Paul Grabein
Jugendstürme
Paul Grabein

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Ilse und Erich Friemar waren von ihrer Hochzeitsreise heimgekehrt. Der Alltag machte bei ihnen sein Recht geltend. Jeden Morgen, schon zu früher Stunde, fuhr Friemar in die Fabrik, von wo er erst gegen fünf Uhr zurückkam. Ilse hatte schon am dritten Tage dagegen Einspruch erhoben. Sie langweilte sich allein, und ihr Mann hatte es – ihrer Meinung nach – doch nicht nötig, wie ein kleiner Angestellter seine acht Stunden im Kontor abzusitzen. Erich aber hatte entschieden darauf beharrt. Er wolle in dem Unternehmen nicht nur eine dekorative Figur abgeben, sondern wirkliche Arbeit leisten, die Zügel in die Hand bekommen. Ihre Meinungen waren scharf aufeinander geraten, und es hatte die erste Verstimmung in ihrer jungen Ehe gegeben. Ilse hatte sich schließlich gefügt, doch es blieb ein Nachhall dieser Auseinandersetzung zurück. Es zeigte sich bei ihr in einer gewissen Reizbarkeit, die gelegentlich durchbrach.

Noch ein anderes kam hinzu: Beide merkten bald, daß sie nicht recht wußten, wovon sie miteinander sprechen sollten. Auf der Hochzeitsreise war das wenig fühlbar geworden. Da hatten die ständig wechselnden Anregungen von außen hinreichend Unterhaltung geboten; hier zu Hause, im ruhig-einförmigen Alltagsleben, fiel das fort. Es zeigte sich, daß ihre Interessen stark auseinander gingen. Im Anfang hatte Friemar von seinen Erlebnissen im Geschäft gesprochen, doch da es sie langweilte, hatte er es aufgegeben. Wovon dann aber reden? Sie suchten nach diesem und jenem Stoff des Gesprächs, aber es versickerte stets bald wieder. Beide fühlten deutlich eine Leere ihres Zusammenlebens; es fehlten innere Bindungen. Um über dies unbehagliche Empfinden hinwegzukommen, griffen sie nach Hilfsmitteln; Radio und Lektüre sollten ihnen die Zeit vertreiben. Aber auch das war auf die Dauer kein befriedigender Ersatz. Man konnte doch nicht ewig vor dem Lautsprecher oder über dem Buch sitzen.

Auch heute, wo Ilse bereits eine Stunde lang in ihren Magazinen und Modejournalen geblättert und Erich Friemar in der Zeitung gelesen hatte, stellte sich diese Langeweile wieder ein, die schließlich nervös machte. Die junge Frau warf unlustig die Moderevue, die sie zuletzt in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. Die Knie übereinanderschlagend, lehnte sie eine Weile im Sessel und sah zu dem Gatten hinüber, dessen Gesicht hinter der Zeitung verborgen war. Ungeduldig begannen ihre Finger auf den Armlehnen zu trommeln, und nun rief sie:

»Ich finde diese Situation nicht gerade übermäßig amüsant.«

Sofort ließ Friemar die Zeitung sinken. Er faltete sie langsam zusammen, mit einer Sorgfalt, die anscheinend seine ganze Aufmerksamkeit erforderte, und sagte nichts. Offenbar suchte er nach einem Anknüpfungspunkt für das erwartete Gespräch. Mit sarkastischem Ausdruck sah Ilse diesem gequälten Bemühen zu. Worauf er wohl schließlich verfallen würde?

Da schlug schrill die Telephonglocke auf dem Tisch neben ihnen an. Beide empfanden es als Erlösung, und Ilse hielt den Hörer ans Ohr. Aber Enttäuschung malte sich in ihren Zügen. Bloß der Chauffeur! Er fragte von der Garage aus an, ob die Herrschaften ihn heute noch brauchten; er wolle den Abend sonst bei seiner Familie verbringen. Ein kurzes Überlegen, dann gab Ilse den Bescheid:

»Es kann sein, daß wir Sie doch noch brauchen. Halten Sie sich also für alle Fälle bereit!«

»Wir haben doch heute nichts vor!« Friemar sagte es mit leisem Verwundern, doch schon hatte sie wieder eingehängt. Da fügte er mißbilligend hinzu: »Es ist nicht richtig, den Mann unnütz in Anspruch zu nehmen.«

»Dafür wird er bezahlt – außerdem kann man ja nicht wissen. Ich habe wirklich keine Lust, den ganzen Abend so stumpfsinnig zu verbringen.« Und sie erhob sich, ging durch den Raum, ihm den Rücken zukehrend.

Seine Blicke folgten ihr, mit kritischem Mustern, nahmen ihre ganze Gestalt, jede ihrer Bewegungen in sich auf, wie sie hinschritt mit ungeduldigen, federnden Schritten. Das war doch noch dieselbe rassige Eleganz, die feine Biegsamkeit der Glieder, die ihn in den ersten Wochen ihrer Ehe so berauscht hatten. Es glänzte in seinen Augen auf, es zuckte in ihm, aufzuspringen, sie in seine Arme zu reißen; aber er kämpfte es nieder. Nein – die Flitterwochen waren vorüber; diesen Rausch durfte man nicht endlos verlängern. Schließlich war er auch nur ein Narkotikum. Sobald sein Reiz verflogen war, stellte sich um so drückender das Gefühl der Unlust wieder ein.

