Georg Groddeck
Der Mensch als Symbol
Georg Groddeck

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Die Meinung, daß ein Individuum, wenn es gewaltsam in Sexus zerlegt worden ist, sich nach neuer Vereinigung sehnt, hat viel für sich. Der Trieb beider Geschlechter zueinander läßt sich darin verdeutlichen; die Sehnsucht nach Wiedervereinigung zweier Segmente, Weib und Kind, einer individuellen Welt würde die wichtigen Inzestwünsche zwischen Sohn und Mutter unabhängig von den Ereignissen nach der Geburt machen und ihnen den Charakter unvermeidlicher menschlicher Notwendigkeit geben; ja auch die gleichgeschlechtlichen Leidenschaften würden auf eine Art Urgrund zurückgeführt. Man stände der Möglichkeit gegenüber, das Leben selbst als abhängig von dem Triebe einer zwiegespaltenen Dreieinheit zur Vereinigung aufzufassen. Die Wirkung des Begriffs Individuum würde sich damit auf alle Beziehungen des Menschen zum Menschen, ja zur ganzen Welt ausdehnen. Überall und durchaus gäbe es nicht Mensch und Nichtmensch, sondern nur immer Mensch-Gott, Mensch-Tisch, Mensch-Tag, Mensch-Welt, nicht Subjekt und Objekt, sondern ein Neues, ein Subjekt-Objekt. Von meinem Standpunkt als Arzt aus betone ich, daß eine solche Bildung eines neuen Individuums Kranker-Arzt die Angel ist, um die sich die Behandlung dreht. Ich überlasse dem Leser die Anwendung auf das Problem des freien Willens und der Notwendigkeit; andrerseits möchte ich hervorheben, daß die Beziehungen von Individuum und Sexus klarer werden, sobald man die Frage des freien Willens hineinzieht. In der Tat kenne ich keinen andern Weg, um sich mit dem Phänomen des Ganzen im Teil und des Teils im Ganzen auseinanderzusetzen. Beschränkt man den Blick auf die Erscheinungen des menschlichen Individuums, so treten zwei solcher Versuche einer 143 Vereinigung deutlich hervor: der Beginn und das Ende, Empfangen und Sterben.

Ich habe schon mehrfach auf die enge Verwandtschaft von Empfängnis und Tod aufmerksam gemacht. Der Tod des Männlichen (Samenerguß mit folgender Erschlaffung) ist die Bedingung des Werdens. Großartig hat sich diese Wahrheit in der Sage vom Sündenfall durchgesetzt, die den Baum des Lebens neben den der Erkenntnis (erkennen = begatten), das Sterben neben das Werden setzt.

Das Wort »sterben« (engl. to starve = vor Hunger umkommen) scheint ursprünglich »sich mühen, arbeiten« zu bedeuten (anord. starf = Arbeit, starfa = sich mühen, stjarfe = Starrkrampf). Dieselbe Sinnverwandtschaft findet sich im Griechischen, wo kamno (καμνω) sich mühen heißt, kamontes (καμοντες) die Verstorbenen. (Wurzel: kam-, cema-, cme- = müde werden, sich mühen.) Verwandte griechische Wörter klären über die Beziehung von »sich mühen« und »sterben« auf. Kamara (καμαρα) heißt das Gewölbe (lat. camera, camur = gewölbt, nhd. Kammer; anord. hamo = Hülle, nhd. Hamen = Fangnetz, nhd. Hemd, got. himins = Himmel, gr. kaminos [καμινος] = Ofen, Ofen = Gebärmutter, in der das Kind gebacken wird, Backofen noch jetzt Bezeichnung für Gebärmutter). Kamaros (καμαρος) ist Hummer (Scheren sind Symbol der weiblichen Geschlechtstätigkeit), dasselbe Wort ist gebraucht für Nieswurz und Gift (Samen), kamax (καμαξ) ist Stange, Pfahl, kamasso (καμασσω) = schwingen, schütteln, kmelethron (κμελεϑρον) = Dach, Haus, alles Geschlechtssymbole (Wurzel: crampo-, kep- = krümmen; ai. capam = Bogen, capalam = unstetes Wesen).

Hält man sich an die frühere Bedeutung von sterben gleich arbeiten, so ist die Erinnerung an den Sündenfall kaum zu unterdrücken. »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen«, lautet der Fluch, mit dem Adam aus dem Paradies vertrieben wird. Kaum etwas charakterisiert unsre modernen Gesinnungen besser, als daß wir Arbeiten für etwas Erstrebenswertes halten, vom Recht auf Arbeit, statt von der Pflicht zur Arbeit sprechen, daß wir so tun, als ob Arbeiten ein Wertmesser für den Menschen sei. 144 Die Verwechslung von tun, sich beschäftigen und arbeiten ist verhängnisvoll. Ich habe nie gesehen oder davon gehört, daß Kinder arbeiten. Wohl aber beschäftigen sie sich ununterbrochen, wenn sie nicht schlafen. Und ich finde auch im Neuen Testament nicht die leiseste Andeutung, daß Christus gearbeitet habe. Mühe und Arbeit, die, scheint es, denselben Wortsinn haben, gehören zum menschlichen Leben, aber sie als tiefsten Sinn des Lebens aufzufassen geht nicht wohl an. Es gibt keinen Menschen, der lange hintereinander, sagen wir, länger als eine halbe Stunde arbeiten kann, nach Ablauf dieser Zeit wird die Arbeit zur Beschäftigung, meist sogar zu einem neben dem Innenleben hergehenden Tun. Alles Wesentliche schafft in uns das Irrationale, das wohl tut, aber nicht arbeitet. Arbeit, Mühe ist und bleibt auf sehr kurze Zeiträume beschränkt, führt niemals zum Erfolg, sondern wird hie und da vom Es bei seinem schöpferischen Wirken verwendet, durchaus nicht zum Wohlbehagen des Menschen – Mühe ist verwandt mit müde –, sondern weil sie hie und da notwendig ist.

