Paul Grabein
Jugendstürme
Paul Grabein

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Der Abend fand sein Ende; die Gäste verließen das Haus. Als Letzter trat Erich Friemar abschiebnehmend zu Frau Karla. Sie waren ohne Zeugen. Ilse und Ruth hatten ihre Freunde noch bis in die Garderobe hinausbegleitet.

»Wann darf ich Sie wiedersehen?«

Friemar sagte es, die Hand ergreifend, die Frau Karla ihm bot. Sie überhörte den Unterton der Sehnsucht, der in seinen Worten mitschwang. Leichthin kam ihre Erwiderung:

»Kommen Sie doch auch am Donnerstag zum Tee.«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich einmal ohne den Schwarm der andern empfangen würden.« Sehr verhalten sagte er es, doch in seinem Blicke stand mehr, als die Worte bekannten.

»So menschenscheu?« suchte sie auszuweichen. »Das war doch früher nicht Ihr Fall.«

»Es wäre mir schmerzlich, wenn Sie mich nicht verstehen wollten, Frau Karla.«

»Muß diese Unterredung wirklich sein?« Ernst sah sie ihn an. »Wie Sie sich auch den Ausgang denken mögen – da sind solche Schwierigkeiten!«

»Es gibt keine Hindernisse, die man nicht überwinden kann, wenn man nur will!«

Ein beklommenes Schweigen. Er hörte ihren Atem gehen. Berückender denn je erschien ihm diese Frau von sieghafter, jugendfrischer Schönheit, wie sie so schweigend stand im geheimen Ansturm widerstreitender Gefühle. Heiß brandete es in ihm auf, und plötzlich zog er ihre Hand an seine Lippen.

»Wann darf ich kommen? Morgen?«

Bestürzt entzog sie ihm die Hand; sie hörte einige Zimmer weiter die Stimmen ihrer herannahenden Töchter.

»Ich werde Ihnen schreiben.« Leise rief sie es und dann noch warnender: »Sie müssen jetzt gehen – meine Kinder!«

Absichtlich wählte sie das Wort, wie sich zum Schutze und ihm zur Ernüchterung. Er trat einen Schritt zurück. Aber noch einmal umfing sie sein Blick, rettungslos verloren in eine zugleich ritterlich verehrende und leidenschaftlich begehrende Liebe.

Als Ilse und Ruth eintraten, gewahrten sie nur noch Friemars letzten Gruß, eine Verneigung vor der Mutter von jener Gemessenheit, die er stets zeigte; dennoch suchte Ilses Auge das der Schwester mit einem skeptischen Lächeln. Etwas gar zu unwahrscheinlich, diese kühle Korrektheit nach dem ungewöhnlich ausgedehnten Abschied unter vier Augen! Deutlich stand dies spöttische Glänzen auch noch in Ilses Blick, wie sie nun Friemars Gruß erwiderte, der ihr selber und Ruth galt. Es entging Frau Karla nicht. Zum zweiten Male mußte sie heute diese Wahrnehmung machen. Kein Zweifel mehr: Ilse ahnte, was in Friemar vorging, und nahm wohl an, daß sie selber ganz damit einverstanden war. Wie die Tochter aber darüber urteilte, das zeigte deutlich dieser Blick. Der Druck auf Frau Karlas Brust ward da noch schwerer; aber sie ließ sich nichts anmerken. Sich eine heitere Miene abzwingend, trat sie zu den Töchtern; Friemar hatte inzwischen schon das Zimmer verlassen.

Ruth erleichterte ihr die Lage, indem sie sich an die Mutter wandte. Sie erzählte ihr von Freds Wunsch und schloß:

»Ich sagte Fred, daß ich meinerseits gern bereit sei, ihm zu dem Bild zu sitzen, und daß auch du wohl einverstanden sein würdest.«

Frau Karla sah ihrer Tochter prüfend ins Gesicht, dann nickte sie:

»Wenn Fred soviel daran liegt, warum solltest du ihm nicht helfen? Ich habe nichts dagegen.«

»Ich danke dir, Muttchen.« Ruth drückte ihr die Hand. »Das wird Fred eine große Freude sein. Ich werde ihn gleich morgen früh anrufen. Aber wie wird es mit dem antiken Gewand, in dem er mich malen will? Ich dachte schon –«

»Könnt ihr das nicht auch morgen noch erledigen?« Ilse warf es dazwischen, ungeduldig und mit leichter Gereiztheit, so daß die beiden andern sie überrascht ansahen. Da suchte sie ihren Ton zu erklären: »Ich bin müde und will zu Bett gehen – also gut' Nacht denn!«

Mit einem Kopfnicken nur nahm sie Abschied und ging.

Ruth sah ihr nach. »Was hat denn Ilse? Sie war so merkwürdig.«

Die Mutter hob schweigend die Schultern, doch ihre Stirn war bewölkt. Dann sagte sie:

»Ilse hat ja manchmal ihre Stimmungen – aber sie hat recht: die Kostümfrage besprechen wir wohl besser morgen in Ruhe.« Auch Frau Karla verlangte es danach, allein mit sich zu sein, und sie bot der Tochter die Hand. Doch Ruth schmiegte sich an sie und küßte sie; es war, als ob sie gutmachen wollte, was die Schwester verfehlt hatte. Mit einem stillen Glücksgefühl zog Frau Karla ihr Kind an sich; doch gleich wieder war der Druck auf ihrer Seele da – fast etwas wie eine geheime Schuld gegenüber der Tochter. Da drängte sie das Mädchen sanft von sich.

