Jeremias Gotthelf
Die Frau Pfarrerin
Jeremias Gotthelf

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»Vor einigen Jahren«, erzählte sie, »traf man jeden Markttag außer bei ganz grundschlechtem Wetter eine ältliche Frau an. Sie fiel weder durch ihre Kleidung auf noch durch ihre Gestalt. Die Kleidung war äußerst einfach, aber ebenso reinlich; sie war von mittlerer Größe, hatte nichts Auffallendes im Gesicht beim bloßen Ansehen, sie fiel mir bloß auf durch die Stetigkeit ihres Daseins, das mir gar nicht notwendig schien, denn sie hatte in der Regel nur ein ganz kleines Körbchen am Arme, kaufte wenig und zuweilen gar nichts. Hatte sie auch ihren Einkauf gemacht, ging sie nicht heim wie andere Frauen, sondern regelmäßig die ganze Straße durch von oben bis unten und bei schönem Wetter, und wenn der Markt so recht viel Neues brachte, hin und her. Unwillkürlich fing ich an, mich zu achten, was sie eigentlich da treibe, und was sie kaufe; im Handel war sie mir nie in Weg gekommen, hatte weder eine Taube noch ein Hähneli mir vorweggeschnappt. Sie kaufte nichts Meisterlosiges, überhaupt nichts aus dem Tierreich, sondern bloß aus dem Pflanzenreiche und hier auch zumeist das Allerwohlfeilste, und was zum Kochen wenig Feuer brauchte, immer nur für einen Kreuzer, jedoch fast immer etwas Obst; hier und da märtete sie sich eine Blume ein, ein Röschen oder ein Stiefmütterchen, und oft gaben die Weiber eins ungebeten, auch einige Salatblättchen, woraus ich schloß, daß sie ein Vögelchen haben müsse, sonst aber wahrscheinlich alleine haushalte. Ihre Geschäfte wären also in einigen Minuten abgetan gewesen, wenn nicht etwas anderes sie gefesselt hätte; und was das war, sah ich bald, als ich einmal aufmerksam auf sie war.

Es war eine unendliche Freude an den Früchten und Pflanzen selbst, nicht um sie zu essen. Sie freute sich zum Beispiel recht herzlich über den ersten Blumenkohl, aber sie kaufte den ganzen Sommer keinen, wenn er mißraten war und hoch im Preise blieb. Es waren ihr liebe Bekannte, Freunde, Kinder, die in fremden Landen gewesen, weit über Meer, die wieder herkamen und von ihr mit herzlicher Freude bewillkommt wurden. Natürlich war immer das erstemal bei Wiedererscheinen in jedem Jahr die Freude am größten, aber sie verging nicht, loderte bei jedem schönen Stück neu auf, und wenn die Pflanze oder Frucht immer seltener erschien, so ward ihre Freude an ihr um so inniger, fast wie an einem Menschen man sie hat, dem man zuruft: ›Ach, lebst auch noch!‹ den man verloren gegeben und doch noch wiedersieht. So wimmelte der ganze Markt von obenan bis untenaus von lieben Bekannten, die sie ja alle grüßen mußte, und wäre es nur mit einem Blick. Vor allem war es das Obst, welches von den Bäumen kam, welches ihr Augen und Herz gefangenhielt. Den Beeren von den Sträuchern schien sie nicht viel nachzufragen, sie beachtete sie kaum; auch auf den Baselkirschen hielt sie nicht viel, sie seien so wässericht und hätten keinen ordentlichen Geschmack, sagte sie. Nur was auf unsern Bäumen wuchs, fand ordentlich Gnade vor ihren Augen. Über unsere Kirschen freute sie sich sehr; von ihr zuerst vernahm ich, daß auch die Kirschen verschiedene Namen hatten, ich meinte bis dahin, es gebe rote und schwarze und nebenbei noch Weichsel- oder Zahmkirschen. Doch erst bei den Äpfeln und auch Biren ging ihr das rechte Leben auf; mit einem freudigen Ausruf ward jede neue Sorte, welche auf dem Markte erschien, begrüßt. Wenn die neuen erschienen und alte und neue in den Körben lagen, dann war ihr ein Jahr umgegangen, das alte schloß sich, ein neues hatte begonnen, und in neuer Reihe marschierten die alten Sorten auf eine nach der andern, und jede wurde von der Frau mit Namen begrüßt, denn sie kannte alle wie ein Feldmarschall seine Regimenter.