Da meine Meinung, die sich schlecht mit Hilfe der physiologischen und psychologischen Tatsachen begründen läßt, den Tagesmeinungen widerspricht, gebe ich einige Wortzusammenhänge, die mir aufgefallen sind. Die Lateiner haben das Wort labor mit der Bedeutung Mühe, Arbeit (ora et labora). Nach Walde geht labor auf eine idg.Wurzel lob zurück, von der im Griechischen lobe (λωβη) = Mißhandlung, Schmach herkommt. – Noch deutlicher wird das, wenn man statt des Worts »Arbeit«, das ursprünglich einen ganz andern Sinn hatte, das Wort »Mühe« zum Ausgangspunkt nimmt. Nach Kluge geht dieses Wort auf eine gemeinindogermanische Wurzel mô zurück, von der lat. moles, molior = Mühe und gr. molos (μολος) = Mühe, molys (μολυς) = durch Mühe entkräftet, herkommen. Molys hängt nach Prellwitz mit dem got. ga-malvjan = zermahlen zusammen, das führt nach ihm zu dem Wort aleo (αλεω) = mahlen, zermalmen, das mit lat. molo = mahlen und Mehl zusammenhängen soll. Prellwitz sagt, daß die Bedeutung mahlen erst europäisch sei, daß sie im Indogermanischen reiben, streichen, malmen und auch sudeln gewesen sei. Ich habe früher schon darauf hingewiesen, daß der Begriff des Mahlens gewisse Ähnlichkeiten mit 145 der Geschlechtstätigkeit hat, die männliche Starrheit wird von dem Weiblichen zermalmt (lat. molo verwandt mit mollis = weich; mollis ist nach Walde möglicherweise Ursprung von mulier). Übereinstimmend bringen beide Forscher (Walde und Prellwitz) das gr. blax (βλαξ) und lat. flaccus = schlaff mit aleo und molo zusammen. Walde fügt noch das Wort blenna (βλεννα) = Schleim hinzu, so daß die Beziehung dieser ganzen Wortgruppe zu dem Geschlechtsverkehr, dem Absondern des Samenschleims und der Erschlaffung des Gliedes noch deutlicher wird. Damit stehen wir vor der Frage. ob man nicht ursprünglich unter Arbeit lediglich den Bau des eigenen Ackers und entsprechend der Symbolik das männliche Sichmühen beim Pflügen des weiblichen Ackers verstanden hat, wie es auch in die Paradiesessage hineingedeutet werden kann; damit wird aus der mühseligen Arbeit eine freudige Arbeit. Diese Symbolik des Wortes Arbeit wird bestätigt durch das stamm- und sinnverwandte lateinische Wort orbus = beraubt, das im Griechischen mit orphanos (ορφανος) = Waise zusammenhängt, im Deutschen mit dem Wort Erbe und Arbeit (got. arbi, ahd. arbi, erbi = Erbe. altir. orbe = Erbe). Auch hier ist die Beziehung der Arbeit zu dem Männlich-Weiblich-Kindlichen deutlich. Aus dem Begriff Erbe hat sich dann folgerichtig ein vorgermanisches orbho = Knecht, altslaw. rabu = Knecht entwickelt, da der freie Germane den Ackerbau (das Erbe) den Knechten und den Frauen überließ.

Sterben, starve, starfa (sich mühen), stjarfe = Starrkrampf kommen nach Walde von der indogermanischen Wurzel sterb-, erweitert aus ster-, von dem das Wort starr = steif herkommt (gr. strephenios, στρεφηνιος). Kluge bringt sterben auch mit lat. torpeo = starr sein zusammen. Die Starre bringt die Symbolik sterben und Geschlecht noch näher. Während beim Sterben, dem sogenannten Ende des Lebens, die Beziehungen zu den menschlichen Geschlechtsverhältnissen weit in das Unbewußte verdrängt sind, liegen sie bei dem Werden, Entstehen, dem sogenannten Anfang des Lebens, offen zutage. Entstehen gehört zu dem Begriff des Stehens, der mit dem Leben des Männlichen eng verbunden ist. Über das Wort Werden und seine Beziehungen zu lat. verto = drehen, werden habe ich bei früherer Gelegenheit gesprochen. 146 Die entscheidende Drehung des Menschen tritt bei der Geburt ein, durch die, was Unten war, Oben wird (der Kopf vor der Geburt und nach der Geburt). Andre Gebiete werden durch die lateinischen Ausdrücke orior = sich erheben, aufsteigen, entstehen, origo = Ursprung erschlossen. Griechisch ist damit ornymi (ορνυμι) = erregen, bewegen verwandt; orora (ορωρα) = ich bin erregt, orto (ωρτο) = es erhob sich, anoruo (ανορυω) = ich springe auf, ernos (ερνος) = Schößling, Zweig (»Emporgeschossenes«, wie norw. rune = Zweig, aisl. renna = schnell wachsen); Wurzel nach Prellwitz ore = Ehre, dazugehörend eretes (ερετης) = der Ruderer (rudern = Geschlechtssymbol); erchomai (ερχομαι) = kommen (»die Natur kommt«), ornis (ορνις) = Vogel, nhd. Aar (Symbol!).

Aus all diesen stammverwandten Wörtern geht hervor, daß orior = entstehen das männliche Wirken bei dem Werdegang betont, es drückt den Gedanken aus, daß das Werden nur durch das Sterben des Männlichen möglich ist. Griechisch gignesthai (γιγνεσϑαι) und lateinisch nasci (Wurzel gen- erkennen) deuten nach derselben Richtung: nur der Mann erkennt das Weib, nicht das Weib den Mann, nur der Mann stirbt, aus seinem Sterben geht das Werden hervor.

Folgt man dieser Meinung, so entsteht der Wunsch, auch das Wort »werden« (vertere = wenden, drehen) mit dem männlichen Prinzip zu verbinden. Ich nehme an, daß in dem Wort vertere neben der Drehung der Kindeswelt von dem Kopfstehen zum Kopfhochtragen die Wendung der Richtung bei Befruchtung und Geburt, Samen und Kind enthalten ist, die Richtung hinein wird zur Richtung hinaus.

