Paul Grabein
Jugendstürme
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Theo Wiltmann kam nach Haus, nicht gerade in bester Stimmung. Ein verpfuschter Abend heute, eine verfehlte Verabredung. Er hatte allein im Adlon essen müssen und war nachher noch eine Stunde im Café gewesen, wo er in der Regel Bekannte zu treffen pflegte, aber auch hier kein Mensch! Verstimmt war er schließlich nach Haus gefahren, für seine Verhältnisse ungewöhnlich früh – es war erst halb elf Uhr. Was nun? Er dachte es, während er die Wohnungstür aufschloß. Ob er sich noch an den Schreibtisch setzte? Aber in der Stimmung!

Mißmutig knöpfte er den Pelz auf. Da bemerkte er an der Flurgarderobe einen Damenmantel und Hut, und gewahrte nun auch durch die Mattscheibe der Tür zum Studio drinnen Licht. Sehr verwundert tat er einen Schritt zu der Tür hin, doch schon ging diese auf, und Ulla Ötting erschien auf der Schwelle.

»Du?«

Aus dem einen Wort klang deutlich die unliebsame Überraschung.

Scharf und erregt kam es denn auch von ihr zurück:

»Ja, ich! Seit mehr als vier Stunden warte ich hier schon auf dich!«

»Das ist allerdings bedauerlich«, kühl sagte er es, »aber wie sollte ich ahnen, daß du hier bist?«

»Und wie sollte ich es anstellen, um deiner habhaft zu werden? Seit Wochen schon, seit unserer letzten Unterredung, die dir freilich nicht sehr angenehm war, gehst du mir aus dem Wege, läßt dich sogar verleugnen, wenn ich nach dir frage.«

»Erlaube mal, das ist denn doch –«

»Keine Ausflüchte! Auch deine getreue Helfershelferin Frau Bollmann« – sie meinte seine Wirtschafterin – »versuchte es, mir das auszureden, vorhin, als sie mir aufmachte und sich alle Mühe gab, mich bald wieder loszuwerden. Aber als ich ihr auf den Kopf zusagte, daß ich an dein ständiges Nichtzuhausesein nicht mehr glaube, da wurde sie merkwürdig still und fand sich damit ab, daß ich ihr schließlich erklärte, ich würde hier auf dein Kommen warten – denn ich müßte dich sprechen!«

Während Ulla das sagte, hatte Theo Wiltmann seinen Pelz abgelegt, anscheinend mit größter Gelassenheit; nun strich er noch einmal glättend über den Otterbesatz des Kragens hin, dann erst wandte er sich langsam Ulla zu, mit der er jetzt ins Zimmer trat.

»Die Eindrücke, die du aus deiner Unterhaltung mit Frau Bollmann gewonnen hast, sind wohl nicht gerade ein schlüssiger Beweis, aber –« er machte eine leicht abtuende Bewegung der Hand, »lassen wir diese nicht besonders erquickliche Auseinandersetzung. Noch einmal, ich bedaure, daß du solange auf mich warten mußtest. Da hast du am Ende auch noch gar nicht zu Abend gegessen?«

»Natürlich nicht, aber –«

»Das finde ich stark von der Bollmann, daß sie dir nichts anbot. Es ist doch immer soviel im Hause –« und er wollte klingeln.

»Laß nur, sie ist fortgegangen, bald nachdem ich kam. Mir ist auch nicht nach Essen zumute – mir liegen andere Dinge am Herzen.«

Ihre Mienen zeigten plötzlich heftige Erregung; ihre Augen blitzten ihn an. »Ich will wissen, woran ich mit dir bin!«

»Wie meinst du das?«

»Du weißt recht gut, was ich will: Klarheit, wie es um uns steht!«

»Ich verstehe dich wirklich nicht, Ulla. Es ist doch gar nichts zwischen uns vorgefallen.«

»Äußerlich allerdings nichts; aber dein Wesen ist vollkommen verändert. Du hast keine Zeit mehr für mich, gehst mir aus dem Wege, und sind wir wirklich noch mal zusammen, dann bist du so anders – ich fühle es deutlich, wie du dich zu Zärtlichkeiten zwingen mußt. Theo, was hab' ich dir denn getan? Warum liebst du mich nicht mehr? Ich hab' doch für dich getan, was ich konnte!« Aus ihrer Stimme klang ein verhaltenes Schluchzen.

