Georg Groddeck
Der Seelensucher
Georg Groddeck

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7. Kapitel.

August Müller stirbt.

Es muß unentschieden bleiben, ob er dabei wirklich, wie seine Worte vermuten ließen, im Sinne hatte, sich an dem Mädchen zu rächen, auch welcher Art diese Rache sein sollte. Denn das vorwitzige Fräulein sah kaum die Gestalt am Weinspalier herunterklettern, als es erschreckt über die zu ausgiebige Wirkung ihres Anbändelns in das Haus flüchtete. Verdutzt stand Ende in dem leeren Garten. Mit ein paar Sprüngen erreichte er die Haustür, aber sie war fest verschlossen. Es blieb ihm nichts übrig als der Rückzug, und er ahnte, daß auch der einige Schwierigkeiten haben werde. Denn im Hinabgleiten hatte er wohl bemerkt, daß das Spalier unter seinem Gewicht nachgegeben hatte. Während er verdrossen die Stangen prüfte, ob er sich ihrer Festigkeit noch einmal anvertrauen solle, bemerkte er, daß ihm der Rückweg überhaupt versperrt war. Die Glastür, die er vorhin geöffnet hatte, war jetzt verschlossen, und bei dem matten Schein, der aus dem Zimmer drang, sah er, daß August Müller nicht mehr im Bette lag, sondern hastig im Zimmer auf und ab ging.

Verärgert schaute er nach oben. So lange der Kranke wach war, konnte er nicht wieder hinaufsteigen, ohne sich Erörterungen auszusetzen, die bei der Verrücktheit seines Gegners ihn leicht in die lächerlichste Lage bringen konnten. Er beschloß also zu warten und da das Stehen im feuchten Grase seinen jungen Gliedern nicht sehr verlockend erschien, setzte er sich auf eine Gartenbank, von der aus er das erleuchtete Fenster Augusts im Auge behalten konnte. Auf dieser Bank nun überfiel ihn der Teufel in Gestalt des Schlafs. Die Augen sanken ihm und er erwachte erst von der Kälte kurz vor Sonnenaufgang.

Halb noch im Traum reckte er seine steif gewordenen Glieder, wunderte sich über das seltsame Lager, auf dem er ruhte, und erst allmählich kam ihm zum Bewußtsein, wie er hierher gekommen war. Beschämt fuhr er empor. Er, der Geistliche, den die beiden Frauen im vollen Vertrauen als Wächter bei dem Kranken zurück gelassen 33 hatten, hatte seine Pflicht sträflich vernachlässigt, war auf Liebesabenteuer ausgegangen, und schließlich hatte er die Wache verschlafen.

Was mochte inzwischen geschehen sein? Das Licht in Augusts Zimmer brannte noch. Eilig ging er zu dem Balkon hin. Die Tür oben stand weit auf. Von Müller war nichts zu sehen. Wahrscheinlich lag er also im Bett. Aber wunderlich war es, daß das Spalier jetzt vollkommen zerknickt und heruntergerissen war. Der Vikar hatte nicht geglaubt, daß die Verwüstung so schlimm gewesen wäre. Die Finsternis der Nacht mußte ihn getäuscht haben, während der anbrechende Tag jetzt alles in klarem Licht erscheinen ließ.

Gott sei dank stand die Leiter in der Nähe, mit der Agathe den Balkon zu ersteigen pflegte. Rasch hatte er sie angelehnt, war hinaufgestiegen und schlich auf den Zehen in das Zimmer. Im nächsten Augenblick stürzte er schon mit der vollen Wucht seines Körpers gegen die Korridortür mit ihren Eisenstangen. Das Zimmer war leer, der Kranke verschwunden. Der arme Vikar schlug geängstigt mit den Fäusten auf die bretterne Wand los, die ihn von den Hausbewohnern trennte, und rief mit lauter Stimme abwechselnd: »Frau Willen, Frau Willen! Fräulein Alwine, Alwine!« In dem gegenüber liegenden Zimmer saß währenddessen Alwine mit schreckensbleichem Gesicht und zitternden Gliedern aufrecht in ihrem Bett und horchte auf das Geschrei, das zu ihr drang. Als immer von neuem ihr Name gerufen wurde, sprang sie auf, schlüpfte in ihren Morgenrock und eilte zu der Mutter. Auch die war schon durch den Lärm geweckt, halb angekleidet trat sie gerade aus der Tür.