Erich Friemar fing an zu grübeln. Es half alles nichts, man konnte sich nicht länger darüber hinwegtäuschen: Ihre Heirat war ein Irrtum gewesen, war ein schwerer Fehler. Ein Aufflackern der Sinne, Trotz und Bitterkeit über das Versagen anderer Wünsche hatten ihn zu dieser Ehe getrieben; Seele und Herz hatten nicht mitgesprochen. Auch bei ihr war es wohl nicht anders. Nun rächte es sich. Sie fühlten beide, daß sie sich im Grunde nichts zu sagen hatten.

Sein Blick suchte wieder Ilse. Sie stand jetzt am Fenster, hatte die Stores zurückgeschlagen und schaute zur Straße hinunter, wo das Leben pulste. Sehr still war es im Zimmer. Mitleid mit ihr, ein Schuldgefühl wollte ihn überkommen. Da riß er sich gewaltsam empor und griff nach einer Zigarre. Weg mit solchen Gedanken! Zu ändern war ja doch nichts mehr.

Die schwer aromatischen Rauchwolken schwebten durch den Raum und drangen bis ans Fenster, zu Ilse. Sie hustete leise auf – jetzt noch ein zweites Mal, betont. Er legte die Zigarre aus der Hand.

»Stört dich das Rauchen?«

Ilse ließ den Vorhang zurückgleiten und wandte sich herum.

»Du weißt doch, daß ich Zigarren nicht gerade liebe. Warum nimmst du nicht eine Zigarette?«

Schweigend drückte er die Brasil im Aschbecher aus.

Ilse kam langsam heran und nahm ihren alten Platz wieder ein. Er gab sich innerlich einen Ruck und begann zu sprechen, über irgend etwas. Es war ja auch ganz gleich was, wenn nur mit den Worten diese lastende Stille übertönt wurde.

Eine Weile quälte sich ihr Gespräch hin. Auch Ilse hatte ohne Teilnahme dies und jenes hingesprochen. Ihre Gedanken sprangen währenddessen von einem zum andern. So kamen sie zu einem Plan, mit dem sie schon mehrfach gespielt, von dem sie auch zu Erich gelegentlich schon gesprochen hatte. Froh, endlich etwas zu haben, was für sie beide von Interesse war, ging sie darauf ein:

»Wir sollten dem Gedanken des Hausbaus nun wirklich nähertreten. Es wird Zeit, wenn wir im Frühjahr im eignen Heim sitzen wollen.«

Friemar schrak zusammen. Auch das noch! Ihm war, als würden sich damit die Fesseln, die ihn hielten, noch enger um ihn schlingen. Ausweichend antwortete er und schob allerlei Gründe vor. Man sollte doch lieber noch abwarten, wie sich die Geschäftskonjunktur entwickeln werde; es sei immerhin ein Risiko, sich mit einem so beträchtlichen Kapital festzulegen.

Erstaunt sah Ilse ihn an. »Was hat das Haus mit der Geschäftskonjunktur zu tun? Das baue ich doch mit meinem Privatvermögen.«

Friemar biß sich aus die Lippe. Da war wieder jener verdammte Hochmut, jener Geldstolz, der so manchmal bei ihr durchbrach! Wie sie es ihm zu verstehen gab, daß er der Mann von ihren Gnaden war! All der Luxus hier, Auto, Chauffeur, der Direktorposten in ihrer Fabrik und nun das eigne Haus – von ihr kam es! Dunkel flackerte es in Friemars Blick auf. Er konnte sie in solchen Augenblicken beinahe hassen. Mühsam nur zwang er sich die gleichgültig klingenden Worte ab:

»Selbstverständlich kannst du tun und lassen, was du willst. Ich hielt es nur für meine Pflicht, dich zu beraten.«

Sie überhörte die Kühle seines Tones und verfolgte den Gedanken weiter, entwickelte ihre Pläne über die Anlage des Hauses und ging die Architekten durch, die in Frage kamen. Natürlich sollte es ein Bau im neuen Stil werden. Das Thema abschließend, erklärte sie, daß sie sich schon morgen einmal mit Frank Alvisberg, dem zur Zeit namhaftesten Architekten Berlins, besprechen wolle. Friemar begnügte sich mit einem Nicken als Antwort.

Dann sprang das von ihr geführte Gespräch zu Fragen des gesellschaftlichen Verkehrs über. Ilse erklärte, sie würde sich einen festen Empfangstag einrichten; aber auch Einladungen müßten sie nächstens verschicken. Sie geriet hierbei in geschäftigen Eifer und begann eine Liste aufzustellen, die sie ihm hinschob.

Flüchtig glitt sein Blick über die Namen und Termine. »Mach' nur alles, wie du denkst.«

Ilse war so bei der Sache, daß sie nicht merkte, wie gleichgültig ihm diese war. Sie nahm mit dem zierlichen goldenen Crayon noch einige Abänderungen auf der Liste vor und überblickte sinnend das Ganze. Plötzlich aber sagte sie aus ihrem Gedankengang heraus:

»Wir müssen endlich auch einmal Mama bei uns haben.« Sie hatten bisher der Mutter nur einen flüchtigen Besuch nach Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise gemacht.

