Paul Grabein
Jugendstürme
Paul Grabein

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»Also, du willst fort, schon jetzt? Ich dachte, du wolltest die Ferien über noch hier bleiben?« Ruth sagte es zu Helmut, der gekommen war, sich im Soltauschen Hause zu verabschieden. »Was hat dich denn dazu bestimmt, deinen Entschluß zu ändern?«

Ein Schatten flog über sein Gesicht. Er zögerte mit der Antwort, so daß Ruth fortfuhr: »Ich will natürlich nicht in dich dringen, wenn du es nicht sagen magst – ich kann es mir übrigens auch denken.«

Da überwand er seine Hemmungen. »Wenn du es doch schon ahnst – ja, es ist Ullas wegen.«

Sie schwiegen beide; den Kopf gesenkt, blickte Helmut vor sich hin.

Seit jenem Abend hatte er Ulla nicht mehr gesehen, und sie hatte nichts von sich hören lassen. Aber Gerüchte waren an sein Ohr gedrungen von Dingen, die an jenem Abend nach seinem Fortgang noch geschehen sein sollten. Es sprach sich in ihrem Verkehrskreis herum, unter Raunen, Lachen, aber auch unter Kopfschütteln. Es mußte ja sehr ausgelassen zugegangen sein in jener Nacht! Die ganze Gesellschaft war erst in den Morgenstunden heimgekommen, und die Teilnehmer an der Partie bewahrten eine auffallende Zurückhaltung über alle Einzelheiten.

Das sagte Helmut genug. Er wußte, was geschehen war: Ulla war ihm verloren! Er gab sie auf; es war selbstverständlich, doch es tat weh. Und unerträglich war ihm der Gedanke, ihr wieder vor Augen zu treten, nach dem, was geschehen war. Auf die Dauer wäre es indessen nicht zu vermeiden gewesen; so kam denn sein Entschluß, schon jetzt, mit Schluß des Semesters, von Berlin fortzugehen. Sein Vater hatte eingewilligt, und die Abreise stand vor der Tür.

Auch zu Ruth waren jene Gerüchte gedrungen. Sie hatte gesehen, was sich im Laufe des Sommers zwischen Helmut und Ulla angesponnen hatte. Sie wußte auch, daß es bei ihm mehr als ein Flirt war, daß er sich Ulla verlobt fühlte und sie heiraten wollte, sobald er beruflich soweit sein würde. Darum verstand sie jetzt auch, wie schwer ihn dieser Schlag getroffen hatte, und warmen Herzens sagte sie:

»Es ist nicht leicht für dich, Helmut, und doch – es ist gut, daß es so gekommen ist, schon jetzt – du hättest Ulla doch nicht halten können.«

Es zuckte in seinem Gesicht auf, aber er machte eine Gebärde der Abwehr. »Erlaß mir eine Antwort!«

Ruth nickte verstehend, und sie sprachen von anderem, bis Helmut gelegentlich fragte:

»Hast du eigentlich in letzter Zeit etwas von Fred gehört? Von mir hat er sich ganz zurückgezogen.«

Sie schüttelte das Haupt, eine Falte erschien zwischen ihren Brauen. »Auch bei uns hat er sich nicht mehr sehen lassen.«

»Es ist schade um Fred; ich fürchte, er ist im Begriff, sich ganz zu verlieren.«

»Warum?« Es klang wie ein leises Erschrecken. Wohl hatte Ruth von gemeinsamen Bekannten davon gehört, daß Fred Lynar ein freies Künstlerleben führe, überall bei großen Festen gesehen werde und sich viel in den Tanzdielen zeige; doch war das schließlich kein Grund zu ernster Besorgnis. So drängte sie denn:

»Sag mir doch, was du von ihm weißt!«

»Ich tu' es nicht gern. Ich habe Fred früher sehr geschätzt, und möchte ihn nicht bei dir anschwärzen.«

»Ich versteh' dich schon richtig – also sprich nur!«

»Ja – wenn du darauf bestehst. Also: Fred ist in schlechte Gesellschaft geraten, Künstler, aber schlimmste Bohemiens. Er bummelt Nacht für Nacht mit ihnen in den Tanzbars, bei Sekt und Weibern. Das kann doch auf die Dauer nicht ohne Schaden für seine Gesundheit und sein künstlerisches Schaffen bleiben. Er hat ja freilich eine zähe Natur und Arbeitskraft, sonst könnte er tagsüber nicht so arbeiten, wie er es tut. Die mondänen Zeitschriften bringen Nummer für Nummer seine Bilder. Unleugbar schmissig – glänzend gemacht – er soll auch viel Geld damit verdienen – aber leider Gottes immer nur diese Pikanterien und eleganten Frechheiten, nichts mehr von Tiefe. Was hat einmal in Fred drin gesteckt, und nun so! Freilich, es ist ja am Ende kein Wunder, wenn man hört, daß er ganz im Banne einer Frau liegt, die in dieser Welt lebt, die zu ihr gehört.«

»Einer Frau –?« Mit stockendem Herzen fragte es Ruth.

»Ja, einer Tänzerin vom Kabarett, einer blendend schönen Person, wie es heißt. Und auch sie soll ganz in ihn vernarrt sein. Wohl zu verstehen, ein Kerl wie Fred läuft solchen Damen ja nicht alle Tage über den Weg. Aber es ist doch ein Jammer, daß er dahin geraten mußte! Ich verstehe gar nicht, wie es kommen konnte. Solange ich Fred kenne, war er immer der solideste und idealste Mensch, den man sich denken kann. Und plötzlich dieser Umschlag – ich stehe da vor einem Rätsel!«

Ernst sann Helmut Barck vor sich hin. So entging es ihm, daß auf Ruths Wangen eine jähe Röte entbrannte und sie schnell die Augen senkte.

Als Helmut wieder zu ihr hinsah, hatte sie die Beherrschung wiedergewonnen, und der Jugendgefährte sprach weiter:

»Wie ich in der Zeitung las, veranstaltet die Galerie Jaquart demnächst eine Ausstellung von Freds Sachen. Ich wäre gern einmal hingegangen; es sollen auch Gemälde, also auch ernstere Arbeiten, darunter sein. Aber leider komme ich nun nicht mehr dazu. Übermorgen reise ich schon. – – Ja, Ruth, es waren nicht gerade erfreuliche Dinge, über die wir bei unserm letzten Beisammensein sprachen. Laß uns hoffen, daß es anders ist, wenn wir uns wiedersehen.« Und er reichte ihr die Hand zum Abschied.