Da sah ich dann auch, wie die Marktweiber die Frau kannten, ihr herbeiriefen, neue Sorten zu zeigen, nach ihrem Namen zu fragen, wie sie ihr von weitem Äpfel in die Höhe hoben, wenn sie wußten, daß sie diese besonders liebte, und sie vielleicht im vergangenen Jahr gefehlt hatten, oder ihr ein halbes Dutzend, welche abgesondert im Korbe lagen, aufdrangen, sagend: ›Nehmt sie nur, nehmt sie! Das werden die einzigen dieser Art sein, welche Ihr dieses Jahr sehet; sie gerieten nirgends. Unter die andern sie zu mischen, wäre schade, und apart sie zu verkaufen, lohnt sich nicht der Mühe. Da dachte ich, ich wolle sie zEhren ziehen und Euch sie bringen, Ihr wüßtet sie am besten zu schätzen, und ich hätte selbst Freude, wenn sie Euch recht gut dünken.‹ Sichtlich mit Freuden, aber erst nach langem Weigern nahm sie die Frau geschenkt. Denn, wie sie auch die Kreuzer abmödelete, hier konnte sie nach ihrer Weise verschwenden, schienen die Kreuzer sie nicht zu reuen, hier kaufte sie nicht immer vom Wohlfeilsten, hier konnte sie wählig sein, kaufte aber oft auch recht Unscheinbares, anfänglich zu meiner Verwunderung, bis ich merkte, daß es besser war als schön.

Es war ein eigener Verband zwischen der Frau und den Weibern und zwar ein recht freundlicher. Durch das Intresse, welches die Frau am Inhalt ihrer Körbe nahm, die Freude, welche sie hatte, wenn sie schöne Produkte sah, ihr sachkundiges Urteil, nützliche Winke aller Art war sie den Weibern wert geworden, ihr Erscheinen tat ihnen wohl, sie freuten sich sicherlich schon daheim darauf, wenn sie was Schönes bringen konnten, sie wechselten gerne einige freundliche Worte mit ihr, das eintönige Markten unterbrechend. Nicht selten geschah es, daß sie zur Schiedsrichterin oder Ratgeberin aufgerufen wurde. Gar manches Dämchen kennt nichts von dem, was es kaufen will, und steht vor den Körben, als wären es lauter Tennstore, steht kummervoll von einem Bein aufs andere, es möchte Äpfel und ist in Seelenangst, man möchte ihm Zwiebeln für Äpfel anhängen, von wegen sie hatte gelesen, das sei einmal irgendwo einer Dame passiert. Und wenn auch die meisten zwischen Zwiebeln und Äpfeln zu unterscheiden wußten, wie manchem Dämchen ist bekannt, welche Äpfel am besten für Kuchen sind, welche am besten für Brei oder Kompott etc.? Nun, da ward meine Frau gar oft von irgendeinem Weibe als Autorität angerufen. ›Die kann am besten sagen, lüge ich, oder lüge ich nicht; die weiß einen Renetten von einem Holzöpfel zu unterscheiden‹, hieß es.

In einem ähnlichen Fall kam ich mit ihr ins Gespräch. Ich wollte ein Quantum zum Einkellern für den Frühling kaufen und werweißete zwischen zwei Wagen; auf beiden priesen zwei Weiber hier Ware an, als hätte jedes die allerbesten Äpfel fast mit menschlichen Tugenden. Da deutete das eine der Weiber auf die eben vorübergehende Frau und sagte: ›Die kann sagen, was ich für Äpfel habe, die kennt sie.‹ Sie gab ganz gefällig Bescheid, daß die Äpfel der andern Frau, für jetzt zu brauchen, passender und besser seien, aber für später wären ihr die Äpfel der Frau, welche sie angerufen, viel lieber.

Von da an wechselten wir öfter einige Worte, aber zu einer eigentlichen Bekanntschaft kam es nicht, wir suchten beide nicht, fragten nicht einmal nach unsern Namen, wenigstens ich nicht.

