Paul Grabein
Jugendstürme
Paul Grabein

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Seit mehr als zehn Jahren war Dr. Barck heute zum erstenmal wieder ausgegangen, wenn er die Fahrt im Auto zur Klinik, wo Karla lag, so nennen wollte. Schon längst wäre er zu ihr gekommen, indessen ihr eigner Wunsch hatte ihn so lange ferngehalten. Auch ihre Töchter hatte sie stets bloß für Minuten vorgelassen, und immer nur bei verdunkeltem Zimmer. Sie wollte niemandem den furchtbaren Anblick zumuten, den sie in den ersten Monaten bot. Bei Werner Barck wäre dies Bedenken ja fortgefallen, aber sie fühlte sich auch seelisch noch nicht stark genug, den alten Freund wiederzusehen. Monatelang litt sie unter schwersten Depressionen; die Gefahr dauernder Melancholie lag nahe. Mit ihrer körperlichen Wiederherstellung hatte sich aber auch dieser verzweifelte Seelenzustand allmählich behoben. Endlich war sie so weit, daß sie Barck, der täglich telephonisch nach ihr fragte, sagen lassen konnte, sein Besuch würde ihr eine Freude sein.

Nun wurde er in der Klinik zu Karla Soltau geführt, die am Fenster ihres Zimmers in einem Sessel ruhte. Nachdem die Schwester ihm selber noch einen Stuhl hingeschoben hatte, ließ sie die beiden allein.

Karla, deren Antlitz schon frei von jedem Verband war – nur einige feine, gerötete Linien auf den Wangen erinnerten an die Brandwunden, die durch Hautübertragungen überdeckt waren – streckte dem Freunde beide Hände entgegen.

»Wie lieb, daß du kommst, Werner – doch sei, bitte, ein bißchen vorsichtig – an den Unterarmen trage ich noch einen Verband. Herzlich, herzlich willkommen in meiner Matratzenburg! Aber nun«, ihr Ton wurde ernst, tiefste Teilnahme, »laß mich dir noch einmal in Person sagen, wie sehr mich der Tod deiner armen Käte erschüttert hat. Ich hab' sie lieb gehabt, wirklich lieb zuletzt. Was für ein rührend guter, selbstloser Mensch war sie doch! Du hast viel verloren mit ihr. Wenn man solange miteinander Hand in Hand gegangen ist wie ihr beide, Tag für Tag, das bindet fester und enger als große Leidenschaft. Ich habe auf meinem Schmerzenslager oft an euch gedacht, mir ausgemalt, wie alles gewesen sein mochte – wie es gekommen ist. Fast mit einem Schuldgefühl, Ruth hat mir ja erzählt – ist es wirklich so, daß die Kunde von meinem Unglück den letzten Anstoß zu Kätes Tod gegeben hat?«

Er bestätigte es leise. Da drückte sie ihm noch einmal innig die Hände, und dann forschte sie: »Und auch das andere ist wahr, was mir Ruth erzählte, daß du die Katastrophe hellseherisch geahnt hast in derselben Minute, wo sie sich begab?«

»Ja, Karla. Ich hörte später von Ruth, daß der Zusammenstoß der Autos nach Aussagen von anderer Seite um fünf Minuten vor zehn stattgefunden hat. Genau zu dieser Zeit – Ruth kann es bezeugen – hatte ich mein Gesicht.«

»Wie unheimlich!« Frau Karla erschauerte. »Und doch vielleicht erklärlich, denn – ich weiß es ganz genau – in dem Moment, wo ich die Flammen um mich schlagen sah und glaubte, daß ich verloren sei, da mußte ich an dich denken. Besinnst du dich, du hast mir einmal – vor vielen Jahren freilich schon, damals noch, als ich glaubte, meine Ehe nicht länger ertragen zu können und mich daher mit dem Gedanken eines freiwilligen Endes trug – auf mein inständiges Bitten gelobt, daß du mir zum Ende verhelfen wolltest, falls das Gift, das ich nehmen wollte, nicht rasch genug wirken sollte. An dies dein Versprechen mußte ich in meinem letzten klaren Augenblick denken. Es war wie ein Hilfeschrei nach dir: Verlaß mich nicht! – Mach meinen Qualen ein Ende! – Und du hast diesen stummen Angstschrei aus weiter Ferne vernommen. Wie sonderbar! – Nein – wie schön! Sag' selber, Werner, kann es einen stärkeren Beweis für das Sichverstehen zweier Seelen geben als diesen fast übernatürlichen Kontakt?«

