Maxim Gorki
Ein Verbrechen
Maxim Gorki

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Viertes Kapitel

Zwei Wochen gingen dahin.

Eines Nachts lagen die Freunde hungrig und wütend nebeneinander auf ihren Pritschen in der Schlafstelle, und Wanjuschka überschüttete Salakin leise mit Vorwürfen:

»Du ganz allein bist schuld! – Wärst du nicht gewesen, hätte ich jetzt irgendwo Arbeit! . . .«

»Geh zum Teufel! . . .« riet Salakin seinem Freunde kurz und bündig.

»Halt' dein Maul! Ich sage, was wahr ist . . . Was soll ich jetzt machen? Vor Hunger verrecken?«

»Geh doch hin und heirat' eine Arämerin . . . Dann kannst du dich sattessen . . . du Jammerlappen! . . .«

»Du Blatternfresse, du kapute Schnauze . . .«

Es war nicht das erste Mal, daß sie aus dem Ton redeten.

Bei Tag trieben sie sich, nur halbbekleidet, blau vor Kälte, in den Straßen herum, aber nur selten konnten sie sich irgend etwas verdienen. Sie hackten Brennholz oder schlugen auf den Höfen das schmutzige Eis los, und wenn sie dafür je einen Zwanziger bekommen hatten, wurde das Geld sofort in die Kneipe getragen. Manchmal ließ irgend eine Dame auf dem Markt Wanjuschka ihren Korb halten und gab ihm einen Fünfer dafür, daß er diesen Korb, der schwer mit Fleisch und Gemüse beladen war, eine Stunde lang hinter ihr herschleppte. Und Wanjuschka, der vor Hunger Leibschmerzen hatte, fühlte dann immer, daß er die Dame haßte, aber er hatte die größte Angst, dies Gefühl irgendwie deutlich werden zu lassen, und stellte sich äußerst ehrerbietig gegen sie und äußerst gleichgiltig gegen alle die Dinge, die in ihrem Korb lagen und sein Hungergefühl aufstachelten.

Manchmal bat Wanjuschka auch um Almosen, vorsichtig, daß es die Polizei nicht merkte, und Salakin gelang es von Zeit zu Zeit, ein Stück Fleisch, einen Laib Butter, einen Kohlkopf oder ein Gewicht zu stehlen. Wanjuschka zitterte dann immer vor Angst und sagte zu seinem Kameraden:

»Du bringst mich noch ins Verderben! Wir werden noch ins Loch gesteckt . . .«

»Im Loch bekommen wir Kleider und Essen,« erwiderte Salakin sehr ruhig, »bin ich vielleicht schuld daran, daß Stehlen leichter ist, als Arbeit finden?«

Heute hatten sie sich mit Mühe und Not die sechs Kopeken für die Schlafstelle zusammengebettelt, und Salakin hatte irgendwo ein Franzbrot und ein Bund Mohrrüben mitgehen lassen, weiter hatten sie den ganzen Tag nichts zu essen gehabt. Der Hunger verbrannte ihnen die Eingeweide, ließ sie nicht einschlafen und machte sie wütend.

»Und wieviel hab' ich für dich herausgeschmissen?« fragte Salakin erbost. »Du hattest alles in allem einen Kaftan im Vermögen, und ein Beil . . .«

»Und die sechzig Kopeken? Die hast du wohl ganz vergessen? Was?«

Sie knurrten sich an, wie zwei böse Hunde, und Wanjuschka hatte Salakin schon, scheinbar aus Versehen, zwei Rippenstöße mit dem Ellenbogen versetzt. Aber ganz offen in Krakehl kommen wollte er mit seinem Genossen doch auch nicht, er hatte sich die Zeit her schon so an ihn gewöhnt und begriff wohl, daß er es ohne Salakin noch schlechter haben würde.

Ganz allein in der Stadt – schrecklich! Und so zerlumpt, halbnackt, ins Dorf zurück – er schämte sich, vor seiner Mutter, und vor den Mädeln – vor allen. Ja, und auch Salakin hatte ihn jedesmal ausgelacht, wenn Wanjuschka davon gesprochen hatte, heim zu gehen.

