Georg Groddeck
Der Mensch als Symbol
Georg Groddeck

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Zum Begriff des Menschlichen gehört als dritter Bestandteil das Kindliche. Das deutsche Wort Kind ist, wie ich schon früher erwähnte, von der Wurzel gen, ken abgeleitet; es betont also das Entstehen und die Abstammung, führt nicht zu Merkmalen, die für uns wesentlich sein könnten. Ebenso bezeichnet das griechische Wort teknon (τεκνον) (Zusammenhang mit Degen?) nur das Erzeugen, Erzeugt- und Geborenwerden (tikto, τικτω = gebären, erzeugen). Im Lateinischen gehört in diese Zusammenhänge ein Plural liberi = die Kinder, ein Wort, das als die »Heranwachsenden« zu der indogermanischen Wurzel leudh- hervorkommen, wachsen gehört (got. liudan, ahd. liotan, nhd. Leute, ab. ljud = Volk, lat. liber, gr. eleutheros [ελευϑερος] = frei, auch der lateinische Gottesname Liber als Gott der Zeugung). Schon eher gibt das englische Wort child eine Beziehung zu dem Menschlichen, da es möglicherweise mit got. kilthei = Gebärmutter zusammenhängt. Dagegen führt das französische enfant mitten in die unterscheidenden Merkmale hinein, die das tägliche Leben für die Begriffe kindlich und erwachsen aufstellt. Enfant ist spätlateinisch infans (in = Verneinung, fari = sprechen), das Wesen, das nicht spricht (unmündig). Damit ist eine bestimmte zeitliche Grenze, zwar nicht für den Gebrauch, aber für den Begriff gegeben.

Infans: ein Wesen, das nicht sprechen kann, so eine Art Tier, ein Wurm, eine nette Pflanze oder gar ein Püppchen, jedenfalls ein Wesen, das nicht Recht noch Unrecht (fas und nefas von fari) kennt, dessen persönlichen Wert noch keine fama (Gerücht, Ruhm) in die Welt posaunt, das keine confessio (fateor = bekennen), kein Glaubensbekenntnis, ja nicht einmal einen Glauben hat, das 86 ebensowenig von dem fatum (fari), dem allmächtigen Schicksal etwas weiß wie von dem allmächtigen Gott, das keine fabula mit unvermeidlicher Moral ersinnt, sondern nur babbelt (schwed. babbla, nhd. babbeln, engl. baby, allgemein baba, Urwurzel von fari und infans bha- sprechen) und bampft und pampft = essen (dieselbe Wurzel bha-), ein infans, ein Wesen, das nicht spricht, das heißt das nicht denkt; denn denken, so höre ich, tut man in Worten (en arche en ho logos, εν αρχη ην ὁ λογος = Im Anfang war das Wort, Theos en ho logos, ϑεος ην ὁ λογος = Gott war das Wort, Gott sprach: Es werde Licht und es ward Licht).

Nein, das Kind denkt nicht, es dünkt sich auch nicht, hat keinen Dünkel, wovon sich ja das Wort denken herleitet, es ist arrhetos (αρῥητος) = irrational (eigentlich unaussprechlich, unfähig zu sprechen, von gr. eiro, ειρω = sprechen, fragen; es gibt noch ein andres eiro, das angeblich eine andre Wurzel ser- lat. sero hat und aneinanderreihen heißt), während das Nicht-Kind rhetos (ῥητος) = rational und rhetor (ῥητωρ) = Redner ist. Aber das Irrationale hat auch seinen Sinn in der Welt, ja die hohe Wissenschaft – nicht die Gelehrsamkeit – hat von jeher das Irrationale als das Tiefste des Lebens und Webens gekannt und ehrfürchtig staunend geahnt.

Nein, das irrationale Kind infans kann nicht sprechen (eiro), aber es besitzt von Natur eine Eigenschaft, deren Bezeichnung von dem Wort eiro herkommt: eironeia (ειρωνεια) = Ironie. Das infans ist ein Schalk (eiron, ειρων), der etwas scherzhaft äußert, aber es spöttisch meint: es hat für den weisen Mann, mit dem es zuerst zu tun bekommt, ein Lallwort erfunden, das lautet: Papa – Babbler, Pappler. »Du redest soviel, gib mir lieber zu essen«, meint infans. Und wahrhaftig, die Gelehrsamkeit ist auf das schalkhafte Lallen des Kindes hereingefallen, sie glaubt heutigentages noch, daß infans beim Anblick des Vaters – pater, pater (πατηρ), père, father, Pabst, Pfaff, Patriarch, alles kommt von diesem Spottwort her –, daß infans den weisen Mann Papa nennt, weil er für Papp sorgt; weil er dem infans »Essen, Speise« bedeutet. – Und wo bleibt die Mama? Hat man je gehört, daß ein Kind an der papilla (Brustwarze des Mannes, leere Brustwarze) gesogen hat oder 87 bevorzugt es die mammilla der Mutterbrust? Komisch; Hybris, Geschwollensein des Mannes, der denkt, des Rhetors, des fatuus (von fari) = Narr.

Dem griechischen eiro entspricht das lateinische verbum, auf deutsch Wort, von dem Kluge behauptet, es sei mit verbum eng verwandt. Die Annahme, daß das gesprochene Wort schöpferisch wirke, scheint sehr alt zu sein, wenigstens nimmt die christlich-jüdische Kulturwelt das an, wie aus den Kapiteln der Genesis und des Johannes-Evangeliums hervorgeht. Seitdem die Bibel nicht mehr Grundlage alles Forschens ist, hat man eine neue Auszeichnung für das Wort gefunden: man spricht von der Magie des Worts. Angeblich stammt die Bezeichnung Magie aus dem chaldäischen Kulturkreis und es scheint etwas gemeint zu sein, was unserm Zaubern entspricht; Zaubern aber wiederum soll sich auf das geschriebene Wort beziehen (Runen). Jedenfalls liegen in dem Wort Kräfte – auch im Namen, Vor- und Zunamen –, die im Leben eine bedeutende Rolle spielen. Waldes Lexikon reibt dies den Ärzten kräftig unter die Nase, wenn es bei dem Wort verbum das ab. vraib = Arzt, Zauberer, Hexenmeister erwähnt. Allerdings steht gleich daneben ein andres ab. Wort vräka = Geschwätz; man lasse sich gewarnt sein.

Nach alledem könnte man auf den Gedanken kommen, daß infans weder Schöpfer noch Zauberer ist. Das wäre ein dummer Gedanke. Denn wer sollte wohl schöpferisch tätig sein, wenn es das infans nicht ist, das alles Menschliche, Leib und Seele, Hirn und Herz, Blut und Säfte erschafft. Wer kann so zaubern wie das Kind, nicht mit Worten, nicht mit Runen, aber durch sein bloßes Dasein?

Die Griechen haben von eiro abgeleitet ein Wort eirene (ειρηνη); wir übersetzen es mit »Frieden«, aber dabei geht das Charakteristische des Ausdrucks verloren. Dem Griechen war Frieden Geschwätz, wie sie überhaupt Freude daran fanden, das Leben zu verschwatzen und zu zerschwatzen. (Als Darius seine Gesandten nach Art und Wesen der Athener fragte, antworteten sie: »Sie treiben sich auf dem Markt herum und schwatzen = agorazusi, αγοραζουσι.«) – Die Römer fügen in ihrem Wort pax (papa, pater, 88 fari) der Bedeutung eirene »Gerede« gar noch den Fraß hinzu (pascor = weiden). Da kann der Germane nichts andres tun als pah sagen – ph –, das verächtliche Lallwort des infans für den Brot bringenden Babbler Vater (»mh« = süße Milch, ma – mamma). Denn dem Germanen ist Friede (Freiheit, freien, Freundschaft) Folge und Ableitung von fri = lieben (germ. frija = lieb, geliebt, angs. fréod = Liebe, fréobeam = Kind, got. frijôn = lieben. Vielleicht hat das römische Wort liberi = Kinder doch etwas mit dem Begriff der Freiheit zu tun. – Nur Kinder sind frei vom Sittengesetz).

Eirene, pax? Nein, Friede. Das lallende Kind ist Friede. »Ehre Gott in der Höhe, Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« In seiner Nähe geht die Welt auf Zehenspitzen, ist leise und lächelt.

Man kann es dem Magister Faust nicht verdenken, wenn er das Wort so hoch unmöglich schätzen kann. Eher könnte man annehmen, daß das Wort, die Sprache Mittel des Unbewußten sind, die Wahrheit, das Wesen der Dinge zu verschleiern, daß gerade die Eigenschaft des erwachsenen Menschen, in Worten zu denken, das Hindernis der Erkenntnis ist. Tatsache ist und bleibt es, daß alles Wesentliche des Menschen im arrhetos, dem Unsagbaren, Irrationalen vor sich geht, daß auch die Tat nicht der Anfang sein kann – Tat hängt zusammen mit der Wurzel dhe – setzen, stellen; lat. facio, gr. tithemi (τιϑημι) –, denn setzen, stellen ist unlösbar mit dem Begriff des Bewußten, des Ichs verbunden. Das Ich ist aber eine Fiktion, ein Irrtum oder um es anders auszudrücken, eine Maske, hinter der sich das Werden und Sein, das Es verbirgt. Und das Werdende ist eben das Kind; je mehr infans es ist, um so werdender ist es, um so näher der Wahrheit. Spaßhaft ist, daß die Grammatik durch den Gebrauch des Ausdrucks »verbum« sagen (Wort) und tun (Tat) in eins verschmilzt und so die Frage nach dem Anfang ganz verdunkelt. Die Philosophie macht es ebenso mit dem Ausdruck Logik.