Erich Friemar zuckte zusammen, aber sofort stimmte er zu. »Gewiß – natürlich!«

Es mochte wohl etwas in seiner Stimme gewesen sein, das Ilse aufhorchen ließ. Das Mißtrauen wurde wieder lebendig, das schon seit langem in ihr schlummerte – seit jenem Augenblick an ihrem Hochzeitstage, wo sie ihren Mann unter dem Glückwunschkuß ihrer Mutter hatte erbleichen sehen. Scharf faßte sie Erich ins Auge. Er war äußerlich ruhig und spielte mit dem Büchermesser, das er vom Tischchen aufgenommen hatte. Doch es trieb sie, den Dingen auf den Grund zu gehen; und mit einem leis lauernden Unterton fragte sie:

»Es ist dir doch recht, daß meine Mutter kommt?«

»Warum sollte es mir nicht recht sein?« Er spürte ihr geheimes Forschen und sah ihr fest ins Auge. »Deine Mutter wird mir jederzeit willkommen sein – ich werde mich stets freuen, sie zu sehen.«

Die verborgene Herausforderung in seinem Wort und Blick blieb nicht ohne Gegenwirkung. Auch bei ihr schoß trotzig etwas empor. Sie nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh auf, und ein plötzliches Verlangen überkam sie, die entscheidende Situation baldigst herbeizuführen, ohne jeden Verzug – möglichst sofort! In ihren Augen schillerte es erregt, und mit leisem Spott rief sie:

»Wenn deine Sehnsucht nach der Schwiegermutter so groß ist, können wir sie ja gleich stillen!« Und schon griff sie nach dem Fernsprecher.

Friemar zuckte es in der Hand, ihr zu wehren, aber er besann sich. Gelassen gab er ihre Ironie zurück:

»Es wäre in der Tat sehr nett, wenn uns deine Mutter den Abend heute schenken wollte; ich glaube, er wird dadurch wesentlich an Unterhaltsamkeit gewinnen.«

Ein böser Blick Ilses traf ihn, aber im gleichen Moment überspielte ein verbindliches Lächeln ihre Züge. Sie sprach ins Telephon hinein:

»Du selber, Mama? Das trifft sich ja gut. Wir sprachen nämlich gerade von dir, ich und Erich, mit dem ich hier tête-à-tête im trauten Heim sitze. Denke dir, er hat Sehnsucht nach dir, der gute Junge, nach seiner belle-mère – ja wirklich: belle mère in des Wortes vollster Bedeutung! Und ich natürlich nicht minder. Also mach' uns die Freude und komm' heute abend zu uns. – – – Wie? – – – Aber warum denn, du hast doch nichts vor? – – – Na also – – – Nein, nein! Das sind bloß Ausflüchte. Und ich will doch nicht annehmen, daß du sonst noch Gründe haben könntest. – – – Aber natürlich, das war ja von mir nur so hingeredet! Und was das Auto anlangt, über das Ruth schon verfügt hat, so macht das gar nichts. Ich schicke dir meinen Wagen. Du siehst, beste Ma, es hilft dir alles nichts; du kannst dich deinen liebenden Kindern nicht entziehen. Und es wird doch, denk' ich, auch dir ein Bedürfnis sein, dich einmal mit eignen Augen von unserm Glück zu überzeugen. – – – Also abgemacht! In einer halben Stunde ist das Auto bei dir. Auf frohes Wiedersehen!«

Ilse hängte ein. Während des ganzen Gesprächs hatte sie das Auge nicht von ihrem Mann gewandt, jede Miene an ihm beobachtet und ihm trotz aller Beherrschung die geheime Qual angesehen, die ihm ihre kleinen Bosheiten gegen ihn und ihre Mutter verursacht hatten.

»Na, hab' ich das nicht fein gemacht?« fragte sie ihn nun mit gespielter Harmlosigkeit.

Er sah sie nur schweigend an, kalt und geringschätzig. Dann stand er auf und wandte ihr den Rücken zu.

Es blieb nicht ohne Eindruck auf Ilse. Sie bereute plötzlich, zu weit gegangen zu sein. Eine Angst kam über sie, daß diese Minute etwas zerstört haben könnte, was vielleicht nicht mehr zu heilen ging. Gewiß, sie hatte ihn ein bißchen quälen wollen, ihm zur Strafe für seine Gleichgültigkeit und sich selber zur inneren Entlastung. Denn was sie zu diesem ganzen Tun angestachelt, das war doch nur gekränkter Stolz, verletztes Frauenempfinden, das sich einen Mann ganz zu gewinnen erhofft hatte und sich nun schwer enttäuscht sah, das von dem Argwohn gepeinigt wurde, ihr Mann liebte vielleicht immer noch die Andere – und diese Andere war ihre eigne Mutter!

Das Gefühl, zu weit gegangen zu sein, der Wunsch, es wieder gutzumachen, wurden so stark in Ilse, daß sie es trieb, Erich ein freundliches Wort zu sagen. Sie wollte sich gerade nach ihm umdrehen, da hörte sie die Tür gehen – er verließ das Zimmer. Das stürzte ihre guten Vorsätze wieder um. Verdoppelt wuchsen Trotz und Eifersucht in ihr auf. Entschlossen riß sie den Hörer des Telephons ans Ohr, und herrisch-kalt war ihre Stimme, wie sie dem Chauffeur Auftrag gab, gleich zu ihrer Mutter hinauszufahren.

