Georg Groddeck
Der Seelensucher
Georg Groddeck

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35. Kapitel.

Der rote Prinz. Willkommen und Abschied.

Den folgenden Vormittag brachte Thomas im Bett zu. Er lag meist mit geschlossenen Augen da und gab auf alle Fragen kurze, mürrische Antworten. Ohne im mindesten zu erklären, was in ihm vorgegangen war. Erst spät erhob er sich, um sich anzukleiden und fuhr dann, ebenso wortkarg wie in den letzten Stunden, mit Lachmann nach Belvedere zu dem Jagddiner des Prinzen Viktor.

Außer den beiden Freunden, dem Prinzen und seinem Adjutanten Schmettau, waren noch drei Herren zugegen, ein Kapitänleutnant von Lettow, der zum erstenmal eingeladen war, ein Herr von Hammerstein, Landrat des Kreises Eberswalde, ein Mann mit starkem Kinn und herabhängendem, rötlichblonden Schnurrbart, und ein Graf Dohna, in dem die beiden Freunde zu ihrem Erstaunen den alten, patriotischen Herrn von Weltlein's Grußaffäre mit dem Kaiser wieder erkannten.

Das Diner verlief ziemlich langweilig. Der Prinz hatte sich, was bei seinem Temperament leicht vorkam, über einen Förster geärgert, der ihm nicht rasch genug Auskunft gegeben hatte, er war infolgedessen einsilbig und taute erst auf, als der Marineoffizier von seinen 296 Reisen zu erzählen anfing. Während er noch im besten Schwatzen war, brachte einer der Diener ein altertümliches Trinkgefäß in der Form eines Hirschgeweihes herbei. Der Prinz schlug an sein Glas und sagte:

»Auf Belvedere ist es üblich, die neuen Gäste mit einem Willkommen zu begrüßen, und schon seit den Zeiten des Kurfürsten Joachim ward jedem, der am Zechgelage weidgerechter Männer teilnimmt, dies Gefäß voll bis zum Rand mit Wein gereicht. Willkommen denn, Bautz, willkommen, Lettow, und du, Laban. Euch trink' ich es zu!« Er führte das Gefäß zum Munde, nippte daran und reichte es dem Adjutanten, der neben ihn getreten war. Um Schmettaus Lippen mit dem hochgestrichenen ›Es ist erreicht‹ spielte ein boshaftes Lächeln, was von dem Landrat durch ein gewaltiges Streichen seines Schnurrbartes und von dem Grafen Dohna mit einem Räuspern beantwortet wurde. Er gab das Geweih weiter an den ihm zunächst sitzenden Lachmann, der, vergnügt über die Ehre, an des Prinzen Tische zu sitzen, es mit strahlenden Augen hochhob, dem Prinzen entgegen hielt und, in der Absicht es als alter Korpsstudent, koste es was es wolle, bis auf den letzten Tropfen leer zu trinken, ansetzte. Der erste Riesenschluck rann ihm die Kehle herunter, aber plötzlich schossen ihm aus den Zacken des Geweihes Strahlen über Augen, Gesicht und Kleider und mit einem ›Pfui Teufel‹ hielt er das Vexiergefäß weit von sich ab, halb blind nach der Serviette tastend und aufspringend. Nun stand er triefend da und wischte an sich herum.

»Aber, Bautz,« rief der Prinz, »was hast du für Manieren.« Es war der stehende Witz des Jagddiners und wurde mit dröhnendem Lachen der erfahrenen Gäste quittiert.

»Nun, Lettow,« wendete er sich dann zu dem Marineoffizier, »zeigen Sie, daß die Seeschlange dem Doktor blutegel überlegen ist. Es ist halt eine Kunst zu trinken, und Bautz ist zu philiströs geworden, er kann nichts mehr als Klystiere geben und vielleicht spritzt er da auch daneben.«

»Den Kopf nach hinten beugen,« rief der Landrat dem Herrn von Lettow zu, der das Gefäß aufmerksam betrachtete, »ganz weit nach hinten, dann geht's!«

297 Der Seemann drehte das Geweih immer noch nach allen Seiten und sah bald den Prinzen, bald den Landrat, bald seine neue Uniform an.

»Warten Sie, ich werde es Ihnen vormachen,« rief jetzt Schmettau, ergriff das Gefäß, lehnte sich weit im Stuhl zurück, ließ den Kopf nach hinten über die Lehne hängen und trank. Thomas beobachte scharf seine linke Hand, deren Zeigefinger auf der zweiten Zacke des Geweihes ruhte.