Theo Wiltmanns Miene zeigte starkes Mißbehagen, aber er zwang sich zu einer Freundlichkeit des Tones, wie er erwiderte:

»Das sind ja alles Hirngespinste, Ulla. Gewiß, ich hatte nicht übermäßig viel Zeit für dich in den letzten Wochen, ich geb' es zu. Ich war sehr in Anspruch genommen, daher auch abgespannt, wenig disponiert, wenn wir uns sahen, aber alles übrige – das ist ja Unsinn, pure Einbildung, Ulla.«

»Nein, nein – du kannst es mir nicht ausreden! Mein Gefühl trügt mich nicht: Du bist meiner überdrüssig, du liebst mich nicht mehr – du möchtest mich los sein und hast nur nicht den Mut, es mir zu sagen. Aber ich ertrag' das nicht länger – Klarheit will ich haben! Nacht für Nacht liege ich schlaflos und grüble: Warum dies alles? Ich bin mir doch keiner Schuld bewußt. Ich bin am Ende meiner Kraft – ich kann nicht mehr weiter so! Lieber ein Ende mit Schrecken als dieses Hinquälen!« Und in ihren Augen flammte es von neuem auf in verzweifelter Entschlossenheit.

Wiltmann entging es nicht. Er merkte, sie ließ sich nicht länger hinhalten; er mußte Farbe bekennen. Aber es war ihm nicht wohl zumute bei diesem Gedanken. Das wilde Flackern in ihrem Blick verhieß ihm nichts Gutes. Da sagte er zögernd:

»Es gibt Dinge, die, wenn man sie ausspricht, leicht ein häßliches Gesicht bekommen. Ist es nicht besser, man läßt sie unerörtert und zieht stillschweigend seine Konsequenzen?«

»Das könnte dir so passen! Nein, mein Lieber, ich bin nicht gesonnen, diesen dir sehr bequemen Weg zu gehen. Ich bin kein Spielzeug, das man beiseite wirft, wenn man seiner überdrüssig geworden ist.«

Es lag ein Drohen in ihrer Stimme, das ihn besorgt aufhorchen ließ. Da trat er zu ihr und sagte beschwichtigend:

»Nicht so aufgeregt, Ulla! Laß uns doch ruhig bleiben und ganz vernünftig über alles sprechen. Sieh –«

Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie stieß sie leidenschaftlich zurück.

»Laß mich! Mit schönen Redensarten ist hier nichts getan. Gib mir Antwort: Warum liebst du mich nicht mehr?«

»Du verkennst die Situation – meine Empfindungen für dich sind ganz unverändert –«

»Keine Ausflüchte! Ich verlange die Wahrheit. Du kommst nicht mehr darum herum!«

Noch drohender als vorhin klang es, so daß er unwillkürlich einen Blick nach dem Täschchen warf, das ihre Hände erregt umklammerten. Da bequemte er sich zur Antwort:

»Wenn du denn mit aller Gewalt darauf bestehst, so muß ich wohl reden – so schwer es mir auch fällt. Also, du fühlst ganz recht, es ist zwischen uns nicht mehr wie früher. Wir haben uns wohl beide ineinander getäuscht – das heißt, ich will gern zugeben, die Schuld, wenn man von einer solchen überhaupt reden will – liegt mehr bei mir. Ich bin eine leicht enthusiasmierbare Natur, eben eine Künstlernatur. Ich flamme schnell auf, bin in diesem Stadium ganz hingegeben – wirklich, Ulla, es war schon echt, was ich für dich empfand. Dein Scharm bezauberte mich. Ich war rasend in dich verliebt. Aber – es ist wohl ein Naturgesetz, daß solch ein ekstatischer Zustand nicht von Dauer sein kann. Auf die Aktion folgt notwendig die Reaktion. Die Ernüchterung konnte so auch bei mir nicht ausbleiben.«

Er sah, wie sie tief erblaßte, da sprach er schnell weiter: »Das sagt nichts gegen dich, Ulla – ganz gewiß nicht! Du bist dieselbe geblieben, die du warst, bist heute noch genau von demselben Scharm. Nur mich kann eben keine Frau auf die Dauer fesseln – es ist eine Tragik, unter der ich selber leide, glaub' mir's«, und er holte schmerzlich Atem.