In die Ecke der Limousine geschmiegt, die sie in schnellem Tempo zur Stadt hineintrug, sann Frau Karla schwer vor sich hin. Sie hatte aus dem Telephongespräch vorhin herausgehört, daß im Hause der Tochter eine Spannung in der Luft lag, zu der sie selber den Anlaß gegeben hatte. Ihr war da das Erinnern an jenen Augenblick am Hochzeitstage aufgeblitzt, und sie war im Innersten erschrocken. Sie hatte darum auch nicht kommen wollen, hatte allerlei Gründe vorgeschützt, bis ihr die Tochter die Pistole auf die Brust gesetzt hatte. Wenn sie nicht kam, wäre es für Ilse eine Bestätigung ihres eifersüchtigen Argwohns gewesen – so hatte sie denn zugesagt und war nun unterwegs, aber mit schwerem Herzen. Ihr bangte vor dem Begegnen mit Erich Friemar.

Nun war sie angelangt, hatte in der Garderobe abgelegt und trat ins Wohnzimmer. Mühsam nur trug sie Unbefangenheit zur Schau, wie sie mit einem Scherzwort auf das junge Paar zuging und nach der Tochter auch deren Manne die Hand reichte. Frau Karla fühlte, wie Ilses Blick sie und den Gatten überwachten, aber sie fand nichts, was ihren Argwohn bestätigt hätte. Wie sehr Erich Friemars Lippen bebten, als er sich zum Gruß über Karlas Hand neigte – das konnten Ilses Blicke ja nicht wahrnehmen.

Nun saß man plaudernd beisammen, aber über allen dreien lastete ein dumpfer Druck. Er wollte nicht weichen, wie lebhaft auch die Unterhaltung von den beiden Frauen geführt wurde. Ilse erzählte von der Reise, von ihren Eindrücken in Rom und Neapel, und die Mutter ging anscheinend interessiert darauf ein. Aber Friemar, der als stummer Zuhörer dabei saß, nur selten ein Wort dazwischen werfend, hörte nur allzu deutlich heraus, wie erzwungen das alles war. Nicht anders wirkte er selber auf die beiden Frauen. Seine gewollte Unbefangenheit wurde zu einer unnatürlichen Reserviertheit, die Ilse wie Frau Karla insgeheim in gleichem Maße beunruhigte. Krampfhaft vermied er es, den Blick auf Ilses Mutter zu heften; nur, wenn sie einmal das Wort an ihn richtete, geschah es. Aber er bebte im Innern, wenn von dem Sessel her, in dem Karla lehnte, ein leises Knistern des Seidengewandes eine Bewegung ihrer weichen Frauenglieder verriet.

So mochte eine Stunde vergangen sein, da machte das Anschlagen der großen Standuhr vom Herrenzimmer her Ilse aufsehen. Sie besann sich auf ihre Hausfrauenpflichten und erhob sich.

»Ich muß mich um das Abendessen kümmern ihr entschuldigt mich wohl solange.«

Frau Karla erschrak. Mit Erich Friemar allein bleiben? Sie fühlte die hochgradige Spannung in ihm. Und sprach nicht aus den Augen der Tochter das Mißtrauen, die Sorge? Rasch stand da auch sie auf und trat zu Ilse.

»Ich will dir ein bißchen zur Hand gehen.«

»Nein – keinesfalls! Ich hab ja die Köchin draußen.«

Aber der Widerstand klang nur schwach, und als die Mutter bei ihrem Angebot beharrte, war es Ilse eine große Beruhigung. Unwillkürlich legte sie der Mutter den Arm um die Schultern und führte sie mit einigen scherzenden Worten über ihre Küchensorgen hinaus.

Friemar sah den beiden Frauen nach, wie sie eng aneinandergeschmiegt das Zimmer verließen. Vor seinem Blick ward es dunkel, er spürte alles in sich wanken – wie sollte das werden?


»Wie heiß es noch ist! Selbst jetzt am Abend.«

Ulla Ötting sagte es und fächelte sich mit dem Spitzentüchlein über Gesicht und Halsausschnitt. Helmut Barck sah zu der Freundin auf, die auf dem Verdeck des im Uferschilf ankernden Motorboots lag, lässig hingestreckt auf die buntfarbigen Kissen der Korbsessel, die dort ausgebreitet waren.

»Ja, es ist schrecklich schwül.«

»Warum machst du es dir auch nicht leichter?«

»Noch leichter?« Helmut lächelte und sah an sich hinab; er war nur mit dem Badetrikot, weißen Leinenhosen und Bootschuhen bekleidet; sie hatten am Nachmittag alle zusammen im Freibad geschwommen.

»Natürlich!« nickte Ulla. »Das Trikot tut's auch.« Und als er sie betroffen, fast verlegen ansah, lachte sie. »Sei doch nicht so zimperlich! Vorhin beim Baden hast du doch auch nichts anderes angehabt.«

»Ja – beim Baden –«

»Als ob da ein großer Unterschied wäre! Ich an deiner Stelle würde mich keinen Augenblick besinnen.«

Helmut sah zögernd zu ihr hin, dann schüttelte er den Kopf. »Die andern müssen bald zurückkommen – sie könnten die Situation falsch denken.«

Wieder nur ein helles Auflachen. »Bist du um deinen guten Ruf so besorgt?«

»Nein, aber um deinen«, und ein ernster Blick traf sie.

»O Gott, o Gott!« machte sie ehrpusselig. Doch wie sie seine vorwurfsvolle Miene gewahrte, strich sie liebkosend mit der Hand über seine Wange. »Guter Kerl – es ist ja lieb von dir!«

Er hielt ihre Hand fest und bedeckte jeden der schlanken Mädchenfinger mit heißen Küssen. Sie nahm die stürmische Liebkosung mit geheimem Genießen hin, die Augen schließend. Ein tiefer Seufzer hob ihre Brust unter dem hauchzarten Sommergewand, doch rasch entzog sie ihm die Hand.

