Johann Wolfgang von Goethe
Propyläen und Umkreis
Johann Wolfgang von Goethe

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Über strenge Urteile

Nichts ist dem Dilettantism mehr entgegen als feste Grundsätze und strenge Anwendung derselben.

Die Geschmackskritik wodurch wir genötigt werden sollen uns etwas gefallen oder mißfallen zu lassen ist selten völlig stringent weil Gefallen und Mißfallen selbst mächtiger bleibt als irgend ein Grundsatz.

Grundsätze aber, aus denen man herleitet was der Künstler zu tun habe führen schon mehr Gewicht bei sich, weil alsbald erprobt werden kann in wie fern sie praktisch auslangend sind obgleich auch bei der Anwendung manches Schwanken vorkommen möchte.

Möchten daher unsere Leser niemals vergessen daß wir mit Künstlern sprechen dem Freund, dem Liebhaber der Künste besonders dem, der sammelt und bezahlt wird es immer unvorschreiblich frei bleiben zu loben, zu schätzen sich zuzueignen was ihn persönlich am meisten behagt nur verlange er nicht daß wir einstimmen sollen ja er zürne nicht wenn wir ihn den Künstler manchmal zu rauben und auf andere Wege zu lenken vorhaben sollten.

Es tritt noch ein Fall besonders bei der Dichtkunst ein wir haben manchen ältern Schriften einen gewissen Grad unserer Bildung zu verdanken; wir erinnern uns aus der Jugend noch des guten und glücklichen Eindrucks den ein solches Werk auf uns machte wir halten es noch für gut wenn sich auch schon unser Geschmack gebessert hat ein gewisses frommes Vorurteil bleibt uns wie für alte Lehrer für Gegenstände früher Verehrung wahr ists daß jeder, der ohne auf einen höhern allgemeinern Standpunkt sich erhoben zu haben, wenn er über solche Gegenstände scherzt oder sie wohl gar verachtet, einen innern Vorwurf seines Gewissens fühlt ein zartes Gemüt rechnet sich solche Regungen als eine Impietät an daher ist es nicht zu verwundern wenn man sein Gewissen auch gleichsam zu den Gewissen anderer machen will. Man kann in Deutschland oft bemerken daß derjenige der einen sogenannten Lieblingsschriftsteller der Nation strenge tadelt immer wegen eines bösen Herzens in Argwohn steht, wenn auch seine Grundsätze und Argumente die Güte seines Kopfs ziemlich in Sicherheit setzen.

Wir sehen voraus daß wir auch manchmal in den Fall kommen werden daß ein Liebling der Menge nicht gerade auch unser Liebling sei und wollen die deshalb unvermeidlichen Vorwürfe gern über uns ergehen lassen nur werden wir manchmal erinnern daß wir nur mit dem Künstler sprechen und diesem Anlaß geben möchten das bestmöglichste sich selbst und andern zur Freude hervorzubringen. Indessen mag sich das Publikum ja an unsere Urteile nicht kehren lieben und verwerfen, wie es der Tag mit sich bringt scheint doch wenn man theoretische Aussprüche anhören soll die Überzeugung ziemlich allgemein zu sein und bei uns ist sie vollkommen daß kein neues Kunstwerk das gegen die Muster der Alten gestellt und nach Grundsätzen, die sich aus diesen entwickeln lassen, beurteilt würde völlig bestehen könne eben so allgemein ist angenommen daß ein Künstler am besten fährt der sich mit Genie, Geist und Kraft an die alten fest anzuschließen und sich nach ihnen zu bilden weiß und doch ist keine Frage, daß die besten Werke der Alten in glücklicher Übersetzung dem lebenden Publiko allgemein nicht so wohl behagen können als Werke gleichzeitiger Künstler, aus diesem Widerspruch entsteht ein Widerstreit des Praktischen und Theoretischen in welchem der arbeitende Künstler hin und wider geworfen wird ihn in diesem Falle so viel als möglich beizustehen, halten wir für Beruf und Pflicht und behaupten vielleicht mit einigem Anschein der Paradoxie daß gerade dem Künstler nicht gefallen dürfe was dem Publiko gefällt, so wenig der Pädagog sich nach den augenblicklichen Einfällen der Kinder, der Arzt nach der Sehnsucht und den Grillen des Patienten, der Richter sich um die Leidenschaften der Parteien zu kümmern hat, eben so wenig sieht der wahre Künstler das Gefallen als den Zweck seiner Arbeit an er meint es wie jene genannte Männer so gut er nur kann mit denen, für die er arbeitet aber er meint es noch besser mit sich selbst, mit einer Idee, die ihm vorschwebt, mit einem fernen Ziele das er sich steckt und zu dem er andere lieber mit ihrer Unzufriedenheit hinreißen mag als daß er sich mit ihnen auf halbem Wege lagerte.


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