Johann Wolfgang Goethe
Wilhelm Meisters Wanderjahre
Johann Wolfgang Goethe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Vater und Sohn waren, von einem Reitknecht begleitet, durch eine angenehme Gegend gekommen, als dieser, im Angesicht einer hohen Mauer, die einen weiten Bezirk zu umschließen schien, stillehaltend, bedeutete, sie möchten nun zu Fuße sich dem großen Tore nähern, weil kein Pferd in diesen Kreis eingelassen würde. Sie zogen die Glocke, das Tor eröffnete sich, ohne daß eine Menschengestalt sichtbar geworden wäre, und sie gingen auf ein altes Gebäude los, das zwischen uralten Stämmen von Buchen und Eichen ihnen entgegenschimmerte. Wunderbar war es anzusehen, denn so alt es der Form nach schien, so war es doch, als wenn Maurer und Steinmetzen soeben erst abgegangen wären, dergestalt neu, vollständig und nett erschienen die Fugen wie die ausgearbeiteten Verzierungen.

Der metallne, schwere Ring an einer wohlgeschnitzten Pforte lud sie ein zu klopfen, welches Felix mutwillig etwas unsanft verrichtete; auch diese Tür sprang auf, und sie fanden zunächst auf der Hausflur ein Frauenzimmer sitzen von mittlerem Alter, am Stickrahmen mit einer wohlgezeichneten Arbeit beschäftigt. Diese begrüßte sogleich die Ankommenden als schon gemeldet und begann ein heiteres Lied zu singen, worauf sogleich aus einer benachbarten Türe ein Frauenzimmer heraustrat, das man für die Beschließerin und tätige Haushälterin, nach den Anhängseln ihres Gürtels, ohne weiteres zu erkennen hatte. Auch diese freundlich grüßend führte die Fremden eine Treppe hinauf und eröffnete ihnen einen Saal, der sie ernsthaft ansprach, weit, hoch, ringsum getäfelt, oben drüber eine Reihenfolge historischer Schilderungen. Zwei Personen traten ihnen entgegen, ein jüngeres Frauenzimmer und ein ältlicher Mann.

Jene hieß den Gast sogleich freimütig willkommen. »Sie sind«, sagte sie, »als einer der Unsern angemeldet. Wie soll ich Ihnen aber kurz und gut den Gegenwärtigen vorstellen? Er ist unser Hausfreund im schönsten und weitesten Sinne, bei Tage der belehrende Gesellschafter, bei Nacht Astronom, und Arzt zu jeder Stunde.«

»Und ich«, versetzte dieser freundlich, »empfehle Ihnen dieses Frauenzimmer als die bei Tage unermüdete Geschäftige, bei Nacht, wenn's not tut, gleich bei der Hand, und immerfort die heiterste Lebensbegleiterin.«

Angela, so nannte man die durch Gestalt und Betragen einnehmende Schöne, verkündigte sodann die Ankunft Makariens; ein grüner Vorhang zog sich auf, und eine ältliche, wunderwürdige Dame ward auf einem Lehnsessel von zwei jungen, hübschen Mädchen hereingeschoben, wie von zwei andern ein runder Tisch mit erwünschtem Frühstück. In einem Winkel der ringsumher gehenden massiven eichenen Bänke waren Kissen gelegt, darauf setzten sich die obigen dreie, Makarie in ihrem Sessel gegen ihnen über. Felix verzehrte sein Frühstück stehend, im Saal umherwandelnd und die ritterlichen Bilder über dem Getäfel neugierig betrachtend.

Makarie sprach zu Wilhelm als einem Vertrauten, sie schien sich in geistreicher Schilderung ihrer Verwandten zu erfreuen; es war, als wenn sie die innere Natur eines jeden durch die ihn umgebende individuelle Maske durchschaute. Die Personen, welche Wilhelm kannte, standen wie verklärt vor seiner Seele, das einsichtige Wohlwollen der unschätzbaren Frau hatte die Schale losgelöst und den gesunden Kern veredelt und belebt.