In Dresden hängt unter der Bezeichnung »Das große Stilleben mit dem Vogelnest« ein Gemälde des Jan Davidsz de Heem (Taf. 10). Ganz rechts auf dem Bilde ist ein Baum gemalt, um dessen Stamm sich ein Ast windet; beide, Ast und Stamm, sind übersät von spielerischen Andeutungen, mit deren Beschreibung man lange Zeit zubringen könnte. Wichtig sind zwei Fratzen, die eine, mit breiter Nase und lachendem Mund, ist von einer vernarbten Astwunde geformt; dicht daneben sieht man eine affenähnliche als Ende eines Stumpfes. Diese Fratzen geben Aufschluß darüber, wie das Ganze 147 betrachtet werden soll. Hunger, Liebe, Leben, Tod erscheinen in den mannigfachen Verkörperungen. Oben sitzt ein bunter Vogel mit geöffneten Flügeln, während sein Partner unten tot am Boden liegt. Zwischen beiden, nahe bei dem Tod, ist das Nest gemalt; zwei Eier liegen darin, ein drittes ist in zwei Hälften zerbrochen, aber der Eidotter ist nicht ausgelaufen. Auf einer Ranke des Nests sitzt ein Schmetterling mit halb zusammengeklappten Flügeln, der durch einen geknickten Kornhalm von einer Raupe getrennt ist. Dieser Halm trennt auch den toten Vogel von dem Nest und dem zerbrochenen Ei, nach oben zu endet er unter einem Eichenzweig mit zwei Eicheln und einer leeren Eichelhülle. Und um die Parallele zu vervollständigen, ist ein zweiter aufrechter Halm gemalt, dessen Ähre auf eine Zweiggabel gerichtet ist, während die Ähre des geknickten Halms, ebenso wie die eines dritten, zum Boden hinweist. Die Dreizahl erscheint auch in der Anordnung des dreifach gegliederten Eichenzweigs wieder, dessen einer Teil sich phallisch erhebt; auf seiner äußersten Spitze sitzt mit weitgeöffneten Flügeln ein zweiter bunter Falter voll Liebes- und Lebenslust. Auf dem umarmenden Ast des Baumes krabbelt als Sinnbild des Triebes in seiner brutalen Form der Maikäfer, an dessen unzweideutigen Geschlechtslüsten sich alle Kinder zu erregen wissen. Weiter zum Rand hin ist ein Hirschkäfer zu sehen, doppelt symbolisch Mann und Weib in Körper und Zangen vorstellend. Und ganz verborgen schleicht der Mord: eine Spinne läßt sich von der Gabel, nach der hin die eine Ähre strebt, auf eine Mücke nieder. Doch nicht weit davon sitzt die Gallwespe auf einem Eichenblatt, die Welt von neuem zu beleben. Und all dies Gewimmel von Leben und Tod, Lieben und Fortpflanzen bestaunt eine Schnecke, die, Doppelsinnbild, zum Fraße strebt. Hier reckt ein Kürbis seinen Stiel empor, dort labt sich eine Fliege an dem Saft, der sich an dem Spalt einer großen Melone gebildet hat. Raupen sieht man und Tausendfüßer, die zweisymbolige Wasserjungfer, die gefräßige Heuschrecke, geplatzte Kastanien als Ejakulations- und Geburtssinnbilder, Maus und Molch, Frosch und Käfer; und wie sich die eine Fliege an dem Spalt der Melone ergötzt, so tut es eine zweite kleinere an dem Sinnbild des Hinterteils, dem Pfirsich. Ganz am linken Rande 148 aber sind Disteln gemalt, die mit ihren Blüten aufwärts in ein Loch in der Wölbung des zerfallenen Mauerwerks weisen.

Die massenhafte Verwendung der Symbole macht es wahrscheinlich, daß de Heem mit voller Absicht in dem Stilleben die Geschichte von Leben, Lieben und Sterben erzählt hat. Dicht bei seinem Bilde hängt ein zweites, von seinem Zeitgenossen Mignon gemaltes (Taf. 11), das fast dieselben Symbole bringt wie das de Heemsche. Um so mehr fallen die Unterschiede auf. Zunächst sind die ungeraden Zahlen Drei, Fünf, Sieben betont, und die Zwei bringt das Weibliche schärfer zum Ausdruck. Dafür fehlen alle Andeutungen des Sterbens. Beide Vögel sind lebendig, der eine baut an einem Nest, der andre sitzt dicht vor einem Zweiglein mit fünf Stachelbeeren. Die Mücke, die bei de Heem dem Tode durch die Spinne verfallen ist, läuft bei Mignon keine Gefahr, da ihre Feindin nicht mitgemalt ist. Das Bild de Heems hat die Stimmung des Verfalls schwüler Überreife, bei Mignon ist alles heiter in freudiger Fruchtbarkeit. Wesentlich ist das von der verschiedenen Ausführung des Nestes bedingt: bei de Heem liegt es am Boden, zerzaust und flankiert von der Vogelleiche und dem zerbrochenen Ei. Mignons Nest ist in den Obstkorb gebettet und die Eier sind unversehrt. Es ist rings von Liebessymbolen umgeben, und nicht der Tod, sondern tausendfältige Fruchtbarkeit ist da: aus einem zusammengerollten Blatt rieselt ein Strom von kleinen Würmchen herab. Sie sind auch auf dem de Heemschen Bilde zu sehen, aber dort sind sie nicht in so naher Beziehung zum Nest, sie zerstören dort, während sie bei Mignon in die Zukunft weisen. Der Zierkürbis mit seiner Phallusähnlichkeit ist dicht an das Nest gedrängt, bei de Heem ist er in die Nachbarschaft einer Schwertlilie gerückt, auf der andern Seite steckt ein Ästchen sich in den Ring des Korbhenkels, und auf diesem Weibessinnbild des Henkels sitzt der Vogel. Drei Pflaumen und drei Pfirsiche schmiegen sich an das Nest, eine leckere, dreigeteilte Traube hängt herab. Der männliche Kürbis mit seinem aufragenden Stiel ist neben die weibliche, noch unversehrte Melone gelagert, und um den Moment der seligen Vereinigung zu verdeutlichen, liegt die geplatzte Kastanie zwischen und vor den beiden. In der Fruchtschale vor dem Paar mischen sich schwarze 149 Brombeeren mit roten Himbeeren. Hier deutet das Unbewußte die wunderlichen Dinge des Eros an: drei Judaskirschen liegen zwischen Fruchtschale und Kürbis-Melone, gekreuzt von einer herabhängenden Distel; es ist die dritte Blüte der Distel, bei de Heem sind nur zwei gemalt. Sie durchschneidet den Kopf des vordersten Judas, entmannt ihn, den Verräter. Am Griff der Fruchtschale aber sitzt die Fliege, um die Fünfzahl der Mispeln anzugreifen. Um den hängenden Distelkopf herum lagern sich Bohnen, die uns als Kindsymbol gut bekannt sind.

Drei Eier im Nest, das Nest gebettet in den fruchthegenden Korb, umgeben von Süße und Leben, alles umschlossen von dem Muttergewölbe: Soll man da nicht an die Macht des Symbols glauben?

Eizelle und Samenzelle sind sexuell so scharf geschieden, wie es nur möglich ist. Sie sind aber gleichzeitig in sich vollkommene Individuen, enthalten die Dreieinheit Mann, Weib, Kind. Wird ihnen durch den Verkehr von Mann und Weib Gelegenheit geboten, sich zu einem neuen Individuum zusammenzuschließen, so beginnt die Samenzelle im wahrsten Sinne des Wortes zu arbeiten, voll emsiger Lebendigkeit klimmt sie empor zu der Eizelle, um in ihr das zukünftige Leben zu erwecken (erquicken = zum Leben erwecken, quick stammverwandt mit lat. vivus = lebendig; Quecksilber, keck, engl. the quick and the dead). Die Bedingung für das Entstehen dieses neuen Lebens ist der Tod des lebenspendenden Samens, des aufrechten Phallus. Ganz anders ist es mit den beiden Individuen Mann und Weib. Der Trieb zur Vereinigung ist allerdings da und bestimmt das individuelle und persönliche Leben von Mann und Weib wesentlich, aber die Vereinigung zu einem Individuum kommt nie zustande, nur eine Annäherung tritt ein.

