Georg Groddeck
Der Seelensucher
Georg Groddeck

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17. Kapitel.

Wie Lachmann einen Stein rollen läßt.

Punkt ein Uhr erhob sich Lachmann und brach das Spiel ab. Er hatte sich vorgenommen, den Verlauf der Partie als Omen anzusehen. Gewann er, so war er dazu auserkoren, seiner Cousine den verdrehten Bruder wieder herzustellen, verlor er, so wollte er auf die schöne Rolle, feurige Kohlen auf das Haupt seiner treulosen Agathe zu sammeln, verzichten. Er hatte auch nicht verfehlt, das Glück zu beschwören. Den Stuhl hatte er dreimal umgedreht, ehe er sich darauf setzte, während des Gebens hielt er die Hände gefaltet und hob mit geschlossenen Augen, der Blindheit des Geschickes huldigend, die Karten alle auf einmal hoch, zählte bis fünf und sah dann erst nach, was ihm beschert worden war.

Er hatte Glück. Nach einiger Zeit fiel ihm ein, daß er durch seine Zaubermittel das Schicksal betrogen haben könne. Er beschloß also, den Bann zu lösen, drehte den Stuhl nach der anderen Seite und hob die Karten einzeln auf, ohne vorher die heilige Fünf anzurufen. Trotzdem gewann er, und als er aufbrach, war er überzeugt, daß der Vetter ihm verfallen sei. Er machte sich infolgedessen auch nichts daraus, als er seinen Schützling nicht vorfand, und hörte, daß der Herr mit dem Maler fortgegangen sei. In bester Stimmung ging er nach Hause.

So sehr Lachmann nun auch dem Orakel vertraute, so gut wußte er doch, daß ein vernünftiger Mann dem Glück die Hand biete, um es herbeizuziehen. Und deshalb zählte er diesmal nicht wie gewöhnlich, wie viel Schritte er vom Lord bis zu seiner Haustür brauchte, sondern er überlegte sich gründlich und reiflich, wie er den Narren wieder vernünftig machen solle. Daß es nur eines kleinen Anstoßes bedurfte, um den Nebel in des Vetters Hirn zu verscheuchen, glaubte er fest annehmen zu können. Er sann hin und her, und da ihm in seinem Amte viel närrische Leute begegnet waren, fiel ihm bald dieser, bald jener Kunstgriff ein, mit dem er einmal Glück gehabt hatte. Ganz ohne Verdienst genoß er ja nicht den Ruf, mit den Halbverrückten gut fertig zu werden. Aber er 93 konnte sich doch mit keinem der Pläne recht anfreunden. Ärgerlich stieß er mit der Fußspitze eine ganze Zeit lang ein rundes Steinchen vor sich her, als ob er dadurch seine Gedanken rascher zum Ziele treiben könne. Eben holte er wieder nach dem rollenden Spielzeug aus, da fuhr blitzschnell ein pfiffiger Junge an ihm vorbei und schnappte ihm den Stoß so geschickt vor der Nase weg, daß der Stein weit dahin schoß und in dem Kellerhals eines Fensters eine selige Ruhestätte fand. Der Bengel lief davon, nachdem er dem würdigen Herrn Doktor zuvor noch recht freundlich zugelächelt hatte, so daß Lachmann gar nicht dazu kam, zornig zu werden, sondern sich herzhaft über den Spaß freute. Gleich darauf versank er in Gedanken.

Kurz vor seiner Haustür wurde er wieder aufgeschreckt. Quer auf dem Steig standen zwei Knaben, die trotz ihrer Kleinheit den ganzen Weg versperrten und mit lauten Stimmen gegen einander anschrien. Der größere, ein Bube mit ellenlangen Beinen, die er breit über die Straße ausgrätschte, erklärte gerade mit Begeisterung, er habe gestern so viel Kartoffeln hintereinander gegessen, daß er dabei das Schlafengehen vergessen habe und gleich von Tisch weg in die Schule gegangen sei; und dabei streckte er den Kopf mit der dicken runden rosigen Nase so herausfordernd vor, daß es aussah, als habe er in der Eile eine von den Erdfrüchten mitten in das Gesicht statt zwischen die Zähne gesteckt. Der andere lachte nur und trumpfte dann dagegen: »Ich habe einen Onkel; als der mal bei uns eingeladen war, da hat er so lange Kartoffeln gegessen, daß die ersten ihm schon im Bauch keimten als er die letzten in den Mund steckte, und seitdem ist er dick geworden und hat einen richtigen Kartoffelbauch.«