Schrill lachte sie auf, dann aber flammte sie empor:

»So – und damit glaubst du die Sache abgetan? Für wen hältst du mich denn? Bin ich ein kleines Ladenmädchen, dem man den Laufpaß gibt, wenn es einem nicht mehr paßt, das sich ein Tränchen abpreßt und am nächsten Sonntag auf dem Tanzboden einen neuen Schatz sucht? Nein, mein Lieber, vergiß nicht, wer ich bin!«

Theo Wiltmann wurde sehr unbehaglich zumute. Worauf wollte das hinaus? Etwa auf ein Eheversprechen? Rasch kam er ihr da zuvor:

»Dieser Vergleich, Ulla! Wie kannst du das in einem Atem nennen? Solche Dinge und unser Erleben! Entweihe nicht selber, was so groß und schön war. Zwei innerlich freie und hochstehende Menschen fanden wir uns und schenkten uns höchstes Glück. Taten es vollbewußt und verantwortungsvoll. Wir maßen nicht mit kleinlichen Maßstäben. Hocherhobenen Hauptes überschritten wir die engen Grenzen der Bürgerlichkeit. Wir wußten klar, daß dieser Weg nicht zum Standesamt führen würde – das lag dir selbstverständlich ebenso fern wie mir – aber wir wußten ebenso klar auch, daß dieser Weg uns nicht für eine Ewigkeit verbinden würde. Gewiß, er ging schneller seinem Ende zu, als wir beiden wohl dachten; das tut bitter weh. Aber wollen wir nun klein sein? Nicht in der Quantität liegt der wahre Werk, sondern nur in der Qualität. Wollen wir das Glück mit der Elle messen? Das wäre unserer nicht würdig. Laß uns also dem Unabänderlichen hochgesinnt ins Auge sehen. Das, was uns beide verband, wird immer seinen Wert für uns behalten, uns eine strahlend schöne Erinnerung, ein kostbarer innerer Besitz sein für alle Zeit. Und wir wollen Freunde bleiben, Ulla – Freunde fürs Leben. In jener höchsten Freundschaft verbunden, die nur zwischen Mann und Frau denkbar ist, die sich einmal alles gewesen sind!«

Während er so sprach, waren Ullas Augen starr auf ihn gerichtet, alle Farbe war von ihren Wangen gewichen. Nun brach in ihr durch, was sie bisher mühsam zurückgehalten hatte:

»Also es soll aus sein – wirklich aus! Du schiebst mich einfach beiseite, nun wo du deinen Zweck erreicht hast, wo ich dir langweilig geworden bin. Mit leeren Redensarten willst du mich abspeisen? Du Kaltherziger, du Elender! Wie erbärmlich du vor mir stehst in deiner ganzen Nichtswürdigkeit! Nichts als Verlogenheit und Pose. Und an dich konnte ich mich verlieren! So tief konnte ich mich erniedrigen. Ach, wie ich dich hasse, glühend hasse! Aber du irrst, du sollst nicht ungestraft mit mir gespielt haben!«

Ihre Hände rissen an dem Täschchen, das sie hielten, doch mit schnellem Griff – er hatte jede ihrer Bewegungen belauert – kam er ihr zuvor. Ein kurzes Ringen, dann flog das Täschchen in weitem Bogen auf den Fußboden, wo es mit hartem Fall aufschlug. Da brach alles in ihr zusammen. Mit wildem Aufschluchzen sank sie auf den nächsten Sessel und vergrub ihr Gesicht in den Polstern.

Langsam ging Theo Wiltmann zu der Stelle, wo die Tasche lag, hob sie auf und entnahm ihr vorsichtig den kleinen Revolver. Mit einem verkniffenen ironischen Lächeln betrachtete er die Waffe. Ein übler Film, mußte er denken – schlimmster Kitsch. Er sah die effektvolle Szene vor einem ergriffenen Publikum auf der Leinwand flimmern. Geschmacklos bis obenhinaus – Vorstadtkino. Und mit einem Ausdruck der Anwiderung schritt er zu seinem Schreibtisch, wo er den Revolver verschloß. Dann wandte er sich nach ihr um, die noch immer fassungslos im Sessel schluchzte. In seine Miene trat Ungeduld und eine brutale Kälte. Nun hatte er Oberwasser. Schon war er im Begriff, sie kalt anzuherrschen – Schluß jetzt mit dem Theater! – als er sich anders besann. Man konnte ja nicht wissen, ob sie in ihrer Erregung eine andere Dummheit machte, hier fortstürzte und in den nahen Kanal sprang. Er traute ihr auch das zu, aber das fehlte gerade noch! Nein – er mußte sie anders anfassen, und er zwang sich zu einem milden, nachsichtigen Ton, wie er nun zu ihr sprach, indem er sich ihr näherte:

