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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Plötzlich trat aus der Dunkelheit eine männliche Gestalt auf uns zu. Es war zu finster, als daß ich seine Gesichtszüge hätte erkennen können, aber die Stimme kam mir bekannt vor, als der Mann sagte:

Alles in Ordnung. Er ist drinnen. Ich sah ihn vor 'ner halben Stunde hineingehen.

Schön! 's ist Sweetwater, sagte Gryce zur Erklärung, indem er sich zu mir umdrehte; dann fragte er den anderen hastig: Wissen Sie, in welchem Stockwerk wir ihn finden werden? Hat der Mann am Schenktisch Verdacht geschöpft, daß irgend was los ist?

Wenn er Verdacht hat, so sagt er jedenfalls nichts davon. Drinnen scheint alles in Ordnung zu sein. Aber man weiß ja nie, ob sie nicht doch Lunte gerochen haben. Unser Mann ist mit seiner gewöhnlichen Gleichgültigkeit gegen die Folgen ins Haus gegangen. Er ist in einer von den Dachkammern, ganz nach hinten hinaus; man kann von außen an sein Fenster herankommen, denn ein Schindeldach stößt ein paar Fuß breit unterhalb desselben an die Hauswand an. Wenn er Lust haben sollte, uns zu entwischen, so brauchte er bloß einen kleinen Sprung von vielleicht vier Fuß zu riskieren. Aber ich habe einen Mann da auf Wache gestellt, und der junge Herr würde in Hände fallen, die ihn nicht so geschwind wieder loslassen würden. Wollen Sie sich's mal ansehen? Das Fenster ist erleuchtet, und es sind weder Läden noch Vorhänge davor, so daß man ungehindert in die Stube sehen kann. Wenn Sie's wünschen, kann ich erst noch mal auf das Schindeldach kriechen und nach unserem Täubchenpaar gucken, ehe wir sie in ihrem Glück stören.

Das kann nicht schaden, versetzte Gryce, und wenn auch das Mädel von draußen zu sehen ist, so könnte der junge Herr hier nachher auch mal hinaufklettern, um uns zu sagen, ob's die rechte ist. Auf diese Weise geht alles sicherer und ruhiger ab, als wenn wir von der Treppe her eindringen. Das Haus ist wohl voll, he?

Quietschvoll! Und mit diesem nicht sehr salonfähigen Wort verschwand Sweetwater vor unseren Augen, wie wenn ein Windstoß ihn entführt oder ein Regenguß ihn weggewaschen hätte.

Ich fühlte ein seltsames Unbehagen. Die Nacht, das Unwetter, das unheimliche Haus, unsere mehr als unangenehme Aufgabe – dies alles übte seine Wirkung. Es lag über dieser ganzen Stadtgegend – einer der übelstberüchtigten der Riesenstadt – etwas fürchterlich Geheimnisvolles, Düsteres, das an Verbrechen gemahnte. Und dieser Eindruck war so stark, daß mir schon deshalb jene Nacht als ein ganz außergewöhnliches Erlebnis im Gedächtnis geblieben sein würde. Es sollte aber noch ganz anders kommen!

Das Gäßchen war nicht lang, und wir standen bald vor dem erleuchteten Fenster, das ich vorhin erwähnte. Wir hörten jetzt Stimmen: bald lautes Schimpfen, Fluchen und Streiten, dann wieder trunkene Lustigkeit und dazu, alles andere übertönend, eine schmetternde Weiberstimme, die ein leidenschaftliches Lied sang. Millefleurs' Stimme war es nicht – mit dieser konnte ich seit jenem Erlebnis bei Mutter Merry keine andere Frauenstimme mehr verwechseln – übrigens war es die Stimme eines jungen Weibes, die in den tieferen Tönen einer gewissen Lieblichkeit nicht entbehrte.

Während ich, unwillkürlich mich meinen Erinnerungen und Gefühlen überlassend, auf das Lied lauschte, tauchte plötzlich wieder eine Gestalt aus der Finsternis auf und kam auf uns zu. Es war Sweetwater, der von seiner neuen Entdeckungsreise über die Dächer zurückkehrte, auf denen er sich übrigens so heimisch zu fühlen schien wie ein Kater.