»Du hast recht, Karla«, im Innersten bewegt, aber ihrer Mahnung vorhin eingedenk, vorsichtig und zart drückte Barck die Hand der Freundin, die er noch immer in der seinen hielt. »Um übernatürliche Erscheinungen handelt es sich hier zwar nicht – die Radioübertragung hat den Schleier des Wunderbaren von diesen Dingen genommen – aber es bleibt ergreifend, auch für mich, wie du mich suchtest in deiner höchsten Not und wie ich es fühlte.«

Sie schwiegen beide; dann sagte er:

»Es geht nun wieder gut mit dir, auch der Arzt ist zufrieden. Ich traf ihn auf dem Korridor, wie ich zu dir geführt wurde. Wir haben als Kollegen gesprochen, ganz rückhaltlos. Der Heilprozeß verläuft überraschend gut, dank deiner bewundernswerten Natur, und es wird nichts mehr zu sehen sein von deinen Verletzungen, wenigstens nichts, was der Rede wert wäre.«

»Im Gesicht ja, obwohl ich meine Schmisse weg habe wie ein alter Korpsstudent. Aber Hals und Arme, und gar erst da, wo man mir die Haut abgetragen hat – nein, lieber Werner, die ›schöne Frau Karla‹ ist gewesen!« Ein leiser, melancholischer Laut entrang sich ihr, doch ernst fuhr sie dann fort: »Ich will nicht klagen, Werner. Wenn man durchgemacht hat, was ich mußte, dann hat man allen Grund, dankbar zu sein, daß man überhaupt noch da ist. Und ich bin es auch, will mich meines Lebens wieder freuen, es recht mit Bewußtsein leben – wenn ich nur die eine Gewißheit noch hätte!«

»Welche denn?«

»Dir kann ich ja alles sagen – hör' denn!« Sie erzählte ihm von den erregenden Auftritten mit Erich Friemar und Ilse, die der Katastrophe unmittelbar vorausgegangen waren, und schloß: »Ich bin ja nicht gerade ein bibelgläubiger Mensch, aber in meinem Leiden hat sich mir oft der Gedanke aufgedrängt: Das alles war höhere Schickung. Ich mußte diese Leiden durchmachen, um meiner Tochter die Ruhe wiederzugeben und, so Gott will, das Glück. Denn nach diesem Geschehen, es kann ja nicht anders sein, muß ihr Mann doch von seiner unseligen Leidenschaft für mich geheilt sein!«

»Hast du nie mit Ilse darüber gesprochen?«

Sie schüttelte das Haupt. »Ich wollte nicht an diese Dinge rühren. Ich war froh, daß sie wieder lieb zu mir war. Das Gute hat das Unglück wenigstens gehabt, mir mein Kind wieder nahezubringen.«

»Aber du hast von ihr den Eindruck, daß sie sich mit ihrem Mann besser steht? Den Gedanken der Scheidung hat er jedenfalls aufgegeben?«

»Das muß man wohl annehmen, da sie ja noch immer zusammenleben. Ilse ist auch in ihrem ganzen Wesen freier, nicht mehr so reizbar wie früher, wenn freilich auch von einem großen Ernst. Und viel weicher, wärmer ist sie geworden – viel fraulicher.«

»Nun, dann ist offenbar alles auf gutem Wege, und du tatest recht, nicht weiter zu forschen. Die beiden finden sicher noch ganz zueinander hin.«

»Wenn du doch recht hättest! – – – Aber wir sprechen immer nur von mir und meinen Sorgen. Ich hörte so gern von dir, Werner. Von Ruth weiß ich ja, daß du soweit zufrieden bist mit deiner Wirtschafterin; doch da bleibt noch soviel anderes. Was machst du mit deinen Nachmittagen, wenn kein Patient mehr kommt, und vor allem mit deinen langen Abenden, so mutterseelenallein? Denn daß dir deine Haushälterin etwa auch vorliest, das kann ich mir nicht gut denken.«

»Ach – die Stunden vergehen schon. Wenn mir einmal danach zumute ist, setze ich mich ans Klavier und spiele mir meinen Beethoven – bisweilen kommt wohl auch mal einer nach mir sehen, wie namentlich deine Ruth, das liebe Mädel – na, und sonst denkt man eben nach. Stoff dazu hat einem das Leben ja genug gegeben.«