»Geh nun, Kind – es ist ja schon spät.«

Die Zimmer der Schwestern lagen benachbart. Die Verbindungstür pflegte, wenn sie sich auskleideten, stets offen zu stehen, und sie plauderten dann noch miteinander. Als Ruth aber heute hinaufkam, fand sie die Tür geschlossen. Ihr Verwundern wuchs, sie klinkte auf und trat bei der Schwester ein. Sie fand diese noch in vollem Anzuge am Fenster sitzen, die Arme verschränkt, nach Haltung und Ausdruck schwer verärgert. Ruth kam zu ihr heran:

»Was ist dir bloß, Ilse?«

Sie wollte der Schwester die Hand auf die Schulter legen, doch diese wehrte unwirsch ab, so daß Ruth fragte:

»Du bist böse auf mich?«

»Unsinn!«

»So gilt dein Ärger Mama?« Keine Antwort. »Ja, was hat sie dir denn getan?«

Wieder ein Schweigen, aber plötzlich brach es in Ilse aus:

»Dieser Lebenshunger ist nicht mehr mit anzusehen! Sie hat doch wirklich genug gehabt, sich hinlänglich berauschen können an Bewunderung und Triumphen und könnte nun endlich einmal abtreten von der Bühne!«

»Das also ist's!« Eine Weile blickte Ruth nachdenklich auf die Schwester nieder, dann sagte sie ernst:

»Du bist ungerecht gegen Mama. Gewiß, sie ist noch einmal aufgelebt nach Vaters Tod, aber ist das nicht ganz natürlich? Wir wissen es doch am besten, wie sie sich in dieser unglücklichen Ehe, die im Grunde keine mehr war, hat selbst verleugnen und dauernd Opfer bringen müssen. Kann man es ihr da verdenken, daß sie nachholt, was sie so lange versäumte? Sie war doch noch jung – innerlich – ist es noch heute, hat also ein gutes Recht dazu.«

»Das bestreite ich. Eine Frau, die erwachsene Töchter hat, braucht nicht mehr Mittelpunkt der Gesellschaft zu sein, um den sich alles dreht, der alles an sich reißt!«

»Tut sie denn das? Kann sie dafür, wenn man sie sucht und feiert? Du kannst doch gewiß nicht behaupten, daß sie Bewunderung herausfordert. Sie fällt ihr eben von selbst zu, und das ist wahrhaftig kein Wunder. Mama ist doch nun einmal eine ungewöhnlich reizvolle Frau; dafür aber, daß sie gefällt, kannst du sie doch nicht verantwortlich machen.«

Ilse schwieg. Erregt knotete sie an ihrem Spitzentüchlein, doch nun entfuhr es ihr:

»Und was würdest du dazu sagen, wenn sie noch einmal heiratete?«

»Du meinst Friemar?«

»Wen denn sonst? Das sieht doch jedes Kind, daß er in Ma über beide Ohren verliebt ist!«

»Und du glaubst, daß sie dies Empfinden erwidert?«

»In welchem Maße, das weiß ich natürlich nicht; aber sympathisch ist er ihr auf jeden Fall.«

Ruth nickte. Nachdenklich fragte sie:

»Meinst du wirklich, daß Mutter ihn heiraten könnte? Er ist doch sicher sechs oder sieben Jahre jünger als sie.«

»Das ist doch heutzutage kein Hinderungsgrund mehr; auch wirkt er älter als er ist.«

Ruth sann vor sich hin, endlich erklärte sie:

»Wenn es wirklich so kommen sollte, ich hätte nichts dagegen; freuen würde ich mich vielmehr für Mama. Sie hat bei unserm Vater das Glück der Liebe nicht kennengelernt, und als ihr dann später doch noch der Mann begegnete, der es ihr hätte schenken können, hat sie entsagt, ebenso wie er, beide um ihrer Kinder willen – wir haben es ja selber von Mama gehört, damals nach Vaters Tode. Uns hat sie also ihr eignes Lebensglück geopfert, müssen wir es ihr da nicht gönnen, wenn sie jetzt noch ein verspätetes Glück findet? Müssen wir uns nicht mit ihr darüber freuen?«

»Auch noch freuen!« Schrill lachte Ilse auf. »Ich kann nur annehmen, daß du dir das alles noch nie klargemacht hast. Stell' dir doch bloß mal vor: Die beiden haben Kinder, wir bekommen Geschwister, die an zwanzig Jahre jünger sind als wir, das ist doch einfach grotesk!«

»Daran hab' ich allerdings noch nicht gedacht – aber wenn selbst – soll daran das Glück unserer Mutter scheitern? Wir sind doch dann selbstverständlich nicht mehr im Hause, und außerdem – wer weiß, ob es so kommt? Ich könnte mir denken, wie ich Mama kenne, daß sie selber wünschen wird, daß diese zweite Ehe kinderlos bleibt.«

»Dann bleibt immer noch genug anderes! Hast du dir schon mal überlegt, was eine Wiederverheiratung Ma's finanziell für uns bedeutet? Sie verfügt nach Vaters Willen frei über die Fabrik und ihren Gewinn. Sie kann also ihrem zweiten Manne zuwenden, was sie will – nicht nur im Falle ihres Ablebens, sondern schon zu ihren Lebzeiten.«

