Simon Gfeller
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Simon Gfeller

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Vermächtnis

Aufzeichnungen aus Tagebüchern

Kunst- und Selbstbetrachtung

Unterher meines Hauses liegt ein vier Jucharten großer, frisch gepflückter Acker. Welch schöner Anblick, diese braunen, mürben Erdschollen in der Morgensonne! Reif, reich, willig zur Empfängnis! Dem Ursprung nach ein Leichenfeld: Gestorbene Pflanzen, gestorbene Tiere, gestorbenes Gestein. Und dennoch ein stilles Meer geheimen Lebens, das Ganze ein Billionenreichtum an unscheinbaren Lebewesen, die opferbereit, lautlos das Schöpfungswunder vollziehen, aus Steinen Brot werden zu lassen! Wie wenig verstehen wir Menschen es dagegen, opferbereiter Fruchtacker zu sein.

 

Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß mir der Buchhändler gestern Altwegs Hebelbiographie zur Ansicht schickte, just im Augenblick, wo mir ein Zyklus von Mundartgedichten im Kopfe rumort. Hebel war der Liebling und mein Vorbild, als ich «Heimisbach» schrieb, er ist es geblieben bis auf den heutigen Tag. Hebel ist ein älterer und größerer Bruder von mir — ich schreibe das mit dem notwendigen Distanzgefühl — aber mit der innigen Überzeugung, daß es zwischen uns viel Gemeinsames gibt. Auch ich bin zeitlebens das verschochene, respekterfüllte 246 Wälderbüblein geblieben, das nicht begehrte, sich aufzublasen, aber sich dann doch zur Wehr setzte, wenn man ihm auf die Füße treten wollte. Uns verbindet die gleiche Liebe zur Natur, zu Mensch und Tier und das Hangen an der Heimat. Auch unsere religiösen Einstellungen mögen nicht himmelweit verschieden sein: Aufklärung in milder Form! Nur war er der weit Frömmere. Auch bei ihm ist die dichterische Muse nicht Alltagsgast. Dafür ist seine Prosa voller Poesie, während andere Verse drechseln, die nichts als gereimte und genotzüchtigte Prosa sind.

 

Ich habe mit der Geschichte (Schachelüt) wenigstens einmal zeigen wollen, daß ich noch viel realistischer schreiben könnte, wenn ich wollte. Aber es kann meine Aufgabe nicht sein, alle Mistlöcher abzudecken. Viel lieber als all den Seelenpflütter zu schildern, will ich das Gesunde darstellen. Das Schlechte, auch wenn es in warnendem Sinne aufmarschiert, kann trotzdem noch reizen. Es haftet ihm etwas Fragwürdiges, Unfruchtbares an.

 

Wenn ich mich schriftstellerisch betätigt habe, geschah es aus Lust und Liebe zur Sache und aus inniger Freude an unserer schönen Heimat und unserer braven werktätigen Bevölkerung. Heimat und Volk haben mir mehr gegeben, als ich zurückzuerstatten vermag.

 

Der Lehrer soll produzieren: Daß ich mich neben der Schule künstlerisch betätigte, war nicht ein Schaden, sondern ein Vorteil, denn es hielt mich im Fluß und bewahrte mich vor völliger Verkrustung. Immer wenn ich 247 künstlerisch tätig war, hatte ich das Gefühl, auch in der Schule gelöster und aufgeschlossener zu sein. Gegenteils hatte ich das Gefühl, in der Schule ärmer und verhärtetet, veralltäglichter zu sein, wenn ich nicht schrieb, malte oder in Gedanken an etwas gestaltete. Wer selber irgendwie geistig produktiv ist und mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat, versteht es besser, daß den Kindern nicht alles auf ersten Anhieb eingeht. Er ist ein Lernender mit Lernenden und steht dadurch den Kindern näher. Wie gut würde es den Lehrern tun, die Aufsatzthemata (aber nicht abgeleierte, sondern frische, jungfräuliche) selber auch immer zu lösen.

 

Zu einer wirklichen Eigenart kann man nur gelangen, wenn man nach dem Leben gestaltet und seinem eigenen Empfinden für das was wahr, gut und schön ist, unverrückbar treu bleibt. Keiner erlebt genau was der andere, und jeder sieht das Erlebte mit seinen eigenen Augen und macht sich seine eigenen Gedanken darüber, auch dann, wenn es sich um äußerlich gleiche Vorgänge handelt. Alle Pflanzenwurzeln saugen ihren Bildungs- und Wachstumsstoff aus der gleichen Erde, aber jede formt und gestaltet daraus nach ihrer Kraft etwas besonderes, sei es ein zierliches Kräutlein oder eine reizende Blütenstaude, einen körnerschweren Getreidestengel oder eine knorrige Wettertanne. Was der Pflanze das Erdreich, ist dem Schriftsteller das Leben, ein unermeßlich reiches, unerschöpfliches Stoffgebiet, ein mütterlich zeugender Werkgrund. Daran hat er sich zu halten, ins Leben hineinzuschauen, nicht auf das, was andere schreiben. Was sie leisten, mag ihn begeistern, auch seine Kräfte in heißem Ringen einzusetzen, aber nicht 248 im Sinne der Nachahmung, sondern im Sinne der Anfeuerung zu treuer, sorgfältiger Arbeit. Keiner ist stark genug, im Leben allein zu stehen. Jeder ist seinen Vorfahren zu Dank verpflichtet. Kraft darf er aus ihnen schöpfen, aber dabei kein bloßer Kopist und Sackzeichner werden!

