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Neunundzwanzigstes Kapitel.

Ich war starr vor Erstaunen und so überwältigt, daß ich kaum einen Gedanken fassen konnte. Millefleurs Leightons Frau!

Arme Hope!

Aber warum »arme« Hope? Warum nicht vielmehr »glückliche« Hope?

Doch, wie gesagt, ich vermochte keinen ordentlichen Gedanken zu fassen, und auch Hopes Bild tauchte nur den einen flüchtigen Augenblick in mir auf. Nur wirre Gefühle kreuzten sich in meiner Seele.

Dann aber zogen die Vorgänge in der Dachkammer sehr bald wieder meine volle Aufmerksamkeit auf sich. Sweetwater hatte sich zum offenen Fenster hineingeschwungen und stand jetzt neben seinem älteren Kollegen. Der junge Beamte schien tief bewegt zu sein, der alte, der schon so viel erlebt hatte, mochte wohl mit seinem Urteil noch zurückhalten, denn er bemerkte auf Leightons Ausruf ruhig:

Ich war der Meinung, Sie hätten Ihre Frau vor fünf Jahren in Cornwall begraben.

Und ich – glaubte es ebenfalls! antwortete Leighton Gillespie ruhig. Durch viele, viele Wochen und Monate voll Kummer und Schmerz glaubte ich's, wie alle meine Freunde es glaubten. Dann – aber es ist eine lange Geschichte, Herr Gryce! Verlangen Sie, daß ich sie jetzt und hier erzähle?

Mit diesen Worten legte er seine Hand mit leiser Berührung ehrfurchtsvoll auf die von ihm so sorglich verhüllte Brust seines toten Weibes. Diese einfache Bewegung sagte mehr, als wenn er noch viele Worte gemacht hätte, und die beiden Polizeibeamten beugten vor der Majestät dieses Schmerzes stumm das Haupt. Leighton schien gar nicht auf sie zu achten. Eine Locke war unter der Decke hervorgeschlüpft und kräuselte sich mit goldigem Glanz auf dem elenden Strohsack; Leighton nahm sie in die Hand und legte sie sachte wieder unter die Decke; dann sagte er ruhig:

Ich möchte wohl, daß eine gewisse Tatsache öffentlich bekannt würde: mein Vater hat bis zum letzten Augenblick seines Lebens nicht gewußt, daß wir in Cornwall nicht meine Frau, sondern eine Fremde begruben. Gewisse Umstände machten's mir fast unmöglich, ihm zu sagen, daß sie noch lebte; ich halte es nicht für nötig, mich deswegen zu entschuldigen, daß ich ihm gegenüber geschwiegen habe; dagegen sehe ich ein, daß ich es jetzt nicht länger verhehlen darf; meine Lage erfordert es, und nicht minder das Andenken meines Lieblings, den ich in einer elenden Dachkammer, die für einen Hund zu schlecht ist, mußte sterben sehen.

Leighton sprach diese Worte mit einem Ausdruck unverkennbar echten Gefühls, wie es nur aus tiefstem Herzen dringen kann. Gryce hatte bis dahin den eines furchtbaren Verbrechens Verdächtigen mit strenger Miene beobachtet; jetzt wurde der Blick des von Natur gutherzigen alten Herrn milder und weicher; aber er mochte wohl nicht wissen, was er erwidern sollte, und so entstand ein peinliches Schweigen. Dieses wurde endlich auch mir, der ich noch vor dem offenen Fenster hockte, unerträglich, – ich faßte einen kühnen Entschluß, sprang in die Dachkammer hinein und stellte mich neben Sweetwater an des alten Gryce Seite.

Leighton Gillespie schien mich kaum zu bemerken. Ohne Zweifel glaubte er, ich sei ebenfalls ein Polizeibeamter, und da er deren bereits zwei vor sich hatte, mochte es ihm auf einen mehr oder weniger nicht ankommen. Die beiden Detektivs dagegen machten erstaunte Gesichter über mein plötzliches Auftauchen; als ich dies bemerkte, wandte ich mich sofort an Gryce und sagte:

Wenn Sie mir's gestatten wollen, möchte ich gern einige Worte an Herrn Gillespie richten.

Erst jetzt drehte Leighton sich überrascht nach mir um und musterte mit prüfendem Blick meine Erscheinung, die allerdings, barhäuptig und völlig durchnäßt wie ich war, einen nicht eben gewöhnlichen Anblick bieten mochte. Ich bemerkte an seinem Gesichtsausdruck, daß er mich allmählich erkannte, machte ihm eine Verbeugung und begann:

Wie ich sehe, erinnern Sie sich meiner. Mein Name ist Cleveland. Wenn Sie mir verzeihen wollen, daß ich hier so plötzlich eindringe und daß ich in Begleitung der Herren von der Polizei an diesem Ort erschienen bin, so wäre es mir eine Freude, Ihnen in diesem peinlichen Augenblick meinen Beistand anbieten zu dürfen. Herr Gryce wünscht offenbar eine Unterredung mit Ihnen; mit Recht zögern Sie, ihm diese in einem Zimmer zu gewähren, das durch den Tod geheiligt worden ist. Wenn Sie mir Ihr Vertrauen schenken wollen, so bin ich bereit, hier Wache zu halten, während Sie mit den Herren Beamten nach unten gehen. Niemand soll sich dem Bette nähern und niemand wird das Zimmer betreten, wenn Herr Gryce vor der Tür einen Wachposten aufstellen will. Wollen Sie diesen Freundschaftsdienst von mir annehmen? Ich erbiete mich dazu aus aufrichtig mitfühlendem Herzen.

Leighton sah mich einen Augenblick überrascht und zugleich zweifelnd an; plötzlich aber wandte er sich mit einem unaussprechlichen Ausdruck von Zärtlichkeit nach der geliebten Frau um und rief:

Sie verstehen mich nicht! Sonst könnten Sie nicht von mir verlangen, sie auch nur auf einen Augenblick zu verlassen. So nahe bei mir, so nahe bei meiner Hand, so nahe bei meinem Herzen war sie seit Jahren nicht! Jetzt kann sie nicht aufspringen und plötzlich mir enteilen! Sie wünscht es nicht einmal mehr! Dies ist für mich eine Seligkeit, von der Sie keinen Begriff haben – und diese Seligkeit kann ich mir nicht verkürzen lassen! So lassen Sie mich denn jetzt mit ihr allein, meine Herren, ich bitte Sie! Und kommen Sie erst wieder zu mir, wenn ich sie zur Erde bestattet habe. Dann bin ich bereit, Sie zu empfangen, bin bereit, alles zu erklären ...