»Ulla, wie konntest du dich so weit vergessen! Aber ich will es dir verzeihen. Ich verstehe dich ja – rein menschlich – sehe ich doch, wie nahe dir das alles geht, wie sehr du leidest.« Und er legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.

Die Berührung machte sie auffahren. »Fass' mich nicht an!« Sie richtete sich im Sessel auf und trocknete ihr tränenüberströmtes Antlitz, indem sie ihn keines Blickes würdigte. Und endlich hatte sie ihre Fassung wieder. Sie erhob sich und sah ihn jetzt an, mit kalter Verachtung.

»Ich war von Sinnen vorhin. Du bist es nicht wert, daß man sich an dir vergißt. Nun, wo ich wieder ruhig bin, danke ich Gott, daß es nicht dazu gekommen ist. Es war auch nicht verschmähte Liebe, was mich so verzweifelt machte – bilde dir das ja nicht ein! – sondern nur gekränkter Stolz, daß ich mich an dich weggeworfen habe. Geliebt habe ich dich nie! Auch daß ich mich verschenkte, bereue ich nicht – nur du hättest es nicht sein dürfen. Du hattest mich geblendet, den Triumph magst du haben. Ich nahm deine hohlen Phrasen ernst, glaubte wunder, was dahinter steckte. Jetzt weiß ich, was wirklich daran ist. Die Erkenntnis ist wirklich etwas teuer bezahlt, aber sie soll mir trotzdem etwas wert sein – wenn auch anders, als du mir so freundlich verschlugst. Es mußte wohl alles so kommen, wie es kam; es war mir vorbestimmt. Mein heißes Blut mußte seine Erfahrungen machen. Aber ich werde nicht daran zerbrechen. Es hätte deiner Vorsicht nicht bedurft; du hättest den Revolver nicht so ängstlich zu verschließen brauchen. Aber behalte ihn in Gottesnamen als Andenken an mich und als sichtbares Zeichen, daß du nicht mal einen Schuß Pulver wert bist! So – und nun hätten wir uns wohl nichts mehr zu sagen.«

Sie wandte sich ab. Mechanisch tat er ihr einen Schritt nach, um ihr draußen in den Mantel zu helfen, aber sie maß ihn nur mit einem verächtlichen Blick.

»Ich verzichte auf deine Ritterdienste.«

Da zuckte er die Achseln. »Wie es dir beliebt«, und mit kalter Miene trat er zurück. Die Stirn gerunzelt, ging er zum Schreibtisch und griff nach dem Zigarettenetui, während sie das Zimmer verließ. Hastig tat er ein paar Züge. Er wußte, er hatte eben keine sehr imponierende Rolle gespielt. Aber was sollte man anfangen einem hysterischen Frauenzimmer gegenüber? Es war schon richtig gewesen, daß er stillschweigend ihren Ausbruch hingenommen hatte.

Nun hörte er draußen die Flurtür ins Schloß fallen. Erleichtert atmete er auf. Gott sei Dank – die Sache war ausgestanden. Der Druck, den er in den letzten Wochen gespürt hatte, wich von ihm. Seine Miene hellte sich wieder aus. Jetzt mußte er nur dafür sorgen, daß er sie für die nächste Zeit nicht mehr zu Gesicht bekam. Er sann eine Weile nach. Das beste würde sein, er ging für ein paar Monate auf Reisen – irgend wohin, nach dem Süden; er hatte ja ohnehin schon daran gedacht. Und er ließ sich in einen Klubsessel nieder, begann Pläne zu schmieden, während duftende Rauchwölkchen das Zimmer zu füllen begannen. Ulla Ötting und der peinliche Auftritt eben waren vergessen – blauer Himmel und dunkle Zypressen zeigten sich lockend seinem Blick. Oh, das Leben war doch eine ganz nette Sache – man mußte es nur zu meistern wissen. Und die alte Selbstgefälligkeit und Sicherheit kehrten ihm schnell zurück.