Da geschah es einmal im Winter, als es recht kalt und glatt, daß sie umfiel auf dem Markte und an Bein und Arm sich übel wirsete. Ob sie bloß ausglitt oder umgerannt wurde, wußte sie später selbst nicht, wahrscheinlich das letztere. Wahrscheinlich ward die Menge durch einen der schrecklichen eidgenössischen Postwagen, vor denen weder Mann noch Maus sicher ist, auseinandergesprengt, und einer, der in Todesangst sein Leben retten wollte, hatte die alte, schwache Frau umgerannt, doch glücklicherweise nicht gegen den dahindonnernden Wagen zu; eidgenössisch überfahren wurde sie nicht. Man lief ihr zu, stellte sie auf die Füße; sie hatte nichts gebrochen, unter großen Schmerzen konnte sie gehen, doch nicht alleine. Zufällig war ich der einzige Mensch in der Nähe, der eine Bekanntschaft mit ihr hatte; ich konnte nicht anders, ich bot ihr meine Begleitung an, sie nahm sie dankbar, doch unter tausend Entschuldigungen an, wie sie zu meiner Zeit noch üblich waren, wo nicht jeder Schlingel meinte, unser Herrgott habe die Welt um seinetwillen erschaffen und ebenfalls das übrige Gesindel, um ihm die Hände unter die Füße zu legen. Dem sagt man jetzt altväterisch, wenn ein Mensch von Herzen für eine Wohltat danket; man sollte sich schämen. Aber was will man, wenn man dem lieben Gott nicht mehr danken will, weil es nichts abtrage, warum soll man Menschen danken?

Es war wirklich aber auch eine große Mühe, die arme Frau, welche unsäglich litt und alle Augenblicke stillestehen mußte, in ihr Quartier zu bringen. Billigermaßen sollte jede eidgenössische Postkutsche verpflichtet sein, hinten aufgeschraubt ein Transportmittel, Sänfte oder Karren, mit sich zu führen, um die hinter ihr liegenbleibenden Toten oder Schwerverwundeten aufzuraffen und in ihre Quartiere zu bringen. Glücklicherweise wohnte die Frau nicht drei Treppen hoch, sondern nur zwei, hintenaus in einem Stübchen gegen ein Höflein, aber von der Sonne beschienen. Im Stübchen war es unbeschreiblich reinlich und heimelig, und, wie ich richtig vermutet, ein Vogel empfing uns mit freundlichem Gezwitscher. ›Du Arms!‹ sagte sie, ›meinst, du bekommst deinen Salat, und habe ich dir keinen.‹

Leidend sank sie auf einen Sessel. ›Du mein Gott! Und jetzt, was fange ich an!‹ Sie war, so gleichsam zu sagen, alleine auf der Welt, hatte niemand als eine Wochenmagd, die einmal des Tages kam, abends um sechs Uhr, um ihr Holz und Wasser zu tragen, alles übrige besorgte sie selbst. Im Hause hatte sie das Stübchen gemietet, mit den übrigen Hausbewohnern hatte sie keine andere Gemeinschaft, als daß man sich grüßte, wenn man einander auf den Treppen begegnete, das will zwar schon was sagen. Ein solches Vereinzeltsein mag zuweilen gehn, aber früher oder später kömmt dann doch die Frage: ›Und jetzt, was?‹ kömmt oft so plötzlich, daß sie einem den Schweiß austreibt.

Damals kam er auch mir und nicht bloß der halb ohnmächtigen Frau. Und jetzt, was? Ich war allein da, die Wochenmagd kam um sechs Uhr, es war zehn Uhr. Wäre ich nur zu Hause gewesen, da hätte ich schon jemanden senden können, aber durfte ich sie alleine lassen? Und wen rufen im wildfremden Hause? Es war nicht einmal ein Glockenzug im Stübchen. Da klopfte es an die Türe, ein lustig Kindergesicht guckte hinein und rief: ›Die Mama schickt mich und läßt fragen, ob sie der Frau Pfarrere mit etwas behülflich sein könne, sie habe gehört, sie sei krank heimgekommen.‹ Das war ein Engelein in der Not, das mit großem Mitleid die arme Frau streichelte, die vor Husten die Antwort nicht fand.

›Könnte die Mama selbst kommen?‹ sagte ich, sah nicht das Kopfschütteln der Kranken, und zur Türe hinaus war das Kind, ehe sie es zu einer Antwort brachte. ›Mein Gott, was denkt Ihr!‹ sagte sie endlich, ›eine so vornehme Frau!‹ Aber ehe sie vollenden konnte, trat diese schon ein, allerdings eine vornehme, aber äußerst liebliche Erscheinung. Mitleidsvoll wandte sie sich zur Frau Pfarrerin, mich grüßte sie kaum, steif und von der Seite. Ich nahms für Hochmut dachte bei mir: ›Sie sind doch alle gleich!‹ später kam ich darüber, daß sie schüchtern war. Weit über dreißig und vornehm, ich wollte es lange nicht glauben, aber es war doch so, sie war schüchtern, wurde leicht verlegen und sogar rot aus einfacher Verlegenheit.