Das Wort »wahr«, das im Leben und Streben so große Bedeutung hat, während es doch ohne weiteres klar ist, daß es für uns nur den Begriff »menschenwahr« gibt, Wahrheit mit dem Zusatz des 89 Menschlichen, irrende Wahrheit, wahres Irren, das Wort wahr (lat. verus) macht auch den Etymologen zu schaffen. Kluge bringt es kurzerhand und ohne sich um die gelehrten Gegenbeweise zu kümmern, mit der Wurzel wesro, wes zusammen, mit Wesen, sein. Walde dagegen gibt ihm den Sinn »vertrauensvolle, freundliche Hingebung«; allerdings muß man lange bei ihm suchen (unter dem Stichwort severus steht es), ehe man das herausbekommt. Beides scheint mir, sobald man das Werden mit in Betracht zieht, also das Kindlich-Menschliche, zusammenzugehören. Das Kind ist Symbol des Werdens und Wesens so gut wie des Liebens (freundliche Hingabe).

Wenn ich Wesen mit Werden und Sein zusammenbringe und gar mit Kind, dessen Wortabstammung von gen an früherer Stelle hervorgehoben ist, so treibe ich – in sehr unvollkommener Weise – das, was die Wissenschaft Volksetymologie nennt, ohne daß sie ahnt, wie arg sie sich selbst mit dieser Bezeichnung verspottet. Die Gelehrsamkeit denkt nicht daran, Wesen und Werden für verwandt zu halten oder gar verus und verbum mit werden in einem Atem zu nennen. Werden ist für die Etymologie gleich lat. vertere = wenden, drehen. Sie weiß nicht, was sie damit sagt. Sie denkt nicht daran, daß erst durch das Drehen, Wenden des Kindes bei der Geburt aus der Lage mit hängendem Kopf in die königliche (rex = König, regere = aufrichten) Stellung mit dem Kopf nach oben die Welt entsteht, wird, die Welt dessen, den wir Mensch nennen, das Wesen außerhalb des Mutterleibes. Ohne diese Wendung, die eine Grundlage für die menschliche Eigenschaft der Ambivalenz, des Doppellebens und der Doppelerkenntnis ist, gäbe es Menschliches überhaupt nicht, sondern wir würden irgend etwas andres als »wissend« sein. Ich habe früher schon einmal auf die Parallele zwischen dem Ptolomäischen und Kopernikanischen System und der Einstellung des Kindes im Mutterleib und außerhalb des Mutterleibes hingewiesen, auf die mich Egenolf von Roeder aufmerksam machte. Es würde sich der Mühe lohnen, die primitive Denkweise von Menschen zu untersuchen, die in Fuß- oder Steißlage zur Welt kommen, namentlich ihre ambivalente Einstellung.

90 Die Wurzelverwandtschaft der beiden Wörter Kind und König habe ich früher erwähnt. Die Geschichte sowohl wie das tägliche Leben lehren deutlich, daß das Wesentliche am König Kind ist; je mehr er durch sein bloßes Dasein wirkt, je mehr er arrhetos ist, um so größer ist seine Wirkung, um so mehr ist er König. König Friedrichs des Großen Wort, er sei der erste Diener des Staates, ist falsch und seine eigene Geschichte beweist, daß er erst König als Alter Fritz wurde, als er das Reden und Philosophieren aufgegeben hatte und nur noch schweigsam, wunsch- und hoffnungslos da war, als er sich innerlich zum Kindsein bekannte.

Dicht neben den Wörtern Kind – König stehen zwei andre: Können und Kunde (Kenntnis). Die Überhebung des Erwachsenen nimmt an, das Kind könne nichts, es müsse alles erst lernen. Aber abgesehen davon, daß es den Erwachsenen in seine Dienste zwingt, was doch immerhin ein großes Können voraussetzt und was uns nur mit Mühe zuweilen gelingt, stellt es sich Probleme und löst sie mit vollendeter Genauigkeit, die wir Älteren nur kümmerlich bewältigen und die wir gering achten und in unser Unbewußtes verdrängen, weil wir sie nicht so lösen können wie das Kind. Wann hätten wir je ein Auge aufgebaut? Allenfalls können wir es erhalten, wie es vom Kinde gebaut ist. Oder gar ein Gehirn? Man sollte das Können des Kindes (Fötus, Embryo, befruchtetes Ei) sich täglich wenigstens einmal vor Augen führen; dann würde man allmählich einsehen, was das Kindliche ist, man würde froh sein, Kindliches zu besitzen und endlich ein neues Wort an Stelle des dummdreisten »infantil, Infantilismus« erfinden. In jedem Menschen ist das Infantile, Gott sei Dank. Anders kann er nicht bestehen, viel weniger etwas leisten. Die Bedeutung eines Menschen hängt wesentlich davon ab, wieviel Kindliches, Infantiles er sich in sein späteres, langsam verdummendes Leben gerettet hat.

Was vom Können gilt, gilt auch von Kunde. Das Kind kennt viel mehr als der Erwachsene. Das Unbewußte der Wissenschaft meint das und nichts andres, wenn es den Ausdruck »Gen« gebraucht. Denn »Gen« ist ein naher Verwandter von Gnosis, knowledge, Erkenntnis. Ja, in den Tibetanerklöstern scheint es Menschen zu geben, die diese Kenntnisse des Kindes bewußt und 91 erfolgreich in sich wieder auferwecken und pflegen, und die mittels dieser Kunde und Kenntnis sogenannte physiologische und psychologische Grundgesetze erschüttern, die beweisen, daß unsre Wissenschaft vom Menschen auf einem wackligen und viel zu schmalen Fundament aufgebaut ist.

Das Wort infans spricht dem Kinde, dessen Altersgrenze es auf zwei bis drei Jahre setzt, die Fähigkeit des fari ab, des Sprechens mit Wörtern. Sonstige Formen des Sprechens durch Ausdruck, Bewegung, Stimmung und Stimme, durch Zeigen, Blick, Aufhorchen, Nachahmung, Krankheit stehen dem infans zur Verfügung. Alle diese Arten des Sprechens konnte der Lateiner eher in dem Wort dicere = sagen und in seinen Ableitungen zusammenfassen, da dicere in sich das Zeigen enthält. Im Griechischen entspricht dem dicere das Wort phemi (φημι) = sprechen, das mit phaino (φαινω) = zeigen, phaos (φαος) = Licht, phone (φωνη) = Stimme zusammenhängt. Die Wörter lat. vox, gr. ops (οψ) = Stimme beschränken das Gebiet mehr, schließen aber das babbelnde Kind nicht aus. Ich erwähne es hier, weil sowohl phaino – phemi wie ops zu den sprechenden Augen hinführen, die in der Ophthalmologie eine große Rolle spielen. Im Schwedischen lautet das entsprechende Wort für Sprache tal (ndl. taal). Daß tal ursprünglich mehr umfaßt als das Sprechen mit Wörtern, geht aus seinen mehrfachen Bedeutungen und aus denen des Verbums tala om hervor, noch deutlicher wird es, wenn man das verwandte englische tale = Erzählung, to tell = erzählen, sprechen, talk = Gespräch und das deutsche Zahl, Erzählung hinzuzieht. Das Erzählen ist eine der Sprachformen des Es, bei der es seine stimmlichen Funktionen zur Verwendung bringt.

Merkwürdig für meine Meinung ist die Verwandtschaft des Worts »sprechen« mit lat. spargo = ausstreuen, ausschütten, die Walde annimmt; er weist dabei auf das Wort sperma = menschlicher Samen hin. Die Verbindung der Sprache mit dem Problem des Sexus (lat. secare = zerschneiden) und dem Individuum (Unteilbares – Einzelmensch als Einheit von Mann–Weib–Kind) ist hier angedeutet.

Warum der Erwachsene mit Wörtern spricht, darüber läßt sich 92 später diese oder jene Meinung andeuten. Hier will ich nur auf einiges aufmerksam machen, was das Unbewußte über die Ambivalenz der Sprache mit Worten meint. Worte werden sehr oft von Gebärden begleitet, die genau das Gegenteil von dem erzählen, was der Mund spricht (Stottern, Wechsel der Stimmlage, Pausen, Heiserkeit, laut und leise, Haltung des Körpers und seiner Glieder, besonders der Hände, Abwenden der Augen, Kopfnicken, Kopfschütteln usw.). – Der Ausspruch Talleyrands, daß die Sprache dem Menschen gegeben sei, um seine Meinungen zu verbergen, ist verrufen, bleibt aber trotzdem in der Tatsache der Ambivalenz wahr. Auch das Sprichwort: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, beweist, welche gewaltige Sprachkraft das Schweigen hat. Daß mit Schweigen etwas gesagt wird, zeigt das lateinische tacere, das nach Walde mit den aktiven Wörtern air. taihtan = ersticken, cymr. tagn = erwürgen verwandt ist. (Wer schweigt, erwürgt das Wort, aber nicht den Ausdruck. Verdrängung!)

Man sieht, das infans verfügt über dieselben Kräfte wie der fatuus (= Narr), ja im Mutterleibe und bis zum dritten Jahr verfügt es über mehr. Man könnte einwenden, daß befruchtetes Ei, Embryo, Fötus nicht mit in den Begriff Kind hineingezogen werden dürfen. Dann soll man sie auch nicht so nennen. Dann sollen die Weiber aufhören zu sagen: Ich trage ein Kind im Leibe, und die Männer sollen nicht mehr sich rühmen, sie hätten ein Kind gezeugt. Das Kind entsteht nicht durch das Geborenwerden, ja es ist von Ewigkeit zu Ewigkeit, das Kindliche fängt gar nie an und hört nie auf, ehe der Tod alles menschliche Leben zerstört, ein Ereignis, von dem wir nichts wissen.