»Halt,« rief der Prinz, »das ist nicht erlaubt. Ein tüchtiger Marineoffizier muß sich im dicksten Nebel zurecht finden. Vorwärts, Lettow.«

Der Kapitänleutnant nahm das Trinkgefäß und die Haltung des Adjutanten nachahmend, sie noch übertreibend, begann er zu trinken. Plötzlich ließ er das Geweih fallen und sank hustend und prustend, blaurot im Gesicht vom Stuhl. Eine Klappe in dem Zacken, an dem er trank, hatte sich geöffnet, und der Wein war ihm im dicken Strahl in die Kehle geflossen. Nun saß er neben dem wischenden Lachmann am Boden, hilflos mit der Serviette den Strom aufzuhalten suchend, der ihm aus Mund und Nase über die Uniform floß. Der Chor der Eingeweihten lachte, daß sich die Balken bogen.

In den Augen des roten Prinzen funkelte die Schadenfreude. »Jetzt kommt an dich die Reihe, Laban,« rief er, »du hast die rechte Nase für den Suff. Gib acht und zeig' uns, was du bäuchlings kannst. Er ist aus Bäuchlingen,« erklärte er dem Grafen Dohna, da er fürchtete, daß die Pointe seines Witzes verloren gehen könnte. Dohna nickte und grinste höhnisch im Andenken an die Fopperei dieses Zivilisten, und im Vorgefühl der Wiedervergeltung.

Thomas nahm das Gefäß gleichgültig und hob es zum Munde, ohne es auch nur anzusehen. Aber gleichzeitig drückte er auf die zweite Zacke und lächelte befriedigt, er hatte recht gesehen, sie federte und regelte offenbar den Fluß des Weines. Schon wollte er den Kopf nach hinten überlegen, aber es war ihm, als ob der Prinz seine Fingerbewegung gemerkt hätte und nur noch spöttischer lache. Das machte ihn irre und er änderte zu seinem Unglück seine Taktik, da er ganz sicher gehen wollte. Er winkte dem Diener und 298 sagte: »Kippen Sie mich mal mitsamt dem Stuhl nach hinten über, aber halten Sie fest, ich bin nicht leicht.«

Der Diener sah fragend zum Prinzen hinüber, und als er den nicken sah, tat er, wie ihm befohlen war.

»Das ist mich so be'wemer, sagte der kleine dicke Junge, dem der Vater einen Rechen angeschafft hatte, um ihn durch Körperbewegung magerer zu machen, und harkte im Sitzen.« Er setzte an und trank. Alle warteten auf den Augenblick, wo er spucken und husten werde, aber er trank und trank und –

»Rums,« rief der Prinz und ließ die erhobene Hand mit einem befehlenden Blick auf den Diener rasch sinken und im nächsten Augenblick lag Thomas übergossen vom Wein mitsamt dem Stuhl auf dem Boden.

»Sie sind ein vierundzwanzigfach ins Quadrat erhobenes Rind- und Mistvieh,« schrie der Prinz, das Lachen verbeißend, seinen Diener an, der, an derlei Schmeichelei gewöhnt, sich erschrocken stellend, dastand. Aber die Worte gingen in dem Brausen, dem Händeklatschen, dem Fußstampfen der Trinkgenossen unter. Eine jubelnde Freude herrschte.

»Nun sind sie alle drei begossen,« rief der Landrat und trank sein Glas aus, während er mit der anderen Hand hoch in die Luft fuhr.

»Und schäumen innerlich wie Champagner,« höhnte der Adjutant.

»Und sind willkommen,« schloß der Prinz.

Die Unterhaltung wurde allgemein und lebhaft, auch Lettow und Lachmann machten mit. Nur Thomas saß steif auf seinem Stuhl und sagte kaum ja und nein. Er blickte von Zeit zu Zeit auf seinen verdorbenen Anzug, dachte an Agathe und schmorte seine Rache.