Lachmann war höchlichst ergötzt über den Wettstreit auf den Fahrdamm getreten. Bei den letzten Worten blieb er steif stehen, wie von einem hellen Gedanken erleuchtet. Und als er den kleinen Schwadroneur näher ansah, erkannte er in ihm den Jungen, der ihm vorhin seinen Stein wegstibitzt hatte. Das traf ihn so, daß er es ganz geduldig hinnahm, wie der kecke Bursche mit dem Finger auf ihn wies und rief: »Siehste, Gustav, das ist der Herr Doktor, der hat meinem Onkel dann den Bauch aufgeschnitten und die Kartoffeln 94 mit der Hacke rausgeholt, richtig wie auf dem Felde. Du kannst ihn fragen, ob's wahr ist.«

»Aus dem Munde der Unmündigen,« sprach Lachmann vor sich hin und mit heiterer Stirn und festem Entschluß trat er in sein Haus.

Agathe kam ihm schon auf dem Flur entgegen. »Wo ist August?« fragte sie. Dabei griff sie mit der einen Hand nach ihrem Hut, mit der anderen nach der Haustür, bereit, nach der ersten Auskunft davon zu eilen.

Lachmann führte sie, ohne ein Wort zu sagen, in sein Arbeitszimmer zurück. Dort nötigte er sie in den großen Lederstuhl, in dem seine Kranken zu sitzen pflegten, und nahm ihr gegenüber Platz. Dann sagte er langsam und scharf. »Wenn du fortfährst, liebe Agathe, deinen Bruder August zu nennen und ihm auf Schritt und Tritt nachzuspüren, so kann ich dich hier nicht brauchen. Daß Thomas keine Neigung hat, dich hier zu sehen, hast du ja wohl gemerkt. Übrigens ist es der sicherste Weg, ihn noch kränker zu machen.«

Agathe schlug die Augen nieder. Sie hatte ein Gefühl, als ob sie in einem Armsünderstuhl säße, so unangenehm war es ihr, daß sie selbst im hellen Licht saß, während ihr Vetter sich wohlweislich im Schatten hielt. Ihre alte Ehrfurcht vor allem, was Arzt hieß und an das Kranksein erinnerte, ließ sie ganz vergessen, daß es ihr Lachmann war, der ihr Sitte predigte.

Der weidete sich an dem Vergnügen, die Base mundtot gemacht zu haben und seit langer Zeit fühlte er zum ersten Mal wieder den Wunsch als Arzt tätig zu sein. »Ich könnte dir mit dem alten Bibelspruch antworten,« begann er wieder, »aber ich habe deinen Bruder nicht umgebracht, sondern ihn in sicherer Gesellschaft gelassen, aus der er übrigens nicht vor Nacht zurückkehren wird.« Er stellte mit Befriedigung fest, daß er sich von Minute zu Minute mehr in seinen Beruf hineinfand. In den zwei Sätzen hatte er über zwei Dinge mit einer beneidenswerten Bestimmtheit gesprochen, von denen er so gut wie nichts wußte. Jetzt galt es, Agathe zu unterjochen, gelang ihm das, so konnte er sicher sein, daß er auch mit dem verrückten Vetter fertig werden würde. Der Weg, den er einzuschlagen hatte, war klar: Agathe mußte eingeängstigt und überrumpelt werden. »Ich möchte dich bitten, gut zuzuhören,« fuhr er fort, »dein Bruder 95 steht dicht vor dem Irrenhaus. Es wird Mühe kosten, ihn zur Vernunft zu bringen, aber ich werde es versuchen. Wenn ich jedoch für ihn verantwortlich sein soll, verlange ich von dir unbedingten Gehorsam.«

Agathe war zu allem bereit. Sie reichte dem Vetter die Hand und sah ihm treuherzig in die Augen. Einen Augenblick saßen sie sich so gegenüber, dann sah Lachmann, wie der Blick seiner Cousine unsicher wurde, und dem seinen auszuweichen suchte, ohne es doch zu vermögen, er fühlte deutlich, wie sie sich Mühe gab, ihm ihre Hand zu entziehen, ohne daß sie den Mut zur Ausführung hatte. An diesem vergeblichen Bestreben, seinem Einfluß zu entfliehen, erkannte er, daß er genug Kraft besaß.