Ruth stand in dem kleinen Saal der Galerie Jaquart, der die Kollektivausstellung Fred Lynars beherbergte. Es war eine frühe Stunde, in der noch kein anderer Besucher da war; so konnte sie sich ungestört ihren Eindrücken hingeben.

Die Schau gab einen Überblick über das Gesamtwerk und den Entwicklungsgang des jungen Künstlers. Links vom Eingang hingen seine frühesten Sachen. Ganz eigen ward Ruth ums Herz, wie sie diese wohlbekannten Entwürfe und Bilder wiedersah, an deren Entstehen sie so großen Anteil genommen hatte. Jene schönen Zeiten wurden in ihr lebendig, wo sie Freds Vertraute gewesen war, sein künstlerisches Werden innerst miterlebt hatte. Was für ein hohes Streben, was für eine Reinheit sprach aus jedem dieser Blätter! Und dann kamen jene Studien und Skizzen, die sie selber darstellten – der Zyklus »Jugend«, jene frühlingszarten, keuschen Mädchengestalten, denen sie ihr eignes Antlitz geliehen hatte.

Das Herz erbebte ihr, wie sie darauf schaute. Zum erstenmal fühlte sie voll, was Fred in diese Darstellungen hineingelegt hatte. Diese andächtige, demutsvolle Verehrung vor der Reinheit und Hoheit des werdenden jungen Weibes – ihr hatte es gegolten! In diesen Bildern lag das Geständnis seiner Liebe, der Liebe, die sie kühl zurückgewiesen, die sie achtlos zertreten hatte. So ergriffen war Ruth, daß sie lange, lange vor diesen Blättern stehenblieb, einen feuchten Schleier vor den Augen.

Endlich raffte sie sich auf und ging weiter. Es folgten die ersten Schritte Freds nach der neuen Richtung, jene Arbeiten, die damals während seiner ersten Zeit im Reklame-Atelier entstanden waren. Brotarbeit, von Wert nur durch die elegante Technik, dazwischen aber auch manch künstlerisch bedeutendes Werk noch vom gleichen Geist wie jene Jugendbilder. Dann aber war es wie ein scharfer Schnitt – was nun folgte, war so grundanders, daß man sich schwer vorstellen konnte, daß hier ein- und derselbe Künstler zum Beschauer sprach.

Mit klopfendem Herzen stand Ruth vor diesen Zeugen seiner neuen Schaffens- und Lebensperiode. In ihrer Brust rief es anklagend und drohend: Deine Schuld! Du hast ihn auf diesen Weg getrieben. Und wenn dieser einst so hochstrebende Geist nun untergeht im Schlamm – du trägst die Verantwortung – nur du!

Ein Passionsweg war es, den Ruth so zurücklegte, von Blatt zu Blatt dieser neuen Serie. Auch hier wieder ein und derselbe Frauentyp; doch wie so ganz anders! Ein verzehrendes Weh brannte Ruth im Herzen, wie sie auf dieses kecke, lachende Antlitz, diese lockenden weichen Glieder, diese verführerische und herausfordernde Haltung blickte. Nun war diese Frau täglich um ihn, besaß ihn ganz an Leib und Seele – besaß alles, was von diesem reichen, edlen Geist noch übriggeblieben war nach dem zerschmetternden Sturze.

So bitter weh tat das zu sehen, daß Ruth dieses qualvolle Schauen noch vor dem Ende der Bilderreihe abbrechen wollte. Sie wandte sich zur Tür, doch da fiel ihr Auge auf ein kleines Gemälde im schlichten Holzrahmen, das als letztes hing. Von einem seltsamen, dunklen Empfinden getrieben, ging sie hin, auch dies Schlußwerk noch zu schauen. »Der lachende Faun«, stand auf einem Schilde unten am Rahmen, und sie sah nun: wirklich – ein Faunsgesicht. Unter dem wirren, nachtdunklen, rosenumflochtenen Gelock, aus dem die Spitzen der Bockshörner lugten, ein edles, aber von Leidenschaften durchwühltes Mannesantlitz, um die Lippen das sarkastische, verächtliche Lächeln des Genießers, der alle Becher der Lust bis zur Hefe geschlürft hat. Aber die Augen in diesem Gesicht – die Augen! Dieses Leid, zahllose ungeweinte Tränen – der stumme Aufschrei eines armen, ausgebrannten Herzens!

Eine ungeheure Erschütterung schüttelte Ruth. Sie vergaß, wo sie war. Die Tränen stürzten ihr über die Wangen. Und in dieser Minute ward ihr ganz bewußt, was hier vernichtet, was ihr verloren war – fühlte sie, daß auch sie Fred Lynar lieb gehabt hatte, ja, daß sie ihn noch liebte – daß sie ihn nie werde vergessen können.

Endlich hatte Ruth sich wieder in der Gewalt. Sie blickte um sich – Gott sei Dank! niemand hatte ihre Haltlosigkeit gewahrt. Sie tupfte die Tränenspuren von ihrem Gesicht, dann warf sie noch einmal einen Blick auf das Bild; diesmal aber in einem Entschluß.

Sie verließ die Ausstellungsräume, trat in das Büro der Galerie ein und fragte, ob der »Lachende Faun« verkäuflich sei. Es war so. Da erwarb sie das Bild zu dem ausgezeichneten Preise, obwohl dieser hoch war, und stellte nur die eine Bedingung, daß ihr Name als Käuferin nicht bekannt werden dürfe – auch dem Künstler nicht. Es wurde ihr zugesagt.


Im Hause Erich Friemars sah es immer trüber aus. Auch die letzte Hoffnung, an die er sich bisher noch geklammert, hatte getäuscht. Es war Aussicht gewesen, daß Ilse Mutter werden sollte. Er hatte sich auf dies Kind gefreut. Es sollte ein Band zwischen Ilse und ihm werden, ihrem leeren Nebeneinanderleben Inhalt und Zweck geben. Aber die Hoffnung war zerronnen, nicht ohne Ilses Schuld. Sie ihrerseits war von den Mutteraussichten wenig erfreut gewesen. Was sollte sie mit einem Kinde anfangen? Das würde sie nur stören. Sie sah also seinem Kommen gleichgültig, wenn nicht gar mit Widerwillen entgegen, und in Nichtachtung ärztlichen Rats hatte sie Reit- und Tennissport uneingeschränkt weiter betrieben. So war das Unglück schließlich gekommen, und was das Schlimmste war, der Ilse behandelnde Arzt hatte die ernste Sorge geäußert, daß nach allem eine zukünftige Mutterschaft in Frage gestellt sein könnte. Die junge Frau war von dem Ereignis auch so mitgenommen, daß sie nachher noch auf Wochen in ein Sanatorium im Grunewald mußte, um ihre Kräfte wiederherzustellen.