»Na, Laban,« redete ihn schließlich der Prinz an, »erzähle doch auch etwas. Wie steht es mit deinem Jagen?«

Thomas lächelte vor sich hin, strich langsam mit Zeigefinger und Daumen am Stengel seines Glases entlang und sagte: »Ich habe nur einmal in meinem Leben der edlen Jagd obgelegen und das Wild, das ich gepirscht habe, war den Tigern und Löwen des Herrn von Lettow höchstens im Blutdurst ähnlich und den Füchsen des Landrates im Gestank. Aber so klein mein Spezialgebiet auch 299 ist, ich glaube wohl sagen zu können, daß kein Sterblicher mehr Erfahrung darin hat als ich.«

»Na, na,« sagte der Landrat und strich sich den Schnurrbart, »wenn es deutsches Wild ist.«

»Es ist international,« erläuterte Thomas, und Lachmann, dem das Thema gewisser seltsamer Eigentümlichkeiten des Prinzen wegen unangenehm war und der gern rasch über die Sache wegkommen wollte, fiel in erhobenem Tone ein: »Mit anderen Worten, es sind deine geliebten roten Feinde, aber dafür wird augenblicklich kein Interesse vorhanden sein.«

»Warum nicht?« sagte der Prinz. »Jagd bleibt Jagd und wenn uns alten Schlaubergern der gute Laban wirklich noch etwas Neues über Rotwild sagen kann –«

Thomas hatte unverwandt sein Glas angesehen, in dem die Champagnerperlen hochstiegen, jetzt blickte er den Prinzen scharf an und sagte: »Wanzen.«

Prinz Viktor fuhr so heftig zusammen, daß er mit dem Arm gegen das Weinglas stieß und es umwarf.

Während der Diener rasch den Schaden beseitigte und die winzigen Spritzer auf der Uniform seines Herrn abwischte, rief Lachmann, ehe noch irgend jemand eine Frage über das seltsame Thema stellen konnte: »Es ist der Kunstausdruck für die kleinen Mädchen, zwischen Laban und mir. Sie saugen Blut und ich darf wohl voraussetzen, daß die Herren sich die rote Farbe aus vierwöchigen Erfahrungen selber erklären können.«

»Und der Gestank,« lachte Schmettau, der seinen Herrn genug kannte, um zu wissen, wie versöhnend diese Bemerkung auf ihn wirken werde.

Thomas tat, als ob er nichts von der Idiosynkrasie seines Wirtes wisse, und harmlos die Hand gegen Lachmann erhebend, sagte er: »Du vergißt die Hauptsache. Wan – das ist Wahn, und zen – das ist Zentrum. Das Weib ist das Wahnzentrum, hat das Zentrum des Männerwahnes.«

»Das stinkend, blutende, aussaugende Zentrum.« Der Adjutant suchte um jeden Preis den Prinzen in gute Laune zu versetzen, selbst auf die Gefahr hin, den alten Grafen Dohna – der 300 Landrat zählte nicht mit, da er in Gegenwart von hohen Herren nicht zu beleidigen war und alle anderen waren Junggesellen – zu kränken.

Dohna verbiß seinen Ärger und um sich das zu erleichtern, packte er den neben ihm sitzenden Landrat an seiner empfindlichen Stelle:

»Dort, wo mein Wähnen Frieden fand,
Wahnfried sei dieses Haus genannt.

So sagt ja wohl der göttliche Wagner, nicht wahr, Hammerstein?«

Sofort entwickelte sich zwischen den beiden ein hitziges Wortgefecht mit der Losung, hie Wagner, hie Brahms, während die anderen sich, einschließlich des Prinzen, an dem Thomas-Thema, dem Weibe, beteiligten.

»Aus diesem Zentrum,« sagte Thomas und fügte Daumen und Finger der linken erhobenen Hand zu einem Ring zusammen, gleichsam, als wolle er vormachen, was er meine, »sind wir alle gekommen, nach der Ruhe in ihm sehnen wir uns, so lange wir eben, in ihm schliefen wir, als wir noch Götter waren, auf deren leiseste Regung hin sich eine Welt, der Kosmos der Mutter, dienstbar bemühte; aus diesem Zentrum entspringt der Gedanke des Königtums und der Kirche, und die Gottesidee selbst nimmt ihren Ursprung dort.«

Lachmann rückte ungeduldig auf seinem Stuhle hin und her, während der Seemann verständnislos von dem Sprecher zum Prinzen sah.

»Du mußt uns schon ein wenig deutlicher erklären, was du meinst. Die Philosophie gedeiht nur schlecht im Gehirne des Soldaten,« sagte der Prinz.