Die Schweden haben für Kind das Wort barn; sie leiten es in Übereinstimmung mit den Sprachforschern andrer Nationen von »bära = tragen« ab, das heißt für ihr Sprachunbewußtes beginnt das Kind – ebenso wie für uns Deutsche oder für die Griechen (teknon) – mit der Befruchtung, mit dem Augenblick, wo die Mutter trächtig wird. Elof Hellqvist, dessen etymologisches Lexikon ich zu Rate gezogen habe, ist es bei dieser Ableitung nicht wohl zumute, obgleich er sie anerkennt (bära ist für ihn wie für alle verwandt mit lat. fero, gr. phero, (φερω = tragen); er meint, bära 93 bedeute im Falle des barn föda = nähren, füttern. Vielleicht hat ihn das schwedische Wort barm = Brust (barmherzig), Mutterbrust darauf gebracht (ich werde mich gleich damit beschäftigen), vielleicht ist es auch födas = geboren werden oder lat. foetus. Wer weiß es? Jedenfalls entschlüpft er damit nicht der Feststellung, daß für den Schweden auch schon der Fötus ein barn ist, daß der kleine Schwede nicht erst mit dem födelsedag zu leben beginnt, sondern schon in der livmoder = Gebärmutter (wörtlich Lebensmutter) Kind ist. Ich habe schon früher gezeigt, daß föda und foetus von der Wurzel puh-fuh herkommen. Also auch der Umweg über föda = füttern führt zum Augenblick der Befruchtung, zu dem Verschmelzen von Männlichem und Weiblichem in puh-fuh.

Dieselbe Ansicht, daß das Kind mit der Empfängnis beginnt, spricht sich in lat. puer und puella aus, die ebenfalls von der Wurzel puh- herstammen (verwandt ist das deutsche Bube und das englische boy). Das Lateinische ist deshalb so wichtig, weil in den Wörtern puber, pubertas = geschlechtsreif, Reife die Erfahrung enthalten ist, daß das Kindliche auch nach Eintritt der Mannbarkeit dem Menschen bleibt, ja das Wort pubes = Schamteile beweist, daß das Unbewußte des Lateiners gerade das immer Kindliche der Geschlechtsorgane ausdrücken wollte. Die Dreieinheit Mann-Weib-Kind setzte sich durch.

Um auf das schwedische Wort barm = Brust zurückzukommen, so ist eine enge Verwandtschaft zwischen bära = tragen, trächtig sein und föda = nähren durchaus verständlich. Schon in der Schwangerschaft, während das Kind noch von der livmoder (Gebärmutter) ernährt wird, schwellen die Brüste, werden zum barm – zur stellvertretenden livmoder. Möglich ist auch, daß das Symbolisierende des Unbewußten das Wort barm erfunden hat, weil ihm die Milchsekretion ein Zeugungsakt ist, ein Anschwellen mit darauffolgendem Erguß; Brust und Warze vertreten das Männliche und die Milch den Samen, der saugende Kindermund das Weibliche, das Wachsen und Gedeihen das Kindliche, das »barn«. Im Deutschen ist »Brüste« dual, abgeleitet von bersten, bresten, brechen. Die Brüste sind die Hoden, das Kind ist das Glied. – Weiße Milch 94 wird im Deutschen für den Samenfluß und den Wochenfluß gebraucht (lat. papilla und mammilla). Die symbolische Gleichung von Weiberbrust und männlichem Geschlechtsorgan hat viele Folgen für das Leben, die freilich wenig bekannt sind. Sie erklärt sich wohl auch daraus, daß das Saugen an der Brust, wer immer es ausübt, einen starken Wollustgenuß beim Weibe auslöst, während andrerseits selbst der sogenannte normale Geschlechtsakt vom Unbewußten als ein Saugen der Vulva und Vagina am Phallus aufgefaßt wird, als eine felatio (felo = säugen, filius = Sohn, filia = Tochter).

Die Meinung, daß das »Kind« schon von der Befruchtung an, vielleicht schon vom Beginn des Lebens auf Erden an (Keimplasma) besteht, daß man also alles, was von diesem Geschehnis an vorgeht, zu dem Menschlich-Kindlichen zu rechnen hat, findet eine Stütze in dem Wort Embryo (gr. embryon [εμβρυον] von bryo [βρυω] = strotzen, sprossen, also wohl: was innen sproßt). Nach Walde und Prellwitz (der als Wurzel geru angibt und es in Verbindung mit barys [βαρυς] = schwer, lat. gravis = schwer, davon graviditas = Schwangerschaft bringt), hängt lat. veru = Spieß mit bryo zusammen, das wiederum in verschiedenen Sprachen Verwandtschaften zu den Begriffen Baum – wie Spieß symbolisch zu Phallus gehörend – und Berg – Schwangerschaft und mons veneris – hat.

Weiter führt die Bedeutung des Wortes bryo als strotzen, sprossen. Für uns Laien führt strotzen ohne weiteres zu dem Strotzen des Phallus; in der Etymologie sei ein Umweg gestattet. Strotzen (germ. Wurzel: strut = schwellen) ist im Englischen in strut = Anschwellung erhalten und mit der Bedeutungsentwicklung »vor Zorn schwellen« im deutschen Strauß = Kampf (angs. das verwandte þrutian = vor Zorn schwellen). Zorn kommt von der Wurzel ter = zerreißen. Es fragt sich, was im »Schwellen vor Zorn« zerrissen wird. Darüber gibt gr. orge (οργη) und lat. ira = Zorn in Verbindung mit einem Ursymbol Aufschluß. Die leidenschaftliche Empfindung des Zorns ist am nächsten der der Liebesleidenschaft verwandt. Sie lodern beide, sind Feuerkinder, Aufwallen und Kochen des Bluts kennzeichnen sie. Sie machen den 95 Menschen blind. Sie rasen. Und wenn die Geschlechtsleidenschaft dem Manne die Liebeswaffe gibt, so wird dem Zornigen alles zur Waffe. Wie die Raserei der Liebe den Geschlechtsteil gegen das Weib sich aufbäumen läßt, so bäumt sich im Zorn alles gegen die Welt auf. Das Symbol liegt in dem Verhalten des Bluts: wie in der Liebesleidenschaft das Blut zum Geschlechtsteil schießt, steigt es im Zorn zu Kopf (Zornesröte); der Begriff der Franzosen »les yeux rouges« kennzeichnet schlagend die Verwandtschaft von Liebe und Zorn. Man muß diese Zusammenhänge beachten, nicht bloß kennen; in ihnen sind große Gebiete des Lebens aneinandergebunden, sie umfassen Geheimnisse des Menschlichen, die dem, der sie ahnt, ehrfürchtiges Erstaunen aufzwingen. (Von der Geschlechtswurzel puh- geht der Weg über »pubes« zu »pudor « = Scham«, »pudet = es schämt mich«, »pugna = der Kampf« zu »Faust«, zur »Wut« und zu »vates = Seher« usw.) Die Zornes- und Schamröte sind Symbole des Eros. Vielleicht dachten die Griechen an diese Dinge, wenn sie dem Eros den Anteros entgegenstellten.

Analog diesen physiologisch-symbolischen Phänomenen ist der Sinn der Wörter orge und ira. Gr. orge (οργη) = Trieb, Zorn ist schon in seinen Geschlechtsbeziehungen durch die noch heute gebräuchlichen Wörter Orgie und Orgasmus (Augenblick der Wollust) gekennzeichnet. (Orgia [οργια] ist ursprünglich geheimer Gottesdienst, orgion [οργιων] = Priester; man wußte von jeher, wie Eros und Gottesvorstellung und Gottesdienst gegen- und ineinander wirken.) Zu alldem bedeutet das Wort orgas (οργας) mannbar. Die geheimnisvolle Macht des Worts im Symbol offenbart sich hier: orge hängt zusammen mit ergon (εργον) = Werk und dessen Ableitungen. (Organon = Werkzeug, Organ ist davon abgeleitet, das Unbewußte der Sprache drückt es deutlich aus, daß alles bewußte und unbewußte Wirken – durch die Organe des Organismus – vom Eros durchflutet ist.) Werk und Wirken gehören ebenso wie Wirklichkeit zu diesem idg. Stamm werg. Es ist, als ob die Sprache aus sich heraus entscheide, daß ohne orge und orgasmos kein Menschenleben möglich sei, keine Arbeit, kein Wirken. (Daß die Bedeutung des Worts »wirken« auf die Tätigkeit des Webens und 96 Nähens ausgedehnt worden ist, deren erotischer Ursprung klar ist, darf hervorgehoben werden.) – Die mir zu Gebote stehenden Hilfsmittel erlauben mir nicht zu entscheiden, ob das Wort orego = aufrichten (verwandt mit lat. regere und erigere = aufrichten) irgendwelchen Zusammenhang mit orge und ergon hat. Ich erwähne es hier, weil von orego ein Wort orgyia (οργυια) = Klafter abgeleitet wird. Das erinnert mich an Sätze, die ich über die Meinung des Worts Spanne gesagt habe; orgyia = Klafter (das Maß der Menschen mit ausgebreiteten Armen entspricht nach der Meinung des Kanon der Körperlänge) und Spanne der Hand sind füreinander dieselben Symbole wie Mann und Glied. – Zu ähnlichen Folgerungen führt das Wort ira. Es wird zu ai. esati, esanyati = treibt an, isyati = erregt in Beziehung gesetzt, wozu dann gr. hieros (ἱερος) = kräftig, heilig gehört. Das verwandte ai. is = Erquickung, Kraft; gr. iaino (ιαινω) = erquicken, lat. ira = Erregtheit, gr. oistros (οιστρος) = Wut und oima = stürmischer Angriff vervollständigen zusammen mit den gleichstämmigen Wörtern himeros (ἱμερος) = Sehnsucht, Wunsch, ios (ιος) = Pfeil, iotes (ιοτης) = Wunsch die Bindung an die Gebiete des Eros.