Was Sie verlangen, ist unmöglich! unterbrach ihn Gryce. Sie müssen einige Erklärungen abgeben, ich muß diese von Ihnen verlangen, selbst wenn dadurch Ihre tiefe Trauer verletzt werden sollte. Wenn Sie nicht sofort diese Stätte zu verlassen wünschen, so müssen Sie uns wenigstens einige Fragen beantworten: In welchen Beziehungen stand diese Frau zu Ihres Vaters Tode?

In gar keinen Beziehungen!

Leighton Gillespie stieß diese Antwort mit einer Leidenschaftlichkeit hervor, daß wir alle unwillkürlich zusammenfuhren. Ich war entsetzt über eine solche Behauptung, die ich nur als eine offenbare Lüge ansehen konnte, und öffnete die Lippen zum Protest. Doch der alte Gryce gab mir einen kaum wahrnehmbaren Wink, ich besann mich und schwieg.

Ich sehe, fuhr der unglückliche Mann fort, daß der Verdacht, der, wie ich glaubte, sich auf meine Brüder und mich beschränkte, auch auf mein unschuldiges Weib gefallen ist. Das ist mehr als ich ertragen kann! Ich will Sie auf der Stelle mit meiner Unglücksgeschichte bekannt machen.

Gryce zog sich den einzigen Stuhl heran und setzte sich; der alte von Rheumatismus gequälte Mann mochte die Strapazen der Nacht empfindlich fühlen. Sweetwater schloß das bis jetzt immer noch offen gebliebene Fenster. Leighton Gillespie aber trat auf das Lager zu und umfaßte, ehe er seine Geschichte begann, noch einmal die geliebte Tote mit einem Blick so voller Verzweiflung, daß ich ihn niemals vergessen werde.

Sehen Sie nach, ob niemand draußen auf dem Flur ist, befahl Gryce.

Der junge Detektiv schritt auf die Tür zu. Als er sie öffnete, um hinauszuspähen, scholl aus den unteren Regionen des Hauses ein wildes, übermütiges Lachen herauf und dazwischen der schrille Gesang einer Frauenstimme; ohne Zweifel war es dieselbe, die wir bereits unten gehört hatten. Diese Töne schienen Leighton ins Herz zu schneiden. Gryce bemerkte es sofort und befahl Sweetwater, auch die Tür zu schließen. Der junge Mann kam der Aufforderung sofort nach und blieb gleich draußen. Ich konnte daher meiner Meinung nach ebenfalls nicht im Zimmer bleiben und fragte:

Soll ich zu Herrn Sweetwater hinausgehen?

Leighton kam dem alten Detektiv zuvor und rief:

Nein. Ich wünsche einen Zeugen zu haben. Ich bitte Sie, zu bleiben.

Ich tat dies gern. Obwohl ich bis auf die Haut durchnäßt war und vor Kälte mir die Zähne klapperten, so war ich doch gespannt zu hören, was der von Hopes Herzen Erwählte vorbringen könnte, um die Verbindung mit dem unglücklichen Wesen zu erklären, das, wie er sagte, seine Gattin war.

Leighton Gillespie schien den Wunsch zu haben, nunmehr möglichst schnell seine Seele von der Last des jahrelang gehüteten Geheimnisses zu befreien, denn, ohne eine Antwort des alten Gryce abzuwarten, begann er:

Diesen Herbst vor sieben Jahren traf ich zum ersten Male meine Frau, damals ein ganz junges Mädchen.

Halt, einen Augenblick! rief Gryce dazwischen. Zunächst muß noch ein anderer Umstand aufgeklärt werden. Mit diesen Worten trat er an die von Leighton so eifersüchtig behütete Bettstatt heran und ergriff die zerlumpte Decke. Dann, mit einem höflichen, aber in festem Tone gesprochenen: Sie werden erlauben! zog er die Decke sanft zur Seite und fragte:

Wie kam es, daß dies Weib – ich bitte um Verzeihung: wie kam es, daß Ihre Frau, Herr Gillespie, so plötzlich starb?

Der unglückliche Mann fuhr empor und sah den Detektiv wild an; doch mußte er ja anerkennen, daß der Beamte ein Recht zu seiner Frage hatte, und antwortete daher mit einem resignierten Achselzucken:

Ich wäre darauf von selber zu sprechen gekommen. Sie starb, wie Sie leicht bemerken können, an Mangel und Elend. In einer Angst, für die sie selber vielleicht keinen Grund wußte, aus dem elenden Unterschlupf bei Mutter Merry fliehend, irrte sie zwei volle fürchterliche Tage und Nächte bei den Docks umher, so daß sie die ganze Zeit über nicht aus den nassen Kleidern kam.

Wie Sie sehen, sind ihre Röcke noch jetzt nicht einmal trocken. Endlich kam sie in dieses Haus, wo man ihr schon früher einmal in einem fürchterlichen Unwetter Obdach gewährt hatte. Hier!! Aber immerhin – es ist ein besseres Obdach als der freie Himmel über den Docks und Werften, und ich bin froh, daß Gott sie wenigstens zu diesem kümmerlichen Zufluchtsort geleitet hat. Im Delirium des Fiebers rasend, kam sie unten in das Gastzimmer. Aber nachdem ihre erstarrten Glieder etwas warm geworden waren und ihr Leib ein wenig Nahrung erhalten hatte, da kam sie wieder zu sich und da – schickte sie zu mir.

Leighton schwieg. Ich verstand ihn noch nicht ganz und begriff auch nicht die Umstände, die dieses Ehepaar in eine so seltsame Lage hatten bringen können. Aber in mein Erstaunen begann sich eine eigenartige Ehrfurcht zu mischen – nicht vor dem Mann – soweit gingen meine Gefühle noch nicht –, wohl aber vor einer Liebe, die mit so unbeschreiblich rührender Innigkeit aus jedem seiner Worte sprach.

