etwas gesehen.«

Thomas streichelte ihr sanft das Haar. »Es ist so. So ist es. Wir Menschen glauben zu leben, aber es ist nicht wahr. Wir werden gelebt, und nichts geschieht, was nicht geschehen muß. Das ist eine alte Wahrheit, scheint es, nur ist sie nie begriffen worden, nie gelebt worden. Wenn ich bedenke, wie ich geworden bin, wie sehend und wie glücklich! Und wie, wohin ich auch komme, der Friede mir folgt, Ruhe und Behagen von mir ausstrahlt, nur weil ich die Kraft kenne und anerkenne, die uns alle hält und lebt. –« Er unterbrach sich und sah sein Weib an, als ob langsam und aus weiten Fernen etwas zu ihm zurückkehre. »Was ist dir?« fragte er.

»Ich friere.«

»Wie solltest du nicht? Wenn das heilige Feuer in dem Menschen angefacht wird, erschrickt er und fürchtet zu verbrennen. Und dann holt er alles, was von Kälte in ihm ist, herbei und häuft es über die Flamme, die er fühlt und nicht verstehen kann. Jedes Fieber entsteht so, jedes Frostgefühl. Fürchtest du dich nicht mehr vor der Wärme des Lebens, so kennst du den Frost nicht mehr und die Hitze rührt dich nicht mehr an. Dann bist du gefeit, dann bist du wie Gott, dann bist du du selbst. Furcht ist das Erbteil des Menschen und Angst seine einzige Sünde. Siehe, ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende.«

373 Alwine hatte dicht an ihn geschmiegt seiner Stimme gelauscht und seinen Blick gesehen; was er sagte, hörte sie nicht. Sie fror nicht mehr. Das also ist Liebe. –

»Jetzt ist es vorbei,« klagte sie. »Schade! Ich liebe deine Augen, wenn sie so fern sehen. Sie sind wie das Meer.«

»Das Meer, das ist die Mutter. Hat dir Agathe von unsrer Mutter erzählt?«

Alwine schüttelte den Kopf. »Zuweilen. Nicht viel.«

Er streichelte wieder ihr Haar und flüsterte leise, so daß sie es kaum verstehen konnte: »Du bist meine Mutter, ich brauche keine andre.«

Der Ton seiner Stimme änderte sich. »Siehst du, das muß man auch lernen, und wer wissend wird, lernt es spielend, das ›Stirb und Werde‹. Verrat, Treulosigkeit, das sind die tiefsten Lebenskräfte. Wir verraten immer, unsre Liebsten, Besten verraten wir von Beginn an und dann suchen wir unser ganzes Leben lang die wieder zu finden, die wir treulos verließen. Vom Vater, in dessen Hoden wir lebten, lösen wir uns und aus dem Eierstock der lieben Mutter wandern wir weg, dem Leben als Mensch entgegen, der Illusion zu, eine Persönlichkeit, ein Ich zu werden. Es ist nicht wahr, daß sie uns von sich stoßen, wir selber sind es, die sie verlassen. Kinder werden nicht gezeugt, sie zeugen sich selbst, aus eigner Machtvollkommenheit, dem folgend, was sie lebt, dem Namenlosen, dem Unbestimmten, dem Es. Kinder werden nicht geboren, sie lassen sich gebären, die Mutter muß sie gebären, weil sie es sich erzwingen. Der Mensch ist ein Wunder, der Mensch ist allmächtig, und wer das zum ersten Mal, wenn auch nur ganz von ferne in sich verspürt, sollte der nicht frieren? Alle Einsamen frieren, und was ist einsamer als der Mensch? Das Frieren dieser Einsamkeit, das 374 Entbehren der Liebe, die wir von Beginn an verrieten und in jedem Augenblick, wo wir sie von neuem treffen, von neuem verraten, das Suchen nach Liebe. Siehst du, Mütterchen, das läßt sich ja nicht sagen, das läßt sich kaum fühlen; nur Wenige können es fühlen und auch die nur für Momente, es würde sie sonst töten. Du sollst Vater und Mutter verlassen und an Deinem Weibe hangen. Du sollst Vater und Mutter verlassen und an Alwinen hangen. Siehe, das ist meine Mutter, siehe das sind meine Brüder.«

Alwine fror und Thomas merkte es. Er zog sie noch dichter an sich und nach einer Weile sagte er: Nun mußt du mich einseifen. Ich will mich rasieren.« 375

 


 


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