Die Bezeichnungen für diesen Vorgang der Annäherung sind in allen Sprachen unzählbar, ein deutlicher Beweis, wie eng die Beziehungen der Geschlechter mit allen Lebensvorgängen verwurzelt sind. Auffallend ist, daß gerade die Griechen, deren Sprachgefühl sonst so sicher ist, den Ausdruck meignysthai (μειγνυσϑαι) = sich vermischen brauchen, was man wohl als ein Zeichen davon auffassen kann, daß ihr Wesen von der Gewalt des Eros besonders durchtränkt war. Ein andres Wort syneinai (συνειναι) = 150 zusammensein übermittelt uns die tiefste Poesie, deren eine Sprache fähig ist. – Der Lateiner braucht coire = zusammengehen. Es ist bezeichnend, daß Frauen den Ausdruck komisch finden, denn in Wahrheit ist es nur der Mann, der taktmäßig schreitet. Das ist wichtig, weil in unsrer kenntnislosen Zeit die Männer den seltsamen Gedanken haben, eine Frau sei nur dann von der Leidenschaft des Verkehrs ergriffen, wenn sie ihrerseits die sich mühenden arbeitenden Bewegungen des Mannes zu übertreffen sucht. Jeder Mann könnte und sollte wissen, daß solche zur Schau getragene Leidenschaftlichkeit unecht ist. Das weibliche Wesen wird bei dem überwältigenden Genuß still und in ihren Gliedern regungslos. Ein andrer heute noch gebräuchlicher Ausdruck ist cohabitare = zusammenwohnen. – Im Schwedischen gibt es das schöne Wort samlaga = zusammenliegen. Ungefähr denselben Gedanken drückt unser deutsches »begatten« aus, das in dem englischen together = zusammen weiterlebt. – Aus den Tiefen des Unbewußten stammt der deutsche Ausdruck Beischlaf. Er deutet eines der tiefsten Geheimnisse von Mann und Weib an, das, soweit mir bekannt ist, keine andre Sprache enthält. In den meisten Wörtern ist das Zusammengenießen der Lust betont, unser Wort huldigt dem Gedanken, daß der Mann im Verkehr zum wehrlosen, schutzbedürftigen Kinde wird, über dessen Schlaf die Geliebte wie eine Mutter wacht.

Wie fremd dieser Gedanke dem Bewußtsein geworden ist, beweisen nicht nur die alltäglichen Redensarten, in denen wir uns über Mann und Weib, starkes und schwaches Geschlecht, Gleichberechtigung usw. ergehen, es hat auch dazu geführt, daß ein Mann wie Michelangelo, gewiß ohne die Bosheit, die er malte, zu ahnen, in der Creazione della Donna, die ich früher erwähnte, dem Weibe den Charakter der Delila gibt, die sich von dem schlafenden kraftlosen Manne weg dem Inbegriff der Männlichkeit zuwendet. Das Weib ist von Natur aus zwiefach gerichtet, hin zum Manne und hin zum Kinde. Die Frau muß von Natur aus zwei Herren dienen, und bei keiner bleiben die Augenblicke aus, in denen sie den Mann für das Kind oder das Kind für den Mann verrät. Den einzigen Mittelweg, im Manne das erstgeborene Kind zu sehen, verfehlt sie nur allzuoft. Freilich gab ihr Natur eine besondere Kraft, solch 151 unterirdischen Konflikt ohne Schaden zu durchleben; sie sieht wie die Göttin der Gerechtigkeit nicht, was Recht und Unrecht ist. Die Frauen haben ein doppelzüngiges Gewissen.

Der leidenschaftliche Taumel, in dem die Geschlechter die Vereinigung suchen, verfehlt sein Ziel: das Individuum Mann-Weib zerfällt schon im Vereinigen, aber vom Manne haben sich Scharen von Söhnen abgespalten, die schöpferische Kraft in sich tragen. Wenn das Männliche längst gestorben ist, bleiben sie, um die harrende Braut zu suchen, und in diesem Übrigbleiben hat die deutsche Sprache ihr wichtigstes Wort gebildet, das Wort »Leben«.

Ich habe schon früher darauf hingewiesen, daß »leben« (engl. live, schwed. leva) mit dem Wort bleiben (beleiben – den Leib geben) eng verwandt ist, daß es dem griechischen liparein (λιπαρειν) nahe steht und ebenso dem lateinischen lippus = triefend.

Die idg. Wurzel zu lippus ist leip = fette Schmiere; ai. liptah = klebend, lepah = Schmutz. Man sieht, daß die schicksalsschwere Verklammerung von Geschlechtsliebe und Beflecken, von Samen und Schmutz schon den sprachbildenden Gewalten des Unbewußten bekannt und zwingend bekannt war. – Das gr. lipos (λιπος) = Fett und liparos (λιπαρος) = fett führen zu dem Wort Leber, lat. jecur, gr. hepar (ἡπαρ), was für die ärztliche Betrachtung dieses Organs wichtig ist. Die Abneigung gegen Fett, die Idee des Unbekömmlichen von Fett beruht auf einer Identifikation mit Samen; Flecken in der Wäsche.

Das deutsche »Kleben« gehört in diesen Wortkreis. In dem Klebenden steckt das bleibende Leben; der scheinbare Abscheu des Weibes vor der Berührung mit dem männlichen Samen (Befleckung, Übelkeit bei dem Geruch der Edelkastanienblüte) ist in Wahrheit Scheu, das heilige bleibende Leben zu berühren, sie beruht auf der gleichen unbewußten Verehrung, die dem Weibe es unmöglich macht, selbst in der Notwehr der Vergewaltigung die Hoden des Mannes zu zerdrücken, was sie sofort von ihrem Gegner befreien würde. – Die Wurzel leib- ist nach Walde vermutlich eine Erweiterung von idg. lei-, das sich in dem lat. lino = beschmieren erhalten hat. Eine gleichlautende Wurzel bedeutet »sich anschmiegen« (nhd. lind, bayr. len = weich usw.). Walde bezieht darauf, 152 allerdings zögernd, lat. limax = Schnecke (doppelgeschlechtliches Symbol), limus = Schlamm, nhd. Schleim, Lehm (Erschaffung Adams – humus – homo) usw., auch lubricus = schlüpfrig. Ebenso »libo = ausgießen, opfern, aber auch von etwas kosten, genießen« bringt Walde in diesen Zusammenhang. Er fügt hinzu, es sei fast unmöglich, alle vorliegenden Bedeutungen unter einen Hut zu bringen. Sobald man die Geschlechtsverhältnisse mitbetrachtet, besteht keine Schwierigkeit mehr. Ja, es drängt sich dann die Vermutung auf, daß auch das lateinische Wort libet = es gefällt in diese Reihe gehört, das heißt zu dem Begriff und Wort »leben«. Mit libet, libido ist aber unser deutsches Liebe (engl. love) auf das engste verwandt.