Die Eröffnung des Arztes hatte Friemar tief getroffen. Tagelang hatte er kaum ein Wort gesprochen, und verschlossener als je war sein Wesen auch nachher noch, als der Schlag selber überwunden war.

Heute war Ilse aus dem Sanatorium in ihre Wohnung zurückgekehrt; das erstemal seit vier Wochen saß sie abends wieder mit Erich zusammen. Das, was hinter ihr lag, war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie hatte in diesen vier Wochen Zeit gehabt, über manches nachzudenken, und hatte gute Vorsätze heimgebracht. Sie fühlte sich nicht frei an dem Unglück ihrer Ehe und war entschlossen, an ihrem Teil alles zu tun, sie fortab besser zu gestalten.

Es schien ihr das um so leichter, als ihr Mann, der sie mit dem Auto aus dem Sanatorium abgeholt hatte, bei allem Ernst seines Wesens eine Aufmerksamkeit und Rücksicht zeigte, die er vorher ihr gegenüber nicht bewiesen hatte. So war es denn eine freudige Erwartung, die sie beseelte, wie Erich jetzt, nachdem sie bereits eine ganze Weile zusammengesessen hatten, sich im Sessel aufrichtete und mit einem ersichtlichen Entschluß sagte:

»Ich möchte allerlei mit dir besprechen, was mir in dieser Zeit durch den Kopf gegangen ist. Ich nehme wohl mit Recht an, daß auch du dir inzwischen klar darüber geworden bist: So wie es bisher zwischen uns war, kann es nicht weitergehen.«

Ilse senkte den Kopf, in geheimem Schuldgefühl. Ihr Herz pochte schneller. Sie suchte nach Worten, um ihm – ohne sich allzuviel zu vergeben – zu sagen, daß auch sie den besten Willen zu einem guten Einvernehmen mitbringe. So hörte sie ihn weitersprechen:

»Eine der Hauptquellen, aus denen meine Reizbarkeit kam, war das Gefühl der materiellen Abhängigkeit von dir. Es bedrückte mich schwer, nahm mir Selbstgefühl und Schaffensfreude, daß ich meine Stellung nur dir und deinem Gelde – verzeih, ich will dich nicht verletzen – verdanke. Darum bin ich entschlossen, aus eurem Familienunternehmen auszuscheiden und wieder in meine frühere Position zurückzutreten.«

»Das kann dein Ernst nicht sein!«

»Doch, Ilse. Es ist ein wohlerwogener Entschluß. Ich habe bereits mit dem ersten Direktor der Flugzeugwerke gesprochen, man nimmt mich gern wieder auf. In vier Wochen schon trete ich dort ein.«

»Erich!«

»Was erschreckt dich so bei dem Gedanken?«

»Mein Gott, das liegt doch auf der Hand. Du willst eine gesellschaftlich und wirtschaftlich glänzende Stellung aufgeben, um wieder ein untergeordneter Angestellter zu werden!«

»Den Betriebsleiter eines großen Werks wird wohl niemand so nennen können.«

»Ich will dich nicht kränken, Erich, nichts liegt mir ferner – aber stell' dir das alles nur einmal richtig vor: Ich weiß ja, was du früher hattest; für dich als Junggesellen war es sicher sehr anständig – aber wie wollen wir damit auskommen? Es reicht ja gerade hin, um Auto und Chauffeur zu unterhalten!«

»Darauf werden wir selbstverständlich fortab verzichten müssen, ebenso wie auf die Wohnung hier.«

»Und unser Haus? Zu Ostern sollen wir einziehen!«

Erich zuckte die Achseln. Ernst sagte er: »Nun verstehst du vielleicht, warum ich von diesem Plan nichts wissen wollte.«

Mit großen Augen sah sie ihn an. »Also damals schon hast du dich mit diesem Gedanken getragen!«

Sein Blick wich dem ihren aus, aber seine Miene blieb fest.

Ein paar Sekunden sann sie vor sich hin, im Innersten bestürzt; nun aber suchten ihre Augen die seinen mit einem Bitten, und es war eine ungewöhnliche Weichheit in ihrer Stimme, wie sie sagte:

»Erich, ich kann verstehen, was dich zu diesem Entschluß getrieben hat. Ich war manchmal häßlich zu dir – es tut mir heute leid – vergiß es bitte! Ich komme als eine andere zu dir, bereit, noch einmal neu anzufangen; doch mach' mir's nicht zu schwer. Das, was du mir zumutest – das geht über meine Kraft.«

Aus den weichen, warmen Lauten der Frauenstimme schwang sich etwas zu Friemar hin, das Einlaß in sein Innerstes begehrte. Aber er machte sich hart; es klang auch aus seiner Antwort:

»Wie kannst du so sprechen! Was ich dir ›zumute‹, ist etwas, das tausend andere Frauen als ein großes Glück ansehen würden.«

Sie wollte aufbegehren: Eine Ilse Soltau ist nicht eine von Tausenden! Doch sie bezwang sich und erwiderte nur:

»Gewiß, es klingt anspruchsvoll; aber denk' auch daran, wie ich es von Kindheit an gewöhnt bin. Und nun soll ich herunter von meinem Niveau, die Frau Betriebsleiter spielen in der bürgerlichen Vierzimmerwohnung? Nein, Erich, das darfst du mir nicht antun!«

Bittend, drängend blickte sie zu ihm empor, aber da gewahrte sie, wie ihm an den Schläfen die Adern jäh anschwollen.

»Du schämst dich also deines Mannes? Ein Bettel ist es, was er dir zu bieten hat? Nun gut –« feindselig sprühte sein Auge sie an, »so wirf ihm doch diesen Bettel vor die Füße, gib ihm den Laufpaß! Denn das andere hört auf. Ich hab' es satt, dieses Drohnenleben von Soltauschen Gnaden!«

Zornbebend rief er es. Im nächsten Augenblick flog die Tür hinter ihm ins Schloß.