Als ich kam, war ein Arzt bei ihr, fuhr Leighton Gillespie nach kurzer Pause fort. Sie können ihn aufsuchen – er wird Ihnen nichts anderes sagen, als was ich Ihnen jetzt erzähle. Aber kein Arzt konnte ihr mehr helfen nach diesen Nächten voll bitterem Frost und nagendem Hunger. Ich gab ihm, was er für seinen Besuch zu fordern hatte, damit er mich nur mit ihr allein ließe. Und sie starb in meinen Armen.

Wieder eine Pause, während welcher Gryce stillschweigend die Tote wieder mit der Decke verhüllte, dann hub Leighton abermals an, in tiefem, feierlichem Tone:

Ich liebte dies Weib. Als ich sie zum ersten Male sah, war sie blutjung. Ich auch. Damals lagen noch keine Falten um ihre funkelnden Augen und lachenden Lippen. Sie war wie eine überirdische Erscheinung. Schön – nein, schön war sie nie. Aber von einem Liebreiz, der ... nun, ich finde keine Worte dafür! Ich kann nur soviel sagen: an jenem Tage begann ich zu leben!

Ich heiratete sie. Sie paßte nicht in meines Vaters Haus – sie paßte vielleicht überhaupt nicht in den Kreis einer Familie hinein. Ihr Heim war die Bühne – die Bühne, von der ich sie mir holte. Aber ich kannte ihre Geistesanlage nicht; ich wußte nur, daß sie wild und exzentrisch war, daß sie von einer ruhigen Häuslichkeit, von den engen Grenzen gesellschaftlicher Formen bisher nichts gewußt hatte. Aber selbst wenn ich sie damals gekannt hätte, wie ich sie jetzt kenne, ich zweifle, ob ich anders gehandelt haben würde. Ich war damals ein eigensinniger Bursch, der, ohne sich lange zu besinnen, nahm, was ihm gut dünkte, selbst wenn er wußte, daß es in seinen Händen nicht gedeihen konnte. Ich führte sie also in meines Vaters Haus ein. Ich nahm das wilde Vögelein fort aus der Luft seiner Heimat und sperrte es hinter die Gitterstangen eines wohleingerichteten Haushalts. Und sie – sie war mir damals dankbar dafür und gab mir zum Lohn ein Versprechen, das ich dringend forderte: niemals und unter keinem Vorwand, selbst nach meinem Tode nicht, sollte sie zur Bühne zurückkehren. Das arme Kind! Sie hat das Versprechen gehalten – hat's gehalten in Hunger und Elend; hat's gehalten, selbst wenn die rasende Begierde nach Morphium ihr Brust und Hirn folterte, hat's gehalten, obwohl ihr alle Adern voll Sehnsucht brannten nach jener Bühne, wo sie erst zum Leben erwachte! Mit ihrem Tanzen und Singen hatte sie mein Herz erobert, und doch wehrte ich ihr diesen natürlichen Ausdruck ihrer überquellenden Lebensfreude, und ich glaubte, ich Tor, sie müßte zufrieden sein mit meiner Liebe und mit dem Einerlei und der alltäglichen Nüchternheit eines banalen Familienlebens. Denn ich meinte, sie liebe mich ebenso leidenschaftlich wie ich sie, und könnte daher wohl im Taumel der Liebe einen Ersatz finden für das, was sie aufgegeben. Aber ich hatte ihre Natur nicht verstanden. Ein Mann konnte überhaupt ihr Herz nicht ausfüllen. Denn sie war ein Genie, ein unzähmbares, niemals in Schranken zu bannendes Künstlergenie.

Mein Vater liebte sanfte Frauen – meine Mutter war so süß und lieblich und anmutig, daß sie in unsrer Erinnerung noch jetzt gleichsam mit einem Heiligenschein umgeben ist –, er konnte daher das Temperament meiner Frau überhaupt nicht begreifen, und so kam es, daß er ihr nicht einmal ein wenig Geduld entgegenbrachte. Er war nicht unfreundlich gegen sie, aber er versuchte nicht einmal, ihr ihm fremdes Wesen zu verstehen. Wenn er sie antraf, wie sie heimlich vor dem großen Spiegel im Salon stand, oder wenn er unten in seinem Arbeitszimmer ein schwaches Echo ihrer Zauberstimme vernahm, so zeigte er ganz offen seine Abneigung gegen ihr Wesen, und diese brachte sie in solche Aufregung, daß sie ihre Zuflucht leider zu einem Mittel nahm, das alle meine Hoffnungen auf eine glücklichere Zukunft vernichten mußte – sie ergab sich dem Morphiumgenuß.

Sie hatte schon vor unserer Heirat das gefährliche Mittel genommen, doch war mir dies niemals bekannt geworden. Als ich bemerkte, von welch einem gefährlichen Feind unser Glück bedroht wurde, bemühte ich mich mit Geduld und mit strengem Ernst, sie von ihrer Angewohnheit abzubringen. Leider gelang es mir nur teilweise. Sie wußte nicht, wie schädlich das Mittel ist, und ließ sich auch nicht davon überzeugen. Ich mochte aufpassen soviel ich wollte, stets wußte sie mich wieder zu täuschen und sich immer wieder das Gift zu verschaffen. Ich konnte nichts weiter tun, als aufpassen, daß wenigstens dieses Schlimme meinem Vater und meinen Brüdern verborgen blieb.

Mein Vater hielt strengstens auf Formen und bestand daher darauf, daß sie bei Tische ihm gegenübersaß und in jeder Beziehung sich als Dame vom Hause benahm. Gerade weil ihm das Gerede der Leute höchst unangenehm war, und weil er auf seine gesellschaftliche Stellung und die seiner Söhne so stolz war, brachte er sie viel in die Oeffentlichkeit und führte sie in Gesellschaften und auf Bälle. Er glaubte, unsere Bekannten würden sie schon um seinetwillen gut aufnehmen. Sie taten es auch – jedoch nur widerwillig. Man bewunderte an ihr Eigenschaften, die sie nicht besaß, und schmähte an ihr Vorzüge, die nur ihr eigen waren. Manchmal sah ich die eine oder andere Dame der Gesellschaft sie umschmeicheln, daß mir von dem Anblick das Blut in den Adern kochte, und dann, sowie meine Frau ihre schönen Schultern gewandt hatte, ein sarkastisches Lächeln, womit man ihr nachsah! Ah! Und doch hoffte ich, hoffte zuversichtlich auf eine bessere Zukunft, wenn sie sich nur erst in diese ungewohnte Umgebung würde eingelebt haben, denn ihre guten Anlagen mußten sich doch entfalten, so schien mir. Aber es sollte nicht sein! Der Teufel, dessen Gewalt ich bekämpfen wollte, war stärker als all meine Kraft. Und so benahm sie sich eines Tages in einer Gesellschaft, wie sie bis dahin außerhalb unserer vier Wände sich noch niemals gezeigt. Mein Vater war dabei, und er machte nie wieder einen Versuch, sich mit ihr in Gesellschaft zu zeigen. Dann bekamen wir Claire, aber auch der Gedanke an das süße Geschöpf vermochte meine Frau nicht von ihrer Leidenschaft für den Morphiumgenuß zurückzuhalten, und eines Tages – unser Kind war noch klein – geschah das Unvermeidliche: meine Frau verließ mich heimlich.