»Alwinchen,« rief sie jammernd, »Alwinchen, der Onkel tobt wieder. Erschrick nur nicht. Ich werde ihn schon zur Ruhe bringen. Geh doch und leg dich schlafen.«

»Ach Mutter, hör' nur, es ist gar nicht der Onkel, es ist der Vikar. Der arme Paul! Wenn der Onkel nur nicht tobsüchtig geworden ist.«

Agathe hörte nur halb. »Er mordet ihn, er mordet ihn!« schrie sie und lief den Korridor entlang, was sie laufen konnte, das Töchterchen hinterher, sich ängstlich an der Mutter Rock klammernd.

»Frau Willen, öffnen Sie, um Gottes willen öffnen Sie,« schrie es ihnen durch die Tür entgegen.

34 »Ja, ja, nur einen Augenblick noch. Nehmen Sie alle Kraft zusammen, Herr Vikar, halten Sie den Wütenden fest! Wehren Sie sich! Ich komme zu Hilfe. Seine eigene Schwester wird er ja nicht erschlagen.«

Die Tür ging auf und der Vikar fiel in die ausgebreiteten Arme Agathes, die in der einen Hand wurfbereit eine Flasche mit kaltem Wasser hielt. »Wo ist er?« rief sie. »Fürchten Sie sich nicht, Herr Vikar! Wo ist der Wüterich?« und ließ die Augen durch das Zimmer schweifen, während sie den Arm mütterlich schützend um den jungen Mann schlug.

Der Geistliche wäre am liebsten in ein Mauseloch gekrochen, so schämte er sich. Kleinlaut stammelte er: »Er ist fort.«

Agathe erstarrte in der Stellung, in der sie gerade stand und wahrscheinlich wäre sie so als ewiges Wahrzeichen des schrecklichen Augenblicks, gleich Loths Weib versteinert, wenn nicht Alwine, gereizt durch den Anblick des verfrorenen und zerschundenen Vikars in den Armen ihrer sprachlosen Mutter in ein Gelächter ausgebrochen wäre.

»Was hast du zu lachen, dummes Ding,« rief sie in vollem Zorn, und ehe sich's Alwinchen versah, hatte sie eine feste Ohrfeige erhalten. Ohne sich weiter um das weinende Kind zu kümmern stürzte Frau Agathe vorwärts nach dem Balkon. »Was sagen Sie? Fort ist er?« sagte sie dabei und in den leeren Garten schauend begann sie wieder: »Fort? Aber wie ist das möglich? Haben Sie geschlafen, Herr Vikar?«

Der Pastor Breitsprecher hatte vor einiger Zeit zur großen Entrüstung einiger älterer Damen von dem Vikar gesagt, er besitze noch nicht die nötige moralische Reife zum Prediger. Das, was Paul Ende jetzt tat, gab den Beweis, daß der würdige Pastor Recht gehabt hatte. Der Vikar log.

Hätte er Frau Willen allein gegenüber gestanden, er hätte sicher sein christliches Gemüt vor schwerer Sünde gerettet. Aber das schöne Kind dort, mit dem aufgelösten langen Haar, das eben seinetwegen eine Ohrfeige erhalten hatte und nun gar reizend aussah, wie es sich weinend die brennende Backe rieb, durfte er nicht in den Verdacht bringen, als habe es mit ihm ein Stelldichein gesucht oder gar gehabt.