Ilse hatte sich überwunden, nicht leicht, und sie vergab es ihm nicht, daß sie sich seinem Willen fügen mußte. Kalt und abweisend ging sie neben ihm her, und doch regte sich neben all ihrem Groll uneingestanden ein anderes Empfinden. Erichs fester Wille, seine Nichtachtung ihres bisherigen Wohllebens hatten ihr imponiert. Sie war es so gewöhnt, daß man sich vor dem Soltauschen Reichtum verneigte, daß ihr nun diese Geringschätzung verblüffte Bewunderung abzwang. Zugleich erhob sich in ihr eine Frage, die sie unsicher machte. Wenn das, was sie mit ihrem Besitz zu bieten hatte, ihrem Manne so wenig wog, was blieb dann noch, um ihn sich zu erhalten? Denn ihre geistigen Gaben, auf die sie so stolz war, bedeuteten ihm nicht viel. Im Gegenteil, ihr scharfer Verstand, ihre überlegen kühle Art erschienen ihm – sie hatte es ja manchmal schon herausgefühlt – unweiblich, abstoßend. Und auch ihr Frauenreiz, der ihn in den ersten Wochen der Ehe stark gelockt hatte, hatte offenbar für ihn die Wirkung verloren. Beschämt mußte sie es sich eingestehen. Was hatte sie also noch in die Wagschale zu werfen?

Es geschah Ilse, was ihr nie zuvor im Leben begegnet war, daß sie in Grübeln versank, über sich und ihr Wesen nachsann und daß ihr der Wunsch kam, sie möchte anders sein, als sie war – wärmer, weiblicher. Und in solchen Stunden überfiel auch sie die Trauer über ihre vereitelte Mutterschaft. Sie fühlte, daß sie solch ein kleines, hilfloses Wesen doch recht lieb hätte haben können, daß mit dem Kinde in ihr selber wohl manches zum Leben erwacht wäre. Nun war das vorbei – vielleicht für immer. Tief sank Ilse bei diesem Sinnen das Haupt auf die Brust.

Um so höher aber trug sie den Kopf, wenn ihr Mann da war. Er sollte nichts davon merken, wie es in ihr aussah. Sie ersetzte ihr verlorenes Selbstgefühl durch eine schroffe, hochmütige Haltung, die ihn nur immer weiter von ihr abtrieb. Es kamen Abende, wo sie kaum ein Wort sprachen – war es wirklich noch eine Ehe, die sie miteinander führten?

Auch Erich Friemar legte sich diese Frage immer häufiger vor. Tagsüber war dieser Zustand noch allenfalls zu ertragen. Er hatte seine Arbeit und dehnte sie aus, so lang es irgend ging. Meist kam er jetzt erst gegen acht Uhr nach Haus. Aber diese entsetzlichen, langen Abende, allein mit Ilse! Ihn graute davor. Es kostete ihn jedesmal einen harten Entschluß, im Büro vom Schreibtisch aufzustehen.

So konnte das doch unmöglich weitergehen – es war sinnlos. Und wie seine Frau daheim, verlor sich auch Erich Friemar auf seinem Büro oft genug in ein Sinnen, in trübe Gedanken, die immer quälender wurden und zu einem Entschluß drängten.

Auch heute war das wieder so. Die Geschäftszeit war verstrichen, in den Büroräumen das Licht erloschen, nur aus dem Vorzimmer, wo seine Privatsekretärin saß, klang noch gedämpft das Rasseln der Maschine. Aber jetzt verstummte auch das. Das junge Mädchen kam herein und legte ihm die letzten Briefe zur Unterschrift vor. Dann entfernte sie sich wieder mit einem Gruß. Kurz darauf hörte er draußen die Tür gehen – nun war er ganz allein.

Die Stille und Einsamkeit wurde drückend. Er atmete schwer und stützte den Kopf in beide Hände. Ein verpfuschtes Leben. Das sollte nun so weitergehen, jahraus, jahrein. Ihm war, als sollte er ersticken. Und plötzlich sprang er auf, so heftig, daß der Sessel beinahe umgefallen wäre. Nein – und nochmals nein! Er hatte nicht das Zeug zum stillen Dulder in sich. Er wollte nicht zugrunde gehen. Frei wollte er wieder sein – das Leben noch einmal vor sich haben – mochte kommen, was wollte!

Mit erregten Schritten durchmaß Erich Friemar den Raum. Sein Entschluß stand fest, nur über das Wie war er sich noch nicht klar. Die Ritterlichkeit seines Wesens verleugnete sich auch Ilse gegenüber nicht. Er wollte ihr das demütigende Gefühl ersparen, daß er es war, der ihr den Laufpaß gab – auch der Welt gegenüber. Sie sollte es sein, die ihn aufgab. Aber wie sie dazu bringen? In verbissenem Trotz schien sie sich offenbar vorgenommen zu haben, nicht vom Platz zu weichen, und wenn schon eine Trennung nicht zu vermeiden war, ihm die Schuld zuzuschieben.

Er blieb stehen. Wenn einmal jemand mit ihr spräche; ein Mensch, den er ganz ins Vertrauen ziehen konnte und der Einfluß auf sie hatte? Er sann nach, schüttelte aber immer wieder den Kopf. Da war keiner, dem er sein Herz hätte ausschütten können; auch Ruth nicht, sie war noch zu jung, ihm zu fremd. Nur Eine gab es – Ilses Mutter.

Seine Stirn furchte sich. Wieder nahm er seine unstete Wanderung durchs Zimmer auf, mit sich selber im Streit. Gewiß, es sprach genug dagegen; aber ging es hier schließlich nicht um Dinge, vor denen alles andere zurücktreten mußte? Und plötzlich war es entschieden. Er trat zum Schreibtisch, an den Fernsprecher. Erst ein Bescheid nach Haus, eine Mitteilung an das Hausmädchen für seine Frau, sie möchte ihn heute nicht zum Essen erwarten; er käme später, eine geschäftliche Konferenz. – Hierauf ließ er sich mit Frau Karla verbinden. Sie kam in Person ans Telephon. Eine kurze Begrüßung, nun seine Frage:

»Könnte ich dich heut noch sprechen? Am liebsten sofort, und ganz ungestört. – – – Was es ist, möchte ich am Telephon nicht sagen – – – Nein, Ilse weiß nichts davon. Ich möchte dich auch bitten, ihr, bevor unsere Unterredung stattgefunden hat, nichts zu sagen. – – – Ich verstehe deine Bedenken durchaus, und trotzdem bitte ich dich um diese Unterredung. Sie liegt in Ilses Interesse. Aus anderen Gründen würde ich selbstverständlich niemals kommen. – – Gut, ich danke dir. Ich komme dann gleich.«

Er hängte den Hörer ein und richtete sich auf – nun war der Stein im Rollen!