 

Was macht den Dichter aus? Daß er stärker und inniger empfindet als andere, daß er Zusammenhänge ahnt und klarlegt, die anderen nicht auffallen, daß ihm gegeben ist die Kraft zu formen und zu gestalten, daß er «dichtet» das heißt zusammenfaßt, auffüllt, bereichert und vertieft, was andere nur oberflächlich, zerstreut, unzusammenhängend und formlos erleben, daß er daraus ein Ganzes, Geschlossenes schafft. Seid fröhlich mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden! Dies Bibelwort gilt vor allem für den Dichter. Ein Liebender alles Seienden muß er sein, einer der ergriffen ist von allem was wahr und gut und schön ist, ein Kämpfer für Gerechtigkeit und Wahrheit, ein Tröster der Verachteten und Verschupften, der Enterbten und Beleidigten. Wer nur aus Geltungsbedürfnis schreibt, ist kein Dichter. Der wahre Dichter vergißt über dem, was er darstellen will, sich selber. Was ihn bewegt: Das Bedürfnis, das Gesetz zu entdecken, nach welchem sein Stoff am glücklichsten und wirksamsten gestaltet werden kann. Nach diesem Gesetz suchend, in inbrünstiger Versenkung formend und gestaltend, vergißt er Welt und Zeit und sich selber und nur das eine beschäftigt ihn: Herauszubringen, zu erwecken, was in seinem Motiv schlummert. Wenn in des Dichters Werk nicht mehr liegt, als er mit bewußtem Verstande hineingearbeitet hat, wenn 249 nicht aus dem Unbewußten Unmeßbares und Unwägbares hineingeströmt ist, so wird das Werk nur einen kurzen Atem haben. Wenn der Dichter sich ganz in sein Werk versenkt hat, gibt es Augenblicke, in denen er nicht dichtet, sondern es dichtet in ihm, es erwachen in ihm Kräfte, die ihn über sich hinaustragen. Es ist dann, als ob ihm jemand seine Gedanken lenke und sie ihm von allen Seiten zuströmen lasse. Man verwechsle solche Augenblicke geistiger Hochspannung nicht etwa mit bloßem Gefühlsüberschwang, immer ist dabei Wachsein des innern Menschen und Klarheit des Geistes notwendig.

 

Bei aller Hingabe an die Allgemeinheit darf man sein Ureigenstes nicht verlieren. Gewiß kann einem manchmal ein anderer raten und helfen, gewiß kann auch das Umgekehrte der Fall sein, daß man einem andern einen guten Dienst leisten kann mit Wort und Tat. Aber häufig, weitaus am häufigsten ist man auf sich selber angewiesen und muß sich selber zu helfen suchen. Wer nicht im eigenen Innern seinen besten Halt findet, ist arm daran, denn bis in die letzten Tiefen hinein versteht ihn selten ein anderer. Übrigens fehlt es ja an Hilfsquellen für Unterweisung und Belehrung nicht. Wir leiden eher an der Überfülle des Gebotenen, sie stumpft ab und macht oberflächlich. Wir können nicht den Strom trinken, der an uns vorüberrauscht, ein Tröpflein, ein Schlücklein ist mehr als genug, man denke an die Bücherflut, an die Presse, an das Radio: Sie bringen Gutes und leider auch viel Schlechtes, auf billigsten Geschmack Zugeschnittenes. Wer sich in dieser Flut treiben läßt, wird umgewirbelt bis zur Besinnungslosigkeit. 250 Auch hier gilt es, sein besseres Selbst zu bewahren und nur, wie die Blume am Ufer, das Schlücklein zu trinken, das einem zum Aufbau, zur Erhaltung und Gesundheit förderlich ist.

 

Die Natur ist Gottes Antlitz.

Geist und Natur sind nicht unvereinbare Gegensätze. Geist lebt auch in der Natur; ihn sichtbar, hörbar, spürbar und fruchtbar zu machen, ist die schöne Aufgabe der Kunst.

Der Künstler als Priester des Schönen, als Verherrlicher der Schöpfung.

Ehrfurcht pflanzen vor den Wundern Gottes: Die hohe Aufgabe der Kunst. Aber diese Aufgabe kann sie nur erfüllen, wenn sie selbst diese Ehrfurcht nicht verloren hat; ein kalter Ofen wärmt nicht!

Das Niederschreiben der Krankengeschichte einer Zeit ist schließlich nicht die höchste Aufgabe der Malerei, die Kunst sollte nicht bloß Fiebermesser sein, sondern Heilmittel. Sie sollte den Zeitgeist läutern, klären, besiegen und zum Guten wenden helfen. Sie sollte nicht Glauben und Vertrauen zerstören, sondern Glauben und Vertrauen stärken. Denn womit soll man salzen, wenn das Salz selber fade geworden ist, womit leuchten, wenn die Leuchten selber niederkauern, trübe schwelen und unter jedem Windhauche der Zeit unruhig zucken, flackern und auszulöschen drohen. Künstler sein heißt freilich alle Not der Zeit im tiefsten Herzen miterleiden, Künstler sein sollte aber auch heißen, seelenstärker sein als die andern, Kämpfer und siegreicher Überwinder sein.

