Maxim Gorki
Ein Verbrechen
Maxim Gorki

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Zweites Kapitel

Als Wanjuschka in die Kneipe trat, schlug ihm eine dicke, feuchte Luft ins Gesicht und wischte, wie mit einem warmen, nassen Lappen, das stechende Gefühl der Kälte von seinen Wangen. Ein bläulicher, ätzender Qualm wälzte sich unter der niederen, gewölbten Decke und biß in die Augen; ein Geruch von Schnaps, Tabak und verbranntem Fett biß in die Nase; der Lärm und das Getriebe in der Kneipe hatten etwas Gedämpftes, Dumpfes; und von dem allen fing sich 's in Wanjuschkas Kopf angenehm zu drehen an. Er drängte sich langsam zwischen den Tischen durch und suchte ein Plätzchen, fand aber keins. Überall saßen Fuhrleute mit roten Gesichtern, versoffene, halbnackte Handwerker; allerlei Gesindel, in Lumpen gekleidet, musterte Iwan mit neugierigen und verdrießlichen Diebsaugen. Einer, ein langer, dürrer Kerl mit fuchsigem Schnauzbart, blinzelte ihm zu, streckte ihm seine Hand entgegen und sagte:

»Grüß Gott, du Lackl! Geh her . . .«

Wanjuschka wandte sich von ihm ab und streifte mit der Schulter eine kleine, fast kugelrunde, junge Frauensperson. Sie hatte ein grellrotes Gesicht und schwarze Augenbrauen von der Größe eines Schnurrbartes.

»Sieh dich vor, Trottel!« kreischte sie mit heiserer Stimme.

In dem Winkel der Kneipe, der dem Eingang zunächst war, unter der ewigen Lampe vor dem Heiligenbild, saß an einem Tische nur ein einzelner Mensch, und Wanjuschka trat auf ihn zu.

»Platz frei?«

»Immer zu!«

Kusin setzte sich auf einen Stuhl, hakte den Kragen seines Kaftans auf und sagte:

»Ja–a, schön voll hier!«

»Hier ist's nie leer . . .«

»Bist du vom Lande?«

»Ja . . .«

»Auf Arbeit?«

»Das glaub' ich . . .«

»Nicht viel zu holen hier . . .«

»Ach?«

»Nichts. Drei Wochen bin jetzt ich da . . .«

»Keine Arbeit?«

»Nichts. Da kann einer verrecken!«

Am Tisch vorbei schlängelte sich schnell, wie eine Eidechse, der Kellner.

»Einen Thee mag' ich,« schrie ihm Wanjuschka nach und begann sein Gegenüber des Näheren zu mustern. Es war ein Bursch von fünfundzwanzig Jahren, bekleidet mit einem schmierigen und zerfetzten wattierten Ärmelleibchen, das einmal einem Frauenzimmer gehört hatte. Er war ein langer, dürrer Mensch und saß über den Tisch gebeugt, als wollte er sein von tiefen Blatternarben zerrissenes Gesicht, das weder Schnurrbart noch Brauen aufwies, vor den Leuten verstecken. Manchmal warf er seinen geschorenen Kopf mit einer schnellen und heftigen Bewegung des Halses zurück und musterte Kusin – unruhig, als wollte er irgend etwas ergründen – mit großen, grauen Augen. Und als er bemerkte, daß jener ihn auch angelegentlich betrachtete, lächelte er mit seinen dünnen Lippen und sagte halblaut:

»Einen Mantel hab' ich gehabt – er ist aufgefressen, meine Mütze – aufgefressen. Da die Stiefel sind noch übrig . . .«

Er streckte unter dem Tisch ein langes Bein hervor, das mit einem durabeln Lederstiefel bekleidet war und fügte hinzu:

»Bald müssen die auch dran glauben . . . Ich wechsel' sie in Kleingeld um . . .«

Wanjuschka that der Fremde leid, und er dachte beklommen daran, wie es ihm selbst gehen würde.

»Aber vielleicht, irgendwie . . .« sagte er.

»Was soll man da machen! Hier giebt's von unserer Sorte soviel wie gelbe Blätter im Herbst . . . Schau nur hin, die Leute! Und jeder will was zu essen haben . . .«

»Trinken wir einen Thee zusammen?« schlug Wanjuschka vor.

»Danke! Besten Dank . . . Ich hab' genug von dem Zeug . . . Aber am Ende vielleicht ein Schnäpschen . . .«

Und er stieß einen schweren Seufzer aus.

Wanjuschka tastete mit der Zunge nach dem Geld in seinem Munde, überlegte ein wenig, dann winkte er den Kellner heran und sagte mit wichtiger Miene:

»Bring mal ein halbes Fläschchen . . . zwei Gläser . . .«

Der Blatternarbige lächelte erfreut, sagte aber kein Wort.