Karla Soltau war allein im Hause. Ruth war ausgegangen, sie verbrachte den Abend bei Barcks.

Als Frau Karla der Besuch ihres Schwiegersohns gemeldet wurde, ließ sie ihn in den kleinen Salon führen; er lag am äußersten Ende der Zimmerflucht. Als sich die Tür hinter der Jungfer wieder geschlossen hatte, schritt Erich Friemar langsam auf Frau Karla zu. Ein Erinnern kam ihm an jene Stunden, die er früher mit ihr in diesem Raum erleben durfte, beim Tee, bisweilen allein, so wie heute. Aber seltsam, das alles lag fern, als wäre es nie gewesen. Er sah in diesem Augenblick in Karla nur die Mutter seiner Frau; der ernste Zweck seines Kommens beherrschte ihn ausschließlich.

Sie setzten sich, und Karla ergriff das Wort:

»Deine Ankündigung vorhin am Telephon hat mich beunruhigt, Erich.« Besorgt und forschend blickte sie den Schwiegersohn an. »Was wirst du mir mitzuteilen haben?«

»Ich will es nur gleich sagen – es geht um ernste Dinge.« Obwohl er vollkommen ruhig war, wollte ihm doch selbst in dieser Minute die Anrede nicht über die Lippen, die ihr Verhältnis zu ihm als ein mütterliches gekennzeichnet hätte. »Du wirst sehr betroffen sein von dem, was du hören wirst – aber vielleicht auch nicht.« Und nun sah er sie an. »Wenn du freilich auch nur selten bei uns warst, so wird es dir wahrscheinlich trotzdem nicht entgangen sein, daß unsere Ehe nicht gerade glücklich ist.«

Obwohl er ihr nichts Neues sagte, erschrak sie doch. »Die Spannung zwischen euch bemerkte ich natürlich, doch glaubte ich an vorübergehende Verstimmungen. Deine Worte eben lassen mich leider Schlimmeres fürchten.«

»Ja, es ist so – und ich will es ohne Umschweife heraussagen: Unsere Ehe ist unhaltbar geworden. Ilse und ich quälen uns unbeschreiblich, es bleibt nur eins – die Trennung.«

»Mein Gott – ist es schon soweit? In den paar Monaten!«

»Sie reichen hin, um einen zu zermürben«, bitter kam es von seinen Lippen. »Ich bin jedenfalls am Ende und«, sein Ton wurde hart, »fest entschlossen, ein Ende zu machen.«

Abermals erschrak Frau Karla. Mit Scheu glitt ihr Blick über das finstere Männerantlitz vor ihr, und dieser eine Blick sagte ihr genug. Hier war nichts mehr zu hoffen. Ein großes Mitleid mit der Tochter kam da über sie, und sie forschte:

»Ilse ahnt noch gar nichts von diesem Entschluß?«

»Nein – er ist erst in dieser Stunde in mir herangereift. Und nun laß dir sagen, warum ich zu dir komme.«

Mit taktvollen Worten erbat er ihre Hilfe, um der Tochter die Initiative bei der Scheidung nahezulegen und so ihren Stolz zu schonen.

Still hörte Frau Karla ihn an und schwieg auch noch, nachdem er geendet hatte. Beklommen sagte sie endlich:

»Da dein Entschluß, wie ich annehmen muß, endgültig ist« – eine unerbittliche Gebärde Erich Friemars ließ keinen Zweifel daran –, »so ist ja leider jeder Versuch, hier noch einmal zu vermitteln, ausgeschlossen. Ich beklage dieses Unglück aufrichtig für euch beide. Ich hatte immer noch gehofft, ihr würdet zueinander hinfinden; doch nun –«, tief bekümmert senkte sie den Kopf, gedankenverloren.

Er sah zu ihr nieder. So gewahrte er, wie es in ihren Mienen geängstigt aufzuckte, wie dort ein Ausdruck der Qual erschien, und plötzlich suchte ihr Blick ihn.

»Sag mir, wo wir beide doch einmal so offen miteinander reden, eins noch, Erich: Ich trage nicht die Schuld an eurer Entfremdung? Sag es mir zu meiner Beruhigung!«

»Nein, Karla, du nicht! Sie wäre auch so gekommen – des sei ganz gewiß.«

Ohne daß er es wollte, war ihm ihr Name auf die Lippen gekommen, aber wie er nun an ihr Ohr schlug, wie ihm die Augen bei seinem Klange aufleuchteten in einem unbewußten Hervorbrechen dessen, was nur gewaltsam zurückgedrängt war, malte sich eine Verwirrung auf ihren Zügen, die ihr einen erhöhten Reiz verlieh. Da war es bei ihm vorbei mit aller Beherrschung. Er ergriff ihre Hände, bedeckte sie mit glühenden Küssen und rief ausbrechend:

»Ich kann ja nicht anders! Wie hab ich mich gesehnt nach dir! Aber noch einmal – nicht das ist der Grund, weshalb ich von Ilse gehe. Wir beide verstehen einander nicht, haben innerlich nichts gemein – darum geschieht es. Quäl' dich also nicht mit Selbstvorwürfen, Karla; du kannst Ilse frei ins Auge sehen. Doch wenn alles hinter uns liegt, wenn ich wieder frei bin, dann – dann komm' ich noch einmal zu dir. Und dann darfst du nicht wieder Nein sagen! Ich kann nicht mehr leben ohne dich!«

Einen Augenblick setzte Karla das Herz aus, ihr war, als wolle alles um sie her versinken, aber nur eben einen Augenblick lang. Im nächsten schon zuckte sie zusammen: Ilse! Deutlich sah sie die Tochter vor sich, die sie mit entsetzten Blicken anstarrte. Da entwand sie ihm mit einer verzweifelten Anstrengung ihre Hände:

»Um Gottes willen – laß mich!«

Ihr Aufschrei brachte auch ihn zur Besinnung. Er richtete sich empor und stand auf. So blickte er auf sie nieder, die im Sessel lehnte, die Hände vors Gesicht geschlagen. Da bat er weich:

»Faß dich doch, Karla, es ist ja nichts geschehen. Und nun will ich wieder fort. Du weißt ja jetzt, was zu tun ist. Geh' bald zu Ilse, am besten noch heute – damit wir alle zur Ruhe kommen.«

Sie antwortete nicht, verharrte in ihrer Haltung, so daß er mit einem leisen Lebewohl von ihr ging.

