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Sechstes Kapitel.

Während wir auf die junge Dame warteten, prüfte ich die drei Gillespies mit kritischerem Blick, als es mir bisher möglich gewesen war. Das Ergebnis war folgendes: George erschien mir als der aufrichtigste, Leighton als der geistig bedeutendste, Alfred als der unruhigste, der in Liebe und Haß unberechenbar war. Sie waren alle aufgeregt und fühlten sich augenblicklich tief gedemütigt; aber wenn sie auch die gleichen Gefühle hatten, so brachte dies sie äußerlich nicht einander näher; im Gegenteil, jeder schien sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen und von den Brüdern fernzuhalten. Eine längere Beobachtung brachte mich zu dem Urteil, daß Leighton wohl ein interessanter Charakter sein möchte, um so interessanter vielleicht, als er nicht leicht zu ergründen wäre. Alfred mußte stark in seiner Liebe, aber auch gefährlich in seinem Haß sein. Und George war offenbar ein herzensguter Junge, wenn man seinen Rechten nicht zu nahe trat und seine Gemütlichkeit nicht mißbrauchte. Von mir schienen sie alle drei kaum Notiz zu nehmen. Ich war für sie einfach ein Bindeglied zwischen ihrem toten Vater und dem Brief, den ich Fräulein Meredith zu übergeben hatte.

Der Coroner war sichtlich aufgeregt, aber wohl nur in der gespannten Erwartung des Erscheinens der Dame und der Verlesung des Briefes, der wir alle entgegensahen.

Fräulein Meredith kam früher, als wir erwartet hatten. Als ihre leichten Schritte sich auf der Treppe vernehmen ließen, ging mit uns allen eine Wandlung vor. Zusammengesunkene Gestalten richteten sich auf, gefurchte Stirnen glätteten sich. Nur Leighton blieb sich völlig gleich, und daher kam es wohl, daß ihm ihr erster ängstlicher Blick galt, als ihr bewußt wurde, daß der Coroner sie in einer ganz bestimmten Absicht zu sich entboten hatte.

Ich begreife nicht, was man heute nacht noch von mir wissen will, sagte sie, und ihre Stimme klang vor Aufregung so gepreßt, daß sie kaum verständlich war. Ich bin kaum imstande zu sprechen. Aber der Doktor sagte, ich müßte herunterkommen. Warum konnte man mich nicht bei Claire oben lassen?

Das ging nicht an, liebe Hope. Der Herr hier, der, wie du weißt, unserem Vater in seinen letzten Augenblicken beistand, sagt, er habe einen Brief oder eine Mitteilung, die von dem Sterbenden ganz gewiß nur für dich bestimmt worden sei. Hältst du es für wahrscheinlich, daß mein Vater etwas Derartiges für dich hinterlassen haben kann? Siehst du einen Grund, weshalb seine letzten Gedanken nicht seinen Söhnen, sondern dir könnten gegolten haben? Antworte – wir werden uns nicht wundern, wenn du ja sagst.

Sie hatte versucht, sich aufrecht zu erhalten, ohne den von Leighton ihr angebotenen Arm anzunehmen. Aber sie hatte ihre Kräfte überschätzt. Sie mußte sich an ihn anklammern; dann wandte sie sich mit ängstlichem Gesicht zu uns und sagte in kaum hörbarem Flüsterton:

Es ist möglich. Ich habe ihm in letzter Zeit viel bei seinen Schreibereien geholfen. Muß ich den Brief hier lesen?

In ihrer Frage und besonders in deren Betonung lag eine Bitte, beinahe ein Flehen. Aber dies rührte den Coroner nicht, obgleich er offenbar dem Mädchen freundlich gesinnt war. In kurzem, beinahe schroffem Ton antwortete er mit einem befehlenden:

Ja, Fräulein – hier!

Sie hatte diese Antwort wohl nicht erwartet. Flehend wanderten ihre Augen von einem zum anderen, bis sie endlich wieder auf des Coroners Gesicht hafteten.

Ich kann nicht! rief sie aus. Schonen Sie meiner! Ich glaube, ich bin nicht bei voller Besinnung. Alles dreht sich vor meinen Augen – ich kann nicht sehen – erlauben Sie, daß ich den Brief dort im Hellen lese – ich bin ein nervöses, schwaches Mädchen.

Sie hatte Leighton losgelassen und war abseits getreten. Den verschlossenen Briefumschlag hielt sie in ihrer zitternden Hand, ihre Augen wanderten von George zu Alfred und schienen um Beistand zu flehen, den doch die jungen Leute ihr nicht gewähren konnten.

Ich sollte doch wohl eigentlich das Recht haben, die letzten Worte eines so heiß geliebten Verwandten zu lesen, ohne dabei von den Augen von – Fremden beobachtet zu werden, erklärte sie endlich mit einem nur schwach gelungenen Versuch, eine hochfahrende Miene anzunehmen.

War diese Spitze für mich bestimmt? Ich glaubte es nicht, doch konnte ich nicht gut anders, als mich zurückziehen, und ich hatte beinahe die Tür erreicht, als ich den Coroner sagen hörte:

Wenn die Worte, die Sie finden werden, sich nur auf Ihre eigenen Angelegenheiten beziehen, Fräulein Meredith, so können Sie sie für sich behalten. Wenn Sie aber in irgend einer Weise mit den Interessen des Schreibers in Verbindung stehen, so werden Sie selbst den Wunsch hegen, seine Worte laut zu lesen, denn die Art und Veranlassung seines Todes sind ein Geheimnis, dessen unverzügliche Aufklärung Ihnen ebenso nahe am Herzen liegen muß wie den übrigen Gliedern des Hauses Gillespie.

Oeffnen Sie ihn! rief sie plötzlich, und damit drückte sie dem Arzt, der sich inzwischen ebenfalls wieder eingefunden hatte, den Brief in die Hand. Und möge Gott ...

Sie vollendete ihren Ausruf nicht. Allen Anwesenden den Rücken zukehrend, wartete sie, daß Doktor Bennett den geheimnisvollen Brief vorlese.

Es war mir unmöglich, in einem so kritischen Augenblick fortzugehen. Meine Blicke hingen an dem Arzte; ich sah ihn das von mir so sorgfältig verschlossene Papier aus dem Umschlag hervorziehen. Er sah es an, drehte es um, sah es wieder an und machte dabei ein so maßlos erstauntes Gesicht, daß wir alle in die höchste Aufregung gerieten und uns um ihn herumdrängten, um Aufklärung von ihm zu erhalten.

Diese Aufklärung war einfach genug.

Das Papier, das mir so viele Gewissensschmerzen verursacht, das das junge Mädchen nicht hatte lesen wollen, wie wenn etwas unaussprechlich Furchtbares dahinter lauerte – es war vollkommen leer.

Nicht der geringste Schriftzug stand auf der glatten weißen Oberfläche dieses Papieres.


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