Johann Wolfgang Goethe
Wilhelm Meisters Wanderjahre
Johann Wolfgang Goethe

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Drittes Kapitel

Vorstehender wunderliche Brief war freilich schon lange geschrieben und hin und wider getragen worden, bis er endlich, der Aufschrift gemäß, diesmal abgegeben werden konnte. Wilhelm nahm sich vor, mit dem ersten Boten, dessen Absendung bevorstand, freundlich, aber ablehnend zu antworten. Hersilie schien die Entfernung nicht zu berechnen, und er war gegenwärtig zu ernstlich beschäftigt, als daß ihn auch nur die mindeste Neugierde, was in jenem Kästchen befindlich sein möchte, hätte reizen dürfen.

Auch gaben ihm einige Unfälle, die den derbsten Gliedern dieser tüchtigen Gesellschaft begegneten, Gelegenheit, sich meisterhaft in der von ihm ergriffenen Kunst zu beweisen. Und wie ein Wort das andere gibt, so folgt noch glücklicher eine Tat aus der andern, und wenn dadurch zuletzt auch wieder Worte veranlaßt werden, so sind diese um so fruchtbarer und geisterhebender. Die Unterhaltungen waren daher so belehrend als ergötzlich, denn die Freunde gaben sich wechselseitig Rechenschaft vom Gange des bisherigen Lernens und Tuns, woraus eine Bildung entstanden war, die sie wechselseitig erstaunen machte, dergestalt, daß sie sich untereinander erst selbst wieder mußten kennen lernen.

Eines Abends also fing Wilhelm seine Erzählung an: »Meine Studien als Wundarzt suchte ich sogleich in einer großen Anstalt der größten Stadt, wo sie nur allein möglich wird, zu fördern; zur Anatomie als Grundstudium wendete ich mich sogleich mit Eifer.

Auf eine sonderbare Weise, welche niemand erraten würde, war ich schon in Kenntnis der menschlichen Gestalt weit vorgeschritten, und zwar während meiner theatralischen Laufbahn; alles genau besehen, spielt denn doch der körperliche Mensch da die Hauptrolle, ein schöner Mann, eine schöne Frau! Ist der Direktor glücklich genug, ihrer habhaft zu werden, so sind Komödien- und Tragödiendichter geborgen. Der losere Zustand, in dem eine solche Gesellschaft lebt, macht ihre Genossen mehr mit der eigentlichen Schönheit der unverhüllten Glieder bekannt als irgendein anderes Verhältnis; selbst verschiedene Kostüms nötigen, zur Evidenz zu bringen, was sonst herkömmlich verhüllt wird. Hievon hätt' ich viel zu sagen, so auch von körperlichen Mängeln, welche der kluge Schauspieler an sich und andern kennen muß, um sie, wo nicht zu verbessern, wenigstens zu verbergen, und auf diese Weise war ich vorbereitet genug, dem anatomischen Vortrag, der die äußern Teile näher kennen lehrte, eine folgerechte Aufmerksamkeit zu schenken; so wie mir denn auch die innern Teile nicht fremd waren, indem ein gewisses Vorgefühl davon mir immer gegenwärtig geblieben war. Unangenehm hindernd war bei dem Studium die immer wiederholte Klage vom Mangel der Gegenstände, über die nicht hinreichende Anzahl der verblichenen Körper, die man zu so hohen Zwecken unter das Messer wünschte. Solche, wo nicht hinreichend, doch in möglichster Zahl zu verschaffen, hatte man harte Gesetze ergehen lassen, nicht allein Verbrecher, die ihr Individuum in jedem Sinne verwirkt, sondern auch andere körperlich, geistig verwahrloste Umgekommene wurden in Anspruch genommen.

Mit dem Bedürfnis wuchs die Strenge und mit dieser der Widerwille des Volks, das in sittlicher und religioser Ansicht seine Persönlichkeit und die Persönlichkeit geliebter Personen nicht aufgeben kann.

Immer weiter aber stieg das Übel, indem die verwirrende Sorge hervortrat, daß man auch sogar für die friedlichen Gräber geliebter Abgeschiedener zu fürchten habe. Kein Alter, keine Würde, weder Hohes noch Niedriges war in seiner Ruhestätte mehr sicher; der Hügel, den man mit Blumen geschmückt, die Inschriften, mit denen man das Andenken zu erhalten getrachtet, nichts konnte gegen die einträgliche Raubsucht schützen; der schmerzlichste Abschied schien aufs grausamste gestört, und indem man sich vom Grabe wegwendete, mußte schon die Furcht empfunden werden, die geschmückten, beruhigten Glieder geliebter Personen getrennt, verschleppt und entwürdigt zu wissen.

Alles dieses kam wiederholt und immer durchgedroschener zur Sprache, ohne daß irgend jemand an ein Hülfsmittel gedacht hätte oder daran hätte denken können, und immer allgemeiner wurden die Beschwerden, als junge Männer, die mit Aufmerksamkeit den Lehrvortrag gehört, sich auch mit Hand und Auge von dem bisher Gesehenen und Vernommenen überzeugen und sich die so notwendige Kenntnis immer tiefer und lebendiger der Einbildungskraft überliefern wollten.