»Es ist mir peinlich, dich so reden zu hören.«

»Warum soll man kommenden Dingen nicht klar entgegensehen?«

»Wie es auch kommen mag, ich habe zu unserer Mutter das Vertrauen, daß sie uns nicht benachteiligen wird. Außerdem bleibt uns doch auf alle Fälle das Geld, das uns Vater bei Großjährigkeit ausgesetzt hat.«

»Die paar tausend Mark Zinsen! Das reicht allenfalls zum Nadelgeld, wenn wir standesgemäß heiraten; macht uns aber nie wirtschaftlich unabhängig.«

Ruth zuckte die Achseln. »Ich halte daran fest: Mama hat ein Recht auf Glück, so gut wie wir.«

»Sie hat es gehabt, selbstverständlich! Nie hätte ich es ihr verdacht, wenn sie damals, als sie ihre verpfuschte Ehe erkannte und sich ihr die Aussicht auf Glück mit einem andern bot, zugegriffen hätte. Man ist sich selber der Nächste. Es ist Narrheit, sich für seine Kinder zu opfern; sie danken es einem doch nicht.«

»Ilse!«

»Es ist nun einmal so. Machen wir uns doch nichts vor! Also damals, wo Ma noch jung war, ein langes Leben vor sich hatte, da hätte sie tun sollen, was sie leider versäumte. Bedauerlich, daß sie es nicht tat, aber jetzt darf sie es nicht mehr! Sie muß Rücksicht auf uns, auf unsere berechtigten Interessen nehmen. Wir dürfen das verlangen, und ich werde es ihr auch sagen, unumwunden – noch jetzt, wo es Zeit ist.«

»Du kannst doch Mutter unmöglich diese Dinge ins Gesicht sagen. Es wäre herzlos – brutal!«

»Es ist lediglich vernünftig und mein gutes Recht.«

»Nein, Ilse, das darfst du nicht! Warte doch erst ab, ob alles so kommt, wie du fürchtest.«

»Dann ist es zu spät. Gerade jetzt, wo Mama vielleicht noch schwankt, muß man mit ihr reden, damit sie sich klar wird über alle Konsequenzen. Ich habe den Eindruck, daß Friemar auf eine Entscheidung drängt – es ist also keine Zeit zu verlieren. Darum werde ich noch morgen mit Ma sprechen.«

»Ich kann dich ja nicht hindern – leider. Aber noch einmal: Ich finde dein Vorhaben empörend. Und solltest du es wirklich fertig bringen, so werde ich meinerseits Mutter nicht im Zweifel lassen, wie ich darüber denke.«

»Das steht dir frei, wird mich aber nicht im mindesten abhalten.«

»Deine Kälte, dein Egoismus sind grenzenlos! Das hätte ich dir nie zugetraut.«

Ilse warf trotzig den Kopf in den Nacken; dann erhob sie sich.

»Ich denke, wir brechen diese Erörterung wohl besser ab.«

Ruth sandte noch einen letzten mahnenden Blick zu der Schwester. Als diese jedoch gelassen anfing, sich zu entkleiden, ging sie nach ernstem Gruß zurück in ihr eignes Zimmer.


Ilse war erst spät aufgestanden. Die Auseinandersetzung mit der Schwester hatte noch lange in ihr nachgeklungen. Wie hart sie sich auch gab, in ihrem Innern regten sich doch Stimmen, die Ruth recht gaben. Die Mutter war im Grunde immer gut zu ihr gewesen, ihr Vorhaben wollte ihr da selber unkindlich und undankbar erscheinen. Stundenlang hatte sie im Zwiespalt mit sich gelegen, bis die Müdigkeit sie überwältigt hatte. So war sie erst zu vorgerückter Tagesstunde erwacht. Während sie ihr Bad nahm und sich ankleidete, knüpften ihre Gedanken wieder dort an, wo sie nachts vorm Einschlafen stehengeblieben waren, und abermals sah sie sich vor dem Zwiespalt ihres Innern. Da stieg der Ärger in ihr auf. Was sollten diese Sentimentalitäten? Kindesliebe – Dankbarkeit – ganz schön und gut, aber sie durften nicht dazu führen, daß man seine eigensten Lebensinteressen gefährdete, und die standen hier doch wahrhaftig auf dem Spiel. Also fort damit! Sie gab sich einen Ruck und beschloß: Es blieb bei ihrem Vorhaben – sobald sie gefrühstückt haben würde, wollte sie mit der Mutter reden.

Ilse klingelte nach der Jungfer und ließ sich den Tee auf ihr Zimmer bringen; sie wollte vor der Aussprache ein Zusammentreffen mit den Ihren vermeiden. So wurde es gegen zehn, als sie nach unten kam. Sie sah sich nach der Mutter um, die sich zu dieser Stunde in der Regel im Wohnzimmer aufhielt, fand sie indessen weder hier noch in den angrenzenden Räumen. So fragte sie denn in der Halle das Hausmädchen, das dort mit Aufräumen beschäftigt war:

»Wissen Sie, wo meine Mutter ist?«

»Gnädige Frau sind doch ausgefahren, schon vor einer halben Stunde.«

»So früh schon? Wohin denn?«

»Das kann ich nicht sagen; ich hörte nur, wie gnädige Frau das Auto zu einer Fahrt in die Stadt bestellte.«

»Und wann sie wiederkommt, wissen Sie auch nicht?«

»Nein, gnädiges Fräulein.«

Ilse wandte sich verdrossen ab. Vor sich hingrübelnd trat sie in den Erker der Halle und blickte in den parkähnlichen Garten hinaus, der hinten an den Waldsee grenzte. Wohin mochte die Mutter gefahren sein, zu so ungewöhnlicher Stunde? Zu ihren Besorgungen pflegte sie vor elf nie das Haus zu verlassen; es mußte also schon etwas Besonderes sein. Ein Gedanke blitzte in ihr auf: Wenn sie sich mit Erich Friemar traf – wenn die Entscheidung schon heute fiel, in eben dieser Stunde! Sein ganzes Verhalten gestern drängte auf diesen Verdacht hin – noch einmal vergegenwärtigte sie sich alle ihre heimlichen Beobachtungen, und plötzlich stand es für sie fest: Es war so – die beiden hatten eine Zusammenkunft, die entscheidende Aussprache, und wie diese Entscheidung ausfallen würde, darüber konnte kein Zweifel sein!