Gut, daß es feste regnet! flüsterte er, von der Anstrengung des Kletterns keuchend. Da bleiben die Bürschchen drin! Sonst hätten sie längst irgend einen von uns aufgespürt. Es sind wenigstens ihrer fünfzig hier in dem einzigen Hause.

Dann hörte ich ihn dem ganz dicht neben mir stehenden Gryce ins Ohr flüstern:

Oben ist alles in Ordnung. Ich sah ihn ganz klar und deutlich. Er sitzt mit dem Rücken gegen das Fenster; aber daß es Leighton Gillespie ist, das ist so sicher, wie zweimal zwei vier ist. Er ist im Abendfrack, gerade wie er in seinem Hause in der Fünften Avenue von Tische aufgestanden ist. Das Mädel ...

Na! Was ist denn mit dem Mädel?

Sie liegt in tiefem Schlaf. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, bloß ihr Haar, das aufgelöst um sie herumhängt ...

Ich kann sie an ihrem Haar bestimmt erkennen! unterbrach ich ihn.

Die beiden Männer traten einen Schritt zur Seite und sprachen im Flüsterton weiter. Dann kam Gryce zurück, legte seinen Mund an mein Ohr und fragte, ob ich gewandt genug sei, in derselben Weise wie Sweetwater übers Dach zu klettern: Er sagt, erklärte er, die Schindeln seien etwas schlüpfrig vom Regen, sonst aber könnte ein gewandter Mann ganz gut hinaufklettern. Ihm habe es keine Schwierigkeiten gemacht, und wenn Sie sich an den Fensterbrüstungen festhalten ...

Genug! unterbrach ich ihn. Ich will mir die Stelle mal ansehen.

Sofort zog Sweetwater mich durch einen schmalen Gang auf einen Hofplatz hinter dem Hause. Hier hatten wieder Sturm und Regen die Oberherrschaft, und im ersten Augenblick hörte und sah ich nichts als eine weite Finsternis, die hier und da von trüben Lichtpünktchen – den matt erleuchteten Fenstern – unterbrochen war, ich vernahm ein Chaos aller möglichen Geräusche, unter denen aber der heulende Wind doch tonangebend blieb.

Da oben ist's! flüsterte eine Stimme mir ins Ohr; dann legte sich ein Arm von hinten über meine Schulter und deutete auf eine dunkle Linie, die in etwa doppelter Mannshöhe über dem Boden begann und sich in der Finsternis verlor: es war das Dach, auf das ich klettern sollte.

Das ist der Weg! Können Sie ihn gehen?

Ich zog mir den Hut über die Ohren und blickte hinauf. Oben in der Brandmauer war ein schwach erleuchtetes Viereck, offenbar ein Fenster. Das war das Ziel, zu dem dieser jedenfalls sehr unbequeme Weg – nach Sweetwaters Ausdruck – hinaufführte.

Das Fenster steht ja offen! sagte ich.

Ganz recht.

Wenn ich nun aber ein Geräusch mache? Dann hört er mich ja ...

Mich hat er auch nicht gehört.

Das ist kein Beweis, daß er mich nicht hören würde. Indessen – hm – ich vergaß ... der Sturm und dann jener entsetzliche Lärm ... wovon kommt der eigentlich?

Lose Dachrinnen ... klappern natürlich 'n bißchen.

Ein Höllenspektakel!

Dann faßte ich plötzlich einen Entschluß – einen Entschluß, der mir noch jetzt kaum begreiflich ist, denn sicherlich hatte ich keine Veranlassung, nur der Polizei zuliebe meinen Hals zu riskieren und womöglich in Hopes Augen als verächtlicher Spion dazustehen. Wie von einer höheren Eingebung erfaßt, rief ich:

Ich will's versuchen! Aber wie soll ich aufs Dach hinaufkommen?

Sweetwater ließ einen kleinen Pfiff hören, und sofort trat aus dem Dunkel ein Mann auf uns zu.

Leihen Sie mal dem Herrn Ihren Rücken! sagte Sweetwater. Ich kletterte auf den Polizisten hinauf, und es gelang mir wirklich, von seinen Schultern aus auf das Dach zu kommen. Als ich oben war, fügte der gute Sweetwater freundlich hinzu:

Halten Sie sich an allem fest, was Ihnen vor die Finger kommt, und passen Sie gut auf, daß Ihre Füße nicht ausglitschen. Wenn Sie oben sind, gucken Sie schnell hinein, und kommen Sie sofort wieder 'runter. Wir warten hier auf Sie und passen auf, daß Sie nicht über den Rand hinwegrutschen.