Karla Soltau wußte nicht, wie lange sie so im Sessel gelegen hatte. Ganz zerschlagen erhob sie sich endlich, ging hinüber in ihr Schlafzimmer und kühlte sich die schmerzende Stirn. Allmählich ward sie gefaßter und begann ruhiger zu denken, und schließlich erkannte sie: Die Selbstvorwürfe, mit denen sie sich so gequält hatte, waren grundlos. Was war denn geschehen? Sie war einige Augenblicke fassungslos gewesen über diesen unerwarteten Ausbruch von Erichs Leidenschaft. Daraus konnte ihr niemand ein Verschulden machen, es war allzu begreiflich. Und das andere, die verirrten Empfindungen, die sie ein paar Herzschläge lang aufgestört hatten – sie hatte sie niedergekämpft, kaum, daß sie sich geregt hatten. Nein, sie hatte sich nichts vorzuwerfen und brauchte sich nicht zu scheuen, vor die Tochter zu treten.

Aber wie schwer war trotzdem dieser Gang, zu dem sie sich nun fertigmachte! Während sie es tat, sann sie nach, wie sie Ilse die schlimme Kunde beibringen sollte, in der richtigen Weise, um Erichs wohlgemeinten Zweck zu erreichen.

Als sie mit ihrem Anzug fertig war, schickte sie die Jungfer hinüber zum Chauffeur, der seine Wohnung hinten im Garten hatte; das Mädchen kam mit einer Meldung der Chauffeursfrau zurück: Ihr Mann habe heute abend doch frei und sei in der Stadt – die gnädige Frau habe ihn ja heute morgen selber beurlaubt.

Richtig, das hatte Karla ganz vergessen über all dem andern! Ein kurzes Überlegen – es war gerade um die Zeit, wo die Züge nur in größeren Zwischenräumen gingen – auch war es ihr lästig, sich in ihrer ernsten Stimmung von fremden Menschen eine halbe Stunde lang im Eisenbahnabteil anstarren zu lassen, so entschloß sich Karla, selber zu fahren. Sie ließ sich also ihren Autodreß bringen und ging dann zur Garage. Mit Hilfe des Gärtners wurde der kleine offne Wagen herausgebracht, und sie fuhr ab.

Ilse war nicht wenig verwundert, als die Mutter zu so ungewohnter Stunde bei ihr erschien. Der unerwartete Besuch entriß sie trüben Gedanken. Lange saß sie schon, unfähig zu lesen oder Radio zu hören – seitdem ihr die Bestellung ihres Mannes ausgerichtet worden war. Sie konnte nicht recht an diese geschäftliche Konferenz Erichs glauben, deren Notwendigkeit sich erst in letzter Minute herausgestellt haben sollte. Und dann – daß er nicht einmal sie selber hatte rufen lassen, um es ihr zu sagen! Einfach so durch den Dienstboten! Das mußte seinen besonderen Grund haben. Aber welchen?

Zum erstenmal kam ihr der Argwohn, daß Erich ihr untreu sein könnte, und dieser quälende Gedanke ließ sie nicht mehr los. Wenn es so wäre – trug sie selber nicht die Schuld? Seit Wochen hatte sie ihm kein gutes Wort mehr gesagt! Wie so oft schon, wenn sie allein war, überfiel sie Reue, zerbrach aller Trotz, und das Leid in ihr wurde wach. Sie konnte es sich ja nicht länger mehr ableugnen: Sie sehnte sich nach ihrem Mann, wollte, daß er sie begehrte – weil sie ihn liebte. Ja, es war so! Seit der Stunde, in der er ihren Stolz und Willen gebrochen, sich als der Stärkere bewiesen hatte, seit dieser Stunde liebte sie ihn. Nur daß sie es verbarg hinter anscheinend abweisender Kälte. Doch was hätte sie darum gegeben, wenn er um sie geworben und diese Eismauer durchbrochen hätte. Schrankenlose, hingebende Liebe hätte ihn belohnt! Aber er ahnte es nicht, kümmerte sich überhaupt nicht mehr um sie und suchte – der heutige Tag wollte es ihr zur Gewißheit machen – was er bei ihr nicht fand, bei einer andern.

Wie weh das tat, wie furchtbar weh! Es hatte in diesen einsamen, traurigen Stunden heute Augenblicke gegeben, wo Ilse die Tränen nahe waren. Nur das Zusammenreißen des letzten Rests ihres einstigen kühlen Stolzes hinderte sie am fassungslosen Zusammenbrechen.

In dieser Stimmung wurde Ilse die Mutter gemeldet. Gewaltsam gab sie ihren Mienen einen unbekümmerten Ausdruck. Niemand sollte ahnen, was in ihr vorging, und leichthin sagte sie zu der Eintretenden:

»Du kommst überraschend, Mama – hoffentlich ist es nichts Unangenehmes, was dich herführt.«

Karla küßte die Tochter wie gewohnt zum Gruß auf die Wange, doch nun legte sie ihr den Arm um die Schultern und führte sie zu dem kleinen Ecksofa.

»So feierlich?« Unwillkürlich kam Ilse das Lachen. »Das ist ja ganz wie im Theater. Jetzt mußt du bloß noch sagen: ›Mein gutes Kind – ich habe mit dir zu reden!‹«

»Es ist mir leider nicht möglich, auf deinen Ton einzugehen, Ilse. Dazu ist mir das Herz zu schwer. Ich bin in der Tat gekommen, um mit dir zu sprechen. Ich mache mir deinetwegen ernste Gedanken, schon seit langem. Es kann ja keinem auf die Dauer verborgen bleiben – eure Ehe ist nicht glücklich geworden.«

Ilses Haltung wurde plötzlich frostige Abwehr. »Ich weiß nicht, was dich zu dieser Annahme berechtigt – und wenn du wirklich damit recht hättest, so wäre es eine Angelegenheit, die doch ausschließlich meinen Mann und mich angeht.«

Die Mutter verfärbte sich, es kostete sie Mühe, ohne ihre Verletztheit zu zeigen, weiter zu sprechen.

