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Siebzehntes Kapitel.

Am nächsten Tage wurde des alten Gillespies Testament eröffnet. Da er aber aus seinen Verfügungen niemals ein Geheimnis gemacht hatte, und da die Bestimmungen sehr einfach dahin lauteten, daß die drei Söhne zu gleichen Teilen erben sollten, da auch kein Kodizill vorhanden war, das diese Bestimmung wieder umstieß, so ließ sich aus dem Wortlaut dieser Urkunde nichts entnehmen, was zur Aufhellung des dunklen Rätsels hätte beitragen können. So beschäftigte dieses unlösbare Rätsel nach wie vor die Aufmerksamkeit der ganzen Stadt und vor allem die der Polizei.

Sogar der Detektiv Gryce, dessen hervorragende Geistesgaben über jeden Zweifel erhaben waren, ließ merken, wie schwer ihn diese unerwartet geheimnisvolle Aufgabe bedrückte; denn man sah auf seiner Stirn jetzt beständig eine tiefe Furche, und diese Stirn war bisher ganz glatt geblieben, trotz allen verzwickten Problemen, die in einer langen Reihe von Jahren hinter ihr zur Lösung gebracht worden waren.

Ich hatte selber Gelegenheit, diese Beobachtung zu machen, denn ein paar Tage nach dem denkwürdigen Verdikt der Leichenschaubehörde machte Gryce mir einen Besuch. Er kam zu mir, weil er aus Pflichtgefühl nichts vernachlässigen, sondern vollkommen überzeugt sein wollte, daß das ganze Terrain gründlich durchsucht und keine Spur unbeachtet gelassen wäre. Aber von mir erfuhr er nichts Neues, nicht einmal das Geheimnis meines Herzens, und als er schließlich wieder fortging, bemerkte ich mit Ueberraschung, wie alt er geworden war und wie kummervoll dieser sonst so milde und freundliche Herr aussah.

Aber mein eigener seelischer Zustand machte mir noch ganz andere Sorgen. Denn für mich handelte es sich ja nicht darum, einen aufregenden Kriminalfall seiner Lösung zuzuführen; was mich beunruhigte, war der Eindruck, den ein junges Weib beim ersten Anblick auf mich gemacht hatte – ein Mädchen, von dem ich kaum erwarten konnte, daß sie eine Leidenschaft teilte, an der sich möglicherweise mein ganzes Leben verzehren konnte. So viel Mühe ich mir auch gab, ich konnte sie nicht vergessen und mußte immerfort daran denken, in welchem Verhältnisse sie wohl zu den drei Brüdern stände. Galten ihr noch immer Georges Aufmerksamkeiten oder gar – dieser Gedanke war mir noch furchtbarer – Alfreds leidenschaftliche Hoffnungen? Erwiderte sie des letzteren Liebe, oder wurde sie noch von Zweifeln an seiner nicht völlig bewiesenen Unschuld zurückgehalten?

Mich verzehrte eine heiße Sehnsucht, dies zu wissen, und selbst zu sehen, wie sie ihre zweideutige Lage ertrug.

Aber ich fand keinen neuen Vorwand, sie aufzusuchen. Ich wußte nicht einmal bestimmt, ob ich sie noch im Hause ihrer drei Vettern finden würde. In dieser unruhigen Erwartung vergingen mir viele Tage; plötzlich aber hörte ich zufällig im Klub, Fräulein Meredith wohne bei einer entfernten Verwandten der Gillespieschen Familie in der Siebenundfünfzigsten Straße.

Diese Nachricht fiel wie ein Funke ins Pulverfaß. Ohne mich lange mit Nachdenken abzugeben, ohne mich zu fragen, ob der Schritt mir zum Unheil oder zum Segen geraten würde, begab ich mich nach dem Penrhynschen Hause und fragte nach Fräulein Meredith.