Bei alledem geht man wohl nicht fehl, wenn man das ter = zerreißen in dem Worte Zorn mit dem Deflorationsakt in Beziehung bringt. Ich muß hier auf eigene Hand ein wenig Volksetymologie zum Besten meiner Meinung treiben. Im Lateinischen gibt es ein Wort vello = reißen, Wurzel dazu ist vel; Walde teilt mit, daß davon das Wort vulnus oder, wie er es schreibt, volnus = Wunde herkomme. Den ersten Eindruck einer Wunde bekommt jeder Mensch bei seiner Geburt durch die Blutung der Mutter und dieser Eindruck verstärkt sich durch das Durchschneiden der Nabelschnur, das dem Neugeborenen eine Wunde am eigenen Körper bringt. Der Begriff Wunde entsteht in jedem Menschen aus den Geburtserlebnissen. In den ersten Kindheitsjahren wird diese Verbindung von Wunde und weiblichem Genital in den regelmäßigen Zwischenräumen der Menstruation bewußt vom Kinde immer wieder hergestellt und für das spätere Alter bleibt im Unbewußten diese Verbindung lebendig, selbst wenn bewußtes Wissen sie nicht mehr wahrhaben will. Sollte es da nicht möglich sein, daß das 97 Unbewußte der Sprache das Wort vulva – Walde nennt es volva – auch aus der Wurzel vel – velo = zerreißen hergeleitet oder wenn das sprachgesetzlich unmöglich ist, künstlich mit vulnus zusammengebracht hat? Dagegen spricht, daß die Etymologie – vermutlich mit gutem Grunde – volva von volvo = drehen, biegen ableitet, und wie erinnerlich sein mag, habe ich von dieser etymologischen Feststellung an früherer Stelle Gebrauch gemacht. Dafür spricht die ursprüngliche Bedeutung von volva = Eihaut. Mit dem Zerreißen der Eihaut (vel, velo) beginnt für das Kind ein neues Leben, ein Landleben im Gegensatz zu dem bisherigen Leben im Wasser. Man kann diesem Ereignis seine grundlegende Bedeutung nicht absprechen, die Wirkung auf das Kind muß groß und unvergeßlich sein. Diesem ersten Reißen schließt sich dann die Geburt und Abnabelung an, die ursprünglich wohl ein Durchbeißen und Zerreißen gewesen ist, ehe Messer und Schere da waren. Und drittens kommt die Wundblutung der Mutter hinzu. All diese Dinge sprechen sich in der zweiten Bedeutung des Wortes vulva = Gebärmutter aus. Erst spät hat das Wort die Bedeutung der Schamspalte angenommen, in der es jetzt verwendet wird. Auch das ließe sich als Resultat der Menstruationskenntnisse der Kinder deuten.

Das Anschwellende, Strotzende, das in dem Wort Embryo liegt, geht in seinen letzten Wurzeln auf die Tatsache der Erektion zurück, was dem menschlichen Meinen von der Notwendigkeit des Vater-Erzeugers, mit andern Worten der Existenz des Kindes im Samen und Phallus entspricht. Für das Sprachunbewußte entsteht das Kind nicht, es ist immer da, der Geschlechtsakt zieht es nur von dem Männlichen in das Weibliche hinein, damit es dort, in der vom Phallus gerissenen Wunde (vulnus von vello = reißen, Wurzel vel), sprossen (bryo) und zum Sprößling – Kind werden kann.

In dem Wort Sprößling, das ja geradezu für Kind gebraucht wird, wiederholt sich, was eben über das Vorhandensein des Begriffs Kind im Phallus gesagt worden ist. Das Zeitwort ist sprießen, ndl. spruten, engl. sprout. Die westgermanische Wurzel »sprut = hervorspringen« leitet zum Erguß des Samens hin; zumal wenn man die Ableitungen ags. spreot = Stange, Schaft, ndl. spriet = Spieß, Speer hinzurechnet. Noch deutlicher wird das durch die 98 Feststellung, daß »spritzen« ebenfalls zur Wurzel sprut, spreut gehört, was namentlich im Englischen nachzuweisen ist – sprit heißt dort spritzen und sprießen. Im Griechischen entspricht dem »sprießen« speiro (σπειρω) = streuen, säen, gießen, davon abgeleitet ist sperma (σπερμα) = menschlicher Samen und asparagos (ασπαραγος) = Spargel, eine Pflanze, die als Symbol des Phallus im täglichen Leben und in der Medizin eine große Rolle spielt. Im Lateinischen finden wir das verwandte spargo = streuen, sprengen, spritzen; Walde leitet davon das englische »sprinkle = besprengen, sprühen« ab – im Deutschen wird sprinkeln, sprenkeln für Harnlassen gebraucht –, engl. »spark = Funke«, »spring = Frühling« (die Göttin auf Botticellis Bild Prima Vera ist schwanger). Schließlich führt spargo zu aisl. sprek, angs. spreuk, spranka = Schößling (Pflanze).

Aus dieser Fülle greife ich das letzte Wort Schößling heraus, das zu Schoß führt. Man leitet Schoß von einer Wurzel skut = schießen ab. Die Sprachwissenschaft, soweit sie mir bekannt ist, weiß mit diesem Ursprung Schoß = skut, schießen wenig anzufangen, sie geht um die Frage, warum Schoß (Gewandteil, Gewandfalte, Lappen, engl. lap) für das Weibliche gebraucht wird, herum. Sobald man schießen, Schuß mit der Ejakulation des Samens zusammenbringt, was nicht nur gerechtfertigt, sondern eine wichtige symbolische Wahrheit ist, fallen alle Schwierigkeiten fort; dann ist eben Schoß (engl. lap, nhd. Lappen gehört zusammen mit gr. lobos, λοβος = Ohrläppchen, Schamläppchen? und lat. legumen = Hülsenfrucht) die Einfaltung im Hautgewande des Weibes, die Schamspalte mit den Schamlippen, die den Schuß auffängt. Der Schößling wäre das, was im Schoß durch den Schuß entsteht, das Kind. (Elof Hellqvist bringt in seinem schwedischen Wörterbuch unter dem Stichwort scott Schoß der Erde und schützen auf skjuta schießen zurück, angs. scyda; engl. shut = einschließen. Wahrscheinlich hat er recht. Schoß der Kirche. Sicher wie im Mutterschoß, Abrahams Schoß. Ausdrücke wie verschossen, Schuß = Kadettenausdruck für Verliebtheit zwischen älteren und jüngeren Kameraden.)

Zu denselben Folgerungen wie Sprößling, Schößling, daß nämlich das Kind nicht wird, sondern ist – so betrachtet gilt Christi 99 Wort: »Ehe denn Abraham war, bin ich«, von jedem Menschen –, zu denselben Folgerungen führt das Wort Keim, dessen Ewigkeitswert die neuere Wissenschaft in dem Wort und Begriff Keimplasma von neuem betont hat.

Keim, keimen soll von einer Wurzel ki stammen; die beiden Begriffe des Wachsens und Aufbrechens vereinigen sich in dem Wort, und wenn es nicht schon ohne das klar wäre, daß der Keim nicht bloß das Pflanzenkind, sondern ebenso das Menschenkind ist, würde der Sprachgebrauch in der Wendung »keimende Hoffnung« es beweisen. »Hoffnung« ist Schwangerschaft mit dem Wachsen des Kindes und der Erwartung des Aufbrechens der Hülle, der Geburt. Noch weiter zurück in das Kindsein vor der Empfängnis führt das wurzelverwandte (ki-) Wort Keil.

Zu dieser Wurzel ki gehören auch die beiden Ausdrücke »keist = menschlicher und tierischer Samen« und »Keutel = menschlicher Samen«. »Keisten« bedeutet onanieren und »keistern« Schleim auswerfen, speien; ebenso wurde und wird Keutel als Bezeichnung für Nasenschleim gebraucht. Die Symbole Nase = Penis, Schleim = Samen, die in der Entstehung der Krankheiten solch große Rolle spielen (Heuschnupfen, Begattung des weiblichen Nasenlochs durch Blütenpollen) klingen hier an; aber ebenso alle sonstigen Erkrankungen mit Schleimabsonderung; allerdings muß man zum Verständnis dieser Zusammenhänge wissen, daß das Unbewußte auch einen Samen und Samenerguß des Weibes kennt. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß das englische cud = klebrige Flüssigkeit (nhd. Kitt), cuddle = umarmen und ebenso engl. quid = Tabakssaft zu Keut, Keutel Beziehungen haben; allerdings steht davon nichts in den Lexika.

Eine besondere Bedeutung von Keil muß erwähnt werden: es wird ähnlich wie Pflock und Bolzen in dem Sinn des Verschließens eines Lochs, einer Öffnung gebraucht. Damit tritt es ebenso wie die beiden erwähnten Wörter in enge Beziehung zur Schwängerung (»das Loch verkeilen«). – In demselben Sinn ist die Redensart »Kind und Kegel« üblich (Kegel ist eng verwandt mit Keil, auch Keule gehört hierher). Die Neunzahl der Kegel bezeichnet den ursächlichen Zusammenhang des Spiels mit dem Geschlechtsakt 100 ausreichend; der Kegelkönig in der Mitte der acht andern Kegel ist Doppelsymbol: Kind und Phallus. – Die Abhängigkeit der Spiele von der Erotik ist bekannt genug, ich werde aber doch an geeigneter Stelle darauf eingehen müssen.