Nachdem nun diese angenehmen Gegenstände durch die freundlichste Behandlung erschöpft waren, sprach sie zu dem würdigen Gesellschafter: »Sie werden von der Gegenwart dieses neuen Freundes nicht wiederum Anlaß zu einer Entschuldigung finden und die versprochene Unterhaltung abermals verspäten; er scheint von der Art, wohl auch daran teilzunehmen.«

Jener aber versetzte darauf: »Sie wissen, welche Schwierigkeit es ist, sich über diese Gegenstände zu erklären, denn es ist von nichts wenigerem als von dem Mißbrauch fürtrefflicher und weit auslangender Mittel die Rede.«

»Ich geb' es zu«, versetzte Makarie, »denn man kommt in doppelte Verlegenheit. Spricht man von Mißbrauch, so scheint man die Würde des Mittels selbst anzutasten, denn es liegt ja immer noch in dem Mißbrauch verborgen; spricht man von Mittel, so kann man kaum zugeben, daß seine Gründlichkeit und Würde irgendeinen Mißbrauch zulasse. Indessen, da wir unter uns sind, nichts festsetzen, nichts nach außen wirken, sondern nur uns aufklären wollen, so kann das Gespräch immer vorwärtsgehen.«

»Doch müßten wir«, versetzte der bedächtige Mann, »vorher anfragen, ob unser neuer Freund auch Lust habe, an einer gewissermaßen abstrusen Materie teilzunehmen, und ob er nicht vorzöge, in seinem Zimmer einer nötigen Ruhe zu pflegen. Sollte wohl unsere Angelegenheit, außer dem Zusammenhange, ohne Kenntnis, wie wir darauf gelangt, von ihm gern und günstig aufgenommen werden?«

»Wenn ich das, was Sie gesagt haben, mir durch etwas Analoges erklären möchte, so scheint es ungefähr der Fall zu sein, wenn man die Heuchelei angreift und eines Angriffs auf die Religion beschuldigt werden kann.«

»Wir können die Analogie gelten lassen«, versetzte der Hausfreund, »denn es ist auch hier von einem Komplex mehrerer bedeutender Menschen, von einer hohen Wissenschaft, von einer wichtigen Kunst und, daß ich kurz sei, von der Mathematik die Rede.«

»Ich habe«, versetzte Wilhelm, »wenn ich auch über die fremdesten Gegenstände sprechen hörte, mir immer etwas daraus nehmen können: denn alles, was den einen Menschen interessiert, wird auch in dem andern einen Anklang finden.«

»Vorausgesetzt«, sagte jener, »daß er sich eine gewisse Freiheit des Geistes erworben habe; und da wir Ihnen dies zutrauen, so will ich von meiner Seite wenigstens Ihrem Verharren nichts entgegenstellen.«

»Was aber fangen wir mit Felix an?« fragte Makarie, »welcher, wie ich sehe, mit der Betrachtung jener Bilder schon fertig ist und einige Ungeduld merken läßt.«

»Vergönnt mir, diesem Frauenzimmer etwas ins Ohr zu sagen«, versetzte Felix, raunte Angela etwas stille zu, die sich mit ihm entfernte, bald aber lächelnd zurückkam, da denn der Hausfreund folgendermaßen zu reden anfing.