Zu meiner großen Herzenserleichterung erklärte sie sich bereit, mich zu empfangen, und einen Augenblick darauf saß ich, sie erwartend, in einem mit gewähltem Geschmack ausgestatteten kleinen Empfangszimmer. Erst dann wurde ich mir meiner Kühnheit bewußt. Mit welchen Worten sollte ich sie anreden? Wie konnte ich ein Gespräch eröffnen, ohne Ereignisse zu berühren, deren Erinnerung ihr eine brennende Qual sein mußte? Ich hatte keine Zeit, zu einem festen Entschluß hierüber zu kommen. Plötzlich stand sie vor mir, und als ich sie mir gegenüber sah, da vergaß ich alles um mich her, außer ihrer holden Gestalt und dem unwiderstehlichen Zauber, den ihre Gegenwart auf mich ausübte.

Sie hatte geweint, und es konnte meinem ängstlich forschenden Blick nicht entgehen, daß mein Erscheinen ihr Stunden tiefsten Leidens ins Gedächtnis zurückrief. Um über das Peinliche der Situation hinwegzukommen, sagte ich ihr einige herkömmliche Begrüßungskomplimente. Doch schnitt sie mir diese sofort kurz ab:

Bitte! rief sie. Wir haben uns in einem so bedeutungsvollen Augenblick kennen gelernt, daß es solcher Förmlichkeiten zwischen uns nicht bedarf.

Und ehe ich ein Wort erwidern konnte, fuhr sie fort:

Was wird jetzt wieder von mir verlangt? Ich weiß, Sie wünschen Erklärungen irgend welcher Art; jeder, der zu mir kommt, will solche Erklärungen haben, sogar meine besten Freunde. Aber ich habe alles, was ich wußte, gleich in jener Nacht mir von der Seele gesprochen.

Ihre Worte schmerzten mich; vielleicht sprach dieses Gefühl sich auch auf meinem Gesicht aus. Indessen Hope merkte nichts davon; ihr Herz war zu voll von dem furchtbaren Ereignis, auf das sie ohne mein Zutun das Gespräch gebracht hatte; und so fuhr sie denn fort:

Aber Sie sind gerecht, und Sie sind ein guter Mensch; das braucht kein anderer mir zu sagen; ich lese es auf Ihrem Gesicht. Sie werden ehrlich gegen mich sein und werden mir wenigstens keine doppelsinnigen Fragen vorlegen. Von anderen werde ich getäuscht; sie verleiten mich zu Geständnissen, die hinterher gegen mich oder gegen meine Verwandten ausgelegt werden – gegen meine Verwandten, an denen ich voll Treue hänge, obgleich ich die erste war, die gegen sie auftrat.

Ihre Wange, die so bleich war, als Hope ins Zimmer trat, war jetzt brennend rot geworden, und das Mädchen sprach hastig, beinahe zusammenhangslos. Ich sah, daß sie tröstenden Zuspruchs bedurfte, und sagte lächelnd:

Jetzt sprechen Sie aber selbst von dem Gegenstand, wovon Sie doch nichts hören mögen. Ich habe Ihnen keine Frage gestellt und werde es niemals tun. Ich bin, weder um meine Neugier zu befriedigen, zu Ihnen gekommen, noch weil ich mich zum Hüter der Gerechtigkeit aufwerfen möchte. Ich komme zu Ihnen, um mich zu erkundigen, wie es Ihnen geht, und um Ihnen von neuem meine Dienste anzubieten. Wollen Sie mir verzeihen, daß ich ein so tiefes Interesse an Ihnen nehme? Dieses Interesse ist ein unwillkürliches und zugleich so aufrichtiges, daß auch Ihr Oheim, wenn er noch lebte, nichts dagegen würde einwenden können.