Eine rasende Bitterkeit brach da in Ilse aus. Sie verhöhnte sich selber wegen ihrer törichten Bedenken in der Nacht, die allein schuld waren, daß sie jetzt zu spät gekommen war, und sie schwor es sich zu: Das war das letztemal gewesen, daß sie sich von Gefühlsduseleien übertölpeln ließ! Nie wieder sollte ihr das geschehen! Nur – was half das alles? Inzwischen fielen schon die Würfel, und sie hatte das Nachsehen. Aber nein! So leicht gab sie ihre Sache nicht verloren. Reden würde sie mit der Mutter trotzdem, und wenn schon an ihrer Wiederverheiratung nichts mehr zu ändern war, so wollte sie ihr das wenigstens abringen, daß sie vor Eingehen ihrer neuen Ehe die Zukunft ihrer Kinder sicherstellte. Das war sie ihnen und ihrem verstorbenen Vater schuldig, der bei seinem Testamente an eine solche Möglichkeit ganz gewiß niemals gedacht hatte.

Dieser feste Entschluß gab Ilse schließlich die Ruhe einigermaßen wieder. Sie ließ sich Hut und Mantel, sowie »Rolf«, den großen Schäferhund, bringen. Ein Weg draußen am Seeufer würde ihr dazu verhelfen, wieder vollends ins Gleichgewicht zu kommen.


Als Frau Karla an der Barckschen Wohnung klingelte, öffnete ihr Helmut.

»Oh, Tante Karla, das ist gut, daß du heute schon kommst.« Frau Soltau hatte ihm ja gestern abend aufgetragen, seinen Eltern ihren baldigen Besuch in Aussicht zu stellen. »Mutter ist leider wieder bettlägerig, so daß Vater ganz allein auf sich angewiesen ist.«

»Das ist ja traurig, mein Junge – aber da will ich doch erst mal nach deiner Mutter sehen.«

Der junge Mensch half ihr beim Ablegen und führte sie dann ins Schlafzimmer der Eltern.

Eine bald zwanzigjährige Freundschaft verband Karla Soltau mit dem Barckschen Ehepaar und hatte sich auch auf die Kinder übertragen. Unter sehr ernsten Umständen war diese Freundschaft entstanden und in die Tiefe gewachsen. Innerlichst bewegt von dem, was sie heute hertrieb zu dem immer verstehenden Freunde, dem einzigen Menschen, den sie in sich hineinsehen ließ, stieg in Frau Karla, während sie mit Helmut schweigend zu der leidenden Mutter schritt, die Erinnerung an jene fernen Tage, da sie ihre Freundschaft schlossen, wieder lebendig auf.

Dr. Barck war als Arzt in das Soltausche Haus gerufen worden, damals, als Frau Karla nach Ilses Geburt einer schweren Seelenkrisis verfallen war. Die Kämpfe mit ihrem Mann hatten eigentlich schon mit dem ersten Tag ihrer Ehe eingesetzt. Karla, fast ein Kind noch, hatte Soltau nur geheiratet, weil ihre Eltern es so wollten; selber unbegütert, wähnten sie der Tochter ein großes Glück zu sichern; aber es kam anders. Wohl liebte Soltau das blutjunge, knospenhafte Frauchen auf seine Weise; doch diese brutal zufassende, jeder Innerlichkeit und Zartheit bare Art stieß sie aufs heftigste ab. So brachte bereits der Hochzeitstag den ersten grundlegenden Konflikt, dem bald unaufhörlich neue folgten. Nach wenigen Monaten schon erkannte Karla voller Entsetzen das unheilbare Unglück ihrer Ehe. Sie beschwor die Eltern, sie wieder zu sich zu nehmen, aber sie taten es nicht. Auch ihr Mann verweigerte ihr die Rückgabe der Freiheit; so blieb denn Karla nur noch eins: Ihre Ehe mußte ertragen werden, bis sie großjährig wurde. Dann aber sollte nichts mehr sie länger in ihren Fesseln halten.

Doch da kündigte sich das Kind an. Karla wollte verzweifeln – damit wurde sie ja für immer an ihren Mann geschmiedet! Vergebens ein letztes Hoffen, das die erste Konsultation eines bekannten Frauenarztes in ihr geweckt hatte: Ihre zarte Körperbeschaffenheit werde es wohl kaum zur Mutterschaft kommen lassen. Die entscheidende Stunde kam – Mutter und Kind waren wohlbehalten.