»Das macht einem ja noch heißer!« Sie warf sich halb herum, mit einer unbekümmerten Bewegung, die die Seidenstrümpfe bis übers Knie entblößte. Es war mehr ein Locken als ein Abwehren.

Helmut fühlte es, und plötzlich drückte er seinen Mund auf das schlanke Fußgelenk, das so dicht vor ihm war.

»Oh –!«

Er vernahm den weichen, erwartungsvollen Laut, merkte, wie ein Zittern ihre Glieder durchlief und wie sein eignes Herz ihm wild bis in den Hals hinauf schlug. Seine Arme wollten sie an sich reißen, aber im selben Augenblick schoß es ihm durch den Kopf: Wie gewissenlos! Sie hatte sich ihm anvertraut, sich und ihre Ehre. Er durfte eine Minute der Schwäche bei ihr nicht ausnutzen. Es wäre ein Gemeinheit sondergleichen gewesen! Und im nächsten Moment wich er von ihr zurück, sprang vom Sitz auf und holte tief Atem.

Verwundert wandte sie den Kopf zu ihm herum. Helmut schlug die Augen nieder, ganz verwirrt.

»Verzeih!« stammelte er leise.

»Was denn? Du Närrchen. Du liebst mich doch!«

»Gerade darum darf ich dich nicht erniedrigen.«

»Erniedrigen? Es ist doch nur natürlich, daß du mich liebkost.«

»Aber nicht so!«

»Du reiner Tor!« Es klang mehr Bedauern und Enttäuschung als Anerkennung aus dem Wort. Doch nun strich sie das Kleid herab und streckte die Hand zu ihm hin.

»So setz' dich wenigstens wieder zu mir. Oder hast du Angst vor mir?«

»Jetzt nicht mehr«, er erwiderte es, während er seinen Platz einnahm. »Aber manchmal schon.«

»Ah, die Furcht vor dem Weibe!« Hell klang ihr Lachen auf. »Wo hab' ich doch das schon mal gelesen? In irgendeinem Roman vermutlich.«

»Du solltest das nicht so leicht nehmen; es liegt eine große Gefahr in Situationen wie jetzt eben.«

»Ist die Gefahr wirklich so groß?«

Er antwortete nicht gleich, doch nun faßte er den Mut zur Antwort; er mußte einmal ganz offen zu ihr sprechen.

»Ja, Ulla, die Gefahr ist groß, und sie liegt in deinem Charakter.«

»Nanu – was willst du damit sagen?«

»Sei nicht bös – aber ich muß es dir bekennen: Ich hab bisweilen Angst um dich.«

»So – und warum?«

»Du hast dich nicht immer in der Hand. Dein Temperament geht mit dir durch. Wenn einmal ein unglücklicher Zufall die Gelegenheit schafft, fürchte ich, kannst du dich verlieren.«

»Das ist ja sehr schmeichelhaft für mich!«

»Nicht böse sein, Ulla!« bat er noch einmal und wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie ließ es nicht zu. Da sagte er ernst und tief besorgt: »Gerade weil ich dich lieb habe, spreche ich offen zu dir. In dir ist soviel Schönes und Gutes, du hast auch den Willen zur Höhe, doch du bist so beeinflußbar. Wenn immer einer bei dir ist, der es wirklich gut mit dir meint, ist ja nichts zu besorgen; aber wenn du allein bist, ohne Schutz, dann –! Der Gedanke quält mich schon lange. Sieh, ich muß doch bald wieder weg von Berlin; ich muß mein Examen in München machen. Aber ich fürchte, ich werde dort keine Ruhe haben, die Angst um dich wird mich nicht loslassen. Sag – fühlst du es nicht selber, daß meine Sorge nicht ohne Grund ist? Der Kreis, in dem du lebst, dieser freie Verkehr bringt doch manche Versuchung mit sich; wenn nun – ich kann es ja nicht ausdenken – wenn ich dich verlieren sollte!«

Die helle Angst, die tiefe, reine Liebe, die aus seinen Worten klang, griffen Ulla ans Herz. In aufwallendem Empfinden warf sie ihm die Arme um den Hals.

»Nicht so etwas denken, Helmut! Ich bleibe dein – ganz dein!« Und sie küßte ihn zärtlich.

Glücklich zog er sie an sich. Dann sprach er weiter, mahnend und bittend zugleich. Sie mußte ihm versprechen, ihm, wenn er fort wäre, täglich zu schreiben, über alles, was sie tagsüber erlebt habe – ihm nichts zu verschweigen. Und sie solle in jeder Woche ein paar Abende wenigstens still zu Hause bleiben, um zur inneren Sammlung und Selbstbesinnung zu kommen. Nur immer »Betrieb«, das müsse doch zur Verflachung führen, alle höheren Werke untergraben. Sie möge sich recht eng an Ruth Soltau anschließen. Das sei der einzige Mensch in ihrem Lebenskreise, zu dem er volles Vertrauen habe und der ihr einen Halt bieten könne.