In solchen Augenblicken entsteht eine Art von unnatürlichem wissenschaftlichem Hunger, welcher nach der widerwärtigsten Befriedigung wie nach dem Anmutigsten und Notwendigsten zu begehren aufregt.

Schon einige Zeit hatte ein solcher Aufschub und Aufenthalt die Wissens- und Tatlustigen beschäftigt und unterhalten, als endlich ein Fall, über den die Stadt in Bewegung geriet, eines Morgens das Für und Wider für einige Stunden heftig hervorrief. Ein sehr schönes Mädchen, verwirrt durch unglückliche Liebe, hatte den Tod im Wasser gesucht und gefunden; die Anatomie bemächtigte sich derselbigen; vergebens war die Bemühung der Eltern, Verwandten, ja des Liebhabers selbst, der nur durch falschen Argwohn verdächtig geworden. Die obern Behörden, die soeben das Gesetz geschärft hatten, durften keine Ausnahme bewilligen; auch eilte man, so schnell als möglich die Beute zu benutzen und zur Benutzung zu verteilen.«

Wilhelm, der als nächster Aspirant gleichfalls berufen wurde, fand vor dem Sitze, den man ihm anwies, auf einem saubern Brette, reinlich zugedeckt, eine bedenkliche Aufgabe; denn als er die Hülle wegnahm, lag der schönste weibliche Arm zu erblicken, der sich wohl jemals um den Hals eines Jünglings geschlungen hatte. Er hielt sein Besteck in der Hand und getraute sich nicht, es zu eröffnen; er stand und getraute nicht niederzusitzen. Der Widerwille, dieses herrliche Naturerzeugnis noch weiter zu entstellen, stritt mit der Anforderung, welche der wissensbegierige Mann an sich zu machen hat und welcher sämtliche Umhersitzende Genüge leisteten.

In diesen Augenblicken trat ein ansehnlicher Mann zu ihm, den er zwar als einen seltenen, aber immer als einen sehr aufmerksamen Zuhörer und Zuschauer bemerkt und demselben schon nachgefragt hatte; niemand aber konnte nähere Auskunft geben; daß es ein Bildhauer sei, darin war man einig; man hielt ihn aber auch für einen Goldmacher, der in einem großen, alten Hause wohne, dessen erste Flur allein den Besuchenden oder bei ihm Beschäftigten zugänglich, die übrigen sämtlichen Räume jedoch verschlossen seien. Dieser Mann hatte sich Wilhelmen verschiedentlich genähert, war mit ihm aus der Stunde gegangen, wobei er jedoch alle weitere Verbindung und Erklärung zu vermeiden schien.

