Johann Wolfgang Goethe
Wilhelm Meisters Wanderjahre
Johann Wolfgang Goethe

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Zwölftes Kapitel

Die zu Odoardos Vortrag angesetzte Frist war gekommen, welcher, nachdem alles versammelt und beruhigt war, folgendermaßen zu reden begann: »Das bedeutende Werk, an welchem teilzunehmen ich diese Masse wackerer Männer einzuladen habe, ist Ihnen nicht ganz unbekannt, denn ich habe ja schon im allgemeinen mit Ihnen davon gesprochen. Aus meinen Eröffnungen geht hervor, daß in der alten Welt so gut wie in der neuen Räume sind, welche einen bessern Anbau bedürfen, als ihnen bisher zuteil ward. Dort hat die Natur große, weite Strecken ausgebreitet, wo sie unberührt und eingewildert liegt, daß man sich kaum getraut, auf sie loszugehen und ihr einen Kampf anzubieten. Und doch ist es leicht für den Entschlossenen, ihr nach und nach die Wüsteneien abzugewinnen und sich eines teilweisen Besitzes zu versichern. In der alten Welt ist es das Umgekehrte. Hier ist überall ein teilweiser Besitz schon ergriffen, mehr oder weniger durch undenkliche Zeit das Recht dazu geheiligt; und wenn dort das Grenzenlose als unüberwindliches Hindernis erscheint, so setzt hier das Einfachbegrenzte beinahe noch schwerer zu überwindende Hindernisse entgegen. Die Natur ist durch Emsigkeit, der Mensch durch Gewalt oder Überredung zu nötigen.

Wird der einzelne Besitz von der ganzen Gesellschaft für heilig geachtet, so ist er es dem Besitzer noch mehr. Gewohnheit, jugendliche Eindrücke, Achtung für Vorfahren, Abneigung gegen den Nachbar und hunderterlei Dinge sind es, die den Besitzer starr und gegen jede Veränderung widerwillig machen. Je älter dergleichen Zustände sind, je verflochtener, je geteilter, desto schwieriger wird es, das Allgemeine durchzuführen, das, indem es dem Einzelnen etwas nähme, dem Ganzen und durch Rück- und Mitwirkung auch jenem wieder unerwartet zugute käme.

Schon mehrere Jahre steh' ich im Namen meines Fürsten einer Provinz vor, die, von seinen Staaten getrennt, lange nicht so, wie es möglich wäre, benutzt wird. Eben diese Abgeschlossenheit oder Eingeschlossenheit, wenn man will, hindert, daß bisher keine Anstalt sich treffen ließ, die den Bewohnern Gelegenheit gegeben hätte, das, was sie vermögen, nach außen zu verbreiten, und von außen zu empfangen, was sie bedürfen.

Mit unumschränkter Vollmacht gebot ich in diesem Lande. Manches Gute war zu tun, aber doch immer nur ein beschränktes; dem Bessern waren überall Riegel vorgeschoben, und das Wünschenswerteste schien in einer andern Welt zu liegen.

Ich hatte keine andere Verpflichtung, als gut hauszuhalten. Was ist leichter als das! Ebenso leicht ist es, Mißbräuche zu beseitigen, menschlicher Fähigkeiten sich zu bedienen, den Bestrebsamen nachzuhelfen. Dies alles ließ sich mit Verstand und Gewalt recht bequem leisten, dies alles tat sich gewissermaßen von selbst. Aber wohin besonders meine Aufmerksamkeit, meine Sorge sich richtete, dies waren die Nachbarn, die nicht mit gleichen Gesinnungen, am wenigsten mit gleicher Überzeugung ihre Landesteile regierten und regieren ließen.

Beinahe hätte ich mich resigniert und mich innerhalb meiner Lage am besten gehalten und das Herkömmliche, so gut als es sich tun ließ, benutzt, aber ich bemerkte auf einmal, das Jahrhundert komme mir zu Hülfe. Jüngere Beamte wurden in der Nachbarschaft angestellt, sie hegten gleiche Gesinnungen, aber freilich nur im allgemeinen wohlwollend, und pflichteten nach und nach meinen Planen zu allseitiger Verbindung um so eher bei, als mich das Los traf, die größeren Aufopferungen zuzugestehen, ohne daß gerade jemand merkte, auch der größere Vorteil neige sich auf meine Seite.