Thomas bog sich weit über den Tisch. Seine Augen glänzten und seine Hände zitterten. »Ich meine, daß die Welt von einer Kraft nicht nur regiert wird, nein, geschaffen wird; sich aus sich selbst schafft. – Ich hätte nicht gedacht, daß es so schwer sei, sich verständlich zu machen – also ich meine, es gibt etwas, was unsere Nase formt und unser Barthaar . . .«

»Das meine ich auch,« rief Schmettau dazwischen, »und bin doch kein Philosoph.«

301 »Vielleicht aber einer, der viel soff,« witzelte Lachmann. Der Wein begann jetzt allgemein zu wirken.

»Laßt ihn doch ausreden,« mahnte der Prinz und schlug mit dem gekrümmten Mittelfinger auf den Tisch.

Thomas faßte sich verzweifelt mit beiden Händen in die Haare. »Ausreden, ja wenn ich das könnte, aber hier sitzt es fest.« Er schlug sich mit der Faust vor die Stirn. »Wie soll man vom All reden, wenn man nicht selbst Gott ist. Also hört zu. Lachmann so hilf mir doch! Mein Gott, mein Gott. Also ich meine – Ich meine, verdammte Eitelkeit, große Herrscherin, alles dreht sich um das Ich und das Mein, aber ich muß es können, muß es aussprechen, deutlich machen können.«

»Er ist vollständig hinüber,« flüsterte Lachmann dem Prinzen zu, »ich glaube, ich muß ihn beseitigen.«

Ehe Prinz Viktor noch antworten konnte, hatte sich Thomas gefaßt. Seine flackernden Augen waren ruhig und er begann wie in einem Hörsaal zu sprechen, während er das Glas hochhob und auf die Perlen im Wein blickte.

»In so einem Glase spiegelt sich die ganze Welt, sie ist darin enthalten. Aus Erde wurde es gemacht, die Kraft des Feuers steckt darin, Wasser und Luft bilden es, das Licht spielt damit und elektrische Ströme kreisen unablässig in seinen Wänden. Die Menschenarbeit von Jahrtausenden, der Geist längst vermoderter Gehirne lebt da und spricht zu mir, und ich bete an, was unbeschreiblich und unbegreiflich ist. Aber es gibt Wege, die einen Ausblick gewähren, Momente des Hellsehens, in denen der Schleier sich lüftet.«

Der Adjutant breitete die Serviette über sein Gesicht und ließ sie mit einer allzu absichtlichen Geziertheit sinken, aber der Prinz winkte ihm hastig mit der Hand und Schmettau sank untertänigst in sich zusammen, innerlich über den Schwätzer Thomas fluchend.

»Das Merkwürdige im Menschenleben,« Thomas sprach trocken und sachlich wie ein Rechenlehrer, »ist, daß aus menschlichem Samenfaden und Ei immer ein Mensch wird, nicht ein Hund oder ein Pferd, sondern ein Mensch. Es ist also von vornherein eine Kraft da, die imstande ist, ein Augenpaar zu formen und es unter 302 die Stirn zu setzen, Finger zu schaffen und ihnen Gefühl zu geben, einen Mund zu bilden und darin eine Zunge. Wenn diese Kraft das vermag, ist es doch närrisch zu leugnen, daß sie auch Fabriken baut, Kronen aufsetzt, Reiche gründet und Jagdschlösser baut.« Er sah streng im Kreise umher, als ob er niemandem raten wolle, zu widersprechen. Der Kapitänleutnant Lettow hatte ein Skizzenbuch vor sich hingelegt und zeichnete eifrig Weltleins Profil, wobei ihm der Prinz, über das Papier gebeugt, mit gut gemeinten Ratschlägen zu helfen suchte.

»Die Zeichnung von mir zum Beispiel, die der Herr da neben Seiner Königlichen Hoheit entwirft – ja, ja, ich meine Sie, Herr von Lettow, aber ich werde mich erst einmal richtig hinsetzen, daß meine Nase gut zum Vorschein kommt – also diese Zeichnung wird scheinbar von der Hand eines Mannes ausgeführt, in Wahrheit ist es aber Eros selber, der arbeitet. Das Blatt Papier ist ein Weib, der Stift der Mann –«

»Und die Zeichnung das Kind,« ergänzte der Prinz lachend.