So sprach Helmut dringlich auf Ulla ein. Zuerst hatte sie ihm willig zugehört, aber allmählich wurde es ihr zuviel. Eine richtige Moralpauke, wie sie ihr seit ihren Schuljahren nicht mehr zugemutet worden war. Mein Gott, sie war doch kein Kind mehr, wußte selber, was sie zu tun und zu lassen hatte! Und ein Ärger stieg in ihr auf. Der gute Helmut war doch im Grunde ein arger Pedant, ein so lieber Kerl er sonst war. Immer bloß Seelengymnastik treiben, auf Höhen wandern, wie er es wollte, das wurde auf die Dauer langweilig. Man war doch ein Mensch von Fleisch und Blut. In ihm aber war etwas vom Asketen. Wie er sich da vorhin benommen hatte! Lächerlich geradezu, sich und sie so um eine Stunde süßen Glücks zu bringen! Noch spürte sie das einmal aufgestörte Blut enttäuscht und verlangend in allen Fibern pulsen. Zu schade! Und es wäre so gut gewesen, wenn der Mensch in ihm voll zum Durchbruch gekommen wäre. Dieses widernatürliche Entsagen und Sichselbstkasteien machte ihn ihr so fremd und erzeugte in ihr eine gewisse Scheu, so daß sie nicht wagte, ihm ihr Eigenstes und Innerstes zu zeigen. Wäre es vorhin anders gekommen, so wären sie jetzt in Wahrheit ganz Eins; kein Fältchen der Seele wäre dem andern mehr verborgen gewesen. So schön hätte das sein können!

Statt dessen schulmeisterte er jetzt an ihr herum und verdarb ihr die Freude an diesem Abend. Wirklich unerträglich! Mit Mühe verbarg sie nur noch ihre Ungeduld und befreit atmete sie auf, als durch die grüne Schilfwand vom Ufer her lautes Stimmengeschwirr und Hallorufe erschollen – die andern, die von ihrer Landexpedition zum Boot und seiner Wache zurückkehrten. Sie hatten in dem nicht allzu entfernten Fischerdorf eine Razzia nach Eß- und Trinkbarem vorgenommen, mit dem man nachher ein Picknick draußen auf dem See veranstalten wollte.

Mit Beute beladen, fröhlich lärmend, kam die kleine Gesellschaft an Bord, der Anker wurde aufgewunden, Theo Wiltmann, der Herr des Boots, setzte sich ans Steuer, und mit lautem Geknatter schoß das behende Fahrzeug durch die aufschäumende Flut. Mitten auf dem See, auf dem kaum noch ein Segel zu erblicken war, wurde gehalten, und der Schmaus begann. Einige Flaschen Likör hoben die Stimmung, die binnen kurzem von ausgelassener Heiterkeit war. In Ulla schwand da bald aller Ärger, begeistert war sie mit dabei, und ihr helles Lachen übertönte das der andern.

Der einzige, der still blieb, war Helmut Barck. In ihm klang noch nach, was sich vorhin zwischen ihm und Ulla begeben hatte; aber er hatte auch noch einen andern Grund, der seine Stimmung dämpfte. Nur auf dringliches Bitten Ullas hatte er überhaupt an diesem Ausflug teilgenommen. Es ging nicht gut mit seiner Mutter. Eine heftige Herzattacke gab wieder einmal Anlaß zu ernster Sorge. Helmut sah daher häufig nach der Uhr; er wollte unbedingt vor Anbruch der Nacht zu Hause sein.

Nun war die äußerste Frist, die er sich gesetzt hatte, abgelaufen, und er bat Theo Wiltmann, ihn zur Bahnstation am Ende des Sees zu fahren. Allgemeines Bedauern war das Echo, doch er blieb fest, und Theo tat nach seinem Wunsch. Auch Ulla hatte ihre Bitten mit denen der übrigen vereint, Helmut möge wenigstens ein Stündchen noch zugeben. Es würde ja erst jetzt schön auf dem Wasser. Die Luft kühlte ab, und am verdunkelnden Himmel stieg mit goldklarem Leuchten der Mond auf. Alles versprach einen wunderbaren Abend.

»Wie schade, daß du heim willst!« schmollte Ulla. »Muß es denn wirklich sein?«

»Du weißt doch, wie es zu Hause steht.«

»Mein Gott, deine Mutter hat schon manchmal solche Anfälle gehabt, ohne daß was passiert wäre.«

»Das wohl, aber man kann nie wissen –«

»Bleib doch noch – mir zu Liebe!« bat Ulla leise und schmiegte, angeregt von dem befeuernden Trank, wiedererwachende Zärtlichkeit im Herzen, ihre Brust an seinen Arm.

»Quäl' mich nicht, Ulla – ich kann nicht!« Und er drängte sie unwillkürlich von sich ab.

Sie empfand es als Kränkung; ihre weiche Stimmung schlug ins Gegenteil um.

»Sei ohne Sorge, ich werde dir nicht länger lästig fallen!« Sie rückte ihren Korbsessel, der dicht neben dem seinen gestanden hatte, ein gut Stück ab.

»Ulla, versteh' mich doch recht, ich –«

Aber sie hörte nicht mehr auf ihn hin, sondern mischte sich in das allgemeine, laut schwirrende Gespräch.