Der Ton und Inhalt meiner Worte machte sie augenscheinlich ruhiger; sie setzte sich und versuchte ein Gespräch mit mir anzuknüpfen. Aber es lag etwas eigentümlich Zurückhaltendes in ihrem Wesen, was mich zu der Ueberzeugung brachte, daß die Erinnerung an die Umstände unseres letzten Zusammentreffens ihr zu peinliche Schmerzen bereitete. Und ich hatte mich hierin nicht getäuscht, denn plötzlich brachen aus ihrem Munde die Worte hervor:

In welcher Lage bin ich! Ich habe drei natürliche Beschützer und doch keinen Arm, auf den ich mit uneingeschränktem Vertrauen mich stützen könnte. Darum habe ich dieses Haus aufgesucht, darum begrüße ich mit solcher Freude – vielleicht mit zu großer Freude – den Anblick eines Freundes!

Dieser Gefühlsausdruck, auf den ich nicht vorbereitet war, überraschte mich und machte mich verlegen. Aber ich konnte doch ihre Lage recht wohl begreifen: sie war in der Stadt beinahe fremd; seitdem sie nach New York gekommen war, hatte sie sich ganz und gar ihrem Onkel gewidmet und war völlig in ihren freiwillig übernommenen Pflichten aufgegangen. Sie war daher fast immer zu Hause und sehr wenig in Gesellschaft gewesen. So hatte sie denn jetzt keine Freunde und Beschützer!

Ich faßte mir Mut, beugte mich zu ihr und ergriff ihre Hand mit einer Ehrfurcht, die ihr nicht entgehen konnte; ich fühlte von dieser Ehrfurcht mein ganzes Wesen durchdrungen.

Ich bin Ihnen ein Fremder, sagte ich bittend, ein Fremder, trotz jenem ereignisvollen Abend, der uns zusammengebracht hat. Sie wissen von mir wenig mehr als meinen Namen; vielleicht wissen Sie außerdem noch, daß mein einziger Wunsch, seitdem ich Sie zuerst gesehen, nur dahin ging, Ihnen zu dienen und Ihnen, so viel in meinen Kräften liegt, jede Unannehmlichkeit Zu ersparen. Dies müssen Sie selber empfunden haben, denn sonst hätten Sie mich nicht so ohne alle Bedenken als Ihren Rechtsbeistand angenommen. Wollen Sie zu diesem Titel – den Sie mir selbst verliehen – noch jenen anderen, höheren hinzufügen, den Sie soeben erwähnten? Darf ich der Freund sein, dessen Sie bedürfen? Einen treueren könnten Sie nicht finden!

Sie konnte in ihrer Verlegenheit nicht gleich Worte finden, aber aus ihrem Gestammel hörte ich doch heraus, daß sie sagte:

Ich will es. Ich habe Vertrauen zu Ihnen.

Dann saß sie ganz still da; ihre zitternde Hand ruhte in der meinigen, und aus ihren Augen strahlte ein ganz eigentümliches Licht. Ein Licht voll Unschuld; so blickt ein Kind, das in der Dunkelheit gestrauchelt ist und sich an einem starken Beschützer festhält. Für mich aber war dieses Licht wie Himmelsglorie, der erste Strahl einer Hoffnung, die mich, wenn auch nur in meiner Phantasie, das Traumland der Verheißung erkennen ließ. War's ein Wunder, wenn dieses Gefühl mich berauschte?

Ich vergaß, daß ich nicht für sie wochenlang ihr Alles gewesen, wie sie seit dem ersten Anblick stets mein Ein und Alles war. Ich wußte nur noch, daß sie ein unglückliches Mädchen war, das ich leidenschaftlich liebte, und ich sah ihr ins Gesicht, wie ein Mann nur einmal in seinem Leben einem Weibe ins Gesicht sieht.