Bis dahin war mein Glaube an sie immer noch unerschüttert geblieben; dieser Schlag traf mich furchtbar. Sie hatte in der Dämmerstunde das Haus verlassen – ohne Geld und beinahe ohne Abschied. Nur ein Zettelchen lag auf dem Piano in ihrem Boudoir im dritten Stock; sie schrieb mir, sie hätte versucht, in einem häuslichen Leben glücklich zu sein, aber es sei ihr nicht gelungen; sie bat mich, sie nicht zu suchen, denn sie müsse ersticken, wenn man ihr frische Luft und Freiheit vorenthielte.

Und ich zweifle nicht, daß sie die Wahrheit sagte. Seitdem ich später gesehen, an welchen Orten sie sich wohl fühlte, so daß das alte fröhliche Lächeln wieder auf ihren Lippen strahlte – seitdem bezweifle ich nicht, daß gerade der Luxus, den wir so schätzten, ihr unbehaglich war. Aber in jenem Augenblick dachte ich nur daran, welche Gefahren und Entbehrungen ihr drohten, wo ich sie nicht beschützen konnte. Ohne einem Menschen von meinem Unglück ein Wort zu sagen, stürzte ich aus dem Hause und suchte sie überall, wo ich glaubte, sie möglicherweise finden zu können. Endlich, nach einer wahnsinnigen Hetzjagd, spürte ich sie zehn Tage nach ihrem Verschwinden auf. Sie wohnte in einem einfachen aber anständigen Logierhaus; ihr Geld war zu Ende, und sie lag in der tiefen Betäubung des Morphiumschlafes.

Und doch, so furchtbar dieser beschämende Anblick mir war – ich liebte sie wie je zuvor! Zwar nicht mehr mit demselben Gefühl, aber dies neue Gefühl war ein tieferes, als ich's je gekannt – mir war's, als sei sie von jetzt an ein heiliges, mir anvertrautes Gut, wofür ich vor Gott und den Menschen verantwortlich sei; und in jenem Augenblick tat ich einen Schwur, ich wolle ihr ewig treu bleiben und alles aufbieten, sie vor dem Abgrund zu bewahren, über dessen Rande sie bereits schwebte.

Aber meine Geduld wurde auf Proben gestellt, auf die ich mich nicht gefaßt gemacht hatte!

Als sie erwachte, freute sie sich, mich zu sehen, und erklärte sich ohne weiteres bereit, in ihr Haus und zu ihrem Kinde zurückzukehren. Aber zwei Monate darauf war sie wieder fort, und diesmal fand ich sie nicht so leicht. Als es mir endlich doch glückte, war sie in einem solchen Zustande geistiger Niedergeschlagenheit, daß ich sie in eine Heilanstalt bringen mußte. Ich konnte annehmen, daß man dort verschwiegen sein würde und nichts über ihren traurigen Zustand in die Außenwelt dringen ließe. Denn mein Stolz quälte mich immer noch, auch wäre ein offener Bruch mit meinem Vater mir sehr unerwünscht gekommen; denn ein solcher wäre unvermeidlich gewesen, sobald er die Wahrheit erfahren hätte. Bis jetzt war ihm diese verborgen geblieben, denn ihre jeweilige Abwesenheit war ihm kaum aufgefallen, da ich selber ebenfalls sofort das Haus verlassen hatte. Er hatte daher geglaubt, wir wären auf einem längeren Ausflug begriffen, den wir, einer augenblicklichen Laune folgend, unternommen hätten.

Kaum aber war ich mit ihr eine Woche im Sanatorium, so merkte ich an den eigentümlichen Blicken, denen ich überall in der Stadt begegnete, daß mein Geheimnis entdeckt war. Ich wunderte mich daher nicht, als bald darauf eines Tages mein Vater ernsten Gesichtes in mein Zimmer eintrat. Er hatte die Wahrheit über den Zustand meiner Frau erfahren und wollte sich sofort selbst davon überzeugen. Darum suchte er uns in der Heilanstalt auf.

O, wie bitter empfand ich's damals, daß mein Vater selber mich an der Ausführung meiner Jugendpläne gehindert hatte! Ich hätte längst auf eigenen Füßen stehen können – so aber hatte ich nichts gelernt, konnte nichts, womit ich Frau und Kind hätte ernähren können, und war von der Gnade und dem guten Willen meines Vaters abhängig.

Dieser hatte meine beiden anderen Brüder stets lieber gehabt als mich und kannte daher mein Herz eigentlich wenig. So konnte er denn auch wohl kaum die Gefühle ahnen, die mich bewegten; aber ganz gewiß wußte er, wer in dem Nebenzimmer zu finden war, denn er warf einen schnellen Blick auf die Tür und fragte sodann in kaltem Ton:

Ist sie – deine Frau (er nannte sie nie bei ihrem Vornamen) – wach?

Diese Frage schnitt mir tief ins Herz. Es war heller Mittag, und so mußte die Frage, ob sie »wach sei«, einen Hintersinn haben. Aber ich nahm mich zusammen, rief sie bei Namen und bat sie, hereinzukommen und unserem Vater Guten Tag zu sagen. Dann wartete ich mit stockendem Atem auf ihr Erscheinen – vielleicht kam sie lächelnd und heiter, vielleicht aber ... o, ich mochte diesen Gedanken nicht zu Ende denken! Ihr geistiger Zustand war noch immer so, daß ich mich nicht auf sie verlassen konnte.

Es dauerte eine Weile, bis sie kam. Ich sagte daher:

Bitte, nimm Platz, Vater. Vielleicht ist sie beim Ankleiden.