Bekümmert blickte Helmut vor sich nieder. Diesen Ausgang ihrer Unterhaltung hatte er nicht erwartet. Vielmehr hatte er erhofft, daß Ulla mit ihm gehen werde. Nun war daran wohl nicht mehr zu denken. Jetzt würde sie schon aus Ärger und Trotz bleiben. Der ausgelassene Lärm der Bootsgesellschaft schlug plötzlich mißtönend an sein Ohr. Quälend überfiel ihn der Gedanke: Ulla, allein ohne ihn, in diesem Kreise zurücklassen, gerade in solcher Stimmung – durfte er es zugeben? Seine Augen hingen an ihr, wie in einem stummen Beschwören; doch sein Mund blieb verschlossen. Sie mußte es selber fühlen, was hier das richtige war. Zum Bitten war er zu stolz.

Der Lärm der Unterhaltung ebbte ab; alle hörten auf Theo Wiltmann hin, auf das, was er zu seiner Nachbarin neben ihm am Steuer sprach. Die von jedem Verkehr freie Fläche des Sees, über die jetzt schon der gleißende Lichtkegel des Scheinwerfers hinspielte, erforderte ja kaum irgendwelche Aufmerksamkeit. Es war von Nacktkultur die Rede, ein Thema, das natürlich stark interessierte. Theo, der begeisterte Apostel jeder modernen Bestrebung, trat auch für diese ein und pries sie als Rückkehr zur Natur und einer höheren Sittlichkeit.

Irgendwer im Kreise lachte, aber Theo verwies ihn ungehalten.

»Wer darüber lacht, beweist nur seine eigne Unreife und sittliche Minderwertigkeit! Denn natürlich setzt der Kultus der Nacktheit hochstehende Menschen voraus. Unter anderen ist er einfach eine Schweinerei!«

Ulla war froh, daß sie sich eben beherrscht hatte; denn auch sie hatte bei Theos herausfordernder These einen starken Lachreiz empfunden. Ausgerechnet Nacktkultur und höhere Sittlichkeit – das schien ihr die Dinge denn doch etwas auf den Kopf zu stellen! Mit verdoppelter Aufmerksamkeit hörte sie nun zu, als Theo weiter dozierte.

»Die Scheu vor der Nacktheit entspringt doch nur innerer Unfreiheit, einer primitiven, unbeherrschten Sinnlichkeit, die im Geschlechtsmerkmal immer nur das Aufreizende sieht. Das ist aber ein jammervoll niedriger Kulturstandpunkt, genau so, wie wenn jemand beim Anblick einer Venusstatue lüsterne Anwandlungen bekommen wollte. Warum aber beim Kunstwerk Halt machen mit dem ästhetischen Genießen? Ist nicht der menschliche Körper das edelste und erhabenste Kunstwerk auf Erden? Weshalb sollen wir seine Schönheit nicht ebenso rein und vorurteilsfrei genießen wie sein Abbild auf der Leinwand oder aus Marmor? Es kommt nur darauf an, mit welchen Augen man sieht. Und man muß den nackten Menschen in seiner adligen Schönheit sehen lernen, mit ehrfürchtigen Augen, mit stiller Andacht!«

Ein Schweigen, dann helle Zustimmung. Wahrhaftig, Theo hatte recht! Das war ein neuer, hoher Standpunkt, des fortgeschrittenen Menschen einzig und allein würdig. Die veralteten Vorstellungen von Schamhaftigkeit, nichts weiter als spießerliche Prüderie, waren wert, in die Rumpelkammer geworfen zu werden zu anderem Plunder einer abgewirtschafteten bürgerlichen Gesellschaft. Begierig nahm man in sich auf, was Theo dann noch hören ließ:

»Ihr hättet nur dabei sein sollen, wie wir im ›Ring der Eigenen‹ vor vier Wochen unser Sonnenwendfest feierten. Es war das wundervollste, was ich jemals mitgemacht habe.«

»Erzähl' doch – erzähl'!«

»Wir waren am Abend hinausgefahren an den Stechowsee. Da waren wir nun ganz unter uns in weltabgeschiedener Waldeinsamkeit. Der Holzstoß wurde geschichtet und warf bald seine blutrote Lohe zum Himmel. Im nachtdunklen See spiegelte sich der klare Mond – ein Stimmungszauber von fabelhafter Macht. Ich sprach – sprach selten gut, über mich selber hinausgesteigert – und riß alles mit fort. Als ich dann endete mit einem Aufruf zur symbolischen Tat, zum mutvollen Bekennen zum Evangelium des neuen, freien Menschen – da brandete der Beifall auf. Gleich mir warf jeder seine Kleider ab. Alle standen wir da in edler Nacktheit, frei von häßlichen Hüllen. Keine falsche Scham! In jedem Auge leuchtete reine, künstlerische Freude an der Schönheit des andern. So nahmen wir einander bei der Hand, zum Reigen um das flammende Mal. Unsere Lieder hallten weithin über das schweigende Wasser. Und als der Holzstoß niedergebrannt war, schritten wir hinab zum See, tief hinab bis an die Brust. Wundervoll war die klare milde Flut, herrlich, wie unsere weißen Leiber durch sie hindurchschimmerten, wie bei jeder Bewegung Hunderte von schwimmenden, sprühenden Wasserperlen aufspritzten – ein Bild von unerhörtester Schönheit; ein Fest, wie es noch keiner von uns je zuvor erlebt!«

»Bravo!« – »Grandios!« – »Wunderbar!« –

Hingerissen machten sich die entzündeten jungen Herzen Luft. Nur zu deutlich klang aus den begeisterten Zurufen der Wunsch nach einem gleichen Erleben.