Sie senkte ihre Augen nicht, sondern erwiderte meinen Blick mit einem leisen Lächeln, das mich hätte warnen sollen, zur rechten Zeit mich wieder auf sicheren Grund zu begeben. Aber es kam plötzlich wie Wahnsinn über mich; ich sah nur ihr Lächeln, und es erschien mir unbegreiflich süß. Ich wollte, von meiner Leidenschaft hingerissen, nichts mehr davon wissen, daß sie die Gefühle hegte, von denen ich bis dahin sie beseelt geglaubt hatte. Sie hatte ihre Vettern gern gehabt, aber sie hatte keinen von ihnen geliebt! Sie waren gut zu ihr gewesen; dafür hatte sie ihnen eine schwesterliche Zuneigung geschenkt, die einem von ihnen gegenüber vielleicht wahrer Liebe nahe gekommen war. Aber dies war keine Liebe, um die sie Leben und Seligkeit dahingegeben hätte! Meine Leidenschaft für sie aber war ein Teil meines Wesens; und plötzlich kam es über mich: ich mußte sprechen, ich mußte sie mir gewinnen in dieser Stunde, wo ihr Herz in Angst und Sorgen war. Und ehe ich selber wußte, was ich tat, ehe sie mir noch durch einen Blick oder durch ein Wort Einhalt gebieten konnte, ließ ich meine ganze Seele vor ihr ausströmen. Nicht in dem ehrfurchtsvollen gemessenen Ton, den ich mir vorgenommen hatte, wenn ich an diesen Augenblick dachte, von dem ich wohl wußte, daß er einmal kommen mußte, sondern heiß und wild, wie ein Mann spricht, wenn es gilt, den Schatz seines Lebens durch eine einzige ungeheure Anstrengung zu gewinnen.

Meine Erklärung kam so plötzlich; ich hatte vielleicht kein Recht dazu. Aber meine Aufrichtigkeit rührte sie. Deshalb vielleicht hörte sie mich so geduldig an, und ich glaube, es war die Anerkennung meiner Ehrlichkeit, die ihr einen feinen Schleier von Trauer über die schönen Züge breitete, als ich endlich fertig war und schwieg.

Ach! flüsterte sie. Warum kann ich die Liebe dieses guten Menschen nicht annehmen?

Sie stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

In atemloser Erwartung folgte ich ihr mit dem Blick; atemlos suchte ich jede ihrer Bewegungen zu deuten, das Neigen ihres Hauptes, die Bewegungen ihrer Hände. Ich betete zu meinem Schutzengel, er möchte mir beistehen und ihr Herz zum meinigen wenden. Oder würde sie sich mit einem Nein im Blick zu mir umdrehen? Die Spannung dieses Augenblicks wird mir unvergeßlich sein. Ich habe niemals wieder einen ähnlichen durchgemacht. Und niemals wieder habe ich in der kurzen Zeitspanne von wenigen Sekunden so viel gelitten.

Mit einemmal war alles vorüber. Sie wandte sich um, und ich las in ihrem traurigen Antlitz das Todesurteil meines Glücks.

Sie sind gut! rief sie aus. Es wäre für mich eine wahre Erlösung von meinem Schmerz, mich in die Obhut eines Mannes zu begeben, dem ich voll und ganz trauen kann. Aber ich kann eine Liebe nicht annehmen, die ich selber nur mit Dankbarkeit und Freundschaft würde vergelten können. Zum Unglück für mich und zum Unglück vielleicht auch für ihn, dessen Namen ich nicht einmal still in meinem Innern nennen darf, gab ich mein ganzes Herz ...

Mit einer fast wilden Miene drängte sie plötzlich den Namen zurück, der ihr bereits auf den Lippen schwebte. Dann sah sie mir voll Würde ins Gesicht und sagte mit einer erzwungenen Ruhe, die auch den letzten Rest meiner Hoffnungen vernichtete:

Ich habe mein Herz einem Manne geweiht, dem ich's vielleicht nicht hätte weihen dürfen. Beklagen Sie mich, aber tadeln Sie mich nicht! –

Ich sollte Sie tadeln? Ich! Ich, der ich unter demselben Unglück litt! –

Er mag vielleicht, fuhr sie fort, das einzige echte goldene Herz von den drei Brüdern sein. Zuweilen glaube ich, er ist es; zuweilen erscheinen mir seine Fehler nur als leichte Makel an einer edlen Natur, die aller Liebe und Verehrung würdig ist. Dann kommt wieder der Zweifel, der furchtbare, nagende Zweifel, und ich sehe in ihm einen Teufel, ein Ungeheuer, ein Geschöpf, das nicht des Ansehens wert ist, geschweige denn Anbetung und sehnsüchtige Träume verdient. O, wenn ich nur wüßte ...