Schließlich muß ich noch die Ableitung von Keil, Kegel, angs. caege erwähnen, das im Englischen in key = Schlüssel weiterlebt. Die Rolle, die das Verlieren und Verlegen des Schlüssels aus sexuellen Verdrängungswünschen im täglichen Leben spielt, ist bekannt. Das Besondere ist, daß key zunächst als musikalisches Zeichen, »Schlüssel«, gebraucht wurde. Die Zusammenhänge von Eros und Musik sind eng (Schlüssel = Phallus).

Verwandt mit Keim, Keil ist nach Grimm u. a. das Wort Kiel, Federkiel, während Kluge Schiffskiel ganz anders ableitet. Er deutet an, daß Schiffskiel etwas mit Kehle zu tun haben könnte. Sollte das wahr sein, so wäre das den Etymologen rätselhafte Kielkropf = Wechselbalg, Mißgeburt allenfalls zu deuten. Der Kielkropf wird nach dem Volksglauben mit einer Kröte unter der Zunge geboren. Bringe ich dies in Verbindung mit Kehle, so scheue ich nicht davor zurück, daß die Vorstellung vom Wechselbalg = Teufelskind auf dem Abscheu vor der felatio (Saugen am Gliede) und dem Verschlucken des Samens beruht. Kropf ist an sich eine hervorstehende runde Masse (im anord. kroppr = Rumpf, Leib, Buckel, im ndl. wird es für die Brüste gebraucht, im angs. ist es Baumwipfel, Ähre, Traubenbüschel). Das alles läßt sich in dem Begriff der Rundung des Weiblichen, der Schwangerschaft unterbringen, vor allem der Kropf und das Kröpfen der Vögel, Wörter, die in sich den Sinn von Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt enthalten. Zu solcher Auffassung leitet auch die Bezeichnung Adamsapfel (im Schweizer Dialekt wird er auch Kind genannt) hin. Eine Bestätigung ist die Tatsache, daß die Anschwellung der Schilddrüse, die wir gemeinhin Kropf zu nennen pflegen, wie es scheint, immer mit Schwangerschaftsvorstellungen zusammenhängt (Schilddrüsenanschwellung der Pubertät, während der Menstruation). Für das Unbewußte sind eine Menge Speisen, ja auch Wörter und Gesichtseindrücke leibhaftige Befruchtungssymbole, die sich in dem Anschwellen und Wachsen der Gewebe, Organe und Körperteile 101 (Bauch) offenbaren. – Ich neige auch zu der Ansicht, daß Kiel und Schiffskiel urverwandt sind. Hier möchte ich nur betonen, daß der Schiffskiel ein uraltes Weib – Schwangerschaftssymbol ist. Der Federkiel aber steht in Beziehung zum Vogel, Fliegen, die beide Begattungssymbole sind.

Unklar in ihrer Ableitung sind die im Klang an Kind erinnernden Bezeichnungen für junge Tiere, speziell Zicklein (nhd. Kitze, schwed. killing oder kid, engl. kid, ganz gebräuchlich als Kosewort für Kind. Übrigens ist auch das Wort kind in Schottland üblich. Kille bedeutet im Schwedischen Harlekin, es ist mir aber nicht bekannt, ob das Wort im Puppenspiel verwendet wird. Daß unsre bekannten Figuren, der Hanswurst und der Kasperle und das Spielzeug des Hampelmanns mit erotischer Symbolik zusammenhängen, nehme ich an.). Auffallend ist die Ableitung, die Weekley für das Wort kidney = Niere gibt. Er nimmt an, daß die letzte Silbe (kiden-ey) das deutsche Ei, eventuell der Hoden ist, während die ersten Silben von ihm mit cud, quid = klebrig zusammengebracht werden, Wörter, die ich früher erwähnt habe; auch an chitterling = Kutteln, Gekröse denkt er dabei (chit ist kleines Kind). Ist die Ableitung richtig, so würde sie eine der mächtigsten Symbolgleichungen »Niere = Hoden« betreffen. (Der Herr, der Herz und Nieren prüft. Zusammenhänge von Harnlassen und Samenerguß, gegenseitige Stellvertretung, gr. nephros [νεφρος] = Niere, Hode.)

Um die Dreiheit Männlich-Weiblich-Kindlich in der Einheit Kind sich klar zu machen ist es bequemer, das Wesen des Knaben zu verfolgen; bei ihm ist die Dreiheit deutlicher ausgeprägt, vor allem das Kindliche. Ich erwähnte schon, daß bei dem kleinen Mädchen im frühesten Alter – schon im ersten Lebensjahr – die Geschlechtlichkeit dem Manne gegenüber sich wesentlich anders äußert als der Frau gegenüber; das Mädchen ist – man könnte sagen von Geburt an – ausschließlich dem Manne gegenüber kokett und die Frau behält diese Eigentümlichkeit das ganze Leben lang. Bei dem Mädchen ist die Bisexualität gewiß ebenso stark wie beim Knaben, ja man hat Grund anzunehmen, daß die gleichgeschlechtliche Erotik des Weibes mächtiger ist als die des Mannes, und daß sie während des ganzen Lebens deutlich und dauernd hervortritt. 102 Aber das Gleichgeschlechtliche und Gegengeschlechtliche ist von vornherein scharf getrennt. Beim Knaben ist von solcher Unterscheidung nicht die Rede, ja vielleicht tritt diese Trennung der beiden Richtungen bei dem Manne überhaupt nicht ein, sondern an Stelle der Trennung steht ein Verdrängen oder ein Umgestalten in Freundschaft. Unsre modernen Sitten gestatten nicht, darüber sich feste Meinungen zu bilden.

Über den Mann im Knaben brauche ich nicht viel zu sagen; er verrät sich in jeder Bewegung (Art des Tragens, der Stellung, der Knabe kniet viel im Gegensatz zum Mädchen, das das Hocken bevorzugt usw.). Ich weise aber besonders darauf hin, daß schon im kleinsten Knaben derselbe seltsame Wechsel zwischen Kindseinwollen und Mannseinwollen vorhanden ist wie beim Manne (Großtuerei und Ängstlichkeit).

Es hieße Eulen nach Athen tragen, wenn ich in dieser Zeit, wo alle Welt besser mit den Entdeckungen Freuds Bescheid weiß als Freud selber, auf die erotischen Eigentümlichkeiten des Kindes eingehen wollte. Man tut gut bei ohrenbetäubendem Lärm ganz zu schweigen, und wenn man das nicht aushalten kann, soll man die kurzen Pausen im Geschrei benutzen, um das eine oder andre Wort zu sagen. Viel erreichen läßt sich damit nicht. Lieber weise ich auf eine Eigentümlichkeit des neugeborenen Kindes hin, die ein jeder bestätigen wird: es sieht uralt aus. Und uralt ist es ja auch; wie ich vorhin sagte: es ist, ehe Abraham war. Die embryonale Zeit im Mutterleibe beweist nun gar, daß es noch viel älter ist als Abraham, daß es so alt ist wie das Leben selbst. Man kann, wenn man am Paradoxen Freude hat, mit Recht sagen, daß der Mensch von der Empfängnis an jünger und jünger wird, und wer dazu geneigt ist, solch ein Paradoxon bis ans Ende durchzudenken, wird erstaunt sein, wie viele Probleme des menschlichen Lebens dadurch in ein andres Licht kommen. Es würde begreiflich werden, daß das Kind vom Leben tausendmal mehr weiß als der Erwachsene, daß es vor allem das Urwissen und Urkönnen noch besitzt, zu leben und nur zu leben. Denn das Kind ist infans-irrational. Es hat noch nicht den Tyrannen »Ich« erfunden, hinter dem sich das Es und das Leben verbergen.

103 Die Bezeichnung Kind (child) enthält in sich keine scharfe Altersgrenze; für die deutschen Mütter hört das Kindsein ihrer Brut nie auf. Das Wort infans (enfant) läßt das Kindsein mit der Fähigkeit des Sprechens endigen; an seine Stelle tritt das Wort puer (gr. pais, παις, Wurzel puh-), das die Entwicklung der Genitalität betont, während im Griechischen teknon (tikto = gestalten) das Ende des Wachstums hervorhebt. (Das Wort pais gibt mir willkommene Gelegenheit, die Beurteilung der Wörter nach den Lautverschiebungen ein wenig zu verspotten. Wir alle kennen das Verschen »Eia popeia, eia popei«. Wer sollte vermuten, daß es lautverschobenes Griechisch ist? Und doch ist es so. Das griechische Kindermädchen eines deutschen Kaisersohns – die Mutter war Griechin – sang ihrem Pflegling die Worte vor:

eude mu paidion, eude mu pai
(εὐδέ μου παίδιον, εὐδέ μου παί)
Schlafe mein Kindlein, schlafe mein Kind

und die lauschenden Mägde machten daraus »eia popeia«.)

Brephos (βρεφος) (Wurzel grebho = empfangen) ist die Leibesfrucht, das Neugeborene. Wörter wie baby, schwed. barn beschränken das Kindsein auf die Zeit des Getragenwerdens, die Zeit vor dem Gehenlernen. Im Deutschen und anderswo gibt es noch das Wort Säugling, das sich im wesentlichen auf das Nahrungsverhältnis des Kindes zur Mutter (Amme) bezieht und so zeitlich abgeschlossen ist. Ich erwähne es besonders, weil unter die Verwandtschaften dieses Worts von der Etymologie (Walde), allerdings zaghaft, das Wort sus = Sau eingeschaltet wird; Walde deutet an, daß sucus = Saft, sugere = saugen mit sus = Sau eine gemeinsame Wurzel su = gebären, zeugen haben könne; das griechische hys (ὑς) würde dazugehören. Ich vermute, daß hinter dieser gegen die Gewohnheiten der Etymologen verstoßenden Annahme – sie findet sich bei Walde nicht unter sucus, sondern unter sus – eine unbewußte Gewalt steckt, da die Verbindung Mutter-Schlachten-Sau noch jetzt in den kindlichen Symbolphantasien eine Rolle spielt. Uns großen gebildeten Leuten erscheint das absurd und abscheulich. Aber ich darf daran erinnern, daß das Schwein für 104 unsre nordischen Vorfahren das heilige Tier war, und daß es für ganze Volksrassen und Religionen tabu ist.