»In solchen Fällen, wo man irgend eine Mißbilligung, einen Tadel, auch nur ein Bedenken aussprechen soll, nehme ich nicht gern die Initiative; ich suche mir eine Autorität, bei welcher ich mich beruhigen kann, indem ich finde, daß mir ein anderer zur Seite steht. Loben tu' ich ohne Bedenken, denn warum soll ich verschweigen, wenn mir etwas zusagt? sollte es auch meine Beschränktheit ausdrücken, so hab' ich mich deren nicht zu schämen; tadle ich aber, so kann mir begegnen, daß ich etwas Fürtreffliches abweise, und dadurch zieh' ich mir die Mißbilligung anderer zu, die es besser verstehen; ich muß mich zurücknehmen, wenn ich aufgeklärt werde. Deswegen bring' ich hier einiges Geschriebene, sogar Übersetzungen mit: denn ich traue in solchen Dingen meiner Nation so wenig als mir selbst; eine Zustimmung aus der Ferne und Fremde scheint mir mehr Sicherheit zu geben.« Er fing nunmehr nach erhaltener Erlaubnis folgendermaßen zu lesen an. –

Wenn wir aber uns bewogen finden, diesen werten Mann nicht lesen zu lassen, so werden es unsere Gönner wahrscheinlich geneigt aufnehmen, denn was oben gegen das Verweilen Wilhelms bei dieser Unterhaltung gesagt worden, gilt noch mehr in dem Falle, in welchem wir uns befinden. Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und wenn dieser hie und da schon mehr als billig didaktisch geworden, so finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch weiter auf die Probe zu stellen. Die Papiere, die uns vorliegen, gedenken wir an einem andern Orte abdrucken zu lassen und fahren diesmal im Geschichtlichen ohne weiteres fort, da wir selbst ungeduldig sind, das obwaltende Rätsel endlich aufgeklärt zu sehen.

Enthalten können wir uns aber doch nicht, ferner einiges zu erwähnen, was noch vor dem abendlichen Scheiden dieser edlen Gesellschaft zur Sprache kam. Wilhelm, nachdem er jener Vorlesung aufmerksam zugehört, äußerte ganz unbewunden: »Hier vernehme ich von großen Naturgaben, Fähigkeiten und Fertigkeiten, und doch zuletzt, bei ihrer Anwendung, manches Bedenken. Sollte ich mich darüber ins Kurze fassen, so würde ich ausrufen: ›Große Gedanken und ein reines Herz, das ist's, was wir uns von Gott erbitten sollten!‹«

Diesen verständigen Worten Beifall gebend, löste die Versammlung sich auf; der Astronom aber versprach, Wilhelm in dieser herrlichen, klaren Nacht an den Wundern des gestirnten Himmels vollkommen teilnehmen zu lassen.

Nach einigen Stunden ließ der Astronom seinen Gast die Treppen zur Sternwarte sich hinaufwinden und zuletzt allein auf die völlig freie Fläche eines runden, hohen Turmes heraustreten. Die heiterste Nacht, von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden, welcher zum erstenmale das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen Herrlichkeit zu erblicken glaubte. Denn im gemeinen Leben, abgerechnet die ungünstige Witterung, die uns so oft den Glanzraum des Äthers verbirgt, hindern uns zu Hause bald Dächer und Giebel, auswärts bald Wälder und Felsen, am meisten aber überall die inneren Beunruhigungen des Gemüts, die, uns alle Umwelt mehr als Nebel und Mißwetter zu verdüstern, sich hin und her bewegen.

Ergriffen und erstaunt hielt er sich beide Augen zu. Das Ungeheure hört auf, erhaben zu sein, es überreicht unsre Fassungskraft, es droht, uns zu vernichten. »Was bin ich denn gegen das All?« sprach er zu seinem Geiste; »wie kann ich ihm gegenüber, wie kann ich in seiner Mitte stehen?« Nach einem kurzen Überdenken jedoch fuhr er fort: »Das Resultat unsres heutigen Abends löst ja auch das Rätsel des gegenwärtigen Augenblicks. Wie kann sich der Mensch gegen das Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte, die nach vielen Seiten hingezogen werden, in seinem Innersten, Tiefsten versammelt, wenn er sich fragt: ›Darfst du dich in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes, um einen reinen Mittelpunkt kreisend, hervortut? Und selbst wenn es dir schwer würde, diesen Mittelpunkt in deinem Busen aufzufinden, so würdest du ihn daran erkennen, daß eine wohlwollende, wohltätige Wirkung von ihm ausgeht und von ihm Zeugnis gibt.‹

Wer soll, wer kann aber auf sein vergangenes Leben zurückblicken, ohne gewissermaßen irre zu werden, da er meistens finden wird, daß sein Wollen richtig, sein Tun falsch, sein Begehren tadelhaft und sein Erlangen dennoch erwünscht gewesen?