Sie sollen es wissen! unterbrach ich sie, über ihrem Unglück mein eigenes vergessend. Ich war selbstisch, daß ich mit meinen persönlichen Wünschen mich Ihnen nahte, da ich doch nur mit den Ihrigen mich hätte beschäftigen sollen. Von nun an aber werde ich einzig und allein nur noch an Sie denken. Sie glücklich und zufrieden zu sehen, das soll von nun an meine einzige Freude, mein einziger Trost sein. Die Aufgabe selbst kann mir keine Freude machen, aber von Stunde an sollen alle meine Kräfte nur ihr gewidmet sein: ich werde Klarheit schaffen über den Zweifel, der Ihnen alle Seelenruhe rauben muß, solange er nicht gelöst ist. Ist Alfred der Schuldlose, für den wir ihn so gern halten wollen, so sollen Sie darüber Gewißheit haben. Ich fühle, daß es möglich ist, seine Unschuld zu erweisen, und mein Gefühl hat mich schon oft in schwierigen Lagen den rechten Weg geführt.

In unbeschreiblicher und mir unerklärlicher Aufregung fuhr Hope empor und rief:

Ich verstehe Sie nicht! Was können Sie tun? Wenn der eine Schuldbeladene von meinen Vettern sein Herz so sehr verstockt, daß er nicht einmal auf den Ruf seines Vaters hört, wie können Sie erwarten, daß es Ihnen gelingen wird, ihn zur Erkenntnis seiner Pflicht zu bringen?

Nein, das kann ich nicht erwarten, versetzte ich. Da jetzt die Hand der Gerechtigkeit drohend gegen ihn erhoben ist, so würde er ja selbst sein Leben verscherzen, wenn er seine Schuld gegen irgend jemanden eingestände. Wir wären Toren, wenn wir so etwas erwarteten. Aber es gibt noch andere Mittel, wodurch diese Frage gelöst werden kann. Wir können nicht Feigen lesen von den Dornen und keine Trauben von den Disteln. Nun, so denken Sie einmal nach: in wessen Brust wucherten die Disteln und Dornen am dicksten? Und wenn die Beantwortung dieser Frage uns noch keine Gewißheit gibt: wer von Ihren drei Vettern mußte den Tod des alten Mannes am meisten als Erleichterung empfinden?

Glauben Sie denn nicht, daß ich mir diese Fragen schon selber immer und immer wieder vorgelegt habe? fragte das Mädchen. Habe ich sie nicht in meiner Seele hin- und hergewälzt, bis ich fast wahnsinnig darüber wurde? Ich glaube, ich kenne George, und doch wage ich nicht zu sagen, daß sein Herz eines Verbrechens gänzlich unfähig sei. Ich glaube, ich kenne Alfred, und ich glaube, ich kenne Leighton. Aber welche Gewißheit kann mir dieser Glaube geben? Diese Männer verbergen ja ihre besten Herzenstriebe unter einem wüsten Lebenswandel, verschleiern sie unter einer nur zu durchsichtigen Heuchelei. Keiner von den dreien hat eine ganz offene Seele. Und wenn nicht der eine Schuldige offen sein Verbrechen bekennt, können wir niemals sicher sein, wer die beiden anderen Schuldlosen sind. Ich wenigstens kann niemals sicher sein! Meine Zweifel würden mich quälen, gerade wie sie mich heute quälen. Und von Zweifeln gequält zu werden, ist ein Elend, dessen Tiefe Sie gar nicht ermessen können, wenn Sie nicht die Geschichte meines Lebens kennen.