Ich habe lange versucht, in den europäischen Wörtern für Kind einen Hinweis auf die wichtigste Tatsache im Kindesalter zu finden, auf die Tatsache, daß dem Kinde das Wort und wohl auch der Begriff »Ich« fehlt. Meine Hoffnung und mein Wunsch ist, daß Sprachkundige auch dafür Anhaltspunkte geben werden. Unwissend zu sein hat viele Vorteile, weil man unbedenklich der Gefahr des Irrtums gegenübertritt; es hat Nachteile, die aber durch die besser Unterrichteten ausgeglichen werden können.

Damit komme ich auf die auffallenden Eigentümlichkeiten des Kindeslebens zu sprechen und freue mich, daß es auch auf meinem Wege möglich ist, die Altersgrenze des Kindes in Übereinstimmung mit den psychoanalytischen Forschungen Freuds in das dritte Lebensjahr zu legen. Allerdings muß ich dabei nochmals betonen, daß mit dieser Grenze das Kind im Menschen nicht aufhört, das ist immer da und scheint mir königliche Machtvollkommenheit während des ganzen Lebens zu haben. Das Ziel und Ende des Menschen ist für mich und meine Meinung immer und unter allen Umständen das Wiederkindwerden; der Unterschied ist nur, ob man ein kindliches oder kindisches Kind wird; das Alter benutzt beide Erscheinungen. Und die, die vorzeitig sterben, entgehen dem Kindwerden doch nicht. Im Sterben – wer die Erscheinungen des Sterbens aufmerksam erwägt, weiß es –, im Sterben ist der Mensch immer Kind.

Drei grundlegende Wesenseigenschaften der Kinder möchte ich hier besprechen, ohne damit behaupten zu wollen, daß man nicht von andern Gesichtspunkten Meinungen aufstellen dürfe: das Kind ist irrational, unpersönlich, immoral.

Auf der Tatsache des Irrationalen im Kind beruht die seltsame Annahme des Menschen, daß das Kind nichts leiste, jedenfalls weniger als der Erwachsene. Wenn man sich das Wirkliche im Kindeshandeln und im Handeln des Erwachsenen ansieht, so kommt man zu dem umgekehrten Ergebnis. Für die erste Lebenszeit nach der Geburt gilt das nicht minder als für den Aufbau im Mutterleibe. Das Lernen, mit den Augen zu sehen, mit den Ohren zu 105 hören, mit dem Munde zu saugen und zu atmen, ist sicherlich anstrengend, und die Bewältigung der unzähligen Aufgaben, die das Kind beim Aufbau seiner Welt lösen muß, ist eine Leistung, mit der sich nichts andres vergleichen läßt. Das Kind ist in Wahrheit Weltenschöpfer. Licht und Schall, Baum und Berg, Mann und Maus, alles ist sein Werk. Was es nicht aus sich heraus erschafft, ist Gut und Böse, Recht und Unrecht, denkend Streben, strebendes Sichbemühen. Der Immoralist Nietzsches ist keine Illusion, das Kind ist immoral.

Zu denken, man könne oder wolle auch nur dieses tiefste Problem des Menschen von Gut und Böse lösen, wäre Vermessenheit. Und doch kann der Mensch nicht anders, als daran herumraten. Es ist der Inhalt seines Lebens. »Ihr werdet sein wie Gott, wissend, was gut und böse«, so spricht die Schlange, die auf dem Bauch kriechen muß ihr Leben lang. Wissen wir denn, was gut und böse ist?

Unser Gewissen sagt es uns. – Nein, unser Gewissen sagt es uns nicht. Heute gilt uns böse, was uns gestern gut dünkte, und morgen ist gut, was wir heute verdammen. Das Gewissen des Alten ist ein andres als das des Jungen, das des Kriegers lobt, was der friedliche Bürger tadelt, das des Renaissancemenschen verwirft, was das Mittelalter heilig hielt, der Chinese urteilt anders als der Europäer, der antike Mensch würde sich vor sich selbst ekeln, wenn er unsern Begriff »Gut und Böse« annehmen sollte. Und eine Menschenklasse gibt es, die kennt das Gewissen nicht, die infantes, die Kinder. Ihrer aber ist das Himmelreich.

»An sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu.« Dies Shakespearewort schrieb mir mein ältester Bruder in das Stammbuch, das ich als Knabe führte. Es ist ein christliches Wort, entspricht dem Satze des Menschensohns: »Richtet nicht!«

Das alles ist in den Wind gesprochen, niemand kümmert sich darum, niemand kann danach leben, niemand empfindet es als die Gotteslästerung, die es ist, von Gut und Böse zu sprechen, was mit Gottes Willen und durch seinen Willen geschieht, Sünde zu nennen. Nur das Kind, das Kind kennt keine Sünde, obwohl es alles besitzt und ausübt, was wir Laster nennen. Es ist irrational und deshalb 106 jenseits von Gut und Böse, es ist immoral und deshalb rein, es ist frei vom Ich und deshalb schamlos und keusch.

Über das Wort »keusch« gibt die Sprachwissenschaft höchst unvollkommene Auskunft. Im wesentlichen beschränkt man sich auf die Übersetzung »rein« und auf ein paar ähnliche Ausdrücke andrer Sprachen, die auch rein, zart bedeuten. Was aber ist rein? Keusch ist eben eine besondere Art rein. Am ehesten – und darin scheinen einige Sachverständige übereinzustimmen – könnte man der Meinung beistimmen, die »keusch« mit geheimen Kulten zusammenbringt. Damit wäre das Mysterium der Gemeinschaftlichkeit und der Liebeshandlung unter Ausschluß Uneingeweihter nahegelegt. Grimm (auch der Schwede Hellqvist, schwed. kysk = keusch) bringt das Wort in eine Art Zusammenhang mit keusan, kiesen, küren (schwed. tjusk, kora). Keuschheit würde damit die Reinheit im Auswählen und Ausgewählten sein. – Ein nicht ganz bewiesener Zusammenhang muß erwähnt werden keusch und castus. Castus kann und wird als verwandt mit kastriert betrachtet, und man geht dabei auf das zurück, was ich vorhin erwähnte, daß keusch mit Opferkulten zusammenhängt. Das würde eine geschichtliche Art der Betrachtung sein. Es gibt aber noch eine andre Möglichkeit. Der Kastrierte hat die Fähigkeit des Samenergusses verloren. Seine Erotik schließt die Fortpflanzungsidee vollständig aus, sie ist nur Erotik, nicht vermischt mit der Idee des Kindes. So ist in gewissem Sinne die Erotik des Kastrierten die einzige unvermischte reine Liebeshandlung, die im Dienste der Gottheit Berechtigung hat. Wenn das richtig ist, so ist in dem Wort keusche Frau ein tiefer Sinn verborgen. Ich habe bei früherer Gelegenheit erwähnt, daß bei dem Geschlechtsgenuß der Mann immer das Kind in seinem unbewußten Denken mitbeteiligt, die Frau nie. Der Gedanke an die Möglichkeit des Zeugens gehört aber nicht in das Lieben hinein, es ist dann nicht mehr reines Lieben; man kommt auf diesem Wege zu dem Schluß, daß die Frau ohne weiteres keusch sein kann, rein lieben kann, während der Mann dazu kastriert sein muß.

Ich habe vorhin die beiden Wörter »schamlos« und »keusch« mit Absicht nebeneinandergestellt; nicht weil ich annehme, daß der Schamlose keusch sei, aber weil es meine Überzeugung ist, daß der 107 Mensch in den kurzen und hochherrlichen Zeiträumen des Keuschseins keine Scham empfindet. Nur der schämt sich, der seinem Ich Bedeutung gibt, der dies Ich mit der Welt in Gegensatz bringt, der sich nicht für einen Teil, sondern für ein Ganzes hält. Keuschheit setzt voraus, daß man sich seiner selbst entäußert, daß man in Harmonie mit dem Schicksal Menschsein ist. Keuschheit ist ebensowenig wie Scham eine Eigenschaft des Menschlichen, sondern ein gelegentlicher Zustand, der nur dann eintritt, wenn man sein Ich verliert. Deshalb kann es wohl eine Keuschheit zu zweit geben, wenn die völlige gegenseitige Hingabe des einen an den andern und des andern an den einen zustande kommt, und diese Keuschheit ist durchtränkt vom köstlichen Genießen ohne Scham und Sündenbewußtsein. – Nur wer begreift, daß Keuschheit Gemeinsamkeit zur Voraussetzung hat, kann verstehen, daß das Verhältnis Mutter-Kind, Kind-Mutter keusch ist, obwohl es wie kein andres Verhältnis in jeder Beziehung erotisch ist.