Furchtbare Tage und Wochen folgten. Nachdem die Ausbrüche der ersten Verzweiflung vorüber, verfiel Frau Karla in tiefste Melancholie. Ihr Mann und ihre Eltern suchten sie aufzurütteln, mit Bitten, Mahnungen, Beschwörungen und endlich mit härtesten Vorwürfen: War denn jemals schon eine so unnatürliche Mutter dagewesen? Was jede andere mit seligem Glück erfüllt haben würde, das wurde ihr zur Quelle der Verzweiflung. Sie sei ja dieses Gottesgeschenkes gar nicht wert. Karla sagte es sich selber, aber es blieb vergebens. Sie konnte sich ihres Kindes nicht freuen. Sie sah in ihm bloß die Fessel, die sie nun bis an das Ende an ihren ungeliebten Gatten band, der alles Feine und Schöne in ihr mit Füßen trat, mochte er sie auch mit Kostbarkeiten überhäufen; und sein Mannesbegehren war ihr ein Grauen, vor dem sie zitterte. In jenen düstersten Tagen ihres Lebens hing ihr Dasein nur an einem Seidenfaden. Jede Stunde konnte den Augenblick bringen, wo sie sich keinen andern Ausweg mehr wußte, als sich ins Dunkel, ins ewige Vergessen zu flüchten – bis dann jene Nervenkrisis eintrat, die die entscheidende Wendung brachte.

Karla brach eines Abends zusammen. Krämpfe schüttelten sie. Die Sprache versagte, ihre Gedanken verwirrten sich. Ihr Mann war zu einer Besprechung mit Geschäftsfreunden ausgegangen. Die tödlich erschrockenen Mädchen stürzten bis auf die Jungfer, die bei der Kranken blieb, fort, um aus der Nachbarschaft irgendeinen Arzt herbeizuholen.

So kam Dr. Werner Barck zum erstenmal ins Soltausche Haus. Stundenlang saß er am Lager Karlas, ganz allein mit ihr. Die Mittel, die er anwandte, hatten ihren überreizten Nerven endlich Linderung gebracht, die Patientin war so weit, daß sie wieder klar denken und reden konnte. Sie faßte nun den Mann ins Auge, den sie wie durch einen Schleier hindurch sich schon lange hatte um sie mühen sehen, dessen weiche und doch männliche Stimme so wohltuend an ihr Ohr geschlagen war, und sah nun als beherrschenden Eindruck seines Gesichts ein paar große, leuchtende, stahlgraue Augen, die ihr mit stillem Forschen bis auf den Grund der Seele drangen, aus denen ihr zugleich aber auch ein warmes, gütiges Verstehen entgegenstrahlte. Augen, denen man blindlings vertrauen konnte – das war damals Frau Karlas erster Gedanke gewesen, und unvergeßlich wie dieser erste Eindruck waren ihr dann auch seine ersten Worte geblieben. Sie hatte sich aufrichten und ihm erklären wollen, wie es zu diesem Zusammenbruch ihrer Nerven gekommen war; aber die Scheu, die Hüllen von ihren innersten Seelenregungen zu heben, intimste Dinge ihrer Ehe preiszugeben, verschloß ihr die Lippen. Da nahm er ihre beiden Hände und drückte sie sanft wieder auf ihr Lager nieder.

»Quälen Sie sich doch nicht so, liebe, kleine Frau! Sie brauchen mir erst nichts zu sagen; ich weiß schon, was Ihnen fehlt. Sie stehen in einem schweren Konflikt, in dem Sie nicht mehr aus und ein wissen. Sie haben niemanden, der Sie versteht, dem Sie sich anvertrauen können. Da haben eben einmal Ihre Nerven versagt. Nicht doch – nicht weinen! Nun bin ich ja bei Ihnen.« Von dem tröstenden Druck seiner warmen, festen Hände ging es wundersam aus, wie eine heilende Kraft, so daß sie plötzlich unter Tränen lächeln mußte und ihn anschaute, folgsam und gläubig wie ein Kind – sie, die eben noch an allem verzweifelt hatte. Da brach es aus seinen Augen und er sagte: »So ist's recht! Nun liegen Sie noch ein Weilchen ganz still, bis Sie völlig ruhig geworden sind unter meinen Händen, und dann erzählen Sie mir alles, was Sie bedrückt. Denken Sie, Sie sprächen zu einem guten Freunde – ich bin es ja auch, denn ich will Ihnen doch helfen. Und Sie werden sehen, wir finden schon einen Weg. Es gibt kein Unglück, das ein tapferer Mensch nicht überwinden und zum Besten wenden könnte. Und tapfer wollen wir doch sein, nicht wahr, kleine Frau?«

Mit zaghaftem Aufblick hatte Karla genickt. Da hatte er weiter auf sie eingesprochen, immer den sonnig leuchtenden, Lebensströme versendenden Blick in den ihren gesenkt.

»Man muß nur jemand haben, einen guten Kameraden, der einen bei den ersten Schritten stützt – dann geht's bald von selber, und mit einem Mal macht das Wandern wieder Freude. Ja, Freude, wie schmerzlich es jetzt auch wieder um Ihren Mund zuckt! Sie sind noch so jung, und das Leben ist so reich – man muß nur verstehen, seine Freuden zu finden. Aber das werden Sie lernen, wenn Sie sich mir anvertrauen. Sagen Sie – wollen Sie das?«

»Von ganzem Herzen, ja!« Mit einem festen Geloben hatte Frau Karla seine Hände gepreßt, und so den Bund mit ihm geschlossen.