Und nach dieser Geschichte Ihres Lebens darf ich Sie nicht befragen? begann ich zögernd.

Aber warum sollte ich Ihnen eigentlich meine Geschichte nicht erzählen? Sie sind mein einziger Freund und werden wahrscheinlich der einzige bleiben. Warum sollte ich Ihnen also Tatsachen verhehlen, die allen meinen näheren Bekannten vollkommen vertraut sind? Ich habe das Unglück, einen Vater zu besitzen, der für mich kein Vater ist. Von meiner frühesten Kindheit an, bis ich meines Vaters Haus verließ, habe ich weder von ihm, noch von meiner Mutter jemals eine Liebkosung erhalten, die mehr gewesen wäre als eine kalte Feierlichkeit. Mein Vater konnte mich nicht leiden, weil ich ihm eine furchtbare Enttäuschung bereitet hatte: mein Bruder und ich wurden gleichzeitig krank; der Knabe starb, und ich, das Mädchen, blieb am Leben! Meine Mutter, – aber von ihr will ich nicht sprechen, sie ist schon seit einem Dutzend Jahren tot – Sie werden wohl meinen Worten glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich in meinen Kinderjahren niemals erfuhr, was Liebe ist; das erste warme Wort, das mir Freundschaft und Schutz anbot, hörte ich von dem Vetter, der mich hier auf dem Bahnhof in Empfang nahm; es war an jenem Tage, an dem für mich in meines geliebten Onkels Hause ein neues Leben begann. Wundert es Sie jetzt noch, wenn eine solche unerwartete Zärtlichkeit mich ein wenig blind machte gegen Fehler, von denen ich damals nicht ahnen konnte, daß je etwas Böses aus ihnen sich entwickeln würde?

Ich erhob mich, um Abschied zu nehmen. Ich war am Ende meiner Kräfte angelangt, und meine Selbstbeherrschung war nicht mehr stark genug, solchen immer erneuten Ansturm auf meine Nerven auszuhalten. Ich stand also auf und sagte:

Fräulein Meredith, Sie haben mein Versprechen gehört. Möge meinem Unternehmen ein Erfolg beschieden sein! Denn wenn es mir gelingt, so wird es nicht nur für mich eine stolze Genugtuung sein, sondern es wird auch Sie von einer drückenden Last befreien. – Warum zittern Sie denn?

Ich fürchte, erwiderte sie, – ich – ich habe Angst, Sie könnten Erfolg haben. Manchmal wünsche ich, die Wahrheit möchte mir niemals bekannt werden. Sie werden mich wankelmütig nennen, mich für unvernünftig halten. Ach ja – ich weiß, ich bin's! Aber was können Sie erwarten von einem Mädchen, auf dem niemals Gottes Segen geruht hat?

Dieser Schmerzensschrei enthüllte mir eine neue Seite ihrer Seele und machte mich um so trauriger, da ich sie nicht verstand. Ich kannte ja das Frauenherz so wenig. Sie sah, welchen Eindruck ihr Gefühlsausbruch auf mich machte und rief weinend:

Ich vergelte Ihnen Ihren Edelmut recht schlecht! Halten Sie es meiner Schwäche zugute. Und dann – ich – ich fürchte, er ...

Der Schuldige, unterbrach ich sie, hat keinen Anspruch auf Mitgefühl. Aber der, den Sie lieben, ist nicht der Schuldige! setzte ich in zuversichtlichem Tone hinzu. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort, als Ausdruck meiner innigsten Ueberzeugung. Ein Mann, der Ihre Achtung gewinnen konnte, der hat kein solch schwarzes Mal auf seinem Gewissen.

Mit diesen Worten beugte ich mich über Hopes Hand und entfernte mich schnell, ehe sie eine neue Frage an mich richten konnte.


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