Er gab seine Gefangene frei und setzte ihr auseinander, was sie zu tun und zu lassen hatte. »Unter keinen Umständen,« schloß er, »darfst du ihm widersprechen oder ihn merken lassen, daß du ihn für krank hältst, was er übrigens auch nicht ist, wenigstens bisher noch nicht. Für dich ist dein Bruder der Thomas Weltlein, der durch das Scharlachfieber zum Wanzentöter geworden ist. Ja, ja, du darfst mir schon vertrauen, ich weiß, was ich sage,« fügte er rasch hinzu, als Agathe etwas einwenden wollte. »Du mußt mit ihm verkehren, als seien seine Wunderlichkeiten ganz selbstverständliche Dinge. Kannst du das nicht, so höre schweigend zu und vor allem vermeide, mit ihm allein zu sein. Sonst verdirbst du mir alles. Dabei kann ich dir nicht einmal versprechen, daß ich dich hier behalten werde. Möglicherweise schicke ich dich fort.«

Das war Agathe zuviel. »Nie und nimmer lasse ich mich fortschicken,« erklärte sie und sah ihrem Bändiger gerade ins Gesicht.

Lachmann zuckte die Achseln und stand auf. »Wie du willst. Ich hätte mir das gleich denken können. Ich kenne ja dein Worthalten.«

»Lachmann!«

Ohne sich stören zu lassen, sprach er weiter. »Ich muß dich dann aber bitten, dich an einen anderen Arzt zu wenden. Ich pflege meine Kranken allein zu behandeln und nicht bei weisen Frauen Rat zu holen.«

Agathe erhob sich. »Du bist und bleibst ein –.« Sie vollendete 96 nicht, sondern setzte ihren Hut auf und band die Schleife. Er sah ihr kaltblütig zu. Mitten in ihrem Werk, während sie das zornrote Gesicht nach oben streckte und so tat, als ob sie eifrig die rebellischen Hutbänder zu ordnen suche, sagte sie: »Gut, ich werde tun, was du willst.«

»So will ich dir auch verraten, was ich mit dem Übergeschnappten beginnen werde. Aber erlaube mir, dir zu helfen.«

Lachmann trat vor seine Cousine hin und während sie das Kinn höher hob, faßte er ihre Hände, die immer noch vor Zorn zitterten. So sich dicht gegenüberstehend, sahen die beiden sich eine Zeitlang an.

»Es ist lange her,« sagte Lachmann mit seltsamer Betonung.

Agathe verstand ihn sofort. Sie senkte den Kopf und nickte. »Ich werde es bei Alwinen besser machen,« sagte sie.

Im nächsten Moment waren beide wieder bei der Sache. In ruhigem Ton gab Lachmann seine Erklärungen. »Die ganze Verwirrung bei deinem Bruder kommt daher, daß er sich einbildet, eine Entdeckung gemacht zu haben. Er hat die fixe Idee des Erfindens, die alle gescheiten Leute einmal überfällt. Ich will dich nicht mit all dem langweilen, wie er in die Stimmung geraten ist, die für ihn so gefährlich war; du kannst dir das ebensogut selber zusammenreimen. Jetzt liegt die Sache so: Er ist fest davon überzeugt, etwas ganz Neues und seiner Ansicht nach ungeheuer Wichtiges gefunden zu haben: die Tatsache, daß Krankheit den Menschen nicht schädigt, sondern erhebt. Den Beweis dafür sieht er in seinem Scharlachfieber und dem Verschwinden der Wanzen, die natürlich nichts miteinander zu tun haben. Dieser Gedanke, der übrigens in gewissem Sinne richtig, nur nicht neu ist, hat ihn während seiner Gefangenschaft Tag und Nacht beschäftigt, und da er sich langweilte und nichts anderes zu tun hatte, hat er solange damit gespielt, bis er alles darüber vergessen hat und nun nichts anderes mehr sieht als seine Entdeckung. Es ist ihm gegangen wie einem verdrießlichen Menschen, der mit der Stiefelspitze einen Stein fortschleudert, hinterher geht und ihn immer wieder vorwärtsstößt, lediglich aus Langerweile, und der schließlich, weil er über dem Spiel seine Sorgen vergißt, immer toller mit dem Fuß schlägt und hinter dem Stein herspringt, bis er 97 selber mit zerbrochenen Gliedern unversehens unter den Rädern irgend einer Droschke liegt. So ist's mit deinem Bruder; er sieht und denkt nichts anderes mehr als seine Idee und wenn man ihn gewähren läßt, wird er sich bald verrückt denken.«