Mit den Wörtern »Liebe, lieben« gerät man in ein Gebiet der Begriffsverwirrung, wie es schlimmer, gefährlicher kaum zu denken ist. Am besten ist es, sich um nichts zu kümmern, was nicht klar zu dem Worte gehört. Freilich auch dann wird man kaum je imstande sein, dem Wort seinen einfachen Sinn wiederzugeben. Ein tief im Menschlichen verwurzelter Trieb, die Gier, hat sich in das Wort eingedrängt und hat es verwandelt, genau wie die Gier die Wörter »Gold« (ursprünglich Glut, Morgengrauen, lat. aurum – aurora, gr. chrysos [χρυσος] = grau) und »Geld« (ursprünglich Opfergabe) entstellt hat. Die Wurzel des Worts »lieben« (engl. love) ist idg. leubh-, und von dieser Wurzel stammen weiter die Wörter »Lob«, »geloben«, »glauben«. Der Sinn ist ohne Bedenken mit dem Wort gefallen (lat. libet) zusammenzubringen. Ge-fallen ist mit etwas anderm zusammenfallen (ndl. medfallen. Kluge, der die Silbe ge- mit zusammen übersetzt, deutet das Wort gefallen als zufallen; ein Zeichen, wie Verdrängtes wirkt). Der Begriff Liebe steht in engster Beziehung zu dem griechischen Wort Symbol, ja ich glaube, daß es dasselbe ist. Wir lieben, was symbolisch mit uns ist, was wir selbst sind. Wie sollte es auch anders sein? Das bekannte Wort Christi, das, wie es scheint, der Sinn und Ausdruck der modernen europäischen Christlichkeit geworden ist: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!«, drückt das in dem »wie« (gr. hos, ὡς) deutlich aus. Wir können nur lieben, was als Symbol, als Geglaubtes und vom tiefsten Menschlichen Erlaubtes 153 zu uns gehört. Das ist die Wahrheit. Wenigstens ist es meine Wahrheit.

Das griechische symballein (συμβαλλειν) bedeutet aber nicht nur zusammenfallen, sondern auch zusammenwerfen, bezeichnet also eine Handlung des Ichs (lieben – belieben sind analog dazu). Hier scheint mir die Wurzel des Übels zu liegen. Das Gefallen, Lieben ist eine klare Tätigkeit des Es, das Gefallenwollen, Belieben, Begehren trägt die Verkleidung des Ichs. Die menschliche Welt des Symbols wird stets durch die ebenso menschliche Welt des Denkens, des Dünkels, des »Scheinenmachens als ob« verdunkelt. So ist es mit der Wurzel leubh- gegangen, die neben »libet = es gefällt« und »lieben, geloben, glauben« die Wörter »libido = Begierde« und »verliebt« hervorgebracht hat. »Liebe« mag ursprünglich dem menschlichen »individuum« gegolten haben, während der »sexus« des »individuums« für seine Beziehung zur »persona« des Menschen den Ausdruck »freien« gebrauchte.

Die griechische Sprache scheint die Verdunklung der Wörter für Liebe (philein, φιλειν; erasthai, ερασϑαι) in der Zeit des entstehenden Christentums, als es darauf ankam, statt der »persona« wieder das »individuum« anzuerkennen, so tief empfunden zu haben, daß sie das Wort agapan (αγαπαν) = lieben in die Ausdrucksweise der Evangelien aufnahm; agapan ist zusammengefügt aus megas (μεγας) = groß und paomai (παομαι, Wurzel pah-) = nehmen. Es ist nicht leicht zu übersetzen, am ehesten etwa mit »etwas mit Ehrfurcht in sich aufnehmen«. Ich erwähne es, weil auch in diesem Versuch, das Wort dem menschlichen »individuum« anzupassen, der »sexus« hineinspukt, denn pah- gehört zu der großen Gruppe puh-, fuh-, die gewiß im höchsten Grade nicht bloß sexuell, sondern genital betont ist.

Trotz dieser unlösbaren Verquickung des »sexus« und des »individuums« auch in den Wörtern muß man versuchen, zu bestimmten Zwecken eine Unterscheidung zwischen Liebe und Liebe zu machen, und so sei es denn gesagt, daß sie in ihren tausendfachen Formen bald mehr von der Symbolwelt, der des Es, bald mehr von der Welt des Dünkels, des Ichs aus wirkt. Die eine Liebe steht nicht über der andern und die andre nicht über der einen. Man 154 kann Menschliches betrachten, ohne in den Streit über Wert und Unwert des Geschlechtlichen, des Sinnlichen, einzutreten, ja, für mein Meinen ist es schwer, nur die eine Seite zu betrachten.

Unter Umständen erzählen Bilder mehr von der geheimnisvollen Vermischung des Individuums und der Person, der agape und der philia, der irdischen und himmlischen Liebe, um dies seltsam wenig sagende Wort zu gebrauchen, als Worte.

Wer das Unbewußte des Bildes ins Auge faßt, erfährt zuzeiten Dinge, die da sind und dem Leben angehören, obwohl sie kaum je erwähnt werden. Daß Liebe und Leidenschaft zwei ganz verschiedene Dinge sind, spricht man so hin, aber man bedenkt nicht, daß die Leidenschaft so gut wie nichts mit der Liebe zu tun hat, daß sie von ganz andern Dingen geweckt wird als von der Gegenwart des geliebten Objekts. Man wundert sich, daß der Mensch das nicht wahrhaben will, obwohl es offen zutage liegt. Selbst das verliebte Paar ist nur selten leidenschaftlich, seine Liebe ist ruhiges Gleichgewicht; wenn dieses Gleichgewicht zugunsten der Leidenschaft verlorengeht, so wirken geheime Kräfte, die wohl verdienen, heilig genannt zu werden, die jedenfalls so unfaßbar sind, daß dem Menschen nur übrig bleibt, sich mit der Anerkennung des Magischen zu begnügen. Mitunter zuckt ein Lichtstrahl auf und gestattet gerade so viel zu sehen, um das Dunkel des Magischen noch stärker zu empfinden. Menzel hat einmal das Arbeitszimmer Friedrichs des Großen gemalt (Taf. 12): Durch die geöffnete Flügeltür sieht man auf den Schreibtisch, auf das Sofa und zwei Stühle. Das Bild ladet zur Liebe ein, verführt unmerklich zu zartestem Liebesrausch: Alles ist bereit, das Weibessymbol des Schreibtisches umgeben von der Dreizahl harrt der zärtlichen Hand des Eros, der in der tiefen, warmen Stille des Raums leise dem Betrachter die Reize der Geliebten vorzaubert. Und die offenen Flügel der Türe flüstern dem Mädchen zu, was geschehen kann, was sie ersehnen soll.