Der Regen troff in solchen Strömen von meinem Hutrand herunter, daß ich beinahe gar nicht mehr sehen konnte. Ich riß ihn mir vom Kopf und warf ihn hinunter. Dann begab ich mich auf meine gefährliche Reise.

Schwierig war sie, indessen doch nicht so schwierig, wie ich erwartet hatte; und in zwei Minuten befand ich mich unter jenem offenen Fenster. Ich stieß mit dem Kopf gegen einige Stricke – wahrscheinlich Wäscheleinen. An ihnen gewann ich indessen einen festen Halt, so daß ich mich unterhalb des Fensters zusammenkauern konnte.

Dann blickte ich in die Dachkammer hinein.

Ja, da saß Leighton Gillespie! Er saß mit dem Rücken dem Fenster zugewandt, und ich konnte nur ein Stück von seinem Profil erspähen, da ich es nicht wagen durfte, meinen Kopf über die Fensterbrüstung zu erheben. Aber dieses Profil machte einen tiefen Eindruck auf mich, und den Zweck meiner Kletterei für den Augenblick ganz vergessend, betrachtete ich nur dieses Gesicht, das ich bis dahin noch niemals so recht genau gesehen hatte.

Ich war erstaunt, daß ich den Mann jetzt fast wider Willen schön finden mußte. Man durfte Leighton nicht mit seinen Brüdern zusammen sehen, man mußte ihn für sich allein betrachten. Dann war sein Gesicht nicht nur ungemein ausdrucksvoll, sondern es ließ auch gewisse Reize nicht vermissen. Leighton hatte nicht Georges imposante Größe, und es fehlte ihm die Regelmäßigkeit der Züge, die Alfreds Gesicht auszeichnete; und so mochte es gekommen sein, daß er in den Augen oberflächlicher Beobachter geradezu für den einzigen häßlichen Menschen in einer sich durch körperliche Schönheit auszeichnenden Familie galt. Jetzt sah ich aber, daß eine solche Auffassung irrig war. Er hatte etwas eigenartig Anziehendes an sich, wodurch er den Vergleich mit fast jedem Mann aushalten konnte.

Ich hatte nicht gewagt, meinen Kopf zu weit vorzustrecken, damit er nicht durch die Bewegung aufmerksam gemacht würde und meine Anwesenheit am Fenster bemerkte. Infolgedessen konnte ich nur einen geringen Teil des Zimmers überblicken und von Millefleurs nichts bemerken. Um sie zu sehen, war ich ja gerade auf das Dach geklettert; ich versuchte daher meine Stellung zu verändern, um einen besseren Ueberblick zu erhalten, als plötzlich Leightons Antlitz vornüber sank und ein Stöhnen an mein Ohr drang, ein so schmerzliches, herzzerreißendes Stöhnen, daß mir selber der Atem stockte, als ich es hörte. Von wessen Lippen hatte sich der Schmerzenslaut losgerungen? Von den ihrigen? Es hatte nicht wie eine Frauenstimme geklungen.

Und wieder das Stöhnen! Was konnte es bedeuten? Hatte Leighton eine Warnung erhalten? Wußte er bereits, was ihn in diesem Augenblicke bedrohte? War es seine Stimme, die so herzbrechend klagte?

Ich beschloß, um jeden Preis mir Gewißheit zu verschaffen. So hob ich denn mein Haupt empor und blickte kühnlich in das Zimmer. Und das Bild, das ich sah, ist mir ewig unvergeßlich im Herzen geblieben.