So sind nun unser drei über ansehnliche Landesstrecken zu gebieten befugt, unsre Fürsten und Minister sind von der Redlichkeit und Nützlichkeit unsrer Vorschläge überzeugt; denn es gehört freilich mehr dazu, seinen Vorteil im Großen als im Kleinen zu übersehen. Hier zeigt uns immer die Notwendigkeit, was wir zu tun und zu lassen haben, und da ist denn schon genug, wenn wir diesen Maßstab ans Gegenwärtige legen; dort aber sollen wir eine Zukunft erschaffen, und wenn auch ein durchdringender Geist den Plan dazu fände, wie kann er hoffen, andere darin einstimmen zu sehen?

Noch würde dies dem einzelnen nicht gelingen; die Zeit, welche die Geister frei macht, öffnet zugleich ihren Blick ins Weitere, und im Weiteren läßt sich das Größere leicht erkennen, und eins der stärksten Hindernisse menschlicher Handlungen wird leichter zu entfernen. Dieses besteht nämlich darin, daß die Menschen wohl über die Zwecke einig werden, viel seltener aber über die Mittel, dahin zu gelangen. Denn das wahre Große hebt uns über uns selbst hinaus und leuchtet uns vor wie ein Stern; die Wahl der Mittel aber ruft uns in uns selbst zurück, und da wird der einzelne gerade, wie er war, und fühlt sich ebenso isoliert, als hätt' er vorher nicht ins Ganze gestimmt.

Hier also haben wir zu wiederholen: Das Jahrhundert muß uns zu Hülfe kommen, die Zeit an die Stelle der Vernunft treten und in einem erweiterten Herzen der höhere Vorteil den niedern verdrängen.

Hiermit sei es genug, und wär' es zu viel für den Augenblick, in der Folge werd' ich einen jeden Teilnehmer daran erinnern. Genaue Vermessungen sind geschehen, die Straßen bezeichnet, die Punkte bestimmt, wo man die Gasthöfe und in der Folge vielleicht die Dörfer heranrückt. Zu aller Art von Baulichkeiten ist Gelegenheit, ja Notwendigkeit vorhanden. Treffliche Baumeister und Techniker bereiten alles vor; Risse und Anschläge sind gefertigt; die Absicht ist, größere und kleinere Akkorde abzuschließen und so mit genauer Kontrolle die bereitliegenden Geldsummen, zur Verwunderung des Mutterlandes, zu verwenden: da wir denn der schönsten Hoffnung leben, es werde sich eine vereinte Tätigkeit nach allen Seiten von nun an entwickeln.

Worauf ich nun aber die sämtlichen Teilnehmer aufmerksam zu machen habe, weil es vielleicht auf ihre Entschließung Einfluß haben könnte, ist die Einrichtung, die Gestalt, in welche wir alle Mitwirkenden vereinigen und ihnen eine würdige Stellung unter sich und gegen die übrige bürgerliche Welt zu schaffen gedenken.

Sobald wir jenen bezeichneten Boden betreten, werden die Handwerke sogleich für Künste erklärt und durch die Bezeichnung ›strenge Künste‹ von den ›freien‹ entschieden getrennt und abgesondert. Diesmal kann hier nur von solchen Beschäftigungen die Rede sein, welche den Aufbau sich zur Angelegenheit machen; die sämtlichen hier anwesenden Männer, jung und alt, bekennen sich zu dieser Klasse.

Zählen wir sie her in der Folge, wie sie den Bau in die Höhe richten und nach und nach zur Wohnbarkeit befördern.

Die Steinmetzen nenn' ich voraus, welche den Grund- und Eckstein vollkommen bearbeiten, den sie mit Beihülfe der Maurer am rechten Ort in der genauesten Bezeichnung niedersenken. Die Maurer folgen hierauf, die auf den streng untersuchten Grund das Gegenwärtige und Zukünftige wohl befestigen. Früher oder später bringt der Zimmermann seine vorbereiteten Kontignationen herbei, und so steigt nach und nach das Beabsichtigte in die Höhe. Den Dachdecker rufen wir eiligst herbei; im Innern bedürfen wir des Tischers, Glasers, Schlossers, und wenn ich den Tüncher zuletzt nenne, so geschieht es, weil er mit seiner Arbeit zur verschiedensten Zeit eintreten kann, um zuletzt dem Ganzen in- und auswendig einen gefälligen Schein zu geben. Mancher Hülfsarbeiten gedenk' ich nicht, nur die Hauptsache verfolgend.