Leider war sie beim Ankleiden gewesen! Einen Augenblick später flog die Tür auf, und ich sah, daß alle meine Hoffnungen, sie könnte einen besseren Eindruck auf meinen Vater machen, unbegründet gewesen waren. Sie war nicht in ihrem apathischen Zustande, leider aber – was viel schlimmer war – in ihrem aufgeregten. Ein Gedanke mußte ihr unglückliches Gehirn in Feuer und Flammen gesetzt haben; sie kam in das Zimmer mit dem Entschluß, zu siegen, und sie kannte nur ein einziges Mittel, das sie zu diesem Ziel führen könnte. Jung, schön auf ihre Art, schwebte sie plötzlich in einem wilden Wirbel ins Zimmer; ein bunter Schleier wallte von ihrem Nacken hernieder, ein Kranz von Weinlaub umwand ihr Haar. Ich stürzte ihr entgegen, um sie zurückzuhalten, aber es war zu spät. Sie wollte tanzen – und sie tanzte. Mein Vater, der sie niemals in solchem Taumel gesehen hatte, zog mich zur Seite und beobachtete sie mit harten Blicken, wie sie vor uns auf und nieder schwebte und sich drehte – in jeder Bewegung eine wunderbare Künstlerin, deren Leistung auf der Bühne Tausende zu stürmischem Beifall würde hingerissen haben. Endlich konnte ich's nicht länger ertragen, ich schlang meine Arme um sie, und sie hielt inne, ängstlich sich an mich schmiegend und klopfenden Herzens, wie ein gefangenes Vögelchen.

Singe! flüsterte ich ihr ins Ohr. Singe die Arie aus Denone!

Ich hoffte, sie könnte durch die tragische Leidenschaftlichkeit ihres Gesanges ihr Tanzen vergessen machen. Mein Vater hatte niemals zuvor eine so dramatisch bewegte Wiedergabe eines einfachen Liedes vernommen, und ich sah, daß dadurch in ihm Gefühle erregt wurden, die er vielleicht nie gekannt hatte. Aber ich sah auch, daß alles Hoffen vergeblich war. Eine solche Zurschaustellung tiefinnerlicher Gefühle, besonders von seiten einer Frau, war ihm in der Seele zuwider; er liebte nur sanfte oder elegante Boudoirmusik.

Die letzten Töne ihres Liedes verklangen. Erschöpft drohte sie zu Boden zu sinken – die Reaktion nach der gewaltigen seelischen Anspannung machte sich geltend. Schnell sprang ich hinzu, führte sie ins Nebenzimmer und schloß die Tür hinter ihr. Dann kehrte ich zu meinem Vater zurück.

Er stand an einem der Fenster des großen, aber unbehaglichen Zimmers und trommelte aufgeregt mit den Knöcheln gegen eine Scheibe. Das Licht fiel auf sein Haar; dessen tiefschwarze Farbe war bis in die letzte Zeit sein besonderer Stolz gewesen, und jetzt sah ich, daß es überall von silbernen Fäden durchzogen war. Das gab mir einen Stich ins Herz. Als er meine Schritte hörte, drehte er sich um und sagte:

Es ist gut, daß ich deine Frau einmal in diesem Zustande gesehen habe. Nun weiß ich, was mit ihr in die Familie Gillespie gekommen ist. Leighton – liebst du diese Frau?

Ja, Vater – heiß genug, um auch deinen Fluch ertragen zu können, wenn du um ihretwillen uns fluchen willst! erwiderte ich.

Dann bringe sie mir aus den Augen und halte sie auch den Blicken meiner heranwachsenden Enkelin fern! Eine tanzende Mänade kann nicht Claires Mutter sein.

Ich will sie fortbringen, versprach ich ihm; sobald der Aufenthalt in diesem Hause sie ein wenig gekräftigt hat, bringe ich sie an einen Ort, wo nur Fremde sind, und wo niemand an ihr Anstoß nehmen wird.

Ich würde dir raten, sie in eine Anstalt für Geisteskranke zu bringen, murmelte er. Es ist das einzigemal, daß ich ihn wissentlich ein ungerechtes Wort sprechen hörte.

Aber sie ist ja nicht geisteskrank! rief ich.

Geistig gesund aber auch nicht, versetzte er. So ist kein Mensch, der dem Opium- oder Morphiumgenuß frönt. Aber ich will dir keinen Gewissenszwang auferlegen, nur ... laß mich sie niemals wieder in unserem Hause in der Fünften Avenue sehen! Du wirst dort stets willkommen sein.

Ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihm zu erwidern, daß ich ein Haus, dessen Tür meiner Frau verschlossen würde, ebenfalls nicht betreten dürfte. Das Haus in der Fünften Avenue war mein Heim, es war das Heim meines Kindes!

Ein Mann, der in der Aufwallung einer Laune heiratet, fuhr mein Vater fort, muß auf unangenehme Folgen gefaßt sein. Ich werde dir soviel Geld geben, wie du brauchst, um euch an irgend einem anderen Ort einzurichten. Aber diese Hemisphäre ist zu eng, um sie und mich zugleich zu beherbergen. Geh nach Europa, Leighton, da hat deine Frau mehr Platz, um zu tanzen.

Ich beschloß, diesem Rat zu folgen; aber ihre Gesundheit war noch zu schwach, um bereits die weite Seereise wagen zu können. Darum gingen wir zunächst nach dem Westen und ließen uns in dem Badeort Mountain Springs nieder. Dort endete, vor den Augen der Welt, mein Eheleben. Für mich aber begann es erst. Sie kam nicht in jener Eisenbahnkatastrophe um, die so viele Menschenopfer forderte; aber damals glaubte ich freilich, sie sei tot und betrauerte viele Monate hindurch ihren Verlust. Sie hatte sich in Wirklichkeit nur die Umstände zunutze gemacht, um abermals vor mir zu fliehen.

Der Drang, zu ihrem alten Zigeunerleben zurückzukehren, war aufs neue unwiderstehlich in ihr erwacht. Sie beschloß, mich zu verlassen – und diesmal für immer. Sie bat mich um Erlaubnis, an einem Vergnügungsausflug der Kurgäste von Mountain Springs teilnehmen zu dürfen. Ich gab ihr meine Einwilligung, obwohl schweren Herzens, denn gerade an jenem Tage hatte ich eine Verabredung an einem anderen Ort. Aber sie hatte mich durch monatelange Verstellung in eine gewisse Sicherheit gewiegt, und, kurz und gut – ich gab ihr die Erlaubnis.