Helmut entging es nicht, wie entflammt Ulla war, und stärker noch befiel ihn die Angst um sie. Er durfte nicht länger schweigen. Sobald sich der Sturm der Begeisterung etwas gelegt hatte, ließ er sich hören. Es sei zuzugeben, daß Schönheit, ja selbst Reinheit bei solchem Tun sein könne; aber – wie Theo es schon gesagt habe – es setze ganz reife und hochstehende, feste Menschen voraus. Und selbst bei solchen – er könne sich nicht helfen – müsse es auf stärkste Widerstände stoßen. Wie könnte denn etwa – und nun machte sich Luft, was Helmut bedrängte – ein Mann, der eine Frau liebt, mit reiner, verehrender Liebe, eine Freude daran haben, daß andere Männer nackt vor sie hintreten und er mit ihnen? Wie könne es ihn gar begeistern, daß sie den Leib, der ihm heilig sei, zum öffentlichen Schaustücke mache? Es bedürfe doch keines Wortes weiter, um diese Unmöglichkeit darzutun! Aber sie gelte nicht bloß für den Fall, daß zwei Menschen sich lieben; es genüge Freundschaft, ja bloße Bekanntschaft. Wie könnten sich nach einem solchen Akt bacchantischer Selbstentblößung zwei Menschen am andern Tag ruhig gegenübertreten, im nüchternen Licht des Alltags, im Kreis der Ihren, in der Gesellschaft? Wie aber müßte solch Exzeß – er fände kein anderes Wort – sich erst auswirken bei Naturen, die nicht die nötige Festigkeit hätten? Er möchte Theo doch fragen, ob er auch sicher sei, daß dies nächtliche Fest neulich nicht bei manchen der Teilnehmer mit einer wüsten Orgie geendet habe? Soweit er Menschen kenne, sei hundert gegen eins darauf zu wetten! Wolle er aber auch dafür die Verantwortung tragen, auch das etwa noch gutheißen?

Eine betretene Stille folgte. Man spürte ordentlich, wie unwillkommen den erhitzten Gemütern dieser kalte Wasserstrahl war. Empört warf Ulla den Kopf zurück. Natürlich zielte das alles auf sie! Sie war außer sich, wie wenn es auch die andern merken könnten. Und dazu stillschweigen zu müssen! Aber schon kam ihr Theo unbewußt zu Hilfe. Mit überlegenem Spott erwiderte er, den Ton einer ciceronischen Philippika kopierend:

»Ich habe nichts anderes von dir erwartet, o Cato! Trefflich hast du geredet, gehüllt in die Toga deiner stadtkundigen Sittsamkeit. Aber kaum wirst du erwarten, daß ich mich der Mühe unterziehe, deine Argumente auf ihre Stichhaltigkeit zu untersuchen. Sich über Sittlichkeitsfragen zu streiten, ist, so will es mir scheinen, ebenso sinnlos wie über Fragen des Geschmacks zu disputieren. Gern erkennen wir dir das Recht zu, o Cato, deine eigne sublime Meinung zu haben – es sei dir völlig unbenommen – aber jedem das Seine! Gönne auch uns gnädigst, nach unserer Fasson zu denken und zu leben!«

Schallendes Lachen, lauter Beifall. Etwas schadenfroh blickte alles auf Helmut Barck. Er nahm es gelassen hin, nur, wie er auch Ulla in die Hände klatschen sah, fühlte er einen schneidenden Schmerz. Aber fest, ja hart klang seine Stimme, als er nun mit großem Ernst erklärte:

»Fast möchte ich es bedauern, meine Meinung gesagt zu haben. Und doch tu' ich es nicht. Bisweilen ist es Pflicht, auch wenn es aussichtslos ist. Ich habe das meinige getan.«

Von da ab schwieg Helmut Barck. Nicht lange währte es, so legte auch schon das Motorboot am Steg der Bahnstation an. Mit kurzem Gruß verabschiedete er sich von der Gesellschaft. Nicht einmal ein Blick traf Ulla, die etwas beklommen, aber immer noch trotzig dasaß.

»Was nun?« Theo Wiltmann fragte es in die Runde hinein, als Helmut im Schatten der Bäume verschwunden war.

»Natürlich wieder zurück!«

»Wir feiern Mondscheinnacht auf dem See!«

»Nein – wir baden im Mondschein!«

»Famos! – Glänzend!« Und allen kam sofort der Gedanke: Nackt zu baden, ein Fest zu feiern, wie neulich zur Sonnenwende!

»Na, und du?« Theo Wiltmann wandte sich Ulla Ötting zu. »Willst du deinen Herrn und Meister so verleugnen, getreue Jüngerin?«

Der Spott peitschte Ulla auf. »Ich bin mein eigner Herr und tu', was mir gefällt! Ich finde, Helmut hat sich heute reichlich lächerlich gemacht mit seiner Moralfatzkerei. So – nun wißt ihr meine Meinung!«

»Bravo! Das war ein Wort!« scholl es ihr entgegen.

Wiltmann aber nahm ihre Hand. »Das wollt' ich nur von dir hören, Ulla«, halblaut sagte er es. »Es war ja ein Jammer, wie du dich von Helmut unterdrücken ließest. Willkommen in der Freiheit!« Er drückte ihr die Hand, und sein Blick traf sie, glitt enthüllend und tastend über ihre Glieder, mit werbendem Begehren.

Ulla fühlte es, und ihr immer noch aufgestörtes Blut brandete auf, ihm entgegen. Voller Verheißung glänzten ihn ihre Augen an.



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