Nun war Ilse schon bald eine Woche in ihrem Hotel in Cernobbio am Comer See. Sie hatte sich auf einer orientierenden Dampferrundfahrt für diesen weniger besuchten Ort entschieden. Sie ging den weltbekannten Fremdenplätzen und großen Hotels aus dem Wege, um nicht Bekannten zu begegnen. Auch wollte sie allein sein. So war denn Cernobbio gerade das Rechte für sie.

Ilse hatte sich bereits hier eingewöhnt. Das Hotel, das nur erst wenig Gäste beherbergte, hatte einen schönen Park, der sich am Ufer entlangstreckte. Dort hielt sie sich zumeist auf. Sie konnte hier stundenlang in der Sonne sitzen und hinausschauen über den seidig-blauen See mit seinen Fischerbarken, hinüber zu den Berghängen am jenseitigen Ufer an denen die weißen Perlenketten der Häuser und schimmernden Villen erglänzten. Das tat so gut. Ruhe und Frieden zogen wieder in die Brust ein. In der dämmernden, duftblauen Ferne schien alles zu versinken, was früher einmal gewesen war; Frohes und Gutes, aber auch alles, was sie gequält hatte. Sie lebte hier hin wie Pflanze und Baum, wie die blühenden Mandel- und Pfirsich-, Feigen- und Granatbäume – nur der Sonne zugewandt. Wunschlos und zufrieden.

Mitunter freilich, namentlich in den Abendstunden, wenn sie einsam auf ihrem Zimmer saß, kam ihr wohl der Gedanke: War das wirklich ein Leben? War es nicht bloß ein Hindämmern? Und sie mußte sich über sich selber wundern, daß sie es so aushielt, Tag für Tag, nun schon eine Woche bald. Wer ihr das früher einmal gesagt hätte, ihr, der jede Stunde verloren schien, die nicht mit Sport oder Gesellschaft, Studium oder Unterhaltung ihren Inhalt bekam!

Ja, es war die alte Ilse Soltau nicht mehr, die hier träumend ihre Tage verbrachte. Mit einem müden Lächeln mußte sie es bei solchem stillen Sinnen über sich selber denken. Und noch ernstere, traurigere Gedanken kamen über sie. Wie entbehrlich sie doch war! Niemand vermißte sie da droben in der Heimat. Gewiß, die Mutter hatte einmal geschrieben, auch Ruth; aber sie hatten ihre eignen Sorgen, und was war sie den beiden im Grunde? Nein, nein – man durfte sich nicht selber täuschen. Wenn sie überhaupt nicht mehr wiederkäme, das Leben dort zu Hause ging auch ohne sie seinen Gang – sie würde niemanden fehlen. Von den Bekannten, den sogenannten guten Freunden ganz zu schweigen.

Aber war es nicht eigentlich trostlos, sich zu sagen, daß man überflüssig auf der Welt war, daß man nirgends, nirgends eine Heimat gefunden hatte? Und weiter spann Ilse ihre traurigen Gedanken. Einmal hatte sie den Versuch gemacht, in einem Menschenherzen Wurzeln zu schlagen, aber dieser Versuch war kläglich gescheitert. Ja, dort war sie derartig fremd geblieben, hatte sie so wenig Eindruck hinterlassen, daß man sie nicht einmal eines Abschiedswortes für wert befunden hatte: Erich hatte auf ihren letzten Gruß überhaupt nicht erwidert. Sie hatte ihm zwar auch keine Adresse angegeben, doch hätte er sie mit Leichtigkeit von ihrem Anwalt oder von den Ihren erfahren können. Nein, es war schon so – er war froh, daß er von dieser Last befreit war.

Bitter wollte es in ihr aufquellen. Aber hatte sie ein Recht, bitter zu sein? Alles war nur zu natürlich. Was sie in vielen Monaten gefehlt hatte, das konnten ein paar freundliche Worte zum Schluß nicht gutmachen. Und sie hielt unerbittlich mit sich selber Abrechnung. Werte, die sie ehedem hochgeschätzt, auf die sie stolz gewesen war, wandelten sich da in ein glattes Minus: Die kühle, nüchterne Sachlichkeit, das Verstandesmäßige, das bewußt Egozentrische ihrer Natur, das der wissenschaftlichen Erkenntnis entsprach: Es gibt nur einen wirklichen Lebenstrieb, und der ist das eigne Beste; alles andere ist Selbstbetrug. Jede anscheinend altruistische Regung entpuppt sich bei ihrer Analyse als moralische Verkleidung eines wohlverstandenen egoistischen Interesses.