»Du machst es mir nicht gerade leicht, Ilse, meinen Vorsatz auszuführen, über diese Dinge mit dir zu reden, obwohl sie natürlich eure eigenste Angelegenheit sind. Wenn ich mich trotzdem dazu entschlossen habe, werde ich wohl einen triftigen Grund haben, und der ist, daß du meiner festen Überzeugung nach deine Situation deinem Manne gegenüber falsch beurteilst.«

»Was willst du damit sagen – sprich deutlicher!«

Karla suchte nach den richtigen Worten; sie durfte sich ja nicht anmerken lassen, daß sie in Erichs Auftrag handelte. Langsam, zögernd brachte sie heraus:

»Versteh recht, was ich dir sage, und vergiß nie: Es ist zu deinem Besten, wenn es auch weh tut. Also – ich habe den Eindruck, du hältst den Riß zwischen deinem Manne und dir für heilbar, du hoffst noch immer auf einen guten Ausgang. Ilse, so schwer es mir wird, ich muß dir die Augen öffnen: Du befindest dich in einem verhängnisvollen Irrtum – eure Ehe wird nie mehr glücklich werden!«

»Und das sagst du mir – die eigne Mutter?«

»Weil ich es gut meine! Weil ich dir unnütze Qual und Demütigung ersparen will. Es gibt Leiden, wo der scharfe Schnitt, so schmerzhaft er ist, das einzig Richtige ist.«

»Du machst mich immer mehr staunen. So hörte ich dich noch nie reden! Was gibt dir das Recht dazu? Was weißt denn du, wie ich zu meinem Manne stehe, und er zu mir?«

»Sollte es wirklich so schwer sein, das zu beurteilen? Wer euch beide kennt, euch sieht in eurem Beisammensein, der merkt doch die trostlose Atmosphäre, in der ihr miteinander lebt. Ihr schleppt die Fesseln eurer Ehe nur noch weiter aus Pflichtgefühl oder Trotz oder Stolz, um der Welt kein Schauspiel zu geben. Aber Liebe, Zuneigung, ja selbst nur freundschaftliche Sympathie sind doch nicht mehr da – wenn sie es überhaupt jemals waren. Sag', hab' ich denn nicht recht?«

Ein hartes Auflachen der Tochter kam als Antwort. »Ausgezeichnet, deine Seelenanalyse – wirklich ausgezeichnet!«

»Warum diese Feindseligkeit, Ilse? Noch einmal: Ich will dir nur helfen, wo doch einmal nichts mehr zu retten ist.«

»So – und wer sagt dir das? Steckst du denn in mir drin oder in Erich, daß du so genau wissen willst, wie es in uns aussieht?«

In Karlas Mienen malte sich die innere Qual. Auf diesen hartnäckigen Widerstand der Tochter war sie nicht gefaßt gewesen. Die Unselige, daß sie so gar nicht ahnte, wie es mit ihrem Manne stand! Es half nichts, sie mußte nun deutlicher werden, und so sagte sie denn:

»Ich verstehe dich bis zu einer gewissen Grenze. Es gibt Lagen, wo man sich mit einem Trotz der Verzweiflung an eine letzte, ferne Möglichkeit klammert, nur um sich nicht das Scheitern aller Hoffnungen einzugestehen. Aber das darf nicht auf Kosten der Selbstachtung gehen.«

Ilse fuhr zusammen. »Was soll das heißen?«

»Daß man einen Mann nicht halten soll, der nicht länger mehr gehalten sein will – dem die Ehe zur unerträglichen Last geworden ist, der hinausdrängt zur Freiheit mit jedem Schlage seines Herzens.«

»So sollte es in Erich aussehen?«

»Ja – so und nicht anders.«

»Mutter!« Ilse starrte Frau Karla an. Plötzlich aber sprang sie auf, trat einen Schritt zurück, ganz blaß geworden, und ihr Blick bohrte sich ins Antlitz der Mutter. »Woher kommt dir diese Kenntnis? Wie kannst du so genau wissen, was im Herzen meines Mannes vorgeht? Vorhin schon hatte ich dies dunkle Empfinden – jetzt aber wird es mir zur Gewißheit: Erich hat mit dir gesprochen. Er hat dir gesagt, was du jetzt vorbringst – sag' mir die Wahrheit!«

»Wenn du mich so fragst, kann ich es nicht leugnen. Ja – Erich hat mir sein Herz ausgeschüttet.«

Wieder schrillte ein Lachen durch die Stille, aber greller noch als zuvor. Höhnend wiederholte Ilse: »Sein Herz ausgeschüttet – dir, gerade dir!« Doch nun verzerrten sich ihre Züge. »Er hat dich aufgesucht zu diesem Zweck – nicht wahr? Wann ist es geschehen?«

»Heute – eben; er war bei mir, ehe ich zu dir kam.«

»Ah – dies also war seine geschäftliche Konferenz!« In einem nicht mehr zu bändigenden Ausbruch ihres Innern schlug sich Ilse die geballten Fäuste gegen die Schläfe. »Diese Komödie – wie erbärmlich! Und du konntest dich dazu hergeben. Du konntest –« ein Stocken, ihre groß aufgerissenen Augen flackerten in irrem Leuchten die Mutter an. »Sag' mir alles, auch das Letzte noch – es kommt ja jetzt nicht mehr darauf an: Er hat dir sein Herz auch sonst noch ausgeschüttet, hat dir gesagt, daß er dich nicht vergessen, nicht von dir lassen kann – daß er dich heiraten wird, wenn er von mir frei ist!«

»Ilse – mein Gott –!«

»Leugne es nicht! Hab' doch wenigstens den elenden Mut zur Wahrheit!«

»Ja – er hat auch das gesagt, aber ich –«

»Er hat's getan – ah!« Mit einem wilden Aufschluchzen warf sich Ilse im Sofa zurück, ein völliger Zusammenbruch.

Im Innersten bewegt sah Karla auf die Tochter. Daß es so tief gehen würde, hatte sie nicht erwartet. Was verriet sich ihr da? Armes, unglückliches Kind! Liebevoll neigte sie sich über die fassungslos Weinende und griff tröstend nach ihrer Hand; aber kaum hatte sie diese berührt, da stieß Ilse sie aufs heftigste zurück und sprang empor. Haß und Abscheu sprühten ihr aus den Augen; ihrer selber nicht mehr mächtig, schrie sie die Mutter an:

»Weg von mir! Ich kann dich nicht mehr sehen. Du hast mich um mein Glück betrogen – mir die Liebe meines Mannes geraubt – mich zugrunde gerichtet. Geht hin und heiratet euch! Aber mein Haß folgt euch, meine Verachtung – noch übers Grab hinaus!«

Wachsbleich ward Frau Karlas Antlitz. Beschwörend hob sie die Hände zur Tochter hin:

»Ilse – ich versichere dir, bei allem, was mir heilig ist, ich –«

»Schweig – schweig! Genug der Lügen! Laß mich allein – ich kann nicht länger!«

Ein Schwanken ging durch Ilses Gestalt; aber mit letzter Kraft raffte sie sich zusammen und stürzte aus dem Zimmer. Es war noch zu hören, wie jenseits der Diele eine Tür ins Schloß flog – es war wohl die zu ihrem Schlafzimmer – ein Schlüssel kreischte, dann war alles still.