Im Innersten treu und wahr sein, nicht um einer Äußerlichkeit oder einer Mode willen sein besseres 251 Selbst verleugnen, Berufene, Künstler: Gefäße Gottes, gefüllt mit Gnade und Erleuchtung, Sendboten aus denen ein Stärkerer spricht, die sich darum klar und wahr halten sollen, daß dieses Stärkste und Beste in ihnen nicht getrübt wird.

 

Gestern, nach dem Besuche der nationalen Kunstausstellung in Bern, machte ich eine merkwürdige Beobachtung: Ich war müde wie ein abgeschlagener Hund, aber beim Heimgehen sah ich hundert malerische Motive. Motive an allen Ecken und Enden, trotz des trüben, regnerischen Wetters. Das ist eben die Wirkung: Man hat frische Augen. Man hat sehen gelernt. Hunderterlei, was man früher achtlos und gleichgültig übergangen hat, weist nun plötzlich interessante Seiten auf. Man gewahrt, wie unter dem grauen Regenhimmel das Grün in herrlichster Frische leuchtet und in dutzendfachen Abarten und Tönen auftritt, wie Wege, Baumstämme, Hauswände, Gemäuer, Zäune, umgebrochene Ackerflächen sich in Harmonie willig anschließen oder im Kontrast wirkungsvoll abheben. Kurz, die ganze Natur wird einem zu einer Gemäldegalerie und das Wandern in ihr zu einem hohen Genuß. Der Schönheitsdurst ist erwacht und will gestillt werden. Das Gemüt hat sich erhoben und aufgeschlossen, unendliche Bereicherung und Beseeligung erfahren, man hat das Gefühl, nie mehr allein zu sein, sondern verbunden mit Baum und Busch, Wald und Flur, Himmel und Wolkenzug — und man gedenkt der Kunst in großer Achtung und Dankbarkeit.

Künstler sind Streiter gegen die Vergänglichkeit des Irdischen. Wie Josua sprechen sie: Sonne stehe still zu 252 Gibeon und Mond im Tale Ajalon. Wie Kinder nach dem bunten Schmetterling greifen, haschen sie nach irgend einem Stücklein Schönheit, um es festzuhalten und aufzubewahren. Zauberer sind sie, die den Augenblick bannen möchten: Verweile doch, du bist so schön! Retter sind sie, die aus der Flucht der Erscheinungen retten möchten, was zu retten ist. Wort, Ton, Farbe, Material irgendwelcher Art dient ihnen zum Formen und Gestalten und Erhalten irgend eines Glückhaften, Reizvollen, Beseeligenden, Erhabenen und Heiligen, beim Überwinden eines Schweren, Bedrückenden, Schmerzhaften, Entsetzlichen und Grauenvollen.

Ein Wort über das Verhältnis von Schule und bildender Kunst: Dieses Verhältnis ist von Grund auf anders, erfreulicher geworden. Während die alte Lehrerschaft für Kunst häufig kein Interesse hatte, ist ihr die jüngere Generation in überwiegender Zahl zugetan. Wenn ich eine Kunstausstellung besuche, treffe ich immer Lehrer an. Sie gehören heute zu den fleißigsten Ausstellungsbesuchern und wenn das Interesse für Kunst auch auf dem Lande zu erwachen beginnt, ist dies sicher zur Hauptsache der Schule zuzuschreiben. Früher herrschte zwischen Künstlerschaft und Lehrerschaft nicht selten geradezu Feindseligkeit. Auf der einen Seite sah man nur Fludribusse, auf der andern nur Pedanten.

 

Niemals in meinem Leben hat mir etwas besser geschmeckt als das Brot, das meine Mutter selbst gebacken hat. Wenn wir an steiler Halde hartes Erdreich umkarsteten oder auf ebenerem Gelände speckig glänzende Furchen pflügten, wie schaute ich da sehnsüchtig heimwärts, ob Mütterchen nicht bald auftauche mit der Kaffeepinte 253 in der Hand und dem Brotkörbchen am Arme. Und endlich, endlich erschien sie und wir setzten uns, streckten die Füße in die Furche, schnitten uns eine tüchtige Scheibe des lockeren, chüschtigen Brotes herunter, ließen uns die irdenen Henkeltassen füllen und begannen königlich zu schmausen, um uns zu stärken und zu sättigen.

So, gereizt vom ehrlich erworbenen Hunger, mit erdigen Händen, in frischer Luft, wenn über dem Haupte der Himmel blaut und die Sonne segnend über den Tassenrand guckt und mithält, da erfährt man, was für eine köstliche Labung ein Stück Brot ist, und daß es nicht nur den Leib stärkt, sondern auch die Seele erquickt als Segen der Erde und heilige Gabe Gottes!

 

Den stärksten, nachhaltigsten Einfluß erzieherischer Art habe ich empfangen am Krankenbett meines Vaters.

Mitten in Schmerz und Erwartung des Todes ein mildes Lächeln, verklärend wie das golden rosige Licht der untergehenden Sonne! Dieses Friedensgesicht, dieses Lächeln, aus dem Bewußtsein erfüllter Pflicht emporwachsend und aus einem unendlichen, kindlich reinen Vertrauen, dieses letzte, stille Aufleuchten war das Herrlichste was ich erleben durfte und war eine der starken Lenkungen, die meinem Leben die Richtung gaben. In der Zeit der größten Schwäche und Ohnmacht hat er die gewaltigste Kraft der Erde auf mich einwirken lassen, unbewußt, absichtslos gewirkt über Tod und Grab hinaus.