»Ganz richtig, fahren Sie nur so fort, Königliche Hoheit, dann wird etwas aus Ihnen werden. Exzellenz Dohna, wenn Sie nicht aufhören, mit Ihrem Nachbar zu zischeln, werde ich Sie einmal gehörig vornehmen. Ich verstehe auch gar nicht, wie jemand so gedankenlos und indolent sein kann, zu schwatzen, wenn er Gelegenheit hat, auf offener Tafel und bei voller Beleuchtung so einen interessanten Vorgang mit anzusehen, wie den Beischlaf zweier Liebesleute.«

Ein schallendes Gelächter brach los, zu dem der Prinz das Zeichen gab.

»Ihr seid ja – In der Garderobe,« wandte sich Thomas an den Diener, »steht mein Stock; bringen Sie mir den einmal her. Ihr seid ja eine unglaubliche Rasselbande. Aber ich werde euch die Flötentöne beibringen. Bei der Flöte befinden wir uns auf dem Gebiet der Musik. Deutlicher als in der länglichen Form dieses Instruments, das an die Öffnung des Mundes angesetzt und hin- und hergezogen wird, kann die Natur nicht sprechen.«

»Du hast recht,« scherzte der Prinz, »es ist genau so, als ob man mitten in der Tätigkeit das elektrische Licht anknipste, um zu sehen, wie sich das Bräutchen benimmt.«

303 »Er tut nur so,« flüsterte der Landrat Thomas zu, »er hat noch nie ein Weib angerührt.«

»In der Elektrizität habt ihr dann – danke schön,« unterbrach er sich, nahm dem mühsam seinen Ernst bewahrenden Diener den Stock ab und legte ihn vor sich auf die Tischplatte – »den Übergang zur Technik. In allen Romanen könnt ihr es lesen, daß ein elektrischer Strom durch seinen oder ihren Körper geht, wenn sich zufällig die Hände berühren. Und dann die Reibung. Wenn es bei der Reibung nicht durch den Körper rieselt wie ein elektrischer Strom, hätten wir keine Dynamomaschinen, keine Trams und kein elektrisches Licht. Das Essen mit der Gabel ist ebenso nur erfunden worden, um den Appetit der Tischgenossen durch die Vorführung eines reizvollen Liebesspiels anzuregen, und es ist ohne weiteres verständlich, daß auch das Sprechen nur dadurch entstanden ist, daß der allmächtige Eros das weibliche Organ des Mundes zur Vereinigung mit der männlichen Zunge trieb. Wie der Schmettau sich die Lippen leckt! Das paßt ihm so. Also weiter.«

Thomas wurde nachdenklich und rollte das Stöckchen, das vor ihm lag, hin und her. »Für diese Kräfte,« sagte er stockend, als ob er die Gedanken auseinander legte, »gibt es weder Zeit noch Raum. Wir sind alle Kinder, spielen hier Schule und ahnen es nicht einmal, daß das alles sehr ernsthaft ist. Solch ein Ding wie die Ehe zum Beispiel. Wir lachen über die Inder, die sich mit zwei Jahren verheiraten. In dem Moment aber, in dem wir uns verlieben, sind wir nicht älter. Wir werden unserer Auserwählten gegenüber zum Kinde, empfinden mit der heißen Glut und dem Begehren wie das zweijährige Kind, fühlen irgend eine Ähnlichkeit – vielleicht ist es der Vorname oder der Fuß, das ist besonders häufig – mit dem ersten Gegenstand unserer Leidenschaft, der Mutter, und heiraten sie, weil sie sich für uns in die Mutter verwandelt. Wir heiraten unsere Mutter.«

Bis auf den Prinzen, der offenbar irgend eine Absicht verfolgte und deshalb aufmerksam Weltleins Worten folgte, hörte niemand mehr zu. Nur den letzten Satz hatte der Landrat aufgeschnappt und da er von Amts wegen die Gewohnheit hatte, seine hohe Moralität zu zeigen, protestierte er.

»Selbst die Fidelitas des Rausches sollte noch gewisse Grenzen 304 kennen. Etwas so Heiliges, wie das Verhältnis von Mutter und Kind, zum Gegenstand des Spottes machen, das geht mir zu weit.«

»Ich kann in den Worten Labans nichts finden, was Ihre Entrüstung rechtfertigt, Hammerstein,« sagte der Prinz scharf.

Der Lärm des Gespräches verstummte sofort und die folgenden Sätze Thomas' wurden daher von allen gehört.