»Geh' nur, geh' doch!« hatte er gesagt und die Zähne dazu gebleckt, »deine Alte wird eine Freude haben . . . wieviel du dir erspart hast – Fein! Kleider wie ein Herr . . .!«

Und außerdem hielt Wanjuschka von der Heimkehr eine unklare Hoffnung ab, daß es ihm doch noch glücken müßte. Bald malte er sich aus, daß irgend ein reicher Mann Mitleid mit ihm haben und ihn als Arbeiter einstellen würde, bald dachte er, Salakin könnte schließlich doch einen Ausweg aus diesem beschwerlichen, hungrigen Dasein finden. Und diese Hoffnung, die er in die Gewandtheit seines Genossen setzte, fand auch durch Salakin selbst ihre Nahrung, der häufig sagte:

»Macht nichts! Wir kommen schon noch heraus, wart's nur ab . . . Wir schlagen uns durch! . . .«

Und das sagte er in dem festesten Glauben und sah Wanjuschka dabei ganz besonders an, mit so einem scharfen Blick. Und dann war es Wanjuschka, als müßte der Genosse ein Mittel kennen, um aus alledem heraus zu kommen.

Und doch dachte er sich heute nacht, wie er so Seite an Seite mit ihm lag: wenn sich aus der Decke über uns ein Ziegel löste und Salakin auf den Schädel fiele, – das wäre wohl gut. Und er dachte daran, wie neulich, mitten in der Nacht, ein wilder Schrei sie alle aus dem Schlaf geschreckt hatte, und er dachte an ein von dunkelem Blut überströmtes Menschengesicht, das von einem Ziegel zerschmettert worden war, der sich aus dem Deckengewölbe der Schlafstelle losgemacht hatte.

»Ein Haufen Geld, deine sechzig Kopeken . . .« brummte Salakin. – »Ach wenn du nur . . .«

»Wenn ich was . . .?«

»Wenn du ein bischen mehr Schneid hättest . . .!«

»Wozu?«

»Ach, nichts . . .«

Wanjuschka überlegte ein Weilchen und sagte dann:

»Nichts kannst du . . . Ein großes Maul hast du, weiter nichts . . .«

»Wer? Ich?«

»Jawohl!«

»Na! wenn ich's dir sagte . . .«

»Na, was denn? Na, und wenn ich auch die Schneid hätte, nehmen wir mal an . . . Was wär' dann?«

»Dann . . .?«

»Na?«

»Das sag' ich dir!«

»Also!«

»Ich sag's dir schon, aber . . .«

»Du weißt ja garnichts!« knurrte Wanjuschka mit Überzeugung.

Salakin wälzte sich unruhig auf seiner Pritsche, und Wanjuschka drehte ihm den Rücken und flüsterte verzweifelt, traurig, mit einem tiefen Seufzer:

»Ach du lieber Gott . . . Wenn ich nur eine Brotrinde hätte . . .« Einige Minuten lag er schweigend. Dann richtete Salakin sich auf, beugte seinen Kopf über ihn und sagte, die Lippen fast ganz an seinem Ohr, mit kaum vernehmbarer Stimme:

»Iwan! Hör mal . . . Komm mit!«

»Wohin?« fragte Wanjuschka, ebenfalls mit kaum vernehmbarer Stimme.

»Nach Borissowo . . .«

»Zu was?«

»Ich sag's dir unterwegs.«

»Sag' es gleich.«

»Geh' mit! Ich will's dir sagen . . . Wir gehen und . . . brechen bei Matwé Iwanytsch ein. – Weiß Gott!«

»Geh du zum Teufel!« sagte Wanjuschka erschrocken und böse.

Aber Salakin legte sich schwer über ihn und begann ihm in's Ohr zu wispern:

»Du, hör' doch . . . Es geht ganz leicht. Wir gehen hin, thun, was wir zu thun haben, und – machen uns wieder hierher zurück! Wer verfällt auf uns? Ich kenne dort alles, jeden Weg und Ausweg. – Ich weiß auch, wo er sein Geld hat . . . Und Silberzeug hat er . . . Löffel, Becher, haufenweise, im Glasschrank.«

Salakins heißer Atem brannte auf Wanjuschkas Wange, und die Angst in seinem Herzen schmolz dahin. Aber wieder und wieder sagte er leise:

»Heb' dich fort von mir, Satanas!«

»Ach geh, du wirst schon sehen . . . Und wie wir dann leben könnten . . . Denk' doch mal! Ein Ruck – und wir sind satt, haben Kleider und Schuh . . .«

Wanjuschka lag schweigend, aber Salakin blies ihm ein heißes und überredendes Wort nach dem andern in's Ohr und ins Hirn.

Und endlich fragte Wanjuschka:

»Und hat er viel Geld da?«

 


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