Als eine Stunde später der Gatte bestürzt ins Zimmer trat – das im Vorraum noch immer wartende, verschlafene Mädchen hatte ihn von dem Vorgefallenen unterrichtet –, traute er seinen Augen nicht: Er fand seine junge Frau völlig gefaßt vor; zwar ernst und blaß noch, aber ihr Antlitz war überhaucht von jenem zarten, warmen Schein der beginnenden Genesung.

Der Weg nach oben war nicht immer glatt verlaufen, Rückfälle in Kleinmut kamen gar manchmal; aber die Hand, die sie führte, war fest und brachte sie aus den Schatten hinauf ans Licht. Die Mutter erwachte in Frau Karla. Das kleine Wesen, das die Händchen hilfsbedürftig nach ihr ausstreckte, gab ihrem Leben Inhalt und Freude; doch auch ihre niedergetretene Persönlichkeit richtete sich auf. Die Mutterwürde, das Bewußtsein treu erfüllter Pflichten gegen ihr Kind, gaben ihr einen starken Halt auch gegenüber ihrem Mann. Nach einigen erregten Auftritten, bei denen sie eine überlegene Ruhe wahrte – immer Dr. Barcks eindringliche Worte im Innern hörend –, mußte er sich ihrem Willen fügen, der seiner brutal fordernden Männlichkeit Grenzen zog. Freilich, all das, wonach ihr Frauenherz und ihr reger Geist verlangten, konnte er ihr nach wie vor nicht bieten; aber sie hatte nun ja einen Ersatz dafür gefunden, in dem was Werner Barck ihr gab.

Auch als sie längst seines ärztlichen Beistands nicht mehr bedurfte, kam Dr. Barck noch ins Haus, als ihr Freund. Auch das hatte sie sich schwer erkämpfen müssen, aber so fest hatte sie darauf bestanden, rückhaltlos offen zu ihrem Manne sprechend, daß er – wollte er nicht Frau und Kind zugleich verlieren – sich damit abfinden mußte. Er wußte ja auch, daß diese Beziehungen völlig einwandfrei waren und seiner Ehre nicht zunahe traten. Alles, was Soltau seiner Frau nicht geben konnte, Zartheit des Empfindens, Gedankenaustausch, Vertiefung und Erweiterung ihres Wissens um Welt und Menschen – das alles fand sie bei Werner Barck, und nur diese, in reinen Höhen wurzelnde Freundschaft gab ihrem Leben erst wirklich seinen Wert.

So gingen die Jahre hin. Ruth kam, und beide Kinder wuchsen heran. Seit der Geburt der zweiten Tochter, die Karlas Gesundheit schwer gefährdet hatte, lebte sie neben ihrem Manne nur noch als die Mutter seiner Kinder und Repräsentantin seines großen Hauses; Soltau hatte inzwischen die Besitzung draußen am See erworben. Karla atmete erlöst auf. Unwürdigste, sie stets von neuem erniedrigende Fesseln waren damit von ihr genommen, und auch ihr Mann hatte sich anscheinend nicht allzu schwer damit abgefunden. Er fand wohl anderwärts, was ihm im eignen Hause versagt war. Im übrigen war er, trotz gelegentlichen Spotts, doch stolz auf die Frau, die seinen Namen führte und mit der er sich in der Gesellschaft zeigen konnte. Die Huldigungen, die man ihrer Schönheit und ihrem Geist darbrachte, schmeichelten seiner Eitelkeit, und er gab ihrer sieghaften Erscheinung den denkbar glänzendsten Rahmen.

So kam der Krieg. Auch Dr. Barck ging als Arzt ins Feld, und schon im zweiten Jahr des großen Würgens geschah das Furchtbare, das tief in sein Leben und Wesen eingriff. Der Luftdruck einer auf dem Verbandsplatz krepierenden Granate schmetterte ihn zu Boden. Die Folge davon war ein schwerer Schädelbruch, der zwar geheilt wurde, aber das Licht seiner Augen erlosch – er war für immer an den Lehnstuhl gefesselt wie ein hilfloser Greis; er, der so ganz Leben und Tatkraft gewesen war.

Was damals in Barcks Seele vorgegangen sein mochte, niemand erfuhr es je, auch die Freundin nicht. Sie konnte nur ahnen, welche erschütternde Kämpfe er mit sich durchgerungen hatte, bis endlich auch diesmal wieder die Pflicht siegte, die der Leitstern seines Lebens war. Er mußte weiter leben, für seine Frau und die noch in der Ausbildung befindlichen Kinder. So nahm er entschlossen den Kampf um ihrer aller Existenz auf. Seine bisherige glänzende Praxis mußte er natürlich aufgeben. Es war nicht allein die Behinderung durch seine Blindheit, noch ein anderer Grund sprach mit: Sein Stolz verbot es ihm, sich auf der Straße führen zu lassen, er wollte sein Gebrechen nicht öffentlich zur Schau stellen, sich nicht bemitleiden lassen. Seit seinem Unglück setzte Dr. Barck denn keinen Schritt mehr vor die Tür seines Hauses. Er empfing nur noch Patienten, die zu ihm kamen; und auch hier mußte er sich sehr beschränken, er konnte nur noch in Fällen helfen, wo es galt, seelisch Kranke zu heilen. Aber allmählich sprach sich seine ganz besondere Gabe hierfür empfehlend herum, und so gelangte er denn schließlich zu einem gewissen Ruf als Psychotherapeut, der ihm die Mittel eintrug, für seine Familie standesgemäß zu sorgen. Helmut konnte das Gymnasium zu Ende besuchen und nach München auf die Technische Hochschule gehen. Er wollte nach beendetem Studium Flieger werden und sich später als Konstrukteur von Flugzeugen betätigen. Und die Tochter besuchte das Lyzeum, bis sie dann vor Jahresfrist einen Ingenieur heiratete, der bald darauf eine aussichtsreiche Stellung in Amerika fand und mit ihr dorthin übersiedelte.