Aber war es denn wirklich ihre Natur, der sie da gefolgt war? Wenn ja, wie kam es, daß nun in diesen stillen Stunden der Selbstprüfung sich eine innere Stimme bei ihr hören ließ, voll Reue, Schmerz und Unzufriedenheit mit sich selber? Tiefer setzte Ilse die Sonde bei sich an und erkannte: Diese vermeintlichen Wesenszüge waren nur Oberflächenauflage, künstlich aufgetragen, erst von außen her und dann von ihr zielbewußt verstärkt. Sie waren der Niederschlag all dessen, was sie in sich aufgenommen hatte aus Büchern, Vorträgen, Bühnenwerken, aus ihrem Verkehrskreise, aus ihrer gesamten Umwelt – der Anhauch des Geistes der Zeit und seiner Verkünder. Wie hatten sie doch jedes Gefühl verspottet als altväterisch, als unnützen Ballast für den modernen Menschen! Schlichtheit wurde bei ihnen zur Beschränktheit; der höhere Mensch war kompliziert. Alles, was natürlich war, taten sie verächtlich als simpel ab, alles Hergebrachte als Kitsch. Neu, »wegweisend«, »unerhört«, »zukunftsträchtig« mußte sein, was für den modernen Menschen in Betracht kam; dies allein war seiner würdig.

Oh, wie Ilse sie plötzlich haßte, diese falschen Propheten und ihre geschwollenen Phrasen! Wie sie sich schämte, daß sie sich von ihnen hatte betören lassen! Auflösung aller wirklichen Werte, Froststarre der Seele, in der jedes warme Leben erstarb, Einsamkeit innen und außen – das war der Gewinn, den sie brachten. Ach, wer noch einmal zurückfände zur schlichten Natürlichkeit des Wesens, zur Herzenswärme, die soviel gab – sich und andern! Aber es war ja zu spät. Alles Wünschen brachte nicht mehr wieder, was verloren war durch eigne Schuld.

Der Ausklang solcher Stunden der Selbstbesinnung bei Ilse war müde Entsagung; das Gefühl ihrer Verlassenheit wurde nur noch stärker. Um ihm zu entgehen, hatte sie sich schließlich doch einem Mitbewohner des Hotels genähert, einer jungen Frau, nur wenig älter als sie selber, die auf dem gleichen Stockwerk wohnte mit ihrem Töchterchen, einem lieben, kleinen Mädel von vielleicht drei Jahren. Frau Westkamp, die Gattin eines Industriellen aus Westfalen, war von sehr zarter Gesundheit. Sie lebte schon seit November, wo sie einen schweren Lungenspitzenkatarrh gehabt hatte, hier unten und fühlte sich also gleichfalls einsam. Die jungen Frauen waren sich daher gegenseitig eine willkommene Gesellschaft und verbrachten, seitdem sie sich gefunden hatten, ihre Tage meist zusammen im Park des Hotels.

So war es auch heute vormittag. Plaudernd saßen sie in der warmen Sonne auf einer Bank am Seeufer, während die kleine Liselotte unter ihrer Obhut spielte. Sie baute sich aus Steinchen einen Garten, in den sie Gräser und Zweiglein als Miniaturbäume pflanzte. Sie war sehr stolz auf ihr Werk, und ab und zu mußte eine der Großen kommen und seinen Fortschritt bewundern. Auch jetzt wieder hatte sie nach ihnen gerufen, aber ohne Erfolg; die jungen Frauen waren gerade in ein Gespräch vertieft. So lief Liselotte denn zu ihnen, und da Ilse sie als erste gewahrte, ergriff sie deren Hand und bettelte:

»Komm, Tante Ilse – sieh doch, wie wunderschön mein Garten ist!«

Gern tat Ilse dem Kinde den Gefallen und ging mit ihm zu dem kleinen Bauwerk. Dort kniete sie neben Liselotte nieder und bewunderte alles pflichtschuldig. Sie war so ganz bei der Sache, daß sie die Schritte nicht hörte, die hinter ihr auf der Allee vom Hotel her nahten, und nun auch nicht gewahrte, wie der Herr, der von dort gekommen war, plötzlich stehenblieb und auf die Gruppe blickte. Mit wechselndem Ausdruck, erst mit Überraschung, fast Erschrecken, dann aber mit aufstrahlender Freude über das anmutige Bild: Die mädchenhaft schlanke junge Frau, die das reizende kleine Geschöpf so mütterlich umschlungen hielt, als wäre es ihr eignes Kind, und die mit ihm redete, so einfältig lieb, wie es eben nur eine Frau kann, der der Muttertrieb tief im Herzen wurzelt. Fast ungläubig blickte der Mann auf die Kniende. War es wirklich sie, die so sprechen, sich so geben konnte? Dann – bei Gott! – dann konnte, dann mußte ja noch einmal alles gut werden! Letzte Zweifel schmolzen hin, und mit zuversichtlichem Aufleuchten im Antlitz trat der Mann heran, raschen Schritts – nun ein halblauter Anruf: »Ilse!«

Sie schrak empor, fuhr herum und erkannte, wer sie rief. So heftig war ihr Erschrecken, daß sie nicht einmal aufspringen konnte, wie sie doch wollte. Er merkte es und beugte sich schnell zu ihr nieder, hob sie vom Boden auf. Deutlich fühlte er, wie ihr alle Glieder zitterten, wie ihr Herz aufschlug.

»Hab' ich dich so erschreckt? Verzeih' mir.«

Leise bat er es, mit einem weichen, dunklen Ton, der sie von neuem erbeben ließ. Was war das? Sie schloß die Augen. Doch sie besann sich: Ihre neue Bekannte! Sie durfte ihr kein Schauspiel geben. Und der gesellschaftliche Zwang gab ihr die Fassung wieder. Sie mußten wohl oder übel eine kleine Komödie spielen.

»Welche Überraschung, Erich! Wie nett, daß du mich hier besuchen kommst!« Ihre Augen baten ihn leise um Verständnis für die Situation. »Darf ich dich mit Frau Westkamp bekannt machen? Meiner Hotelnachbarin – wir haben uns schon etwas angefreundet.« Sie wandte sich Liselottes Mutter zu.

»Ich bitte um den Vorzug«, sagte er mit einem freundlich beruhigenden Blick und trat mit Ilse zu der Bank. Die gebotenen Worte der gesellschaftlichen Höflichkeit wurden gewechselt. Auch Liselotte wurde zu der Begrüßung hinzugezogen, und sie zeigte sich zu der Mutter Erstaunen merkwürdig zutraulich zu dem neuen Bekannten, so daß Ilse erklärend bemerkte: »Mein Mann ist sehr kinderlieb«, ein Wort, das sie in schmerzlichem Erinnern allerdings sofort zusammenschrecken ließ. Fast scheu suchte ihr Blick den Gatten. Aber dieser behielt seine heitere Miene, ja, er nickte zustimmend und strich dem kleinen Mädel liebkosend über das Blondköpfchen. Wieder zuckte es da in Ilse auf, in Freude und Weh zugleich. Doch nun wollte Frau Westkamp ihre und des Kindes Sachen von der Bank zusammensuchen.

»Sie werden sich viel zu erzählen haben – wir wollen nicht länger stören. Komm', Liselotte!«

»Keinesfalls, meine gnädige Frau, werden wir Sie hier vertreiben – selbstverständlich bleiben Sie. Meine Frau und ich werden durch den Park gehen – mir ist das sogar ein Bedürfnis nach der langen Bahnfahrt. Ich habe die ganze Nacht im Abteil gesessen und bin ja eben erst angekommen. Also auf Wiedersehen, nachher zu Tisch!«

Sie verabschiedeten sich, dann nahm er Ilses Arm unter den seinen und führte sie fort.