Die Stufen von Lehrling, Gesell und Meister müssen aufs strengste beobachtet werden; auch können in diesen viele Abstufungen gelten, aber Prüfungen können nicht sorgfältig genug sein. Wer herantritt, weiß, daß er sich einer strengen Kunst ergibt, und er darf keine läßlichen Forderungen von ihr erwarten; ein einziges Glied, das in einer großen Kette bricht, vernichtet das Ganze. Bei großen Unternehmungen wie bei großen Gefahren muß der Leichtsinn verbannt sein.

Gerade hier muß die strenge Kunst der freien zum Muster dienen und sie zu beschämen trachten. Sehen wir die sogenannten freien Künste an, die doch eigentlich in einem höhern Sinne zu nehmen und zu nennen sind, so findet man, daß es ganz gleichgültig ist, ob sie gut oder schlecht betrieben werden. Die schlechteste Statue steht auf ihren Füßen wie die beste, eine gemalte Figur schreitet mit verzeichneten Füßen gar munter vorwärts, ihre mißgestalteten Arme greifen gar kräftig zu, die Figuren stehen nicht auf dem richtigen Plan, und der Boden fällt deswegen nicht zusammen. Bei der Musik ist es noch auffallender; die gellende Fiedel einer Dorfschenke erregt die wackern Glieder aufs kräftigste, und wir haben die unschicklichsten Kirchenmusiken gehört, bei denen der Gläubige sich erbaute. Wollt ihr nun gar auch die Poesie zu den freien Künsten rechnen, so werdet ihr freilich sehen, daß diese kaum weiß, wo sie eine Grenze finden soll. Und doch hat jede Kunst ihre innern Gesetze, deren Nichtbeobachtung aber der Menschheit keinen Schaden bringt; dagegen die strengen Künste dürfen sich nichts erlauben. Den freien Künstler darf man loben, man kann an seinen Vorzügen Gefallen finden, wenngleich seine Arbeit bei näherer Untersuchung nicht Stich hält.

Betrachten wir aber die beiden, sowohl die freien als strengen Künste, in ihren vollkommensten Zuständen, so hat sich diese vor Pedanterei und Bocksbeutelei, jene vor Gedankenlosigkeit und Pfuscherei zu hüten. Wer sie zu leiten hat, wird hierauf aufmerksam machen, Mißbräuche und Mängel werden dadurch verhütet werden.

Ich wiederhole mich nicht, denn unser ganzes Leben wird eine Wiederholung des Gesagten sein; ich bemerke nur noch folgendes: Wer sich einer strengen Kunst ergibt, muß sich ihr fürs Leben widmen. Bisher nannte man sie Handwerk, ganz angemessen und richtig; die Bekenner sollten mit der Hand wirken, und die Hand, soll sie das, so muß ein eigenes Leben sie beseelen, sie muß eine Natur für sich sein, ihre eignen Gedanken, ihren eignen Willen haben, und das kann sie nicht auf vielerlei Weise.«

Nachdem der Redende mit noch einigen hinzugefügten guten Worten geschlossen hatte, richteten die sämtlichen Anwesenden sich auf, und die Gewerke, anstatt abzuziehen, bildeten einen regelmäßigen Kreis vor der Tafel der anerkannten Oberen. Odoard reichte den sämtlichen ein gedrucktes Blatt umher, wovon sie, nach einer bekannten Melodie, mäßig munter ein zutrauliches Lied sangen:

»Bleiben, Gehen, Gehen, Bleiben
Sei fortan dem Tücht'gen gleich.
Wo wir Nützliches betreiben,
Ist der werteste Bereich.
Dir zu folgen, wird ein Leichtes,
Wer gehorchet, der erreicht es,
Zeig' ein festes Vaterland.
Heil dem Führer!     Heil dem Band!

Du verteilest Kraft und Bürde
Und erwägst es ganz genau,
Gibst dem Alten Ruh' und Würde,
Jünglingen Geschäft und Frau.
Wechselseitiges Vertrauen
Wird ein reinlich Häuschen bauen,
Schließen Hof und Gartenzaun,
Auch der Nachbarschaft vertraun.

Wo an wohlgebahnten Straßen
Man in neuer Schenke weilt,
Wo dem Fremdling reicher Maßen
Ackerfeld ist zugeteilt,
Siedeln wir uns an mit andern.
Eilet, eilet, einzuwandern
In das feste Vaterland.
Heil dir Führer!  Heil dir Band!«


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