An jenem verhängnisvollen Morgen gingen zwei Züge von Mountain Springs ab – einer in nördlicher, der andere in südlicher Richtung. Mit dem letzteren fuhr sie. Da ich ihr aber gesagt hatte, ich würde vielleicht an einer Zwischenstation ebenfalls den Vergnügungszug besteigen, so veranlaßte sie ein junges Mädchen, das ihr für manche Gefälligkeit verpflichtet war, ein Kleid von ihr anzuziehen und den Vergnügungsausflug nach dem Norden mitzumachen. Sie hatte keine Ahnung, was den Ausflüglern bevorstehen sollte. Und ebensowenig ahnte ich, daß ich die wilde Jagd auf dem Trittbrett der Lokomotive hinter den beiden durchgehenden Wagen her um einer Fremden willen unternahm. Von jener rasenden Fahrt habe ich kaum noch eine dunkle Erinnerung; jeder Gedanke ging unter in der angstvollen Frage: werde ich mein geliebtes Weib vor Tod und Vernichtung retten können?

Wie Sie wissen, waren alle meine Bemühungen vergeblich; die unnennbare Katastrophe trat ein, und nur auf Trümmer und Leichen fiel mein Blick, als ich mich vom Boden erhob, auf den mich die Gewalt jener Dynamitexplosion geschleudert hatte. Dann stürzte ich mich auf den Trümmerhaufen, um nach ihr zu suchen, und ich fand sie, – so glaubte ich wenigstens. Obwohl von ihren Kleidern nur noch Fetzen übrig waren, erkannte mein von Angst und Liebe geschärfter Blick sie nur allzu gut. Aber, wie ich später erfuhr, nicht meine Frau hatte diese Kleider getragen; doch wie konnte ich das damals wissen? Ich begrub die furchtbar verstümmelten Ueberreste als die meiner Frau und trauerte um ihren Tod in tiefstem Schmerz.

Mein Vater empfand nur Erleichterung ob dieser Lösung aller Schwierigkeiten. Er versuchte, meinen Schmerz zu lindern, nicht indem er mir Sympathie bezeigte, denn diese konnte er nicht fühlen, aber durch eine gütige, milde Freundlichkeit, die mich hoffen ließ, daß bald herzliche Beziehungen zwischen uns obwalten würden, nachdem der beständige Anlaß zu Mißverständnissen aus dieser Welt geschieden war. Ich war älter geworden, und er nahm auch Rücksicht auf die ihm nicht zusagenden Eigentümlichkeiten meines Wesens. Außerdem knüpfte Claire ein starkes Band zwischen uns und half uns manchmal mit ihrem Kinderlächeln über eine trennende Kluft hinweg, die wir sonst wohl nicht so leicht überschritten hätten.

So begann ich allmählich meinen brennenden Schmerz zu vergessen und sogar mich zufrieden zu fühlen. Da hatte ich eines Tages in einem sehr selten von mir betretenen, nur von der ärmeren Volksklasse bewohnten Stadtviertel zu tun. Es war an einem Feiertag, und es hatte ein Straßenumzug stattgefunden; eine dichte Menschenmenge drängte sich daher auf den Trottoirs. Ich achtete kaum darauf. Claire war am Morgen ganz besonders herzig gewesen, und ich amüsierte mich noch im stillen über ihr kindliches Kauderwelsch. Plötzlich begann in einiger Entfernung die Musikkapelle des Festzuges wieder eine lustige Weise anzustimmen, und vor mir sah ich eine größere Menschenmenge einen Zuschauerkreis bilden, in dessen Mitte ein Weib mit hoch in die Luft geworfenen Armen sich im Tanze drehte. Sie glich so sehr jenem Bilde, das erst in der letzten Zeit allmählich in meiner Erinnerung zu verblassen begann, daß ich beinahe in Ohnmacht fiel. Ich sah genauer hin und dachte – wie konnte ich auch etwas anderes erwarten? – und dachte, ich würde ein fremdes Gesicht und ein mir unbekanntes Lächeln sehen.

Aber es war ihr Gesicht; es war ihr Lächeln!

Hatte Gott zwei solche Frauen geschaffen? Zwei Frauen mit solchen Augen, mit solchem Haar, mit solcher Leidenschaftlichkeit des Tanzes? War es eine Schwester von Millefleurs, eine Zwillingsschwester vielleicht, von deren Existenz ich nie ein Wort gehört hatte? Ich sandte ein heißes Gebet zu Gott, es möchte nicht so sein! Ich hatte Millefleurs begraben und mit ihr alle Erinnerungen, deren Neuerweckung meinen Seelenfrieden auf ewig vernichten mußte. Ich durfte nicht glauben, daß dieses tanzende Weib etwas anderes war als ein Gaukelspiel meiner Phantasie, das im nächsten Augenblick sich wieder verflüchtigen mußte. Ich durfte es nicht – es ging um Lebensglück und Seelenfrieden. Und doch stand ich wie festgebannt und starrte sie an; die Zuschauer brachen in wilden Beifall aus. Und plötzlich wandte sie sich nach mir um – ihre Augen trafen die meinigen – sie erkannte mich – es war Millefleurs.

Millefleurs!

Die Frau, die ich begraben hatte, war eine Fremde. Und diese Tänzerin, die auf dem Straßenpflaster einer gaffenden Menge Kurzweil bot – sie war meine Frau!

Ich machte keine Szene. Ich befand mich einer Tatsache gegenüber, mit der ich mich abzufinden hatte wie mit einer unvorhergesehenen Katastrophe, die plötzlich in das Leben eines Menschen einbricht und seine ganze Zukunft über den Haufen wirft.

Sie tanzte noch immer weiter, obgleich mit zitternden Gliedern und ängstlichen Blicken ihrer unverwandt auf mich gerichteten Augen. Ich gebot ihr durch einen Wink, innezuhalten, und als die neugierige Menge, für die es nichts mehr zu sehen gab, sich ein wenig verlaufen hatte, führte ich sie abseits. Ich fragte sie so eindringlich, bis sie mir alles gestanden hatte; und als dies geschehen war, fragte ich sie, ob sie mit mir kommen wollte, um Kleider und Nahrung zu erhalten. Sie sah mich entsetzt an und rief, indem sie traurig den Kopf auf die Brust sinken ließ: Ich kann's nicht. Ich bin deiner Güte nicht würdig.