Und jetzt, was machen? Vor allem aus müsse sie ins Bett, wurden wir rätig, dann wolle ich nach meinem Arzte aus. Sie wollte nach dem ihren senden, sagte sie, aber der sei etwas bequem, und wenn er sich einmal eine Tagesordnung gemacht, so weiche er nicht mehr davon ab; und wenn man ihm nachliefe mit der Nachricht, seine Frau wolle sterben, würde er antworten, sie solle warten, er habe noch vier Visiten zu machen; sobald die abgetan, werde er alsbald kommen. Die Dame schickte nicht nach dem Kammermeitli, wie ich erwartet hatte, sondern legte selbst Hand an zur unaussprechlichen Verlegenheit der guten Frau Pfarrerin. ›Aber nein, Frau Landvögtin, aber mein Gott, Frau Oberstin, ich bitte! Ich muß mich ja schämen!‹ Und als sie zum linken Strumpf gekommen war, kostete ihr der fast das Leben. Als die Dame nach dem Fuße griff, um ihn vom Strumpfe zu befreien, rief die Frau Pfarrerin: ›Nei, es hat doch gwüß key Gattig!‹ bückte sich, wollte selbst ziehen, verlor den Halt und wäre beinahe mit dem Gesichte voran unters Bett gefahren. Nun, ich griff noch zu rechter Zeit zu und verhütete den Sturz, aber es geschah so unsanft, daß die gute Frau laut aufschrie und der Tränen sich nicht erwehren konnte. Mit großer Mühe brachten wir sie zu Bette, das so reinlich war, daß die Frau Pfarrerin uns gerne gebeten hätte, uns drei Schritte weit davon entfernt zu halten, wenn die Höflichkeit es ihr erlaubt hätte.

Endlich war sie unter vielen Schmerzen im Bette und hätte nun wenigstens ruhig sein können, wenn die Höflichkeit nicht gewesen wäre. ›Aber mein Gott, was die Frauen Mühe mit mir gehabt, und wie das mich plagt, daß die Frauen da um mich herumstehn, ich ihnen nicht einmal Sessel geben kann, um wenigstens doch zu sitzen!‹ Übrigens, glaube sie, brauche sie uns nicht lästig zu fallen, sie könne wohl alleine sein, bis der Arzt komme, es sei ihr so unendlich leid, daß wir ihretwegen so Mühe hätten. ›Ich glaube nicht, daß es so böse ist‹, sagte ich; ›geschunden und gequetscht indessen seid Ihr brav, und das ist manchmal schon genug. Jetzt will ich um den Arzt aus, hernach komm ich bald wieder.‹ Die Frau Landvögtin übernahm die Wache und tat noch mehr. Sobald ich fort war, rief sie Lisette, ihr Kammermädchen, und machte mit ihr kalte Aufschläge, gab der guten Frau, die zu fiebern begann, zu trinken.

Ich fand den Arzt rasch, und alsbald ließ er sich von mir dirigieren. Er fand die Verletzung an sich unbedeutend, dagegen die Erschütterung und der Schreck in solchem Alter bedenklich, daher er nichts sagen könne, man müsse zuwarten, es werde sich jedenfalls bald zeigen; die Hauptsache sei Ruhe und gute Abwart. Oh, Ruhe hätte sie, sagte die Frau, und wenn sie wisse, was machen, und es ihr nicht böse, so könne sie schon machen, was sie nötig habe. Da erklärte die Frau Landvögtin dem Arzt, sie meine, sie könne es mit der Wochenmagd machen, die im Tage nur einmal komme. ›Das werdet Ihr bald merken, daß es nicht geht; nein, dafür muß anders gesorgt werden.‹ Nun machte er ihr den Vorschlag, sie in den Spital transportieren zu lassen, wo alle Burger unentgeltlich aufgenommen und verpflegt wurden, sobald sie krank wurden. Er sei Arzt dort, sagte er, und besser als dort sei sie nirgends aufgehoben, das verspreche er ihr. Das könne sie nicht, sagte die Frau zu der andern großer Verwunderung, in ein so großes Haus, ein so großes Wesen hinein dürfe sie nicht. In einem großen Saale könnte sie nicht krank sein, da hätte man ja Tag und Nacht weder Ruhe noch Schlaf; krank sein könne man nur in einem kleinen Stübchen. Man redete ihr warm zu, dieses Vorurteil fahren zu lassen, in einem Tag sei sie an den Saal gewöhnt, und was sie wünsche, habe sie alsbald. Sogar Lisette mischte sich ein, und feine Ohren hätten bemerkt, daß ihre Stimme am schärfsten tönte. Wahrscheinlich fürchtete sie, bei der Güte ihrer Herrin mit der Frau vielfach belästigt zu werden.


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