»Erinnern Sie sich doch, Herr von Hammerstein, wie verlegen Sie sind, wenn Ihnen Ihre Frau Gemahlin eine Rede über Wahrheitsliebe hält, wenn Sie sich dann im Spiegel sähen, würde Ihnen ein Gesicht entgegentreten, wie Sie es als Junge Ihrer Mutter gegenüber hatten.«

Der Graf Dohna nickte lebhaft, bog sich weit zum Prinzen hinüber und sagte: »Er ist wirklich nicht dumm, dieser Zivilist.«

»Und,« fuhr Thomas fort, »sollten Sie niemals als Erwachsener an den Brüsten einer Frau gesogen haben?«

Alles lachte und der Adjutant flüsterte Thomas zu: »Die Milchwirtschaft seiner Frau ist total ausgesogen, hängt bis zum Nabel herunter.«

»Die Bemerkung ist gar nicht dumm,« pflichtete der alte Herr bei, »jeder, der beim Mädchen zur Attacke übergeht, knöpft ihr zuerst die Bluse auf, wird also gewissermaßen Säugling, der nach Nahrung sucht.«

Thomas fuhr wieder mit vollen Segeln. »Daß der Mensch sein Leben lang Kind ist, zeigt sich, sobald er allein ist. Er bläst dann ungeniert die Kindertrompete, die ihm der Herrgott mitgegeben hat, und wenn es ihm unter Menschen passiert, macht er sofort ein achtjähriges Gesicht, sei es nun pfiffig oder verlegen. Die Mütter sind puppenspielende Kinder, das lehrt jeden Abend und jeden Morgen beim Waschen und Füttern ihr Kindergesicht und ihre Bewegungen. Und mit dem Vater ist's nicht anders, sobald er Pferd spielt. Beim Zanken sind die Menschen Kinder, beim Lachen, als Kranke; alle Altersstufen kommen täglich zum Vorschein. Sehen Sie nur den Lachmann, er kratzt sich wahrhaftig den Kopf, das ist ein gutes Zeichen seines Charakters.«

Lachmann war verlegen, da alle Blicke sich ihm zuwandten, aber der Prinz nickte freundlich und trank ihm zu.

»Und wer von uns bohrt denn nicht in der Nase, wenn er Gelegenheit dazu hat und niemand etwas merkt?«

305 Alles lachte, nur Exzellenz Dohna hob die Nase hoch und schniefte unbehaglich durch das eine Nasenloch. Der Seemann bekam plötzlich Husten, der Zigarrenrauch war ihm plötzlich in die unrechte Kehle gekommen.

»Wer malt nicht schöne Figuren mit seinem Strahl an die Wände der Retiraden?« Thomas blickte triumphierend in die Runde. »Die Schrift sagt: So ihr nicht werdet wie die Kinder –«

»Lassen Sie gefälligst die Bibel aus dem Spiel,« schrie der alte Graf heftig, aber der Prinz legte ihm beruhigend seine Hand auf den Arm und sagte:

»Es herrscht Redefreiheit in meinem Hause.«

»Ich bitte um Verzeihung, Königliche Hoheit, aber diese Zusammenstellung –«

»Verletzt Ihr Gefühl, ich weiß. Aber das hindert nicht, daß wir Rede-, oder besser Narrenfreiheit haben.«

Thomas sah den Grafen durchdringend an: »Exzellenz haben die Zeiten vergessen, in denen Sie die Bibel auf schlüpfrige Stellen hin lasen, um sich aufzuregen.«

Der Hieb saß, Dohna wurde blaß und schwieg.

»Versetzen Sie sich doch zurück,« fuhr Thomas eifrig fort, »haben Sie den Mut, dreizehnjährig zu sein, zaubern Sie sich die Stellen aus Hesekiel vor, aus der Erzählung von Ammon und seiner Schwester,« einen Augenblick unterbrach er sich, hustete und schnaubte sich und fing wieder an, »aus Susanna im Bade, aus dem Hohenlied, von Lots Töchtern. Einer wenigstens unter uns ist ehrlich, er spielt mit seinem Ring, ist vierzehnjährig.«

Der Kapitänleutnant streckte hastig beide Hände vor sich auf den Tisch, so daß der Brillant an seinem linken Goldfinger blitzte.