Eine Weile stand Karla ganz betäubt. Wie war das schrecklich gewesen! Diese furchtbaren Anklagen! Dann entriß sie sich ihrer Starre. Aber was nun? Der Tochter nacheilen – ihr alles aufklären? Aber sie hatte sich ja eingeriegelt, und bei ihrer Erregung war ein Auftritt zu befürchten, der das Hauspersonal herbeilocken konnte. Nein – unmöglich! Und es ließ sich nun auch Frau Karlas Stolz vernehmen. Ilse hatte ihr Worte ins Gesicht geschleudert, die alle Grenzen überschritten. Die Tochter hatte sie von ihrer Schwelle gewiesen! Ihres Bleibens konnte hier nicht länger sein.

Da ging Frau Karla hinaus in die Garderobe. Sie wollte sich selber den Ledermantel anlegen, doch noch rechtzeitig fiel ihr ein: Die Rücksicht auf das Hauspersonal erforderte eine Aufklärung dieser befremdlichen Situation. So klingelte Frau Karla denn und bedeutete dem Hausmädchen, das herzu kam und ihr dienstfertig in den Mantel half, ihre Tochter sei plötzlich von einem heftigen Migräneanfall betroffen worden. Zunächst sei wohl Ruhe das beste; aber nach einiger Zeit möge das Mädchen doch einmal nach ihr sehen – sie habe sich im Schlafzimmer niedergelegt. Dann ging sie.

Zunächst erforderte die Steuerung des Wagens ganz Karlas Aufmerksamkeit. Aber als sie aus den verkehrsreichen Straßen des Westens herausgekommen war und bald die große Grunewaldchaussee erreicht hatte, wurden ihre Gedanken frei. Sie war inzwischen auch ruhiger geworden, so beurteilte sie Ilses Benehmen denn milder. Jene Worte, die sie so gekränkt hatten, waren in sinnloser Erregung gefallen, in einer regelrechten Nervenkrise. Es war ja deutlich zu erkennen gewesen. Ilse hatte nicht mehr gewußt, was sie sprach. Man durfte ihre Worte also nicht auf die Goldwage legen. Es war nur schmerzlich und sehr bedauerlich für sie selber wie für Ilse, daß diese hochgradige Erregung eine sofortige Aufklärung unmöglich gemacht hatte. Nun würde sich die Tochter noch lange mit ihrem grundlosen Verdacht quälen.

Dann wandten sich Karlas Gedanken der Ursache dieser heftigen Erschütterung zu: Ilse liebte ihren Mann – das war die Entdeckung, die sie vorhin gemacht hatte! Eine Feststellung, völlig überraschend für sie, aber auch für Erich – sobald er es erfahren würde. Und diese von ihnen beiden bisher nicht geahnte Tatsache schien ihr die ganze Lage mit einem Schlage zu ändern. Erich hatte seine Frau für herzenskalt gehalten, für völlig gleichgültig gegen ihn; wenn er aber erfuhr, daß es in Wahrheit anders war, daß Ilse heiß empfinden konnte, daß sie ihn liebte, sich heimlich in Sehnsucht nach ihm verzehrte – mußte das nicht auch bei ihm seine Wirkung tun? Konnte, würde nicht noch einmal alles gut werden?

Doch! Doch! ließ sich zuversichtlich eine Stimme bei Karla hören. Zwar rief da noch eine andere: »Ich kann nie mehr sein ohne dich!« – Diese Worte Erichs hallten ihr plötzlich wieder im Ohr und wollten ihre Hoffnungen zunichte machen. Bedrückt sann Karla nach. Sollte das, was Erich für sie empfand, wirklich so stark, so echt sein? War es vielleicht nicht bloß ein Aufflackern seiner Sinne, die an der Seite einer bisher kühlen, abweisenden Frau nicht gefesselt waren? Gerade seine Leidenschaftlichkeit heute schien ihr dafür zu sprechen. Aber das würde anders sein, wenn Erich und Ilse sich ganz fanden – sicherlich – ganz gewiß! Es kam also nur darauf an, daß sie diesem Sichfinden der beiden nicht hinderlich im Wege stand. Und plötzlich schoß es Karla durch den Kopf, ein Gedanke: Wenn Erich sie überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekam – für Jahr und Tag, dann mußte doch ihr Eindruck bei ihm verblassen, und Ilse würde nicht mehr in den Schatten gestellt werden. Um das zu erreichen, gab es aber nur einen Weg: Sie selber mußte fort aus Berlin, aus Deutschland – im Ausland leben, in Florenz oder Rom – irgendwo, ein Jahr oder länger noch, wenn es sein mußte. War es auch ein Opfer von ihrer Seite, für das Glück ihres Kindes mußte es gebracht werden!

Je mehr sich Frau Karla in diesen Gedanken vertiefte, desto aussichtsvoller erschien es ihr, und diese Zuversicht verließ sie nicht mehr. Nun blieb nur noch eins zu tun: Sie mußte mit Erich sprechen, ihm eröffnen, wie es in Ilse aussah, was für Möglichkeiten ihm seine Ehe doch noch bot. Und es mußte geschehen, noch bevor Ilse ihrerseits Schritte zur Lösung der Ehe unternehmen konnte – also noch heute abend. Doch wo Erich erreichen? Wieder zerbrach sie sich den Kopf. Halt! Hatte er nicht einmal von seinem Fliegerklub gesprochen, wo er gelegentlich seine Abendstunden zubrachte? Wie war doch gleich der Name –?

Aus ihrem Sinnen, über das sie alles andere vergessen hatte, riß es sie jäh empor: Ein Aufgleißen vor ihr auf der finsteren Straße, so plötzlich, so blendend, daß sie die Augen schließen mußte – zugleich ein gellendes Warnsignal. Ihr Herz setzte aus – ein fremdes Auto, auf dessen Hupenlaute sie wohl nicht geachtet hatte! Gerade vor ihr, offenbar durch eine Bodenwelle ihrem Blick bisher entzogen! Sie riß am Steuer, ein Baumstamm tauchte aus dem Dunkel – mein Gott! Im nächsten Augenblick schon ein Stoß, Splittern, Krachen – ein ohrenbetäubender Knall, ein sonnenhelles Aufflammen, Höllenglut, rasender Schmerz, ein schmetternder Sturz, alles in einem – dann Nacht um sie!



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