Wie tief und fest diese Auffassung der Keuschheit im Unbewußten der Kunst verwurzelt ist, beweist eines der keuschesten Gemälde der Florentiner Uffizien, eine Madonna mit dem Christuskind und Engeln von Hans Memling (Taf. 7). Man braucht es nicht erst zu sagen, daß die einzig vollkommene Symbolisierung des Menschen, des Männlich-Weiblich-Kindlichen die Mutter mit dem Sohn auf dem Schoß ist. Deshalb wohl hat die Kunst das unbewußte Motiv der Madonna mit dem Knaben auf ihrem Weibesschoß unaufhörlich dargestellt und stellt es immer wieder dar; selbst unsre erbärmlich unchristliche und rationalistische Zeit wird unwiderstehlich von dem Madonnenbild angezogen. Memlings Gemälde ist ein keuscher Hymnus auf die Vereinigung von Mann und Weib und auf die Ekstase bei dieser Vereinigung. Wie so oft sind die Figuren im Dreieck angeordnet, dem tiefen Wahrzeichen des Menschen, ja diese Anordnung wird noch überboten dadurch, daß der Thron der Madonna den Blick weiter aufwärts führt bis zu den auseinanderweichenden Schenkeln einer Girlande. Worum es sich handelt, zeigen Sechszahl und Dreipaar der Amoretten-Engel, die die Blumengewinde spreizen: der weiblichen Sechs ist die männliche Drei beigesellt. An den Pfeilern, die das Gemälde einschließen, sind die 108 symbolischen Tiere der Mann-Weib-Vereinigung angebracht, Schnecke und Eidechse.

Vor aufwühlende Fragen stellt uns das Verhalten des Christuskindes. Daß es sich von der Frau, die ihm Mutter gewesen ist, abwendet der Welt zu, ist menschlich notwendig; könnte man doch das Leben des Menschen sehr wohl als ein Sichlösen von der Mutter betrachten, das schon mit der Empfängnis beginnt, in der Geburt den Fortgang nimmt und über das Hinabstreben von Brust und Schoß, über Verlassen des Heims und der erotischen Bindung zum Suchen und Finden der neuen Mutter in der Geliebten, zu dem Verzichten auf diese neue Mutter zugunsten des Sohns, zum zweiten Kindsein des Greises und schließlich zur Urmutter Erde führt. Einen seltsamen Hinweis aber gibt das Unbewußte der Kunst in dem Apfel, dem das Kind sich zuwendet. Christus greift nach dem Apfel, und der Apfel ist die Sünde, das Seinwollen wie Gott, wissend, was gut und böse. Man sehe die beiden Engel an: der linke vom Menschensohn spielt mit ernstem, fast traurigem Ausdruck die Harfe, der rechte lächelt ein seltsames Lächeln, ein lockend zärtliches; er bietet den Apfel an, und Christus greift danach, wie alle Menschen nach dem Apfel greifen. Man versteht es kaum, wie der religiöse Mensch – nicht die Kirche, bei deren Entwicklung ist es folgerecht, daß sie den Christus als sündenlos hinstellt, sie hat es mit vollem Bewußtsein und erst nach langen Kämpfen getan –, wie der religiöse Mensch das Wissen um das Menschsein des Christus so völlig verdrängt hat. Niemand glaubt seinem Wort vom Menschensohn, niemand glaubt an das Menschwerden des Gottes, was doch Anfang und Ende des Christentums ist. Die Kirchengläubigen lassen ihn nie Mensch werden – zum Menschen gehört alles Menschliche, auch das, was wir Sünde nennen, in frevelhafter Überhebung freilich nennen wir es so, da ja jeder, der an Wort und Begriff Sünde glaubt, sich Gott gleichstellt, den Gott selbst zum Ursprung und bewußten Schöpfer der Sünde macht –, den Kirchengläubigen bleibt Christus auch auf Erden Gott. Andre nehmen ihm das Gottsein ganz, ihnen ist er nur Mensch; man weiß nicht, soll man diese freien Geister noch Christen nennen, oder spielen sie nur mit Begriffen, in denen keine Bedeutung mehr ist. 109 Nein, niemand glaubt mehr an den Menschensohn, an den Gott, der freiwillig aufhört Gott zu sein und Mensch wird, der in der Dumpfheit des Menschen lebt, liebt und haßt, verflucht und segnet, der müßig den Tag verbringt, wandernd und unstät, unwissend wie jeder andre, was gut und böse ist, aber immer wieder voll menschlicher Anmaßung richtet und Strafen der Ewigkeit androht, der an Gott glaubt und an Gott zweifelt, der Mensch ist, allem Menschlichen unterworfen, der als Mensch stirbt und wieder Gott wird. Niemand glaubt mehr? Das Unbewußte glaubt, es kann nicht anders als glauben, daß Gott Mensch wurde, wie wir Menschen sind, unseresgleichen, mit allen Vorzügen und allen Fehlern, mit allen Tugenden und allen Lastern. Christus wies selbst in heißem Zorneswort die freche Schmeichelei »Rabbi, guter Meister« zurück, die Evangelien erzählen auf jeder Seite, daß er war, was der Pharisäer in uns – und Christus war gewiß ebenso Pharisäer, wie jeder Mensch es ist – Sünder nennt. Das weiß das Unbewußte. Es weiß aber auch, daß sich der Mensch Christus nur als Kind oder als Toter darstellen läßt. Wir wollen alle sein wie Gott, für uns Menschen gilt das Wort, das der Dichter des Worts selber das Böse nannte – »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen« – als Richtschnur, wir können nicht ohne den Irrtum, daß es Gut und Böse gebe, leben; und weil es solch Gut und Böse nicht gibt, mußten wir den guten Menschen erfinden, Christus mußte und sollte gut sein. Aber sobald der Christus sprechen kann, wehrt er sich gegen dieses angedichtete Gutsein. So blieb für die Kunst, wenn anders sie den sündlosen Christus bilden wollte, nur diese Möglichkeit, ihn als Kind oder als Sterbenden, ja als Toten darzustellen, als einen, der nicht nein sagen kann, wenn er verleumdet wird. Tatsächlich gibt es kein einziges Bild des Menschensohns als Mann, das des Ansehens wert wäre. Da war aber die Ironie des Lebens bequem zur Hand, die den Menschen glauben macht, daß das Kind sündlos sei; mit Hilfe dieser merkwürdigen Fälschung unseres Urteils gelang es, einen sündlosen, in Wahrheit immoralen Christus zu malen. Nur freilich, das Unbewußte läßt sich nicht betrügen, und da es weiß, daß gerade das Kind der gewissenlose Verbrecher ist, Dieb, Mörder, Lüstling, Gottesleugner, 110 muß der Maler, je frömmer er ist, um so sichtbarer, aus dem Unbewußten heraus ohne Absicht und Willen die Symbole der Sünde beigesellen: Memlings Christuskind greift nach dem Apfel. Der Engel, der ihn verführt, hält Geige und Bogen in der Hand, die Wahrzeichen der Liebe der Geschlechter. Wer die Handlung weiter zu denken sucht, weiß, daß der Engel das Spiel vom Wissen, was gut und böse ist, beginnt, sobald das Kind in den Apfel beißt. Über diesem Engel ist das prangende Schloß der Lust gemalt; der harfende Engel, um den das Kind sich nicht kümmert, hat die Mühle über sich. In der linken Hand hält das Kind die Kirsche, seine Mutter hält den einen Fuß umfaßt, und ihre Rechte läßt uns wissen, daß sie ihn gelehrt hat, was Lust ist. Jede Mutter unterweist ihr Kind darin, wenn solches Unterweisen nötig ist, was der Verfasser nicht glaubt, das Wissen ist angeboren. Seit Adam und Eva den Apfel gemeinsam und doch jedes für sich aßen, verfällt jeder Menschensohn diesem Irrtum, zu sein wie Gott mit der unentrinnbaren Trennung von Ich und All, und dann schämt er sich seiner Nacktheit und verleugnet sein Menschsein.

Bei früherer Gelegenheit habe ich behauptet, daß das Kind die Umwelt als Symbolwelt wahrnimmt. Den Beweis dafür liefert jedes Kind in seinen ersten Lebensjahren, wo ihm der Stuhl durchaus nicht ein Stuhl ist, sondern ein Pferd, ein wirkliches lebendiges Pferd oder ein Haus mit lebendigen Bewohnern oder sonst irgend etwas. Ja, selbst der Erwachsene lebt weiter in der Symbolwelt, nur versteckt er das vor sich und andern, weil er ja so gerne groß sein möchte. Selbst die nüchternen, angeblich phantasielosen Tatsachenmenschen leben, wenn man sie ehrlich betrachtet, in der Phantasiewelt des Symbols, und nicht anders ist es mit den unbeirrbaren Leugnern der Menschenwelt, den Philosophen und Denkern, denen, die Abstrakte von sich selbst auf eigne Hand machen wollen und sich doch nicht trauen, das Ding an sich zu begreifen.

Auch dafür, daß das Kind in der Symbolwelt lebt, lassen sich in der Kunst des Kindes Beispiele finden. Seine eignen Zeichnungen stecken voll von Symbolen oder verstecken sie. Jedes Kind arbeitet bei der Darstellung des Menschen mit zwei Begriffen: runde Höhle 111 und gestreckte Form: Weibliches und Männliches; der Bauch ist ihm hohler Raum, ja auch die Kleidung ist es, und alle Gliedmaßen werden Abbilder des einen Gliedes. Dagegen wird kein Kind das Eins-Zwei-Drei-Symbol der Hoden mitzeichnen. Die Hoden sind tabu für Kinder und große Leute, wahrscheinlich das einzige überall gültige Tabu.

Das klassische Bilderbuch des Kindes »Struwelpeter« darf ich nicht übergehen. Seine weite Verbreitung verdankt es der Tatsache, daß sein Verfasser, Dr. Hoffmann, ein kindlicher Dichter von Gottes Gnaden war, der überall das Symbol sah und danach handelte. Ich berufe mich auf die Geschichte von Hanns Guck-in-die-Luft.