»Wo schläfst du die Nacht?« fragte Wanjuschka.

»Hier, nicht weit . . . Für drei Kopeken . . . Und du?«

»Ich bin grade erst gekommen . . .«

»Ja! Also! Gehn wir beide hin.«

»Ist recht!«

»Na, siehst du! Wie heißt du denn?«

»Iwan Kusin . . .«

»Und ich Jeremé Salakin . . .«

Sie verstummten und sahen sich lächelnd an. Und als der Kellner den Branntwein brachte und Wanjuschka Salakins Glas gefüllt hatte, stand dieser auf, ergriff das Glas, hielt es Kusin hin und sagte:

»Trinken wir auf gute Freundschaft von heute an!«

Wanjuschka gefiel eine solche Rede ausnehmend. Er kippte seinen Schnaps flott hinunter, räusperte sich und sagte erfreut:

»Zu zweit thut man sich doch leichter!«

»Natürlich!«

»Ich bin überhaupt zum ersten Male in die Stadt auf Arbeit . . . So, in Geschäften, schon! Aber um hier zu leben – das erste Mal,« sagte Wanjuschka und goß die Gläser zum zweiten Male voll.

»Ich auch . . . Ich hab' immer auf den Gütern gearbeitet. Aber da hab' ich einen Krach mit dem Verwalter gekriegt, und er hat mich an die Luft gesetzt . . . Der Hund, der fuchsrote!«

»Und mir ist der Vater vor kurzem gestorben. Jetzt bin ich selber erwachsen . . .«

Neben ihnen saßen an einem Tisch zwei Lastwagenkutscher, die vom Kopf bis zu den Füßen mit irgend etwas Weißem bespritzt waren. Sie stritten sich lärmend, und der eine – ein riesiger, alter Kerl – schlug jetzt mit der Faust auf den Tisch und schrie:

»Ja, und ganz recht ist's ihm geschehen!«

»Warum?« fragte der andere, ein schwarzbärtiger Mann mit einer Schramme auf der Stirn.

»Warum? . . . Jetzt sieht er's! Was war das für ein Arbeiter? Richtige Arbeiter – freilich – die sind das Mehl, der Teig, das Brot Gottes! Aber die andern, die, die ihre Sache nicht können, die sind wie das Unkraut . . . Abmähen! . . . Futter fürs Vieh . . . Zu weiter nichts sind sie gut . . .«

»Alle verdienen unser Mitleid in gleicher Weise,« sagte der Schwarzbärtige.

Salakin horchte darauf, was die beiden Streitenden vorbrachten, und sagte jetzt:

»Das ist nicht wahr . . .«

»Was denn?«

»Das mit dem Mitleid. Nimm mal mich an . . . Der Verwalter Matwé Iwanytsch – das ist mein Feind . . . Weshalb hat er sich grade auf mich gespitzt? Ich hab' zwei Jahre gearbeitet . . . Alles, wie es sich gehört hat . . . Auf einmal hat er sich auf mich verbissen, ich soll die Köchin, die Marja . . . und so Zeug! Und dann – die Leine . . . Immer ich . . . Die Leine – sie war fort! Such' sie! Und auf einmal: pack' dich! Ich hab' dich nicht nötig! . . . Was soll das sein? Er hat mich nicht nötig . . . Aber ich habe mich selbst sehr nötig, aber sehr . . . Ich muß doch leben! Na siehst du – kann ich vielleicht Mitleid haben mit ihm, mit dem Verwalter?«

Salakin schwieg eine Weile und sagte dann mit tiefer Überzeugtheit:

»Mitleid haben kann ich nur mit mir selbst und sonst mit gar niemand!«

»Natü–ürlich!« sagte Wanjuschka.

Nach dem dritten Glase stützten sie sich beide auf die Ellenbogen, Kopf an Kopf, erregt vom Branntwein und dem Spektakel. Und Salakin begann Wanjuschka lang, zusammenhanglos und glühend von seinem Leben zu erzählen.

»Ich bin ein Findelkind!« sagte er, »ich muß mein Leben tragen als Strafe für die Sünde meiner Mutter . . .«

Wanjuschka blickte in das blatternarbige, aufgeregte Gesicht seines Freundes. Er nickte ihm bekräftigend zu, und davon fing es sich in seinem Kopf heftig zu drehen an.

»Wanja! Bestell' noch ein halbes Fläschchen! Alles eins!« rief Salakin mit einer wegwerfend verzweifelten Handbewegung.

Wanjuschka erwiderte:

»Vo– von mir aus! . . .«

 


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