35 Mit fliegenden Worten erzählte er, wie er mit dem Kranken auf dem Balkon gestanden habe, wie er ihm den letzten Feind in der Streichholzschachtel gezeigt habe, wie der Feind, diese kostbare Reliquie in den Garten hinabgefallen sei, und wie er selbst Herrn Müller zu Gefallen am Weinspalier sich hinabgelassen habe, das Kleinod zu suchen. Dann zur Wahrheit zurückkehrend, berichtete er, wie ihm der Rückzug abgesperrt ward, und er auf seinem Beobachtungsposten eingeschlafen war.

Die moralische Verderbtheit des angehenden Geistlichen kam jetzt deutlich zum Vorschein, denn statt zu bereuen, freute er sich in sträflicher Weise über das Lächeln, mit dem Alwine, mitten aus ihren Tränen heraus, für seine Diskretion dankte. Er hätte in diesem Augenblick das Dasein Gottes verleugnet.

Glücklicherweise wurde das nicht von ihm verlangt, denn Agathe hatte mittlerweile bei der immer noch brennenden Lampe ein Kuvert mit ihrer Adresse entdeckt. Das nahm sie auf, ehe sie es aber erbrach, löschte sie mit den Worten: »Welche Verschwendung!« die Lampe. Im nächsten Augenblick beugten sich drei Gesichter, das alte, zornrote Agathes, das von dem Weinstock zerschundene des Vikars und Alwinchens mit der geschwollenen Backe, über die Blätter, auf die August Müller seine Abschiedsworte niedergeschrieben hatte.

Das erste Schreiben lautete wie folgt:

»Mit der Mitternachtsstunde des 24. zum 25. . . . . . starb in mir der Mensch August Müller. Kraft mir innewohnender heiliger Gewalt tilge ich den Namen und das Andenken dieses Toten für ewige Zeiten.«

Das Zweite enthielt die Worte:

»In der Wende der Nacht zum Tage schuf ich mich zu einem Menschen um, dessen Name soll sein Thomas Weltlein, zum Zeichen, daß er empfangen und geboren ward vom Zweifel, der allein der Welt Leben gibt.«

Agathe entfaltete das dritte Schreiben und las:

»Bis zu dem Augenblick, in dem ich diese Worte schreibe, glaubte ich noch nicht an mich selbst und an meine Kraft. Daß ich ruhig und unbewegt von dir scheiden kann, beweist mir: das Leben, 36 wie ich es lebte, liegt hinter mir, unter mir. Mit allem was war, habe ich nichts zu schaffen, mein Werk gehört dem, was wird, dem Tag, der mich auf den Flügeln der Morgenröte hinwegführt, im Kopf den Zweifel, im Herzen die Welt. Gedenke des Toten! Hoffe des Lebenden! Thomas Weltlein.«

Agathens Stimme versagte, und der Vikar nahm ihr hilfreich die Rolle des Vorlesers ab:

»P. Scr. Zum Gedächtnis des Sterbens und als Zeichen der Wiedergeburt hinterlasse ich dir den letzten Feind. Er war es, der mich gesund biß. Die Streichholzschachtel, in der er ruht, vertauschest du wohl gelegentlich mit einer würdigeren Grabstätte. Fahr wohl! Hoffentlich hast du die Spalierstangen gut befestigt, so daß ich beim Klettern nicht falle.«

Als der Vikar noch das vierte Schreiben öffnen wollte, fiel sein Blick auf Agathe, die sich krampfhaft an der Stuhllehne festhielt. Er warf den Zettel zur Seite, um sie zu stützen. Alwine fing ihn auf und überflog ihn. Eine tiefe Röte stieg ihr in das Gesicht. Ehe sie jedoch den Mund öffnen konnte, sank die Mutter mit dem Ruf: »Er ist verrückt,« ohnmächtig zusammen.

Niemand erfuhr, was in dem letzten Brief stand, denn während die beiden jungen Leute die bewußtlose Frau zu Boden gleiten ließen, war das Blatt verschwunden.

 


 


 << zurück weiter >>