Oder man sieht den Treppenaufgang zu Sanssouci von demselben Künstler. Drei Bäume deuten stumm den Sinn der Stufen zur Liebe, den Sinn davon, daß das Unbewußte gerade diese Zusammenstellung wählte, wo Liebesgötter im Spiel der Erotik das Abbild der Vereinigung umrahmen. Gewiß, man kann sich das 155 alles auch anders zurechtlegen, muß es anders deuten, da ist kein Zweifel. Aber das hindert nicht, daß tausendfach im Leben Bäume, Treppen und zärtliches Lieben zwei Menschen innig vereinigen, die eben noch weit in ihren Gedanken und Wünschen voneinander getrennt waren. – So nennt Menzel ein andres Bildchen »Reisepläne« (Taf. 13), aber das Unbewußte erzählt, wohin die Reise führen wird. Ein Weib schreitet die Treppe hinauf, den aufgespannten Sonnenschirm gen Boden richtend und leicht ihr Kleid raffend. Noch wissen die beiden Männer am Tisch nichts von ihr, aber ein leises Ahnen lebt in ihnen: der eine steht halb aufrecht, und der Hund hinter ihm lugt nach der Dame aus. Beide Männer rauchen, sie sind liebesreif, und dem halb stehenden gegenüber ist eine große Vase mit einer Pflanze, und um die Vase ringelt es sich wie eine Schlange. Zwischen ihr und dem Manne liegt der Reiseplan, mit einer Dose beschwert. Seitwärts von ihm sieht man eine leere Flasche, eine leere Tasse und einen Teelöffel darauf, alles Dinge, die reden. Und was sie reden, erkennt man an den seitwärts stehenden beiden Damen, die uns den Rücken zukehren, während über den Männern sich scharf betont der Baum ausbreitet. Satte Liebe blickt nicht einmal nach dem neu erwachenden Begehren. Reisepläne? Wer weiß, wohin die Reise geht?

Tausend Dinge, die nur das Unbewußte weiß, füllen die Bilder der Maler an, wie und was sie wirken, weiß niemand. Nur in glücklichen erregten Momenten antwortet der Mensch dem Bilde in Empfindungen, deren Quelle er nicht kennt und deren Quelle ihm gerade im Augenblick der Erregung gleichgültig ist. Der Kunstliebhaber aber sucht – mit Recht, denn die Erkenntnis des Unbewußten würde ihn nur verwirren – andres als das geheimnisvolle Helldunkel unbewußter Malerei.

Von Millets Hand gibt es ein Bild, »L'Amour Vainqueur« genannt. Drei kleine Knaben – wieder die Dreizahl – zerren ein halbnacktes Mädchen, das nur wenig widerstrebend ihr Gewand über den Hüften festzuhalten sucht, vorwärts. Es wäre überflüssig, das Bild zu erwähnen, da seine ungewollte Symbolik offen zutage liegt. Aber es ist noch ein vierter Knabe da, der das Mädchen von hinten schiebt. Das ist etwas Neues: was hinter uns geschieht, ist 156 Vergangenheit. Es ist kaum anzunehmen, daß der Maler gewußt hat, was er mit diesem Zusatz darstellt, nämlich die Grundwahrheit, daß es niemals eine erste Begierde, eine erste Liebe gibt, sondern daß den Menschen neben der Hoffnung auf Lust auch die Erinnerung an früher genossene Lust entflammt und widerstandslos macht, neben der Zukunft auch die Vergangenheit. Mythus und Kunst kannten schon längst vor der Einführung der Psychoanalyse die seltsame Tatsache, daß all unser Lieben Wiederholung früheren Liebens der Kindheit ist, und daß es gerade die Nebenumstände sind, die wiederholt werden. Das ist der tiefste Grund, warum Liebesgötter als kleine Knaben dargestellt werden. Millet betont, wohl unbewußt, diesen Zusammenhang durch den schiebenden Knaben. – Über die Tatsache dieses Wiederholungszwangs läßt sich nicht streiten; aber es scheint wenig bekannt zu sein, wie tief Vergangenes organische Gegenwart beeinflußt. Mütter pflegen am Hochzeitstage der Tochter die Brautnacht in Gedanken mitzuerleben, ihr Miterleben wird aber nicht selten körperlich, sie bezeugen in solcher Nacht durch schmerzhafte Enge der Scheide und durch Blutung die neue Defloration, die sich an ihnen wiederholt. Weit mächtiger wirkt ein andres Ereignis im Leben der Tochter auf das Organische der Mutter ein, das ist die Entbindung der Tochter. Oft treten bei solcher Gelegenheit Kreuzschmerzen im Körper der Großmutter auf, ja deutliche Nachahmungen von Wehen, und auch da kommt es nicht selten zu Blutungen.

In der Neuen Pinakothek zu München hängt ein Menzelsches Bild mit dem auffallenden Namen »Beim Lampenlicht« (Taf. 14). Die Bezeichnung fällt auf, weil die Hauptfigur des Bildes, ein junges Mädchen, nicht vom Lampenlicht beleuchtet ist, sondern von der brennenden Kerze in seiner Hand. Die Lampe erhellt den Innenraum des Zimmers und ihr Licht trifft die Gegenfigur des Mädchens, eine Frau, die klöppelt. Der, der den Namen des Bildes erfunden hat – wahrscheinlich ist es wohl Menzel selber gewesen –, muß wohl bewußt oder unbewußt gefühlt haben, daß man beim Betrachten des Gemäldes besser von der Lampe und dem, was sie beleuchtet, ausgeht. Lampe und Licht sind in Gegensatz gebracht, sie bedeuten etwas. Das Licht einer Lampe ist gebändigt, geordnet, 157 die Kerze des Mädchens flackert; sie würde es nicht tun, wenn sie Zylinder und Schirm hätte. Was gemeint ist, erzählt der Amor, der zwischen Frau und Mädchen von der Decke herabhängt: die beiden Gestalten stehen unter der Herrschaft der Liebe. Aber während die Frau an der Lampe ruhig an der heimischen Arbeit sitzt – der Klöppel geht stetig durch die Maschen der Fäden, ein unverkennbares Sinnbild ehelichen Zusammenwirkens, das durch Lampenschirm und Zylinder, weiblich und männlich, noch betont wird –, also ihren Liebesverkehr durch die Ehe geregelt hat, steht das Mädchen an den Pfosten der weitgeöffneten Flügeltür, sehnsüchtig in erträumte Zukunft blickend. Sie hält die Kerze vor sich, erleuchtet sich das, was außerhalb des wohnlichen Zimmers in der Zukunft ist, und in Erwartung des Lichts, das ihr Liebesleben schenken wird, lehnt sie an dem starren Pfosten in der geöffneten Tür. Wer wüßte es nicht, daß das verlangende Weib die Türen der Zimmer offen stehen läßt?

 

Ich breche hier Meinungsäußerungen über das Problem der Liebe ab. Mir kam es darauf an, die Verschränkung der Symbolwelt mit der persönlichen Welt in grelles Licht zu stellen. Und zu demselben Zweck wage ich eine etymologische Vermutung auszusprechen, die vielleicht rasch vom Kritiker vernichtet werden kann.

Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß die lateinischen Wörter »vita = Leben« und »vivere = leben« zu der Wortgruppe vir = Mann und vis = Kraft gehören, und möchte dem auch gleich die griechischen Wörter bios (βιος) = Leben und beiomai (βειομαι) = leben, bia (βια) = Gewalt beifügen. Einen andern Beweis als den der Klangähnlichkeit und der Symbolverwandtschaft zwischen Leben und Liebe, des »Stirb und werde« habe ich nicht.

Dagegen muß ich noch einmal auf die Gleichung »Liebe und Tod« zurückgreifen. Kluge bringt das Wort Tod (engl. death, die = sterben, schwed. dö) in Zusammenhang mit dem air. Wort duine = Mensch, Sterblicher und mit dem lateinischen fumus = Leichenbegängnis, Bestattung. Auch Walde gibt diese Möglichkeit der Erklärung zu. Gerade die Bestattung ist aber – wenigstens für das moderne Denken – ein symbolischer Liebesakt, 158 ein Schlafen im Schoß der Mutter Erde bis zur Wiedergeburt. Prellwitz scheint unbewußt denselben Erklärungsversuch zu machen, er führt das griechische Wort thanatos (ϑανατος) auf ai. dhvanayat = hüllte ein, an. dvina = schwinden und die Wurzel dhven = sich verhüllen zurück. Ich brauche nicht näher darauf einzugehen, daß Hülle, sich verhüllen Symbole des empfangenden Weiblichen sind.

Die weitest verbreitete idg. Wortwurzel für den Begriff »Sterben, Tod« ist mor, die im deutschen Mord erhalten ist (lat. mors = Tod, morior = sterben, mordeo = beißen, »ins Gras beißen«). In ihr gibt sich nochmals die Verwandtschaft von Tod und Liebe kund, da sie mit idg. mer-, merax = sterben, zerreiben zusammenhängt; lat. marco = welk, schlaff sein; nhd. »mürbe«, »morsch« sind verwandt. Auch das lateinische Wort mortarium, nhd. Mörser, dessen Beziehung zum Geschlechtlichen ich früher besprochen habe, gehört hierher, ebenso morbus = Krankheit. Im Griechischen ist die Ableitung maraino (μαραινω) = aufreiben, marasmos (μαρασμος) = Verwelken und marnamai (μαρναμαι) = kämpfen. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang das griechische Wort stergio (στεργιω) = lieben zu sein. Über seine Abstammung habe ich nichts finden können, es erinnert aber im Klang so stark an sterben, daß ich es dem anreihe, zumal das ähnlich lautende stereos (στερεος) = starr diese Meinung stützt. Dann würde auch sterilis = unfruchtbar in denselben Bedeutungskreis treten (nhd. Stärke = junge Kuh). In dem Begriff Starrheit liegt beides: Liebesleben und Liebessterben (lebendige Erektion mit den Wörtern stark, schwed. stor = groß, ahd. stoeren = ragen, niedd. und schwed. stärt = Schwanz, andrerseits die noch dauernde Starre des Gliedes nach dem Samenerguß vor dem Welkwerden der Kraft, die unfruchtbare Starre, Todesstarre). – Wahrscheinlich gehören hierher lat. stercus = Kot, gr. sterganos (στεργανος) = Kot. Ob das französische merde = Scheiße zu dem vorhin erwähnten marieo = merax gehört, entzieht sich meiner Kenntnis.

In dem Zusammenhang Liebe-Tod, Stirb-Werde erwähne ich noch die Todeszahl Dreizehn. Man erzählt, daß die Pythagoreer die Eins als Zahl des Weibes und die Drei als die Vereinigung der 159 Weib-Eins und der Mann-Zwei auffaßten, dann ist in der Dreizehn das Zwischenglied der Zwei, der Mann gestorben. Unsrer eigenen Zeit liegt am nächsten, die Eins als Vater und die Drei als Symbol des Sohnes aufzufassen, dann ist die Zwei zwischen Eins und Drei der Schoß des Weibes, in den der sterbende Mann fruchtbringende Saat schüttet, die Dreizehn ist Todes- und Auferstehungssymbol, die Wahrheit des Stirb und Werde steht so inmitten der Fruchtbarkeit der Dreizehn. Zu demselben Schluß kommt man, wenn man die Eins als ruhendes Glied, die Zwei als erigiertes, die Drei als erschlafftes auffaßt. In der europäischen Kunst ist die Zahl Dreizehn vor allem in den Darstellungen des Abendmahls verwendet, und auf das Abendmahl ist wohl auch die besondere Angst vor der Dreizehn bei Tisch zurückzuführen. Bei diesem Abendmahl sind zwei Personen gegenwärtig, die dem Tode verfallen sind, Judas und Christus. Ursprünglich scheint das Unbewußte der Kunst die Idee bevorzugt zu haben, daß Judas sterben muß; wenigstens ist Judas in den meisten bedeutenden Gemälden bis zu dem Bilde des Leonardo getrennt von den andern Tischgenossen gemalt, er sitzt allein an der andern Seite des Tisches: nur das Todessymbol ist gegeben, die Bilder zeigen kein Bekenntnis zur Auferstehung, jede Hoffnung ist ausgeschlossen. Da ein jeder Tag uns lehrt, daß wir so wie alle Menschen die Judasnatur haben, daß das Verraten des Nächsten, des über alles geliebten und verehrten Nächsten unvermeidliche menschliche Eigenschaft ist, die in jedem Augenblick unsres Lebens unser Denken, Fühlen, Handeln mitbestimmt, tritt bei einem jeden in diesen oder jenen Augenblicken der schamvolle, verzweifelte Wunsch auf, diesen Judas in uns in Ewigkeit sterben zu lassen, so zu töten, daß er nie wieder lebendig wird. Weil Judas den Menschen repräsentiert, in jeder Faser uns eng verwandt ist, zieht er uns an, genau so wie der Verbrecher, der Böse uns tiefer packt als der Gute, der Knecht des Gesetzes; denn wir sind alle Verbrecher, haben in uns die Möglichkeit, ja die Gier nach dem Leidenlassen des Nächsten. So ist denn die Isolierung des Judas auf den Abendmahlsbildern eine Folge der Zwienatur von Gut und Böse im Menschen und ein Versuch, dieser Zwienatur zugunsten dessen, was jeweilig gut genannt wird, 160 wenigstens im Symbol sich zu entziehen. Es hilft allerdings nicht das geringste, aber es ist nun einmal so, daß der Mensch eine Eins sein will, wollen muß, und daß er sich seine Tages- und Nacht-Natur wegzuphantasieren sucht, wegzudenken, wegzuhandeln.