»Am Ring spielen, was heißt das?« rief näselnd der Adjutant, »das ist mir zu hoch.«

»Sie sind ja auch nicht verheiratet,« parierte Thomas, »sonst würden Sie wissen, daß der Ehering kein Band ist, wie die Menschen meinen, sondern das Gelöbnis des Weibes, ihren natürlichen Ring niemals auf einen ausgestreckten Finger zu stecken, es sei denn der ihres Mannes.«

»Das ist ja eine glänzende Rechtfertigung der doppelten Moral,« sagte der Landrat höhnisch, »danach hat das Weib Treue zu halten 306 und der Mann darf über seinen Finger, wirklich oder symbolisch frei verfügen.«

»Wovon manche Leute Gebrauch machen,« rief der Adjutant wieder und trank dem Landrat zu.

»Und weshalb die Weiber den Ehering eine goldene Fessel nennen, ein Ausdruck, den Männer nicht brauchen, obwohl sie die Fessel empfinden,« sagte Lettow nachdenklich und betrachtete seinen Ring.

»Der Sieg des Weibes, da ist kein Zweifel,« nahm Thomas wieder das Wort, »die natürliche Rachsucht des unterlegenen Teiles –« Lettow lächelte vor sich hin – »die Qual, die Hölle dem Teufel selber bereitet.«

»Ich bitte dich, Laban,« unterbrach ihn der Prinz, »laß doch die Bibelsachen fort. Exzellenz Dohna wird ungeduldig.« Er freute sich offenbar darüber den Grafen zu hänseln.

»Teufel und Hölle haben nichts mit der Bibel zu tun,« fuhr Thomas unbeirrt fort. »Der Schwefelpfuhl, aus dem die roten Gesichter der schreienden Sünder hervorglühen, während die Teufel schüren, hat den Gestank von hinten her, von den mephitischen Dämpfen; das Gelb stammt von vorn. Die rot leuchtenden Häupter recken sich der feurigen Hölle mit ihrem feuchten Dunkel entgegen und der Teufel ist ein bocksbeiniger, haariger Geselle mit Hörnern und Schwanz.«

»Pfui Teufel,« sagte Schmettau unwillkürlich. Alles lachte.

Thomas wurde plötzlich wieder nachdenklich. »Wir werden von Kräften gelebt, die wir nicht kennen, wir schwatzen von Freiheit des Willens und können doch nicht eine Kruste Brot mit unserem Willen verdauen, alles geschieht, ohne daß wir es verstehen. Erinnern Sie sich noch, Exzellenz,« er wandte sich zum Grafen Dohna und streckte den Arm bis fast zu dessen Platz, sich weit über den Tisch legend, »wie ich den Kaiser ohne Gruß vorbeifahren ließ?«

Der Prinz rückte plötzlich seinen Kopf in dem Kragen zurecht und zog seine Uniform glatt.

Dohna hob langsam das Gesicht gegen den Frager und sagte: »Was soll's?«

»Ich habe nichts gegen den Kaiser, mag er seine Kindereien treiben wie wir auch.«

307 »Laban,« rief der Prinz drohend.

»Aber daß der König sich ohne Szepter und Krone zeigt, das will mir nicht in den Kopf.«

»Es wäre wohl ein wenig unbequem und nur ein Vergnügen für Kinder und kindische Leute,« sagte der Prinz und trommelte den Preußenmarsch auf den Tisch.

»Jede Braut trägt Kranz und Schleier als Zeichen ihrer Würde. Deutlich vor aller Augen zeigt sie ihr unberührtes Magdtum, stolz ruft sie es in die Welt hinaus: Heute wird das Haupt des Gottes in mein Kränzchen dringen und den dünnen Schleier Hymens zerreißen. Das Symbol adelt den Menschen, adelt jede Handlung, erhebt über Gut und Böse. Ein Weib, das sich auf der Straße entblößt, ist verächtlich, das Symbol des Brautschmuckes aber gebietet Ehrfurcht, auch dem, der es als Entblößung zu deuten weiß. Ein König muß die Insignien seines Berufes tragen, ohne Krone ist er ein Nichts.« Thomas verlor immer mehr die Selbstbeherrschung, er sah verbissen nach dem Prinzen hinüber, immer noch weit über den Tisch vorgebeugt, und krallte sich mit den Fingern ins Tischtuch. »Kranz und Krone, es ist dasselbe. Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, – wißt ihr denn nicht, was der Siegerkranz und das Vaterland, das Land, in dem der Vater herrscht, ist!« Er hob den Finger hoch, sein Gesicht zuckte und der Unterkiefer ging brutal nach vorn. »Des Thrones Glanz gibt Wonne, wir wissen es alle.«

»Unerhört!« Graf Dohna wollte aufspringen, der Prinz hielt ihn zurück und biß sich die Lippe.