»Werner – armer, lieber Freund!« Die Augen wurden ihr feucht. Mitleidsvoll streichelte sie seine Hand. Sie fühlte nur zu gut seine furchtbare Vereinsamung. Und einem innersten Empfinden folgend, rief sie:

»Laß mich nur erst wieder gesund, hier heraus sein, dann hat deine Not ein Ende, dann bin ich da!«

Dr. Barck lächelte still. »Dann hast du zunächst einmal an dich zu denken, wirst reisen, um dich von allem zu erholen – du hast dir das Recht darauf – weiß Gott! – erworben. Aber hab' Dank, meine liebe Karla, für die gute Absicht.«

»Du verkennst mich. Es ist nicht bloß ein Augenblickseinfall. Ich sagte dir doch, ich habe mir schon oft Gedanken deinetwegen gemacht. Aber man soll von solchen Sachen nicht lange vorher reden – handeln, wenn's soweit ist! Und es ist ja nicht mehr allzu weit bis dahin. Also lassen wir es einstweilen; doch mein Wort bleibt bestehen.«


Ilse saß vor ihrem Schreibtisch und überlas noch einmal, was sie geschrieben hatte:

Lieber Erich,

mit diesem Brief tue ich den Schritt, den ich nach langen, schweren Kämpfen für unvermeidlich halte; den Schritt, der unserer Quälerei ein Ende machen soll.

Ich will es bekennen, ich hatte nach dem furchtbaren Unglück mit Mama zunächst gehofft, es könnte doch noch gut mit uns werden. Das Entsetzliche, das wir gemeinsam erlebten, an dem wir beide uns bis zu einem gewissen Grade moralisch schuldig fühlen müssen, konnte uns zur Selbstbesinnung, uns innerlich nahebringen. Aber ich darf es nicht länger verkennen, diese Hoffnung hat getrogen.

Gewiß, es ist in einer Beziehung besser zwischen uns geworden. Wir sind duldsamer, fallen nicht mehr übereinander her, wir bemühen uns, rücksichtsvoll und aufmerksam zu sein. Aber das ist alles, und es ist nicht viel. Diese Beachtung der guten Formen kann über die schreckliche Kälte und Leere unseres Zusammenseins nicht hinweghelfen, unter der wir beide aufs schwerste leiden.

Auch Du tust es. Wenn Du es mir zwar auch mit keinem Wort zu erkennen gibst, so weiß ich es doch nur zu gut. Und Du sehnst Dich nach Freiheit – unverändert, wie damals schon vor dem Unglück mit Mama. Nur Pflicht hält Dich noch bei mir oder äußere Rücksicht. Solange meine Mutter auf ihrem Schmerzenslager liegt, willst Du ihr und der Welt nicht das unerfreuliche Schauspiel unserer Scheidung geben. So gehst Du denn weiter neben mir her, aber Deine Seele ist anderswo. Ich habe an ihr keinen Anteil. Wie eine Fremde lebe ich an Deiner Seite, von Dir unerbittlich ausgeschlossen von allem, was Dich bewegt.

Das ertrage ich nicht mehr. Jetzt, wo mir die letzte Hoffnung, daß Du Dich zu mir hinfinden möchtest, benommen ist, wäre es würdelos von mir, wollte ich länger bei Dir bleiben. So gehe ich denn und werde, Deinen Wunsch erfüllend, die Scheidung beantragen.

Es bleibt mir nur noch übrig, Dir Lebewohl zu sagen. In einem solchen Augenblick darf man wohl aussprechen, was man sonst nicht über sich gewinnt. So laß Dir denn sagen, ich gehe nicht leichten Herzens. Ich glaube, Du hast mein wirkliches Wesen nie recht gekannt. Die anscheinende Kühle war bei mir oft nur Maske, weil ich mich scheute, mein Innerstes zu zeigen. Und auch der Schmerz ist mir nicht fremd – ich fühle es gerade in dieser Stunde wieder.

Ich weiß nur zu gut, ich habe viele Fehler an mir und tat Dir oft weh. Es tut mir heute bitter leid. Aber so ganz wertlos bin ich doch wohl nicht. Und wenn ich in eine Hand gekommen wäre, die mich mit mehr Verständnis und ein bißchen Liebe genommen hätte, hätte es sich vielleicht doch gelohnt.