Beim Schein der flackernden Kerze, die bis aufs letzte Stümpfchen heruntergebrannt war und jeden Augenblick erlöschen zu wollen schien, sah ich einen elenden Strohsack längs der schmutzigen, von Feuchtigkeit überrieselten Wand. Auf diesem Strohsack lag ein Weib. Nur ein zerrissenes Bettlaken bedeckte die Glieder, die ich kurz zuvor im Rhythmus des Tanzes sich hatte bewegen sehen. Ihr Haar – jene Zauberlocken, derengleichen ich nie vorher gesehen hatte und niemals wieder sehen werde – bedeckte alle Blößen, die die Fetzen freiließen. Es bedeckte ihre Arme, umspielte ihre Schläfen und flutete in breiten Wogen auf den elenden Estrich, den es mit seiner goldigen Pracht schmückte. Nur ihr Gesicht ließ es frei. Entweder mußte sie eine Bewegung gemacht haben, seit Sweetwater sie gesehen, oder ihre Locken waren ihr aus dem Gesicht gestrichen worden, denn ihre Züge waren jetzt deutlich sichtbar, und ich erkannte in jenem Weibe sofort – Millefleurs.

Neben ihr, dicht an ihre elende Lagerstatt sich schmiegend, den Arm von ihrer goldenen Lockenflut bedeckt, saß Leighton Gillespie, das Gesicht in den Händen vergraben, und weinte, wie ein Mann nur ein einzigesmal in seinem Leben weint.

Dieser Schmerz war echt! Wirklicher Herzenskummer läßt sich nicht erheucheln.

Voll Ehrfurcht vor diesem Leide, wenn ich auch dessen Ursache nicht kannte, wollte ich mich von meinem Beobachtungsposten zurückziehen, als Leighton plötzlich auffuhr und zornig nach der Tür in der gegenüberliegenden Wand blickte.

Dann sprang er auf, schlang seine Arme um die vor ihm liegende weibliche Gestalt und umklammerte sie mit einer leidenschaftlichen, eifersüchtigen Inbrunst, dergleichen ich in meinem Leben noch nie gesehen hatte. Was hatte er gesehen oder gehört? Die Tür war geschlossen, und doch schien er einen Eindringling zu fürchten.

Aber wen?

Gewiß nicht mich, denn seine Augen wandten sich nicht dem Fenster zu, sondern blieben starr auf die Tür geheftet. Hatte er Schritte draußen auf der Treppe gehört? Wahrscheinlich; denn als ich nun ebenfalls nach der Tür sah, bemerkte ich, wie deren Knopf sich drehte. Dann öffnete sich die Tür selbst, erst langsam, dann schneller, und in ihrer Oeffnung stand in ruhiger Haltung mit ernstem Gesicht der alte Detektiv.

Im selben Augenblick flüsterte eine Stimme mir ins Ohr:

Bleiben Sie still liegen; oder kriechen Sie, ohne Geräusch zu machen, wieder hinunter. Unten sind Beamte aufgestellt, die auf Sie warten. Sie blieben so lange aus, daß Herr Gryce schließlich die Geduld verlor.

Und ich hatte geglaubt, ich hätte nur einen verschwindend kurzen Augenblick in das Zimmer hineingeschaut!

Ich bleibe hier, Sweetwater! antwortete ich flüsternd. Ich sah, daß Leighton sprechen wollte.

Wer sind Sie? rief er dem Eindringling entgegen. Seine Auflegung war so groß, daß er den ihm sonst wohlbekannten alten Herrn nicht erkannte. Ich habe ein Recht auf dies Zimmer. Ich hab's bezahlt – Ah! ... Er hatte den Beamten erkannt!

Schnell sich umdrehend, zog er die Decke über das Gesicht der eifersüchtig Geliebten und deutete mit feierlicher und zugleich gebieterischer Bewegung auf den Hut, den der Beamte natürlich auf dem Kopf behalten hatte, und sprach:

Achtung vor einer Toten! Sie werden den Hut abnehmen, Herr Gryce!

Einer Toten? wiederholte erstaunt der Detektiv, indem er schnell näher herantrat. Einer Toten? Ist das Mädchen tot?

Aber sein Zweifel – wenn er überhaupt einen Zweifel hegte – verschwand vor dem Blick, womit Leighton Gillespie ihn ansah.

Tot!

Leighton sagte nur dies eine Wort.

Dann, als Gryce unwillkürlich seinen Hut zog, trat der seltsame, unbegreifliche Mann einen Schritt vor und sprach in unendlich rührendem und zugleich würdigem Ton:

Achtung vor der Toten – und vor mir! Diese Frau ist mein Weib.


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