Je älter ich wurde, desto entscheidender wurde diese Wirkung.

Gegen Lebende wehrt man sich, ihre Fehler sind noch 254 nicht von ihnen abgefallen. Toten muß man sich ergeben, ihr Gutes wirkt unbezwinglich fort.

Tat, Beispiel, Vorbild: das ist die stärkste Lehre.

Im Leben stetig, im Tode groß, glücklich und darum unwiderstehlich. Darum waltete über mir die Gnade. Die Gnade, ein Herz zu besitzen, das diesen Eindrücken zugänglich war, die Gnade, so geartet zu sein, daß ich ein Ackerfeld für diesen Samen werden konnte.

 

Ein pädagogischer oder methodischer Obertiger war ich nie und manches mag ich ungeschickt und töricht angefangen haben. Aber das war in meinen reiferen Jahren mein dringendes Anliegen, mich in der Schule als einen anständigen, fühlsamen, lebendigen Menschen auszuweisen. Ich weiß noch, wie ich mir fest vornahm, jeden Tag wenigstens eine Stunde über den gewöhnlichen Kärnerdienst herauszuheben und zu einer fröhlichen und interessanten zu gestalten, bald in dem einen, bald in dem andern Fache. Dazu suggerierte ich mir jeden Abend: Ich werde morgen froh und leicht, rüstig und ausdauernd schaffen und freundlich und geduldig sein. Und ich hatte das Gefühl, daß es mir wirklich half. Als ich eines Abends vergessen hatte, mich zu stärken, ereignete es sich, daß ich mich andern Tages über einen boshaften und schadenfrohen Bengel so ärgerte, daß ich ihn beim Kragen nahm und tüchtig ausflachste. Ob es ein Zufall war? Ich weiß es nicht. Aber daß man sich mit geregelter Autosuggestion viel helfen kann, dessen bin ich sicher. Auch wenn man damit nur die auf einen eindringenden, schlechten Suggestionen aufheben und unschädlich machen kann, es ist ein großer Nutzen. Und das Gebet? Steht es nicht in nächster Nähe?

 

255 Beten, ohne sich selber anstrengen zu wollen, heißt soviel wie betteln. Gott ist nicht dafür da, um den Faulenzern die Läuse aus den Haaren zu strählen und die Bibeli aufzukratzen. Aber tröstlich ist es, sich in höchster Not an die Kraft Gottes erinnern zu dürfen. Sich erinnern zu dürfen an das herrliche Pauluswort, daß nichts uns von seiner Liebe scheiden kann, oder an das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das wie eine Sonne aus dem Evangelium herausstrahlt. Wenn ich bete, so ist es ein Dank für empfangene, tausendfältige Guttat und eine Bitte um Kraft, dieses Dankgefühl bis zum letzten Atemzuge behalten zu dürfen in demütiger Unterwerfung.

 

6. November 1937. Soeben habe ich an die Hauptverwaltung der Stadt Freiburg im Breisgau (die mich zu der alemannischen Kulturtagung vom 12. bis 15. November 1937 eingeladen hatte) folgenden Brief abgehen lassen:

Altersbeschwerden (zunehmende Schwerhörigkeit, chronisches Magenleiden, mit beständiger Verdauungsstörung und Übelkeit) verunmöglichen mir den Besuch von Festversammlungen. Daneben hat mein Nichterscheinen an der alemannischen Dichtertagung auch noch andere Gründe, über die ich Sie nicht in Unklarheit lassen will. Ich bin zeitlebens ein aufrichtiger Verehrer deutscher Sprache, Literatur, Kunst und Wissenschaft gewesen, schätze das deutsche Volk um seiner Tüchtigkeit und Tatkraft willen hoch und wünsche ihm von Herzen Glück und Gedeihen. Aber so lange es in Deutschland Konzentrationslager, Judenverfolgungen und religiöse Unterdrückung gibt, nehme ich an keiner alemannischen «Kultur»-Tagung teil!

 

256 Das Jahr 1937 bildet den Abschluß meiner Mannesjahre und den Beginn des Greisenalters. In diesem Jahre ist dem Baum die Axt an die Wurzel gelegt worden. Nun kommen die Jahre, von denen es heißt, sie gefallen mir nicht. Sie sollen mich aber gerüstet finden mit Geduld und Standhaftigkeit. Mein Herz ist voll Dank für die 69 Jahre, während denen ich mich fast ungestörter Gesundheit und Schaffenskraft erfreuen durfte. Es hätte in dieser Zeit noch viel mehr gehen und werden dürfen, etwas Weniges ist aber doch auch gegangen, völlig ungenützt sind die Jahre doch auch nicht in den Zeitensack hinuntergegangen.

 

Geburtstagsfeier: Sie möchten mit dem Mikrophon hieher kommen. Das mag ich aber nicht. Es bringt mir gerührtem Kamel Gemütserschütterungen, die mir zuwider sind; es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als für einige Tage zu verschwinden. Wenn man gefeiert wird, sollte man das Gefühl haben, es auch wirklich verdient zu haben, und dieses Gefühl fehlt mir weitgehend. Ein reiner Pflichtesel, der jeden Tag und jede Stunde genutzt hat, bin ich nie gewesen. Ich habe manche halbe Nacht gearbeitet, wenn viele andere schliefen oder sich vergnügten. Daneben habe ich mir aber auch Erholung gegönnt und mich mit Dingen beschäftigt, die niemand nützen, aber mir Freude machten. Wer andern Freude machen will, darf den Freudenquell in sich selber nie ganz vertrocknen lassen. Auch Arbeit war mir eine Freude, aber ihr Sklave war ich nicht.