Aber es hat nicht sein sollen. So leb' denn wohl, Erich. Verzeih mir, was ich Dir an Leid zugefügt habe, mit Wissen und unwissentlich. Auch ich will Deiner nur im Guten gedenken. Manche Stunden, die wir zusammen verlebten, im Anfang unserer kurzen Ehe – sie waren leider so selten – waren sehr, sehr schön.

Leb' wohl!

Ilse.«

Sie hob die Augen vom Papier; es flimmerte ihr vor dem Blick, doch sie zwang ihre Rührung nieder. Dann sah sie noch einmal auf den Brief. Es war gut so, wie es dastand. Sie hatte auch nichts hinzuzusetzen – das heißt – doch vielleicht noch etwas! Ihre Hand ergriff noch einmal die Feder, zu einer Nachschrift.

»Um meinen Fortgang den Mädchen gegenüber zu motivieren, habe ich ihnen gesagt, daß ich schleunigst zu einer schwererkrankten Freundin fahren muß. Ich reise in der Tat; wohin, weiß ich selber noch nicht, vielleicht an einen der Schweizer Seen – aber es ist ja auch ohne Bedeutung für Dich. Alles Weitere betreffs der Scheidung wirst Du von Rechtsanwalt Marlick hören, an den ich auch Deine Zuschriften in der Angelegenheit zu richten bitte.«

Dann verschloß Ilse das Schreiben und ging damit ins Herrenzimmer zum Schreibtisch, wo sie es zu der im Laufe des Tags eingegangenen Post legte. So – nun war auch das erledigt. Sie sah nach der Uhr, es wurde Zeit, daß sie sich zur Abreise fertig machte. Ein Druck auf den Klingelknopf, und das Hausmädchen erschien.

»Sind die Koffer gepackt?«

»Jawohl, gnädige Frau, alles in Ordnung.«

»Und das Auto ist da?«

»Ja, es steht schon unten.«

»Gut, ich komme gleich; legen Sie mir die Sachen schon immer zurecht.«

Wieder allein, glitt ihr Blick durch das Zimmer, über die Gegenstände, die es beherbergte, und weiter durch die offnen Schiebetüren hinüber in die Flucht der übrigen Räume. Sie mußte daran denken, wie sie ihren Einzug in dies Heim gehalten hatte, voll froher Erwartungen und Hoffnungen. Wie war alles so anders geworden! Ihr Blick senkte sich. So fiel er auf eine kleine Photographie, die auf dem Schreibtisch ihres Mannes stand. Eine Aufnahme von der Hochzeitsreise aus Venedig; Erich und sie in der Gondel vor der Academia. Der Gondoliere – sie sah den fröhlichen, schwarzäugigen Burschen wieder deutlich vor sich – hatte geknipst, in naiver Freude über das hübsche Bild: das blutjunge Frauchen zärtlich in den Arm des Gatten geschmiegt. Heiß wollte es ihr in die Augen schießen. Da riß sie sich von dem Anblick los und eilte hinaus. – – – –

Am Abend zur gewohnten Stunde kam Erich Friemar nach Haus. Er hatte sich selber geöffnet; so gelangte er, nachdem er abgelegt hatte, von niemanden bemerkt, in die vorderen Räume. Zunächst ins Wohnzimmer, wo er in der Regel seine Frau anzutreffen pflegte. Nicht da? – so würde sie wohl im Herrenzimmer sein, ihrem andern bevorzugten Aufenthalt. Aber auch hier niemand. Er war ein wenig verwundert, wollte klingeln und nach ihr fragen, doch da fiel sein Blick auf den Schreibtisch, auf die Briefe – trug der oberste nicht Ilses Handschrift?

Er trat heran und nahm ihn auf. Wirklich, es war so! Sein Verwundern wuchs, wurde zur Unruhe. Mit einem Ruck öffnete er den Brief und überflog den Inhalt.

Er war am Ende. Langsam legte er das Schreiben auf den Tisch zurück. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, ging er im Zimmer auf und nieder. Erst in erzwungener Ruhe – nun ja, so war es denn soweit. Es war gekommen, was kommen mußte, was besser wohl längst schon geschehen wäre. Ilse hatte den erlösenden Schritt getan. Die Freiheit war wieder da. Tief holte er Atem. Und er wollte sich freuen, sich ausmalen, was das für ihn bedeutete.