»Paßt es euch nicht, daß der König der Herr ist, das Weltall symbolisiert,« schrie Thomas, »ihr, die ihr euch königstreu nennt? Die Krone das Weib, das Szepter der Mann, der Apfel das Kind, der Untertan, der, von der Linken festgehalten, des Schlages auf den Apfel gewärtig sein muß.« Er richtete sich auf und griff nach dem Stock, alles war Hohn in seiner Haltung und Bewegung. »Der Fürst umhüllt vom weißen Hermelin, geschnitten aus dem Fell der Völker und vollgesogen mit dem Purpur unseres Blutes. Der König ohne Purpurmantel ist ein blutsaugendes Insekt.«

»Unverschämter.« Der Prinz war so heftig aufgesprungen, daß der Tisch zitterte und der Wein aus den umgestürzten Gläsern floß.

308 »Der König darf's,« schrie Thomas ächzend. Er rang mit Lettow, der ihn fortzuschaffen suchte, während Schmettau ihm den linken Arm gepackt hatte und ihm den Stock zerknickte und der Graf seine rechte Hand faßte und ihm den Mund zuzuhalten suchte.

»Du aber bist rot ohne jedes Recht, ohne jedes Recht.« Thomas sprudelte die Worte hervor.

»Laßt ihn los,« rief der Prinz, der an die Wand zurückgewichen war, und bebend vor Wut dastand. »Laßt ihn los. – Wendland, Niemeyer, Krieger,« stieß er schweratmend hervor. –

»Deinesgleichen scheust du, läßt die Füße deines Bettes in Wasserschalen stellen, damit du nicht siehst, was du bist, damit an dich dein inneres Wesen nicht herankriechen kann.«

»Schmeißt ihn hinaus,« rief der Prinz rasend.

Thomas war schon von den Dienern zur Tür geschleppt, er wehrte sich nicht. »Roter Prinz,« rief er und lachte laut, »Wanze, Wanze.«

»Und gebt ihm einen Tritt vor den Hintern, dem Schuft,« befahl der Prinz.

»Halt! das will ich besorgen,« jubelte der Adjutant und sprang in langen Sätzen nach.

Noch einmal hörte man von draußen das verhängnisvolle Wort: »Wanze.« Es klang jubelnd, dann war alles still.

Lachmann hatte sich wie alle andern vom Sitz erhoben und stand nun und wußte nicht, was er tun sollte. Die ganze letzte halbe Stunde hatte er stumm dagesessen, bald auf der einen, bald auf der anderen Hinterbacke balancierend, schließlich hatte er die gefalteten Hände auf den Tisch gelegt und unablässig die Daumen gedreht. Eine tiefe Verstimmung nahm von ihm Besitz, die, je mehr sich die Dinge zuspitzten, umso fühlbarer wurde und die er am liebsten in Tränen aufgelöst hätte, wenn er nicht ein gar so erwachsener Mann gewesen wäre. Als sein Freund von den Bedienten gepackt und hinausgeworfen wurde, faßte ihn eine maßlose Wut, wie er sich vorschwatzte, auf Thomas, in Wahrheit auf sich selbst. Von seinem Platz aus sah er gerade auf das Dach einer kleinen Kapelle, auf dem ein goldener Wetterhahn glänzte. »Ehe der Hahn kräht,« fuhr es ihm durch den Kopf und brüsk sich umwendend schritt er zur Tür.

309 »Bautz,« rief der Prinz, »wo willst du hin? Bautz.«

Lachmann ging weiter, aber seine Schritte wurden langsamer, und als er den Tritt der Königlichen Hoheit hinter sich hörte, blieb er stehen.

»Laß' den Kerl laufen, er verdient es nicht besser,« sagte der Prinz, hakte ihn unter und zog ihn zum Tisch zurück und als er sah, daß Lachmann weiter ins Leere starrte, setzte er hinzu: »So schlimm ist's nicht gemeint, weder von ihm, noch von mir. Wir werden uns schon wieder vertragen. Komm, auf Ärger gehört Wein, wir wollen trinken.«

Lachmann war prinzentrunken und setzte sich wieder zu Tisch.

 


 


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