Dreierlei sieht das Kind in sämtlichen Bildern des Hanns Guck-in-die-Luft: die Pflastersteine, die rote Mappe und die Figur des Hanns. Die Pflastersteine erscheinen in fast unveränderter Form, sie geben den Bildern den Untergrund, sie zeigen an – auch dem Kind und dem erst recht –, daß, was geschieht, überall ist, so daß man darauf tritt. Mappe und Hanns verändern sich in einzelnen Bildern, sie geben die Aufschlüsse über den Sinn der Ereignisse. In Bild eins und drei ist Hanns bis auf geringe Abweichungen ein und derselbe, er hat das rechte Bein straff nach vorn gestreckt, der Kopf ist hochgehoben und der Mund offen; der Hund kommt ihm mit langem ausholendem Sprung entgegengerannt. Die Mappe drückt der Knabe mit dem linken Arm an sich. Und nun kommt auf dem ersten Bilde ein Zusatz, der es weit über die Erzählung hinaus bedeutend macht und diese Geschichte für Kinder in das allgemein Menschliche erhebt: In der Luft sieht man drei Vögel.

Man könnte annehmen, daß diese drei Vögel das Hinaufstarren des Knaben erklären sollen. Aber nach dem Titel der Verse guckt der Junge in die Luft, und der entscheidende Vers lautet: »Hännslein blickte unverwandt in die Luft.« Und dann, in den spätern Bildern treten an die Stelle der Vögel drei Fische.

Was ist es mit der Drei? Die Drei ist die Zahl der Männlichkeit, des typisch Männlichen; sie setzt sich zusammen aus eins und zwei, dem männlichen Gliede und den beiden Hoden. Wenn man die Figur der drei Vögel ansieht, bemerkt man, daß sie in der Figur 112 des Männlichen angeordnet sind unter Betonung der Tatsache, daß beim Manne die Hoden nicht gleichmäßig stehen, sondern der eine tiefer als der andre. Während so in den drei Vögeln und den drei Fischen der gewöhnliche Zustand des Männlichen dargestellt ist, symbolisiert Hanns selbst den Zustand der Erektion. Alle Kinder wissen auf irrationale Weise die Fakten des Eros und seiner Funktionen. Weder das Männliche noch das Weibliche noch beider Vermischung mit der Folge von Schwangerschaft und Geburt sind dem kleinen Kind (vor Vollendung des dritten Jahrs) rätselhaft.

Verfolgt man die Idee, daß die drei Vögel nicht nur Ornament sind, sondern etwas bedeuten, weiter, so bemerkt man den Baum, der hinter Hännschen den einen Ast weit nach vorn streckt; parallel dazu ist das ausgreifend hochgehobene Bein des Knaben: das Symbolische des Erektionsgedankens und der Erregung hebt sich deutlicher hervor. Und damit bekommt die Mappe Bedeutung. Hännschen ist auf dem Wege zur Schule; gibt es wohl für das Männliche – und Hanns ist ja nach meiner Annahme das Männliche – eine andre Schule als das Weib? Ein jeder weiß, daß die Tasche, die Mappe Symbol des Weibes sind, ja man kann unbeschadet aller exakttuenden Wissenschaftlichkeit so weit gehen, zu behaupten, daß der Mensch ebenso wie die Tiere nur auf dem Wege der Liebe zum Weibe und der Frucht im Leibe des Weibes den Schutz des Hohlraums erkannt hat. Aus der Tatsache der Sicherheit im Mutterleibe sind alle Wohnungen, Keller, Schränke, Taschen, Mappen entstanden. Zu allem Überfluß hat Hännschens Mappe auch noch eine rote Farbe – gewiß etwas Ungewöhnliches für die Schulmappe, aber symbolisch scheint Rot immer dasselbe auszudrücken: den Eros.

Der Hund ist der Wächter. Es ist nicht schwer, ihn als die immer wachende Moral des Menschen aufzufassen, die gegen die Begierde schützt. Es ist aber auch möglich, daß das Unbewußte des Dichters hier mit dem Hunde darauf aufmerksam macht, daß die Natur dem Männlichen eine absolut sichere Begrenzung der Begierde geschaffen hat dadurch, daß jede Erektion nach kurzer Dauer in sich zusammenfallen muß; dafür spricht die Tatsache, daß auf dem zweiten Bilde nicht nur der Knabe, sondern auch der 113 Hund im Zustande der machtlosen Erschlaffung – nach dem Sündenfall – dargestellt ist.

In diesem zweiten Bilde ist die Mappe betont, das Weibliche. Das Männliche ist zu Fall gebracht, ist erschlafft; selbst die Zweige des Baumes hängen nach unten. Die Mappe aber ist vom Knaben getrennt gemalt, umgeben von allerlei seltsamen, scheinbar unmotivierten Schnörkeln. Diese Schnörkel sind schon im ersten Bilde vorhanden, dort bilden sie aber eine zusammenhängende Kette; sie sind Symbol des Samenergusses, nach dessen Eintreten sich die Samentierchen um das Weibliche, die Mappe, gruppieren. Die Haltung des Knaben sowohl wie des Hundes – sie breiten die Glieder empfangend auseinander und liegen auf dem Rücken – verstärkt das Symbol des empfangenden Weibes.

Drittes und viertes Bild gehören zusammen. Der Baum ist verschwunden, statt dessen ist die Verbindung zwischen den Bildern durch den phallischen Laternenpfahl hergestellt. Die Zahl Drei, das Männliche ist – teilweise in engster Vereinigung mit der Vier, dem Prinzip des weiblichen Geschlechts mit den vier Lippen des Eingangs zum Weibe –, die Drei ist mindestens ein dutzendmal gemalt, besonders die Laterne ist dadurch ausgezeichnet. Auch in den Stufen, die zum Wasser hinabführen, ist sie da. Am auffallendsten sind aber die drei Vögel und die doppelte Erscheinung der drei Fische, die noch dazu das eine Mal quer, das andre Mal längs gerichtet sind. Der Fisch ist, das braucht man gar nicht erst zu sagen, das Symbol des Männlichen, und zwar des Knaben im Mutterleib, der ja im Wasser lebt, und weiterhin des Phallus im Schoße des Weibes.

»Kerzengrad« tritt Hännschen an Ufers Rand, aber, seltsam, er stürzt »kopfüber ganz« in das Wasser. Das ist in Wahrheit unmöglich, es ist so geschrieben, weil das Unbewußte das Symbol der Begattung erzwang: kopfüber. Die Fische sperren auf dem obern Bilde die Mäuler auf, als sie sich nach vollzogener Begattung und Befruchtung – das bedeutet der Sturz ins Wasser, auch in Träumen bedeutet er das – sehr erschreckt verstecken, sind die Mäuler geschlossen. Die Fische verstecken sich, das Verlangen Hännschens ist gestillt, wie seine schlaff gekrümmten Beine und 114 das Stückchen Hand, das noch sichtbar ist, beweisen, die Schwangerschaft ist eingetreten, die Fische als männliche Frucht verhüllen sich im Wasser des Mutterleibes. – Merkwürdig ist noch die Neun, die entsteht, wenn man die Dreien der Vögel und Fische zusammenzählt: Neun ist die Zahl der Schwangerschaft, der neun Monate, die der Sprachgebrauch als Dauer der Schwangerschaft annimmt. Schließlich findet man noch einen Scherz des Unbewußten: der Phallus Hännschen ist beide Male zwischen den Schenkeln einer Sechs gemalt, drei Vögel drei Fische, drei Fische drei Fische: Sechs ist von jeher das Weibliche.

Während auf dem vierten Bilde die Mappe halb in das Wasser getaucht ist – die Verbindung von Mutter und Kind ist in der Befruchtungszeit noch sehr eng – schwimmt sie auf dem fünften Bilde davon, während Hännschen allmählich wieder aus dem Wasser auftaucht: das Kind im Leibe der Mutter wächst. Die drei Fische haben sich in dieselbe Richtung wie der halbauftauchende Knabe gedreht, sie gehören zu dem Kinde, nicht zu der Drei der beiden Männer und des halben Laternenpfahls, die als Geburtshelfer schon durch ihre kniende oder gebückte Stellung oder durch die Halbierung des Pfahls ihre ziemlich neutrale Rolle dem Eros gegenüber andeuten.

Im letzten Bilde ist die Mappe weitweggeschwommen, der Ödipuszustand naht, der Kampf zwischen Eros und Anteros der Mutter gegenüber ist angebrochen. Aber das Männliche wächst kräftig heran, die Fische haben sich halb aus dem Wasser erhoben und starren mit weitgeöffneten Mäulern den Hanns an.

Ganz ähnliche Symbole ziehen das Kind zu einem andern Bilderbuch hin, den »sprechenden Tieren«. Die erste Geschichte vom Hahn entspricht dem Hanns Guck-in-die-Luft.

Beachtenswert ist die Tatsache, daß das eine Bilderbuch den Hahn als Symbol des Erotischen gewählt hat, das andre den Namen Hans. Die phallische Bedeutung des Hahns ist bekannt. Die Vorliebe für den Namen Hans in Volksmärchen und Volksliedern – übrigens besteht sie auch bei vielen Frauen – könnte auf derselben Symbolik beruhen. Im Mittelhochdeutschen wird das Wort Hahn noch han geschrieben, »han« ist noch jetzt das schwedische Wort 115 für »er«, »hans« ist »seiner«. Man behauptet zwar, daß Hans von Johannes abgeleitet sei. Aber das glaube ich nicht. Der Name Hans ist so tief mit der deutschen Sage verwoben, daß er nicht jüdisches Lehnwort sein kann. Übrigens ändert das nichts an der Meinung, daß Hans das Männliche, und zwar ganz speziell das männliche Glied bedeutet. Die Legende von Johannes dem Täufer betont dasselbe Symbol und im Englischen sind noch heutigentages St. John und St. Thomas Volksbezeichnungen des Gliedes. 116

 


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