Aber seltsam – es stellte sich kein Frohgefühl ein. Was er sich auch gewaltsam an wohltätigen Vorstellungen herbeirief, es löste kein Echo in seinem Herzen aus. Dort blieb alles still, gedrückt – ja, er fühlte eher etwas wie Trauer. Und plötzlich trat er wieder zum Schreibtisch und nahm den Brief noch einmal zur Hand. Diesmal las er langsam, Wort für Wort, und als er, ans Ende gekommen, den Bogen mechanisch zusammenfaltete, waren die Hände dabei unsicher. Er legte das Schreiben nicht wieder auf den Tisch, sondern verwahrte es in seiner Brusttasche. Dann ging er zum Sessel in der Ecke am Kamin, wo Dämmerung wob, und ließ sich nieder. Mit geschlossenen Augen lehnte er dort im tiefen Schweigen des Raums.

Aus den Zeilen dieses Abschiedsbriefes war es aufgestiegen mit einer sanften, wehmutsvollen, aber unwiderstehlichen Gewalt. Was waren das für Töne, die dort klangen? Warum hatte er sie niemals aus ihrem Munde gehört? Wäre es geschehen, es wäre vielleicht anders gekommen – dieser Brief wäre nie geschrieben worden.

Zum erstenmal hatte er seiner Frau ins Herz geblickt, in der Stunde, wo sie für immer von ihm gegangen war, und dieser Einblick bewegte ihn innerst. Wie weich, wie gut konnte sie sein! Und verriet sich aus diesen verhaltenen Worten nicht noch etwas anderes? Kein Zweifel: Sie hatte ihn lieb gehabt, aufrichtig lieb; sie hatte lange gehofft und auf einen Widerhall bei ihm geharrt. Und mit heraufdrängendem Schuldbewußtsein vernahm er in seinem Innern wieder ihre klagenden, leis anklagenden Worte: »Wäre ich nur in eine Hand gekommen, die mich mit mehr Verständnis und ein bißchen Liebe genommen hätte!« – Nein, er hatte beides nicht gehabt, weder Verständnis noch Liebe, und doch, sie hätte es verdient – in dieser Stunde erkannte er es.

Erich Friemar ging mit sich selber ins Gericht und bekannte es sich: Er trug ein groß Teil, ja das größte Teil Schuld daran, daß ihre Ehe dies Ende genommen hatte. Wenn er es auch damals, in jener verhängnisvollen Unterredung mit ihrer Mutter, abgeschworen hatte, es war doch so gewesen, wenn ihm vielleicht auch unbewußt: Die unselige Leidenschaft für Karla hatte ihn in ihren Bann geschlagen, ihn blind und ungerecht gegen Ilse gemacht. Er hatte sich nur genießerisch an dem süßen Hauch ihres jungen Frauentums berauscht, sie aber, als er genug genossen, fortgeworfen wie eine entblätterte Knospe. Er hatte es überhaupt nicht bemerkt, was sich da für ihn hatte entfalten, ihm ganz zu eigen sein wollen. War es zu verwundern, daß sich dann bei ihr Stacheln und Dornen entwickelten, die ihm wehtaten? Nein – sein war die Schuld! Und nun war es zu spät.

Erich Friemar sank in sich zusammen. So saß er lange, bis ein Anklopfen ihn zur Haltung mahnte. Er setzte sich zurecht, griff nach irgendeinem Buch und rief sein »Herein!« Es war das Hausmädchen; sie hatte Licht bei ihm gesehen und fragte, ob sie das Essen servieren dürfe. Er wollte abwinken, doch besann sich; die Leute sollten nichts merken. So nickte er denn.

»Ja, richten Sie an.« Aber als das Mädchen gehen wollte, rief er es noch einmal zurück. »Sie waren gewiß mit meiner Frau an der Bahn – ist sie gut mitgekommen?«

»Jawohl, die gnädige Frau bekam sogar noch ein einzelnes Abteil im Schlafwagen.«

»So – das war ja ein Glück bei dieser plötzlichen Abreise. Meine Frau hat Ihnen wohl gesagt –?«

»Gewiß, wir sind unterrichtet.«

Friemar horchte auf. Klang das nicht etwas skeptisch? Und möglichst unbefangen sagte er:

»Wir wollen hoffen, daß die Krankheit der Freundin bald eine Wendung zum Besseren erfährt. Auch Sie werden ja nicht gern so allein sein, hier.«

»Nein, es ist schon besser, die gnädige Frau ist da.«

Er nickte verabschiedend, und das Mädchen zog sich zurück.



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