 

«Sei klug und spann den alten Renner noch in Zeiten aus, bevor er auf der Bahn, wo einst der Sieg ihn krönte, 257 lahm und keuchend die Lenden schleppt und zum Gelächter wird.» Wenn ich diese Selbstermahnung des alten Horaz hier zitiere, geschieht es mit dem nötigen Distanzgefühl, nicht nur im Bewußtsein des zeitlichen, sondern des in jeder Beziehung bestehenden Abstandes. Aber menschlich befinde ich mich doch einigermaßen in der Lage, wie der hochberühmte römische Sänger, als er sich aus dem rauschenden Leben der Großstadt auf das Land flüchtete, um seine Tage beschaulich «am Busen der Natur» zu verbringen.

Immer wieder kommen Einladungen zur Mitarbeit oder zu Vorlesungen... Immer noch lebt der Wunsch in mir, meiner Leserschaft noch etwas schenken zu können in dieser Notzeit. Nie wäre es nötiger gewesen, Mut und Kraft, Hoffnung und Glauben zu erwecken, als heute...

 

Heute jährt sich zum 46. Mal unser Hochzeitstag. Ich bin ziemlich sicher, daß es meine Frau nicht weiß, denn wir haben nie Aufhebens gemacht von diesem Datum. Die Hauptsache liegt nicht darin, daß ein solcher Tag festlich begangen wird, sondern daß das, was «dazwischen» liegt, ist, wie es sein soll.

Unser Zusammenschluß ist zum Guten ausgeschlagen. Bei meiner schriftstellerischen Arbeit hat mir meine Frau wenig helfen können. Nicht etwa aus Unfähigkeit, sondern weil ich es nicht hätte ertragen können, daß mir da jemand dreinredete. Indirekt aber hat sie mir doch unendlich viel geholfen, indem sie mir durch ihr grundwahres und grundgütiges Wesen den Glauben an die Menschheit hat erhalten helfen, der mir zu schwinden drohte, als ich die Menschen nach und nach kennen lernte, wie sie wirklich sind.

258 In Krankheit, Leiden und Sterben einen Menschen zu haben, auf den man sich ganz verlassen kann, ist doch ein herrlicher Trost. Ohne liebe Menschen, die einem helfen, was ihnen möglich ist, wäre das Sterben noch einmal so schwer.

 

Suche jeder sein Erdenweglein festzutrappen und anständig durchzukommen, ohne immer zu halsen und gieren, ob es irgend einem gelungen sei, einen breiteren, bequemeren, ebeneren Straßenzug zu gewinnen. Ein Diogenes, ein Franz von Assisi, ein Pestalozzi, Menschen die nicht nach irdischem Besitze trachteten und wie Jesus Christus in selbstgewählter Armut sich vom Streben nach irdischem Besitz fernhielten; das waren die Billionäre und Millionäre des seelischen Reichtums, die die Menschheit noch ganz anders zu beschenken vermochten als die amerikanischen Dollarkönige, die von ihrem zusammengestohlenen Mammon Stiftungen errichten, um ihr räudiges Gewissen zu beruhigen.

 

1. Januar 1941. Ich erwachte zwischen sechs und sieben Uhr, öffnete das Fenster und hörte das neue Jahr einläuten — wohl zum letzten Male! Darüber will ich keine sentimentalen Betrachtungen anstellen. Was irdisch Wesen an sich trägt, muß vergehen, die Blume verblüht, der schönste Baum dorrt ab, sogar der gewaltige Berg bröckelt ab, ganze Welten lösen sich in Staub auf zu neuem Werden. Bewußt und denkend erkennt diese urgewaltigen und auch das Geringste erfassenden Vorgänge nur der Mensch. Warum sollte er sich dadurch schrecken lassen? Gottes Hand reicht über das ganze Weltall, aus seinen Armen kann man nicht herausfallen.

Von den Kindern und ihren Erziehern

Die erste und heiligste Pflicht für den Lehrer ist, die Seelen der Kinder kennen zu lernen. Darum muß er sich das unbedingte, unbegrenzte Vertrauen der Kinder erwerben. Dazu gehört, daß er die ganze Umgebung, Haus, Gut, Familie, Eigentümlichkeiten, Beruf, Arbeit, Anforderungen, die an das Kind gestellt werden, bis ins geringste Detail hinein kenne. Auf diesen Boden, auf das Erfahrungs- und Anschauungsgebiet des Kindes muß das Schulwissen aufgebaut werden, sonst rutscht alles auseinander.

Das Kind für das Gute, Wahre, Schöne begeistern, so heißt der Wahlspruch. Er wird aber zur inhaltlosen Phrase, wenn dem Kinde nicht gezeigt wird, wo in seinem Leben das Gute, Wahre, Schöne liegt. Wo es Gutes tun kann, was für seinen Fall das Wahre ist, wo es sich am Schönen erfreuen kann, das müssen wir ergründen.