Traurig, fast mit Neid sah die junge Frau den beiden nach, bis sie hinter einer Biegung des Wegs entschwanden. Die Glücklichen! Wann würde sie wieder mit ihrem Mann vereint sein? – Sie konnte freilich nicht sehen, wie – sobald sie außer Sehweite waren – Ilse ihren Arm aus dem des Gatten löste. Die Komödie des glücklichen jungen Paares brauchte ja nun nicht mehr gespielt zu werden. Ach, daß es nur eine solche war! Wie schön müßte es sein, wirklich so in innerster Zugehörigkeit an seines Mannes Seite hier unter Palmen und Myrten, unter dem selig blauen Südlandshimmel zu gehen! All ihr Weh wollte da wieder über sie kommen, doch unvermittelt klangen ihr wieder seine letzten Worte vorhin im Ohr. Er war also die Nacht hindurch gefahren, trotzdem er nicht einmal einen Schlafwagenplatz bekommen hatte – was mochte ihn so eilig hergetrieben haben? Sollte etwa –? Der aufschreckende Gedanke entrang ihr die Worte:

»Deine plötzliche Ankunft hier –! Ist etwa bei Mama eine unerwartete Wendung eingetreten?«

»Nicht im geringsten – im Gegenteil, es geht ihr immer besser. Wie kommst du darauf?«

»Nun, deine Reise – ohne jede Ankündigung und Motivierung – und so eilends!«

Er schwieg einen Augenblick, dann nahm er von neuem ihren Arm.

»Ich hab' dir viel zu sagen, Ilse – aber nicht hier. Laß uns ins Hotel in dein Zimmer gehen.«

Sie erwiderte nichts, aber er fühlte, wie sie erbebte. Sanft drückte er ihren Arm an seine Brust und strich über ihre Hand. Wieder mit jenem dunklen, weichen Ton fragte er:

»Bist du so bang vor dem, was ich dir zu sagen habe?«

Nun sah sie ihn an mit einem Blick, der ihn im Tiefsten berührte, und sagte:

»Wenn es eine Enttäuschung würde, Erich – das ertrüge ich nicht!«

Da riß es ihn fort. »Ilse, Mädel, liebes, kleines, dummes Ilse-Mädel! Würde ich dann so zu dir gebraust sein? Ich könnt' ja nicht länger mehr! Seit ich deinen Brief gelesen – diesen Brief –« es war wie ein Schlucken in seiner Kehle –, »da ging es in mir um. Aber du kennst ja meinen Dickkopf – nur nicht gleich seinem Herzen folgen! Ganz klein mußte ich erst werden, windelweich. Aber gestern morgen war ich soweit, die Nacht vorher hatte mir den Rest gegeben – da lief ich zur Bahn. Und nun bin ich da – und du?«

Glückselig warf sie ihm die Arme um den Hals und drängte sich an ihn, ein stummes Bekenntnis schrankenloser Hingabe.

Eng aneinandergeschmiegt, wie ein eben verlobtes Brautpaar, schritten sie in einem der lauschigen Gänge des Parks langsam dahin, und nun merkte auch Erich Friemar, wie wundervoll es hier war. Tief sog er die balsamische Luft ein, die vom sonnenflimmernden See herüberwehte, und blieb plötzlich stehen. Aufstrahlend sah er Ilse an.

»Es ist so herrlich hier drunten, wie wär's, wenn wir zusammen noch ein paar Wochen hierblieben oder in irgendeinem andern verschwiegenen Winkel? Wenn wir noch einmal eine Hochzeitsreise machten – unsere wirkliche Hochzeitsreise?«

Unter seinem Blick wurde sie fast verwirrt. Rasch rief sie:

»Ja, es ist einzig schön hier, und wir wollen diese Schönheit recht genießen, ganz allein, heute und morgen noch. Aber dann wollen wir heim. Ich hab' ja eine solche Sehnsucht nach zu Hause!«

»Nach der kleinbürgerlichen Vierzimmerwohnung?«

Scherzend und doch erwartungsvoll fragte er es.

»Ach, es ist ja jetzt so gleichgültig, wohin du mich führst!« Und das Antlitz an seiner Schulter verbergend, flüsterte sie: »Erich – laß es mich dir sagen, in dieser Stunde: Nun will ich auch dein Glück voll machen, dir ein Kind schenken – ich sehne mich ja selber nach so einem wonnigen, kleinen Wesen. Ich will es dir schenken, und wenn es mein Leben kosten sollte!«

»Nein, so grausam kann das Schicksal nicht sein.« Ergriffen zog er sie an sich. »Du wirst leben, meine geliebte Frau, und dich mit mir dieses Glückes freuen. Und nun komm', wir nehmen ein Motorboot und fahren hinaus auf den See. Sieh, wie die Sonne uns winkt!«



 << zurück weiter >>