So hatte Dr. Barck denn erreicht, was er sich als Ziel gesetzt hatte; aber weit mehr noch: Auch das Schwerste war ihm gelungen, sich selber zu überwinden – trotz seines Gebrechens sich wieder zur Lebensbejahung durchzuringen! Das Bewußtsein, andern in ihren Seelennöten helfen zu können, gab ihm das tragende Gefühl seiner Nützlichkeit; Pflege der Musik und die Unterhaltung in seinem Hause mit gleichgestimmten Menschen, die sich zu dem geistig hochstehenden Manne hingezogen fühlten und von ihm wertvolle Anregungen empfingen, brachten ihm selber Freude und inneren Gewinn.

Zu den Getreuen seines Hauses gehörte Frau Karla, die inzwischen Witwe geworden war. Wie kein anderer hatte sie miterlitten, was ihn betroffen hatte. Geraume Zeit hatte es gedauert, bis sie Werner Barck wieder sehen konnte, ohne von ihrer Erschütterung überwältigt zu werden. Ihn, den einst so lebensprühenden, kraftvollen Mann, nun an seinen Sessel gebannt zu sehen – es war ja zu furchtbar! Aber schließlich richtete sie sich an seiner Seelenstärke selber auf. Die langjährige Freundschaft mit ihm hatte im Laufe der Jahre auch zur Vertrautheit mit seiner Frau geführt. Diese, schon immer von nicht ganz fester Gesundheit, war seit der Katastrophe in ihrem Hause leider häufig Anfällen eines Herzleidens ausgesetzt, so daß eine gewisse Sorge berechtigt war. Was sollte aber werden, wenn dem hilflosen Mann etwa auch noch die Gefährtin seines Lebens genommen wurde? Er konnte doch weder bei der Tochter im Ausland noch bei dem studierenden Sohne Zuflucht suchen.

Diese ernsten Gedanken drückten auf Frau Karla auch jetzt wieder, wie sie zu der Kranken ins Zimmer trat. Sie ließ sich bei ihr am Bett nieder und sprach ihr herzlich zu, aber sie glaubten beide nicht recht an diese tröstenden Worte. Und schließlich mahnte Frau Barck:

»Laß Werner nicht länger warten; er freute sich ja so auf dein Kommen. Ich werde schon mit mir allein fertig, und er hat Gesellschaft nötiger als ich.«

Zögernd blickte Frau Karla auf die Liegende. So war sie immer, von einer Selbstlosigkeit ohnegleichen, doch als Käte Barck nun noch einmal drängte: »Geh doch, Karla – ich bitte dich aufrichtig!« da erhob sie sich und küßte die Leidende auf die Wange. »Du bist der rührendste Mensch, den ich je gesehen!« Dann verließ sie schnell das Zimmer, um ihre Bewegung und dunkle Ahnungen zu verbergen.

Dr. Barck saß an seinem gewohnten Platz am Fenster, so daß sein Gesicht im Schatten lag, aber die Geräusche von der Straße an sein Ohr drangen. Es war seine einzige Möglichkeit, am Treiben der Welt draußen teilzunehmen. Beim Gehen der Tür und nun beim leisen Seidenrauschen eines Frauengewandes flog ein heiteres Lächeln über das durchgeistigte Antlitz.

»So schweben nur die Charitinnen daher – willkommen, Karla!«

Sie trat rasch heran und ergriff die Hand, die er ihr entgegenstreckte, nicht unsicher tastend nach Blindenart, sondern mit einer zuversichtlichen Bewegung.

Frau Karla setzte sich ihm gegenüber auf den zweiten Sessel. Es war ihr nicht möglich, auf des Freundes scherzenden Ton einzugehen, und erklärend sagte sie:

»Ich war eben bei Käte –«

Er fühlte, was sie verschwieg, und nickte: »Ja, es steht nicht gut mit ihr.«

Ein Verwundern kam ihr: Wie gelassen er das sagte! Mit dem seelischen Tastsinn, der sich bei Dr. Barck seit seiner Erblindung noch unendlich viel feiner entwickelt hatte, hörte er den unausgesprochenen Gedanken und ging darauf ein.

»Du darfst nicht glauben, daß ich mir etwa über Kätes Zustand keine Gedanken mache. Wenn ich das eben so ruhig aussprach, so hat das seinen Grund. Was du heute mit Erschrecken ahnst, das sah ich schon seit langem herankommen und hatte Zeit, mich damit abzufinden. Immer bereit sein, ist alles, oder wie der alte Lao-Tse sagt: ›Anpassung tilgt Leiden.‹«

»Eine gar zu abgeklärte Philosophie! Lieber will ich den heißen Schmerz leiden, unvorbereitet. Aber verzeih, Werner, das gilt nur für mich. Du hast wohl ein Recht, anders zu denken.«

Sie versank in Schweigen. Das, was sie heute morgen von Haus fortgetrieben, drängte wieder in ihr herauf. Sie suchte noch nach Worten, da sagte Barck:

»Du bist bedrückt, Karla – was ist es?«

»Du fühlst ganz recht. Mir liegt viel auf der Seele. Darum kam ich zu dir; doch nun, wo ich hier bin, wird es mir so schwer, es auszusprechen.«