Ich fühlte das ganze Elend ihres Gemütszustandes und fragte sie ruhig, ob sie alle Liebe zu mir verloren habe. Sie warf einen schnellen Blick auf mich, und antwortete stammelnd:

Nein. Aber ... aber ... ich kann nicht in großen Häusern leben und mich fortwährend von Leuten beobachten lassen, die mich für exzentrisch und unvernünftig halten. Wenn du mich in diese Umgebung zurückbringst, so weiß ich im voraus, daß ich wieder schlecht werde und dir fortlaufe. Aber ich hätte recht gern was Hübsches anzuziehen und was Gutes zu essen.

Ich nahm sie mit mir in ein gutes Gasthaus, das in der Nachbarschaft lag. Dann ließ ich ihr zu essen geben und kaufte ihr Kleider, worüber sie vor Freude lachte wie ein Kind.

Und dann sagte ich ihr, welche Absichten ich für die Zukunft hätte: ich wollte ihr in einem hübschen Vorort, wo sie vor neugierigen Augen sicher wäre, ein Häuschen kaufen. Dort sollte sie mit einer zuverlässigen Frau wohnen, die sie gut behandeln würde. Ein Klavier, Noten, Blumen, Bücher – alles sollte sie haben, und wenn sie Sehnsucht nach ihrem Kinde bekäme, so wollte ich später auch Claire zu ihr führen. Könnte sie sich in einem solchen Heim nicht glücklich fühlen? Wäre das nicht etwas Besseres als die kalte, schmutzige Straße und das Tanzen vor den Augen einer gefühllosen Menge?

Zur Antwort fiel sie mir mit leidenschaftlicher Dankbarkeit um den Hals – und gewiß war sie aufrichtig, als sie es tat. Dann fragte sie mich, ob ich meinem Vater sagen würde, daß sie noch lebte.

Da trat wieder das alte Gespenst zwischen uns!

Konnte ich meinem Vater die Wahrheit sagen? Mußte das nicht das alte unselige Verhältnis: Mißtrauen, Kälte, unausgesprochene Feindseligkeit wieder heraufbeschwören? Wie hatte ich darunter gelitten, gerade weil ich meinen Vater liebte und ehrte!

Nein! Ich konnte es nicht! Ich wußte, es war eine Feigheit von mir – und doch, ich konnte es nicht. Ich wollte ihr helfen. Meine Zeit, mein Geld sollten ihr zur Verfügung stehen, ich wollte sie hegen und pflegen und nur für ihr Wohl besorgt sein; ich wollte um ihretwillen auf die üblichen Zerstreuungen eines reichen jungen Menschen verzichten, ja sogar auf die mir in letzter Zeit liebgewordenen Freuden der Häuslichkeit in meines Vaters Heim in der Fünften Avenue – aber nie und nimmer konnte ich meinem Vater sagen, daß die glutäugige Frau, deren Andenken er zu vergessen suchte, noch am Leben war und jeden Tag von neuem seinen Namen zum Gespött der »guten Gesellschaft« machen konnte.

Sie sah mir meine Zweifel am Gesicht an und lächelte mit dem sorglosen, sonnigen Lächeln ihrer Jugend. Dann rief sie:

's ist besser so! Denn wenn es mir nicht gelingt, gut zu bleiben, so kommt nicht soviel darauf an, wie wenn er's wüßte! Und vielleicht – gelingt es mir nicht. Es liegt mir im Blut, Leighton – in meinem unglückseligen Zigeunerblut. O, warum hast du mich je lieb gehabt?!

Leider war ihre Furcht, es könne ihr nicht gelingen, nur allzu begründet gewesen. Nachdem sie's in dem friedlichen, rosenumrankten Häuschen ein paar Monate ausgehalten hatte, entfloh sie mir wieder – und diesmal war sie jahrelang verschwunden!

Aber ich suchte sie unermüdlich. O, welche Angst und Qual des Suchens, welche Unruhe im Herzen, so oft mich der Gedanke überkam: wo mag sie jetzt hungernd und elend herumirren? Stundenlang saß ich in meines Vaters Arbeitszimmer und sprach mit ihm von Börsenpapieren, Obligationen und Eisenbahnaktien, während ich mit jedem Gedanken, mit jedem Fühlen meines Herzens bei ihr war, die mein geistiges Auge in dunkler kalter Winternacht am Hafen und bei den Docks umherirren sah – unter strömendem Regen auf dem schmutzigen Straßenpflaster – ihre goldenen Locken auf zerlumpten Betten, die ein Hund als Lagerstatt verschmäht haben würde, zur Ruhe legend.

Unermüdlich suchte ich nach ihr, und endlich kam der Tag, da meine Geduld belohnt ward, da ich sie wiedersah.

Es war in einem Tanzlokal niederer Ordnung – aber sie tanzte nicht; sie starrte nur wie verzückt auf eine andere Tänzerin. Als sie mich erblickte, sah ich in ihren Augen einen Ausdruck von Entsetzen, zugleich aber doch auch von Dankbarkeit für meine treue andauernde Liebe und Sorge. Aber als ich ihr winkte, folgte sie mir nicht nach draußen; auf eine Szene konnte ich es nicht ankommen lassen, da diese aller Augen auf uns gezogen haben würde. So mußte ich zufrieden sein, daß sie mir versprach, sie wollte, wenn ich ihr Geld gebe, am nächsten Tage in unser Häuschen in New-Jersey zurückkehren.

Sie hielt Wort. Aber ihr Aufenthalt dauerte nicht lange. Von nun an kam sie öfter auf ein paar Tage, wenn gerade die Laune sie trieb, oder wenn ihr Elend gar zu groß war. Aber immer wieder zog es sie hinaus in jenes kümmerliche, erbärmliche Straßenleben, das für sie gleichbedeutend war mit Freiheit.

Jedesmal, wenn sie wiederkam, fand sie zum Lohn eine hübsche Ueberraschung vor. Keine Geldausgabe war mir zu groß, wenn ich dachte, ich könne ihr eine Freude machen, und ich nahm es auf mich, daß ich durch meine kostspielige Lebensweise vor meinem Vater, meinen Brüdern und allen meinen Bekannten in einem zweideutigen Licht erscheinen mußte.