Diesmal jedoch sprach er mit einer gewissen Offenheit: »Ich sehe, Sie zaudern, Sie staunen das schöne Gebild an, ohne es zerstören zu können; setzen Sie sich über das Gildegefühl hinaus und folgen Sie mir.« Hiermit deckte er den Arm wieder zu, gab dem Saaldiener einen Wink, und beide verließen den Ort. Schweigend gingen sie nebeneinander her, als der Halbbekannte vor einem großen Tore stillestand, dessen Pförtchen er aufschloß und unsern Freund hineinnötigte, der sich sodann auf einer Tenne befand, groß, geräumig, wie wir sie in alten Kaufhäusern sehen, wo die ankommenden Kisten und Ballen sogleich untergefahren werden. Hier standen Gipsabgüsse von Statuen und Büsten, auch Bohlenverschläge gepackt und leer. »Es sieht hier kaufmännisch aus«, sagte der Mann; »der von hier aus mögliche Wassertransport ist für mich unschätzbar.« Dieses alles paßte nun ganz gut zu dem Gewerb eines Bildhauers; ebenso konnte Wilhelm nichts anders finden, als der freundliche Wirt ihn wenige Stufen hinauf in ein geräumiges Zimmer führte, das ringsumher mit Hoch- und Flachgebilden, mit größeren und kleineren Figuren, Büsten und wohl auch einzelnen Gliedern der schönsten Gestalten geziert war. Mit Vergnügen betrachtete unser Freund dies alles und horchte gern den belehrenden Worten seines Wirtes, ob er gleich noch eine große Kluft zwischen diesen künstlerischen Arbeiten und den wissenschaftlichen Bestrebungen, von denen sie herkamen, gewahren mußte. Endlich sagte der Hausbesitzer mit einigem Ernst: »Warum ich Sie hierher führe, werden Sie leicht einsehen; diese Türe«, fuhr er fort, indem er sich nach der Seite wandte, »liegt näher an der Saaltüre, woher wir kommen, als Sie denken mögen.« Wilhelm trat hinein und hatte freilich zu erstaunen, als er, statt wie in den vorigen Nachbildung lebender Gestalten zu sehen, hier die Wände durchaus mit anatomischen Zergliederungen ausgestattet fand; sie mochten in Wachs oder sonstiger Masse verfertigt sein, genug, sie hatten durchaus das frische, farbige Ansehen erst fertig gewordener Präparate. »Hier, mein Freund«, sagte der Künstler, »hier sehen Sie schätzenswerte Surrogate für jene Bemühungen, die wir, mit dem Widerwillen der Welt, zu unzeitigen Augenblicken mit Ekel oft und großer Sorgfalt dem Verderben oder einem widerwärtigen Aufbewahren vorbereiten. Ich muß dieses Geschäft im tiefsten Geheimnis betreiben, denn Sie haben gewiß oft schon Männer vom Fach mit Geringschätzung davon reden hören. Ich lasse mich nicht irremachen und bereite etwas vor, welches in der Folge gewiß von großer Einwirkung sein wird. Der Chirurg besonders, wenn er sich zum plastischen Begriff erhebt, wird der ewig fortbildenden Natur bei jeder Verletzung gewiß am besten zu Hülfe kommen; den Arzt selbst würde ein solcher Begriff bei seinen Funktionen erheben. Doch lassen Sie uns nicht viel Worte machen! Sie sollen in kurzem erfahren, daß Aufbauen mehr belehrt als Einreißen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr als das Getötete noch weiter töten; kurz also, wollen Sie mein Schüler sein?« Und auf Bejahung legte der Wissende dem Gaste das Knochenskelett eines weiblichen Armes vor, in der Stellung, wie sie jenen vor kurzem vor sich gesehen hatten. »Ich habe«, fuhr der Meister fort, »zu bemerken gehabt, wie Sie der Bänderlehre durchaus Aufmerksamkeit schenkten und mit Recht, denn mit ihnen beginnt sich für uns das tote Knochengerassel erst wieder zu beleben; Hesekiel mußte sein Gebeinfeld sich erst auf diese Weise wieder sammeln und fügen sehen, ehe die Glieder sich regen, die Arme tasten und die Füße sich aufrichten konnten. Hier ist biegsame Masse, Stäbchen und was sonst nötig sein möchte; nun versuchen Sie Ihr Glück.«

Der neue Schüler nahm seine Gedanken zusammen, und als er die Knochenteile näher zu betrachten anfing, sah er, daß diese künstlich von Holz geschnitzt seien. »Ich habe«, versetzte der Lehrer, »einen geschickten Mann, dessen Kunst nach Brote ging, indem die Heiligen und Märtyrer, die er zu schnitzen gewohnt war, keinen Abgang mehr fanden, ihn hab' ich darauf geleitet, sich der Skelettbildung zu bemächtigen und solche im großen wie im kleinen naturgemäß zu befördern.«

Nun tat unser Freund sein Bestes und erwarb sich den Beifall des Anleitenden. Dabei war es ihm angenehm, sich zu erproben, wie stark oder schwach die Erinnerung sei, und er fand zu vergnüglicher Überraschung, daß sie durch die Tat wieder hervorgerufen werde; er gewann Leidenschaft für diese Arbeit und ersuchte den Meister, in seine Wohnung aufgenommen zu werden. Hier nun arbeitete er unablässig; auch waren die Knochen und Knöchelchen des Armes in kurzer Zeit gar schicklich verbunden. Von hier aber sollten die Sehnen und Muskeln ausgehen, und es schien eine völlige Unmöglichkeit, den ganzen Körper auf diese Weise nach allen seinen Teilen gleichmäßig herzustellen. Hiebei tröstete ihn der Lehrer, indem er die Vervielfältigung durch Abformung sehen ließ, da denn das Nacharbeiten, das Reinbilden der Exemplare eben wieder neue Anstrengung, neue Aufmerksamkeit verlangte.

Alles, worein der Mensch sich ernstlich einläßt, ist ein Unendliches; nur durch wetteifernde Tätigkeit weiß er sich dagegen zu helfen; auch kam Wilhelm bald über den Zustand von Gefühl seines Unvermögens, welches immer eine Art von Verzweiflung ist, hinaus und fand sich behaglich bei der Arbeit. »Es freut mich«, sagte der Meister, »daß Sie sich in diese Verfahrungsart zu schicken wissen und daß Sie mir ein Zeugnis geben, wie fruchtbar eine solche Methode sei, wenn sie auch von den Meistern des Fachs nicht anerkannt wird. Es muß eine Schule geben, und diese wird sich vorzüglich mit Überlieferung beschäftigen; was bisher geschehen ist, soll auch künftig geschehen, das ist gut und mag und soll so sein. Wo aber die Schule stockt, das muß man bemerken und wissen; das Lebendige muß man ergreifen und üben, aber im stillen, sonst wird man gehindert und hindert andere. Sie haben lebendig gefühlt und zeigen es durch Tat, Verbinden heißt mehr als Trennen, Nachbilden mehr als Ansehen.«


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