»Du hast mir doch sonst immer alles anvertraut.«

»Es ist diesmal etwas Besonderes – was noch nie bisher in mein Leben getreten ist.«

»Also ein Mann!«

»Ja!« Die dankbare Erleichterung, daß er ihr das Schwerste abgenommen, klang aus dem Wort, doch nun fügte sie schnell hinzu und blickte dabei in sein Antlitz, als könnten die noch immer schönen, großen Augen, die nur den lebensvollen Glanz nicht mehr hatten, ihr wie einst bis auf den Herzensgrund sehen. »Laß mich dir eines noch sagen, Werner: Das, was ich für dich empfand, damals in meinen jungen Jahren, bevor wir beide uns durchkämpften zur Entsagung, das ist es diesmal nicht. So Großes, Weihevolles erlebt man nur einmal in seinem Leben.«

Ritterlich beugte sich der Blinde über ihre Hand; sich dann wieder aufrichtend, fragte er:

»Sind es äußere Schwierigkeiten, die sich eurer Verbindung entgegen stellen?«

»Das nicht – aber anderes. Zunächst: Der Mann, der mich begehrt, ist jünger als ich, fast sieben Jahre. Doch das wäre, trotz aller Bedenken, nicht ausschlaggebend. Schwerer wiegt der zweite Grund: Dieser Mann ist ein Bekannter, ein Sportkamerad von Ilse. Sie hat ihn mir ins Haus gebracht und wohl erwartet, daß er um sie werben würde. Ilse ahnt offenbar, wie es nun steht, und ist empört. Sie ist eifersüchtig auf mich – die Tochter auf die Mutter!«

»In der Tat ein etwas ungewöhnlicher Fall. Aber sollte das ein Grund sein, deinem Glück zu entsagen? Denn darüber mußt du dir klar sein: Deine Aufgabe als Mutter ist erfüllt. Von deinen Kindern darfst du für dich nichts mehr erwarten. Was dir von dort etwa noch einmal zufällt, das ist ein Gnadengeschenk, und es fragt sich, ob es für ein Herz, wie das deine, genug ist, um davon zu leben.«

»Mir sind solche Gedanken auch schon gekommen, und doch – ich will es nicht glauben!«

»Täusch' dich nicht – es ist das Gesetz des Lebens, daß wir unsere Kinder nur großziehen, um sie zu verlieren. Deine Töchter werden sehr bald ihren eigenen Weg gehen, ohne zu fragen, was aus dir wird. Darum noch einmal: Bietet sich dir die Möglichkeit, dir ein eignes Glück zu schaffen – greif zu, ohne Bedenken!«

»Das alles sagt mir der Verstand ja auch, und nicht bloß der – in mir ist noch soviel Herzenswärme. Meinen Kindern kann ich sie nicht mehr geben. Ilse verspottet mich bloß mit meiner »Sentimentalität«, und Ruth ist so ruhig, hat auch nie ein Bedürfnis danach. Da ist nun jemand, den könnt' ich glücklich machen. Und mich selber! Meine ganze Ehe hindurch hab' ich mich nach Aufmerksamkeit und Zartheit gesehnt, jetzt wird sie mir entgegengetragen, im vollsten Maße – aber nun –« sie brach ab mit einem schmerzlichen Laut.

Dr. Barck beugte sich näher zu ihr. »Was ist es denn, das dir solche Bedenken macht?«

»Ich komme nicht darüber hinweg: Was soll aus meinen Mädeln werden, wenn ich wieder heirate? Bei uns bleiben können sie doch nicht, also müßten sie fort – ich treibe sie aus dem Vaterhause! Mit Bitterkeit, ja mit Haß vielleicht werden sie meiner gedenken – ich sehe immer wieder Ilses Blick gestern! Auf solchem Grunde kann man sich doch nicht ein neues Glück aufbauen – sag' selber, Werner!«

»Ja, Karla – da kannst nur du allein entscheiden. Jeder muß dem Gesetze seines Wesens folgen, und wenn die inneren Widerstände in dir so stark sind, dann wird es wohl richtig sein, du handelst danach. Aber folge ganz deinem eignen Ermessen.«

»Die Entscheidung ist schon gefallen, heut' nacht, wo ich über all das nachdachte. Wenn es mich trotzdem zu dir trieb, so war es mehr eine innere Entlastung für mich; ich mußte mir einmal von der Seele reden, was ich seit langem schon mit mir herumtrug.«

»Du bist also wirklich mit dir im klaren?«

»Ja, und noch heute schreibe ich Hauptmann Friemar – du sollst nun auch den Namen wissen – daß ich mich nicht zu einer Wiederverheiratung entschließen kann. Um uns beiden die Lage zu erleichtern, werde ich verreisen, den Sommer über fortbleiben, und wenn wir uns dann später wiedersehen, sind wir über das Schwerste hinweg.«

»Möchte dein Entschluß nur nicht übereilt sein, Karla! Du wirst dich sehr einsam fühlen, wenn deine Töchter einmal nicht mehr im Hause sind.«

»Das muß ertragen werden – jedenfalls sehe ich keinen andern Ausweg. Und nun will ich fort. Friemar erwartet meine Entscheidung.« Frau Karla erhob sich und drückte dem Blinden die Hand. »Hab' Dank für dein Verstehen. Bald sehe ich einmal wieder nach euch. Bis dahin alles Gute, namentlich für Käte!«



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