Wir rauben dem Kinde die Freiheit, die Ungebundenheit, den Willen, sperren es in dumpfe, staubige Stuben. Und was geben wir ihm zum Ersatz? Papiernes Futter, Formeln, Gedächtniskram, und wenn es nicht verdauen will, Schläge, Rüffel, Schimpfnamen, Arrest. Wir zwingen es zu Arbeiten, die es nicht mag. Und sollten die Versöhner sein zwischen Kinderlust und Lebensernst, sollten so viel wie möglich von der Kinderlust und -Freude harmloser Natur hinüberretten ins spätere Leben. Versöhner sein auch zwischen Wunsch, Begehren und Schicksal. Dem Kinde die Tür öffnen zum späteren Leben und ihm Mut einflößen, ihm Vertrauen zu sich und den Menschen pflanzen, ihm Freude zeigen.

 

260 Ich kann nicht mehr bloß die Nägel des Wissens mit wuchtigen Hammerschlägen in die Köpfe treiben und mit der Fragen-Klemmzange wie Zähne wieder ausreißen; tiefer muß ich graben und in den Goldschacht der kindlichen Seele hinuntersteigen und Körnlein und Barren heraufholen.

 

Es gibt in der Schule Weihestunden, wo es so still ist, daß man Flachssamen säen könnte. Wenn du da den Schülern etwas besonders Schönes, Weihevolles zu sagen vermocht hast, so laß es ruh’n. Rühre nicht daran mit der Fragen-Klemmzange, halte auch du es heilig. Wer Blumenschößlein steckt, darf nicht neugierig nachschauen, sonst verdirbt er die Würzelchen und sie verdorren. Es gibt Dinge, die man nur einmal sagen kann und darf. Die Schraube, die festsitzt, wird los, wenn man daran niffelt, und hält nicht mehr fest.

 

Morgen Sommerschule! Mit Freuden! Und alle Tage auf der Hut sein. Nie das knochige Ungeheuer der Vereisung, Verknöcherung, Verkrustung, Verrostung zur Türe herein lassen! Leben! Leben, nicht Geistestod! Nicht nur wissen, sondern freuen!

Stets den Geist sonntäglich anziehen! Nie der Macht der Gewohnheit unterliegen! Mit Sonntagsgedanken im Herzen über die Schwelle! Jeder Tag ein Gedankensonntag!

Jeden Tag eine Blume in die Hand, eine Freude, eine Erhebung ins Gemüt!

Eine Kindersonne sein!

 

In mir tobt ein Ingrimm unsagbar. A will B übertrumpfen, B den A und C, alle beide, und stellt so unsinnige 261 Anforderungen, daß es einfach einem normalbegabten Kinde nicht mehr möglich ist zu folgen. Ruiniert seine Gesundheit und die seiner Kinder, bis sie stumpf sind und nicht mehr können. Und diese lächerliche Ehrfurcht vor positiven Kenntnissen! Auch nicht einer, der nicht mehr hineinwursten will als hineinmag. Nicht einer, der sich mit dem Wichtigsten und Interessantesten begnügt, das dem Kinde nötig ist. Früher lernte man Fragen, Psalmen, Kinderbibelgeschichten. Heute lernt man Namen, Zahlen, Selbstverständlichkeiten auswendig. Man füllt alle Kammern mit Gerümpel bis man nicht mehr das Notwendigste hervorklauben kann und der Geist so unbeweglich wird, daß gegen das Examen zu die Kinder völlig dumm aussehen. Wie viele Lehrer sind fleißig aus lauter Ehrsucht und Eitelkeit. Die ganze Schule ist ein Relief für sie und ihre Fähigkeiten. Glänzen, glänzen, glänzen! Und sind die Schüler nicht tauglich als Glanzwichsbürsten des Lehrers, dann wehe ihnen.

Und das Schlimmste: Nun endlich meint ein jeder Bauer im hintersten Graben, die Seligkeit hange an dem verfluchten Quark. Gibt der Lehrer nicht Hausaufgaben, schriftliche und mündliche, so ist er ein Faulpelz. Stumpfsinn! Und daran hängt Betrügerei, Lüge, Schein! Künstlich ist diese falsche Bildungswut hervorgerufen worden. Der Stein ist im Rollen. Das kann noch alle Jahre netter werden. Die Kinder hineingetrieben, daß sie in ihrer Herzensnot lügen und betrügen. Nur frisch drauf los! Betrügt eure Lehrer wie sie euch betrügen, die euch Steine geben statt Brot. Man kratzt alle Namen zusammen, liest jede Zahl auf, und die Kinder werden dabei so dumm, daß sie nichts sehen, hören, fühlen, wie ihre Lehrer.

262 Die natürliche Gescheitheit mancher Kinder ist gar nicht umzubringen, sonst wären sie längst Idioten.

Und wie leer, ausgebrannt sind manche Lehrer? Kein Gemüt, keine Anteilnahme, kein Erbarmen, kein Verstehen, kein ernsthaftes Prüfen, was die Kraft fördert, Vertrauen stärkt, Gemüt weckt, den Geist bildet, das Urteil reift, Auge und Ohr schärft. Trüllen, trüllen um gute Rekrutennoten, um ein berühmter Lehrer zu sein. Und diese furchtbare Selbstgefälligkeit, diese ruchlose Sicherheit, dieses dumpfe Sichselbstbegnügen. Lehrmaschinen, Büchernachtreter, Nichtsseher, Gänsestopfer, Volksverdummer, Hirnzerstörer, Schulgeßler, Herzveröder!