Agathe nickte wiederholt zum Zeichen, daß sie ganz Lachmanns Meinung sei. »Und was willst du tun?«

»Das ist ganz einfach. Ich werde ihm seinen Stein fortnehmen, ihm zeigen, daß seine Idee uralt ist und eine echte Binsenwahrheit, oder wenn das nicht genügt, selber den Stein noch wilder rollen lassen, als er es vermag. Du wirst schon sehen.« Lachmann nahm jetzt wirklich die beiden Hutbänder und schlang sie zur Schleife, während Agathe wieder das Kinn hob und vertrauensvoll zu ihm aufsah. »Wahrscheinlich wird er dann schon vernünftiger werden. Sonst muß man weiter sehen, Zeit gewinnen, Geduld haben. Damit kuriert man immer am besten. So, deine Schleife ist fertig und nun sei so gut und laß mich bis heute Abend allein. Gegen acht kannst du wieder kommen, dann werde ich dir weiter Bescheid sagen, falls August oder vielmehr Thomas bis dahin noch nicht zurückgekommen ist.«

Den ganzen Nachmittag saß Lachmann in seinem Arbeitszimmer und schrieb Bogen um Bogen, und als er am Abend sein Machwerk der Cousine vorlas, schmunzelte er vor Vergnügen. Mitten darin aber unterbrach er sich und sagte'. »Ich verdenke es dem guten Thomas nicht, daß er über dieser Idee von dem Nutzen der Krankheit verrückt geworden ist. Während ich den Unsinn hier schrieb, dauerte es gar nicht lange, so glaubte ich selber daran, und jetzt beim Vorlesen fühle ich wieder, wieviel Methode in dieser Narrheit liegt.«

Agathe faltete ganz ergeben die Hände. »Ja, ja. Nun hoffentlich gelingt dein Plan. Denn wenn wir uns noch lange mit diesem rollenden Steinchen abgeben müssen, können wir alle drei, Arm in Arm in das Narrenhaus wandern.«

Lachmann sah sein Gegenüber nachdenklich an, dann hub er wieder an zu lesen. »Also fahren wir fort, hier bei den Worten des Redners.

Die Krankheit ist ein gewaltiges Mittel zum Fortschritt der 98 Menschheit und der Kultur. <Gelächter und Zwischenrufe.> Natürlich, bei jedem vernünftigen Gedanken lachen die Gelehrten. <Zwischenrufe: Paradox. Phrasen. Blühender Unsinn.>

  Der Redner spricht weiter:

Nein, meine Herren, das sind keine Phrasen, das ist auch kein blühender Unsinn, sondern eine wissenschaftlich beweisbare und längst bewiesene Tatsache. Und daß ich sie in die Form eines Paradoxon gekleidet habe, was doch lediglich eine Sache des Stils ist, ändert nichts an ihrer Wahrheit. Gegenüber den schimpflichen Äußerungen einzelner Herren hier, rufe ich das ehrliche Gewissen der anderen, rufe ich die Erfahrungen aller Ärzte, die Geschichte der Jahrtausende zu Zeugen an. Ja ich wage es, die Herren, die eben so laut ihre Mißbilligung kund gaben, daran zu erinnern, daß Sie selbst so und so oft den Beweis für die Richtigkeit meiner Worte geführt haben. Ich sehe hier ganz von der eigentümlichen Tätigkeit des Arztes ab, dessen Wirken tausendfältig, man möchte fast sagen stets nur darin besteht, künstliche Krankheiten zu schaffen. Denn was ist Chloroformnarkose anderes als eine Krankheit, oder der Morphiumschlaf, oder selbst die künstliche Störung des Körpergleichgewichts durch Bäder, durch Arzneien, durch Serumeinspritzungen, durch Über- und Unterernährung? Und vor allem was tut die Chirurgie, dieses Lieblingskind der Medizin, je anderes als durch einen willkürlichen Eingriff, sei es mit der Hand oder dem Messer oder sonst wie, krank zu machen; durch Krankheit genesen zu lassen. Aber ich wollte davon gar nicht sprechen. Nein, denken Sie daran, wie oft Sie in den Momenten der Angst Wein getrunken haben, sich vergifteten, sich bewußt krank machten, um der Angst wiederstehen zu können, wie Sie in der Freude Wein tranken, sich vergifteten, sich bewußt krank machten, um die Freude zu erhöhen. Weiter: was ist der Hunger anderes als eine Krankheit? Und nun prüfen Sie das Leben, was alles der Hunger getan hat. Und gar der Durst. <Schallendes Gelächter im Auditorium und Bravorufe.>«