In dem berühmtesten aller Abendmahlsbilder, in dem des Leonardo, ist Christus selbst der Todgeweihte, der Dreizehnte; wenn er das Prinzip des Guten ist, so prägt sich in dem Bilde, das noch jetzt, wo fast nichts mehr davon übrig ist, als ein Gipfel der Malerei gilt, der frevelhafte, aber jedem, der ehrlich mit sich selbst ist, wohlbekannte Wunsch aus, von Gewissensregungen frei zu werden, das Gute in uns zum Sterben zu bringen. Der Mut, die finsteren Tiefen des menschlichen Herzens darzustellen und zu bekennen, würde zu einem Teil die unvergleichliche Wirkung dieses Bildes auf Mit- und Nachwelt erklären. Unwillkürlich drängt sich dem Verfasser die Annahme auf, daß hier die Hauptursache zu finden ist, die den Künstler an der Vollendung des Bildes hinderte; man könnte es begreifen, daß Leonardo vor der Enthüllung des Mysteriums nicht bloß des christlichen Wesens, sondern alles Menschlichen zurückwich; ja man könnte fast annehmen, daß die Zerstörung des Bildes folgerichtig vom Unbewußten der Menschen erzwungen wurde: das schmachvolle Geheimnis vom Neid und Haß des Menschlichen gegen das Göttliche wird in diesem Bilde mit fast übermenschlicher Ironie enthüllt. »Wer töricht gnug sein volles Herz nicht wahrte, hat man von je gekreuzigt und verbrannt«, gilt nicht nur von der Gesinnung, die der Mensch seinem Nachbar gegenüber hat, es gilt auch unserm Verhalten gegen uns selbst: wir müssen unser volles Herz uns selber gegenüber wahren, dürfen nur bis zu einer bestimmten, engen Schranke unser Wesen uns selbst offenbaren. Wer diese Grenze überschreiten will, wird in sich den Christus lebendig erschauen, und diesen Christus, sich selbst, das Göttliche, wird er alsbald verleugnen und kreuzigen. Dem Menschen taugt einzig Tag und Nacht, der Irrtum; das Licht ist Gottes. In eindringlicher Weise, vielleicht mit vollem Bewußtsein, hat Leonardo dadurch, daß er statt des Judas den Christus als Dreizehnten malte, in dem Urphänomen des Sterbens zugleich das des Werdens gegeben, die zwölf Jünger sind alle in Gruppen 161 zu dreien zusammengefügt, zwölf ist viermal drei, drei ist der Mann, vier ist das Weib, viermal drei ist die Vereinigung und dreizehn der Tod und die Auferstehung, die Wiedergeburt, das Kind, die Ewigkeit. Daß der Kopf des Christus nie gemalt wurde, ist unbewußtes Symbol des Werdens, es liegt Zukunft im Unvollendeten. Das Sterben ist kein Ende, sondern Bedingung des Werdens. Stirb und werde! Man steht bei diesem Bilde, dessen Maler gewiß zu den menschlichsten Menschen zählte, wieder vor der Tatsache, daß der Wirklichkeitssinn des Unbewußten genau fühlte, man kann und darf das Gesicht des Christus nicht darstellen. Des Menschen Sohn ist Symbol und läßt sich als Individuum nicht malen. Christus hat kein Gesicht, es ist ein Irrtum, ihn zu malen. Den Juden ist nicht erlaubt, den Namen des Menschheitssymbols auszusprechen, und Faust sagt: »Wer darf ihn nennen und wer bekennen: ich glaub' ihn?«

Fast zur selben Zeit, als Leonardo sein Abendmahl schuf, entstand ein andres Werk aus der Tiefe des Unbewußten, das noch in voller Schönheit erhalten ist, die Pieta des Michelangelo. Es ist ein seltsames Bildwerk, seltsam, weil wohl niemand, der nicht die Zusammenhänge kennt, auf den Gedanken kommt, daß die junge schöne Frau Mutter des toten Mannes ist, der auf ihrem Schoß ruht. War es Schönheitsdurst, daß der Künstler die Mutter so darstellte? Es könnte auch anders bedingt sein. Aber um das begreiflich zu machen, muß der Verfasser erst den Standpunkt festlegen, von dem sich das Bildwerk in seiner Weise betrachten läßt.

Wenn man das Kreuz ansieht, mag es Leben gewinnen, dann ist es ein Mensch mit zur Umarmung ausgebreiteten Armen. An diesen liebesbereiten Menschen wird ein andrer, auch mit ausgebreiteten Armen, angeheftet; auch er ist liebesbereit. Aber weder das Kreuz kann umarmen – denn es ist fühlloses Holz – noch der Mensch, der daran hängt – denn er ist festgenagelt. Und er wendet dem Kreuz den Rücken zu. Das einzige, was geschehen kann, ist, daß der Mann stirbt. Nach seiner Auferstehung kann er die ganze Welt umarmend erlösen, das Kreuz fesselt ihn nicht mehr, nur die Wundmale, die bleiben. Das Kreuz dagegen verharrt in dem Zustand der Bereitwilligkeit und der Unfähigkeit, zu umarmen, fühllos, 162 leblos, unwahr; es war schon tot, ehe Christus daran starb, Christus, des Menschen Sohn. Was ist das Kreuz, durch das er, allzu eng daran genagelt, sterben muß, damit die Menschheit erlöst wird? Das Kreuz kann nur die Mutter sein. Im Deutschen nennen wir den Knochen, in den der Schmerz der Geburtswehen verlegt wird, das Kreuz; die Lateiner nannten ihn, längst ehe es Christen gab, os sacrum, den heiligen Knochen. Das Kreuz ist die Mutter, die den Sohn umarmen würde, wenn sie nicht Holz wäre, und an deren fühlloser Liebesgebärde der lebendige Sohn in Liebe angenagelt ist, damit er an dieser Liebe hinstirbt zur Auferstehung. So könnte es sein: des Menschen Sohn wird Erlöser, wenn er an dem Kreuze stirbt und wenn er nach der Kreuzabnahme in den Schoß der Erde gelegt wird zur Auferstehung.

Vielleicht bedrängten Michelangelos dunkelste Seele ähnliche Gefühle, als er den toten Körper des Gekreuzigten einem jungen Weibe auf die Knie legte. Diese Frau ist nicht traurig, sie ist resigniert: ihre Handbewegung sagt das.

Resignieren ist wieder und wieder unterzeichnen, mit seinem Signum versehen, daß man Mensch ist und nichts außerhalb des Menschlichen kennt, daß für uns nichts ist außer der Dreieinheit Mann-Weib-Kind.

Das Wort signum geht auf das Grundwort secare = schneiden zurück, geradeso wie das Wort sexus. Gäbe es wohl ein besseres Zeichen (signum) des Menschlichen als sein Schicksal, zugleich individuum und sexus zu sein, ein unteilbares Ganzes und ein Segment des ganzen Kreises der Welt? Das ist sein Schicksal, und dieses Schicksal mit freudiger Wehmut zu bejahen ist Menschenpflicht und Menschenstärke.

 


 


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