O, ihr Vöglein der Lüfte, ihr Fischlein im Bach, ihr Glücklichen, ihr dürft werden ungeschulmeistert. Sterben müßt ihr freilich auch, aber ihr habt gelebt frei, frei! ungeschulmeistert. Ihr habt nicht Noten zu singen brauchen und seid nicht mit dem Stock zum Singen gezwungen worden. Ihr habt schwimmen gelernt, ist es möglich? ohne Schultyrann. Euer Herzlein hat geschlagen froh, frei, glücklich; auch in Angst, in Zittern und Zagen, aber doch ein unverkünsteltes, untyrannisiertes Dasein. Ihr Tannen des Waldes, wer hat euch gelehrt den Saft aus der Erde zu saugen, einen Stamm zu bilden, Äste zu treiben, Zweiglein zu verspreiten, mit Nadeln euch zu kränzen? Was wäre aus euch geworden in stinkender, stickiger Schulstubenluft?

 

Draußen ein Keimen, Quellen, Schwellen, Sprießen, Grünen, Blühen, ein Wetten, Wagen und Jagen, ein millionengestaltig Werden, Verjüngen, Erneuern — Leben, Leben, Leben! Und wir Kapitalesel kauen immer 263 und immer am Dürrfutter der Bücher. Die Jahre rinnen als Wasser im Schußkanal auf das Mühlrad der Zeit mit dem ewigen Umgang und wir haben nicht sehen gelehrt, nicht freuen gelehrt, nicht erhoben und erbaut. Ohne innere Erhebung — das Leben einer Schindmähre!

 

Der ärmste aller armen Teufel ist der Schulmeister, der ohne inneren Beruf, ohne tiefes Erfassen seiner Aufgabe wirkt; der verdrüssig an seinem geistigen Futter kaut wie eine alte Mähre mit langen, wackeligen Zähnen.

Reich der Lehrer, dem sein Beruf Herzenssache ist! Alle Schätze der Welt darf er ausbreiten vor erstaunten Kinderaugen. Die ganze Herrlichkeit der Natur — vom geringelten Schweinsschwänzchen bis zur Pracht des Sternenhimmels. Ihm gehört das ganze Vaterland, das ganze Menschenleben. Führen darf er alle Tage seine Kinder auf blumiger Aue. Laß Esel die Disteln kauen! Kein Gott, kein Teufel, keine Schulkommission, und kein Schulinspektor kann ihn hindern zu reden, wofür sein Herz glüht. Und wenn auch der Brotlohn kärglich ist, der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Wer erschauernd in aufglänzende, verlangende Kinderaugen blicken darf, ist der nicht reich? Ein großes, herrliches Menschenvertrauen zu pflanzen in diesen Herzen, ist das nicht der schönste Beruf! Ein Vertrauen, das unter gebleichten Haaren nicht erloschen ist, sondern sprechen kann: Viel Schlechtigkeit habe ich erfahren, viel Lieblosigkeit, Falschheit, Herzenshärtigkeit; aber einer ist gewesen in meinem Leben: mein Lehrer! Der hat mich lieb gehabt, der war an mir treu, der war ohne Arg und Falsch voll herzlichen Gutmeinens. Und in diesem Einen ist die Ehre der Menschheit gerettet. Und alte Lippen 264 sprechen: Das hat noch unser Lehrer gesagt. Und heißen will es: An dem ist nicht zu markten.

 

Kobi hat den Lehrer betrogen. Erwartet eine ganz schlechte Note, denn der Lehrer ist gegen Lügen und Betrügen heillos streng. Der Lehrer frägt: Wer von den Knaben hilft nachmittag den Mädchen die Stube waschen, Bänke und Fenster tragen? Dem Kobi schießt eine jähe Röte ins Gesicht, er erhebt sich halb von seiner Bank und streckt die Hand hoch, hoch und ist doch verzagt. Aber der Lehrer beruft ihn und den ganzen Nachmittag geht’s im Trab, es glühen die Wangen, der Eifer ist groß, er wirbt, wirbt mit Fleiß und heimlichem Bangen um die Verzeihung und als am Abend der Lehrer dankt und sagt, er wolle es auch dem Kobi nicht vergessen, daß er heute brav gewesen sei, da flackert wieder Glut in die Wangen des Knaben. Aber ein froher Strahl bricht aus seinen Augen, mit denen er seither den Lehrer streichelt. Weiß Gott, ich kann nicht hart sein, denkt der Lehrer und gibt dem Kobi im Betragen eine gute Note. Ich kann die Hoffnung und das in mich gesetzte Vertrauen nicht täuschen.

 

Hinabsteigen zum Kinde müsse man, so sagen sie... Kurios! Einer kam von Nazareth, stellte ein Kind unter seine Jünger und sagte, so müßten sie werden! Damit meinte er doch wohl, sie sollten hinaufsteigen. Ich fürchte, ich fürchte, in vielen Fällen müssen wir hinaufsteigen, wenn das unser Erwachsenenhochmut zuläßt.