Wie oft hast du diese Gestirne leuchten gesehen, und haben sie dich nicht jederzeit anders gefunden? sie aber sind immer dieselbigen und sagen immer dasselbige: ›Wir bezeichnen‹, wiederholten sie, ›durch unsern gesetzmäßigen Gang Tag und Stunde; frage dich auch, wie verhältst du dich zu Tag und Stunde?‹ – Und so kann ich denn diesmal antworten: ›Des gegenwärtigen Verhältnisses hab' ich mich nicht zu schämen, meine Absicht ist, einen edlen Familienkreis in allen seinen Gliedern erwünscht verbunden herzustellen; der Weg ist bezeichnet. Ich soll erforschen, was edle Seelen auseinanderhält, soll Hindernisse wegräumen, von welcher Art sie auch seien.‹ Dies darfst du vor diesen himmlischen Heerscharen bekennen; achteten sie deiner, sie würden zwar über deine Beschränktheit lächeln, aber sie ehrten gewiß deinen Vorsatz und begünstigten dessen Erfüllung.«

Bei diesen Worten oder Gedanken wendete er sich, umherzusehen, da fiel ihm Jupiter in die Augen, das Glücksgestirn, so herrlich leuchtend als je; er nahm das Omen als günstig auf und verharrte freudig in diesem Anschauen eine Zeitlang.

Hierauf sogleich berief ihn der Astronom herabzukommen und ließ ihn eben dieses Gestirn durch ein vollkommenes Fernrohr in bedeutender Größe, begleitet von seinen Monden, als ein himmlisches Wunder anschauen.

Als unser Freund lange darin versunken geblieben, wendete er sich um und sprach zu dem Sternfreunde: »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen danken soll, daß Sie mir dieses Gestirn so über alles Maß näher gerückt. Als ich es vorhin sah, stand es im Verhältnis zu dem übrigen Unzähligen des Himmels und zu mir selbst; jetzt aber tritt es in meiner Einbildungskraft unverhältnismäßig hervor, und ich weiß nicht, ob ich die übrigen Scharen gleicherweise heranzuführen wünschen sollte. Sie werden mich einengen, mich beängstigen.«

So erging sich unser Freund nach seiner Gewohnheit weiter, und es kam bei dieser Gelegenheit manches Unerwartete zur Sprache. Auf einiges Erwidern des Kunstverständigen versetzte Wilhelm: »Ich begreife recht gut, daß es euch Himmelskundigen die größte Freude gewähren muß, das ungeheure Weltall nach und nach so heranzuziehen, wie ich hier den Planeten sah und sehe. Aber erlauben Sie mir, es auszusprechen: ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu Hülfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner innern Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen. Sooft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir selbst nicht; ich sehe mehr, als ich sehen sollte, die schärfer gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Innern, und ich lege die Gläser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses oder jenes in der Ferne beschaffen sein möchte, befriedigt ist.«

Auf einige scherzhafte Bemerkungen des Astronomen fuhr Wilhelm fort: »Wir werden diese Gläser so wenig als irgendein Maschinenwesen aus der Welt bannen, aber dem Sittenbeobachter ist es wichtig, zu erforschen und zu wissen, woher sich manches in die Menschheit eingeschlichen hat, worüber man sich beklagt. So bin ich z. B. überzeugt, daß die Gewohnheit, Annäherungsbrillen zu tragen, an dem Dünkel unserer jungen Leute hauptsächlich schuld hat.«


 << zurück weiter >>