Die Frau, die das Häuschen in Ordnung hielt, so daß es zu jeder Zeit imstande war, die arme Schöne aufzunehmen, war gut, treu und verschwiegen. Sie mag mein Geheimnis geahnt haben, aber nie hat sie auch nur mit einer Silbe etwas davon angedeutet.

Ich wußte, sie behandelte mein armes, irres Vöglein gut. Immer und immer wieder öffnete sie die Tür einer mit Lumpen und Schmutz bedeckten unglücklichen Kreatur, und am nächsten Morgen fand ich meine Millefleurs in einem Neste von tausend Rosen in weiche Stoffe gehüllt, und die gute Frau kämmte ihr die weichen langen Locken, bis sie glatt und glänzend waren wie lauteres Gold. Ja, ich sah sie oft auf ihren Knien vor ihr liegen und ihre wunden erfrorenen Füße waschen und salben und weiche Pantoffeln darüber streifen und ihr Fußbänkchen unterschieben und warme Decken über sie breiten, bis mein Liebling laut auflachte und alles von sich schob und glückstrahlend im Zimmer herumtanzte.

Aber der wilde Falk läßt sich nicht zähmen. Gerade wenn wir Hoffnung bekamen, das Häuschen werde ihr ein liebes Heim, dann verschwand sie plötzlich, und wieder begann meine wilde Jagd. Und wenn ich sie glücklich wieder einmal gefunden, gab es doch gleich darauf wieder neue Enttäuschung. Sie war nicht zu halten. Sie entschlüpfte uns immer wieder trotz aller unserer Wachsamkeit; und während des ganzen letzten Jahres kehrte sie nur ein einzigesmal zu unserem traulichen Nest in New-Jersey zurück.

Und doch glaube ich, es hat sie in diesem Jahre stärker zu mir hingezogen als je seit dem Beginn unserer Ehe. Sie hatte ein tieferes Gefühl für das Unrecht, das sie mir tat. Sie hatte an den Straßenecken der Armenviertel den Gesängen der Heilsarmee gelauscht; sie war den Sängern in ihre Versammlungssäle gefolgt und hatte die guten Worte gehört, die man dort vernimmt. Zuweilen – so hat man mir erzählt – lachte sie darüber, öfter aber sah man sie weinen, und einmal sang sie selber so wundersam, daß es zuletzt den Andächtigen schien, als täten die Himmel sich vor ihnen auf. Als ich hiervon hörte, zog es mich unwiderstehlich in diese Versammlungen. Merkwürdigerweise aber begegnete ich ihr niemals in einer solchen. Es war, als ob sie es ahnte, wenn ich in der Nähe war; denn oft sagte man mir, sie sei eine Minute vorher dagewesen und müsse noch in der Nähe sein. Ich stürzte ihr nach – aber niemals gelang es mir, sie zu finden.

Ich glaubte damals, sie hasse mich; jetzt aber bin ich der Meinung, daß sie sich einfach geschämt hat. Denn als sie wußte, daß sie im Sterben läge, da schickte sie nach mir. Und als sie auf meinem Gesicht las, daß ich – wie immer! – ihr verziehen hatte, da schlang sie ihre abgezehrten Arme um mich, barg mit einem Seufzer wie ein Kind, das endlich in Mutters Armen liegt, ihren Kopf an meiner Brust, hauchte noch ein schwaches »Vergib!«– und starb.

Sie hat mich immer geliebt! Denn als ich ihr Haupt wieder auf das Kissen niederlegte, da fand ich auf ihrer Brust von ihrer erstarrenden Hand fest umschlossen – dies!

Unseren Hochzeitsring!« setzte Leighton nach einer Pause flüsternd hinzu. »Sie hätte ihn für ein paar Dollars versetzen können – und wie oft in ihrem elenden Leben mochte sie ein paar Dollars nötig gehabt haben, um nicht hungern und frieren zu müssen!

Als sie voll Leben und Gesundheit war, als in heißem Uebermut ihr Zigeunerblut wallte, da lachte sie mich aus und lief mir weg. Aber als der Schatten des Todes auf sie fiel, da streckte sie ihre Arme nach mir aus, um mir für meine Liebe zu danken, die keinen Augenblick aufgehört hatte! Sie sehnte sich nach mir in ihrer Todesstunde; sie lächelte –«

Diese Worte sprach Leighton mit einem unbeschreiblichen Ausdruck des Triumphes. Unwillkürlich erhob er die Augen, die er bis dahin unverwandt auf die Gestalt unter der Decke geheftet hatte; und er blickte empor – nicht zu den schmutzigen, verräucherten Balken der Zimmerdecke, sondern zu dem Himmel, den über ihnen seine Seele sah. Zu diesem Himmel war sie emporgeschwebt. Mochte die Welt von ihr denken, was sie wollte, für ihn war sie nun und immerdar ein seliger Engel, an einem Zufluchtsort, von wo sie niemals versuchen oder wünschen würde, zu entfliehen.

*

Es war eine peinliche Aufgabe, den bedauernswerten Mann aus einer solchen Stimmung aufzustören. Aber es blieb dem alten Detektiv nichts anderes übrig, und nach einer langen Pause fragte er:

Was sind also Ihre Wünsche?

Der verzückte Ausdruck verschwand plötzlich aus Leightons Augen. Eine Minute lang dachte er nach, dann antwortete er:

Ich schulde ihrem Andenken eine Genugtuung. Ich wünsche, sie in mein Haus schaffen zu lassen und von dort aus sie zu bestatten, wie es meiner Gattin zukommt. Ich will mich um das Gerede der Welt nicht länger kümmern – ich will tun, was meine Pflicht mir gebietet.

Ihr Wunsch, Ihre Gattin von Ihrem Hause aus zu Grabe zu bringen, ist natürlich, antwortete Gryce. Zu meinem großen Bedauern ist ein Hindernis da, das die Erfüllung dieses Wunsches unmöglich macht. Herr Gillespie – meine Amtspflicht erheischt, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß wir hier nicht erschienen waren, um eine bloße Formalität am Sterbelager einer plötzlich verschiedenen Frau zu erfüllen; mein Befehl lautet: Sie zu verhaften. Sie stehen unter der Anklage, der Mörder Ihres Vaters zu sein.


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