Agathe legte die Hand auf Lachmanns Arm. »Du tätest mir einen Gefallen, wenn du aufhörtest.«

Der Vetter lachte vor stolzer Befriedigung. »Nicht wahr, das 99 ist nett.« Und mit rollenden Augen, offenbar halb benommen von dem Gift, das er selber gebraut hatte, fuhr er fort.

»Habe ich nicht recht, wenn ich sagte, man soll die Krankheit nicht ausrotten, nicht bekämpfen, man soll sie nach den Grundsätzen einer erst neu zu schaffenden Wissenschaft den höchsten Zwecken der Kultur dienstbar machen? Brauche ich Sie, die Ärzte, die Naturforscher sind, noch daran zu erinnern, daß der Typhus, das Scharlachfieber, die Lungenentzündung in ihrem gewaltigen Ansturm den Menschen von altem Übel und jämmerlichen Gebrechen reinigen, so daß er stark wird, wie nie zuvor?

Die Welt ist jetzt einig darüber, daß man die Seuchen verhüten müsse. Aber diese Einstimmigkeit des Urteils sollte schon mißtrauisch machen. Sehen wir näher zu, so entdecken wir, daß die Natur im Großen tut, was wir Ärzte im Kleinen wiederholen. Mit dem Besen der Epidemie fegt sie die Völker von allem Unrat rein. Sie rafft die Minderwertigen weg, mit denen die viehische Brunst des Menschen, dieses schlimmsten Tieres, das Leben der Starken beengt, vergiftet. Vertilgt diese sühnende, reinigende, heilsame Kraft der Natur und ihr werdet bald unter lauter Krüppeln und Idioten leben.« <Zwischenruf: selbst Idiot.>

Lachmann las jetzt mit lauter, schneidender Stimme, als ob er die eingebildeten Gegner seiner närrischen Phantasien niedersäbeln wollte:

»Das paßt den Herren wieder nicht. Studieren Sie lieber Geschichte, als daß Sie mich unterbrechen. Sehen Sie sich die großen Männer des Erfolges an, die Bahnbrecher der Kultur, einen Cäsar, einen Homer, einen Paulus, einen Rafael, Goethe, Nietzsche, Luther, Loyola, Beethoven, Bismark. Sie waren krank, alle miteinander krank. Oder suchen Sie unter Ihren eigenen Bekannten die Menschen, deren Seelengröße Sie am meisten erschüttert hat, deren Nachdenken und Geisteskraft den tiefsten Eindruck auf Sie gemacht hat. Sie werden finden, daß es Kranke waren. Ja, folgen Sie mir nur weiter, und Sie werden staunen. Wovon lebt denn die Menschheit, das Leben selbst, wenn nicht von Krankheit, von Dingen die erst krank gemacht oder gar getötet wurden, damit sie nähren und erfreuen. Man schlachtet das Vieh, 100 man schneidet das Getreide, beides genießt man, nachdem es krank gemacht wurde. Man veredelt die Blumen durch Krankheit. Man ebnet die Wege durch furchtbare Massenseuchen, in denen Bäume und Gräser sterben. Alle Kultur, alle Kunst, alles Menschenerfreuende und Menschenerhebende ruht auf dem was krank ist. Man baut Häuser aus künstlich krank gemachtem Holz, das Brennen des Feuers im Kochherd ist eine Krankheit –«

Agathe hielt sich die Ohren zu. »Hör' auf,« rief sie, »du machst mich verrückt.«

Mit einem hellen Auflachen warf Lachmann das Manuskript beiseite. »Den Rest will ich dir schenken, Agathe. Aber nicht wahr, davon kann man verrückt werden und dein Bruder ist es geworden. Aber ich werde ihn wieder in die Reihe bringen, Gift gegen Gift. Und er, er soll mir den Kelch bis zur Neige austrinken. Ihm wird nichts erlassen.«

Die beiden saßen noch lange beisammen, warteten auf den Bruder und sprachen dieses und jenes. Als der Säumige um Mitternacht noch nicht erschienen war, ließ Lachmann seine Cousine ins Hotel fahren.

 


 


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