 

Einst werden diese Knaben Männer sein, diese langzopfigen, blauäugigen, schwatzlustigen Dinger Mütter. 265 Dann kommt der Lebensernst von selber. Und hängt ihnen dann ein Kleines an der Schürze: Schulmeister horch hin! Laß dein Herz einen tannenhohen, sieben hügelhohen Freudensprung tun gen Himmel. Wort für Wort kommen die schönen Ermahnungen alle wieder zum Vorschein, die du — ach wie oft, meintest nutzlos verschwendet zu haben. Still haben sie sich eingesenkt in die Herzen, wie auf Meeresgrund haben sie geruht. Aber — lächelt wieder der Himmel aus blauen Kinderaugen auf dieses tiefe Meer, dann wird es klar bis auf den Grund, und lebendig steigt das Vergangene aus verborgenen Tiefen.

Nicht alle werden Dich erkennen. Aber ist es nicht Lohn’s genug, wenn unter hunderten eines die Saat weiterpflanzt, die du ausgestreut hast. Wenn eine alte Tanne fällt, dann schlagen die Zapfen ab. Ihren Samen streuen sie über das Erdreich und im Frühjahr geht der Same auf hundertfältig. Darum gib guten Samen, denn er wird verbreitet. Über Länder kann er wandern und Meere und solchen, die du nie mit leiblichem Auge erschaut hast, Lebensfrucht werden!

 

Durch nichts zeigen sich die Erwachsenen so kleinlich gegenüber den Kindern, als dadurch, daß sie in die Schulstubenfenster Milchglas einsetzen lassen. Nicht ein Blick ins Freie, ins Grüne, einem Vöglein nach, das sich ins Blaue schwingt, darf abirren, Polizeischikane, erbärmliche Dressur, Armutszeugnis für den Lehrer und die Vorgesetzten. Auf Milchglas schreiben sie ihr Armutszeugnis.

 

Man muß doch den Kindern die Gedanken geben, behauptete ein Lehrer. Wie einfältig! Man nimmt und gibt. 266 Man tauscht. Wie willst du das Inwendige deiner Kinder kennen lernen, wenn immer nur du gibst, wenn du sie übermaulst und nie zu Worte kommen lässest, oder wenn du ihr Vertrauen nicht besitzest, wenn sie dich fürchten. Immer den Schwachen helfen, immer wenn möglich an einer Antwort etwas Gutes finden, immer an einer Arbeit noch eine lobenswerte Seite sehen. Und dann, wenn das Kind einmal seine ganze Kraft zusammengerafft hat — auch rückhaltlos zufrieden sein, nicht kleinlich nörgeln, sondern frei und gern anerkennen, daß es die Kinder merken: Der Lehrer freut sich, wenn er loben darf!

 

Hans Eicher brachte in die Schule seine neue Mundharmonika. Auf dem Schulwege blies er andachtsvoll und marschierte dazu. Im schriftlichen Rechnen zittert ganz plötzlich ein leiser, sanfter Ton durchs Zimmer. Ich brauche nicht zu fragen, wer der Täter sei. Hans Eichers Wangen gluten wie die Sonne, wenn sie zur Rüste geht. Ich nehme das Instrument in Verwahrung bis nach der Stunde, was dem Burschen schmerzliche Sorgentränen auspreßt, die aber schnell versiegen, als er seine Harfe wiederkriegt. Warum er geblasen habe? Er heig Längiziti gha drno u nümme möge g’warte. Dabei ist mir lebhaft meine erste Mundharmonika in Erinnerung gekommen. Sie tönte so sanft, so süß und unbeschreiblich wie Engelsgesang im Paradies. Damals war ein Mädchen durch einen Unfall schwer verletzt worden und lag lange krank darnieder. Und ich meinte ernsthaft, es müßte ihm bessern, wenn ich ihm auf der Mundharfe vorspielen dürfte. Ganz unzweifelhaft könnte keine Krankheit dem zauberhaften Wohlklang widerstehen.

267 Heute hatte ich aus Versehen einen Apfel in meiner Hosentasche behalten. Die Religionsstunde war vorüber und das Lesen begann. Plötzlich spüre ich in meiner Tasche den Apfel. Er beginnt mich zu drücken, ganz unglaublich. Und ganz unglaublich muß ich mich mit dem Apfel beschäftigen. Wie ich meine Gedanken davon wegwenden will, immer kehren sie dorthin zurück. Immer lockender schwebt sein Bild meiner Phantasie vor: Rotbackig auf der einen, schön rostig bereift auf der andern Seite und ganz fein braun getüpfelt! Ich kenne diese Sorte — gelbliches Fleisch mit angenehmster Säure. Wahrhaftig, das Wasser läuft mir im Munde zusammen. Wie wäre es, wenn ich schnell vor die Türe gehen und mir einen Biß genehmigen würde? doch dagegen bäumt sich meine schulmeisterliche Würde auf. Aber Frieden ist nicht eher, bis ich die Frucht leise und heimlich im Pult versorgt habe. — Nun habe ich einen Maßstab für die Tantalusqualen, die ein Bub durchmacht, wenn ihn der Apfel oder die Brotrinde drückt.

Ob Eva nicht etwa dem Adam den Apfel in die Hosentasche gesteckt hat...

 

Nicht was du weißt, sondern was du bist, macht dich zum Lehrer!

 

Stoff und Methode sind schließlich nicht das Entscheidende in einer Schulstube. Auf die Persönlichkeit des Lehrers kommt es an, auf seinen Charakter und Eigenwert und auf den Geist, der in der Schulstube herrscht. Alles andere ist wandelbar und kommt in zweiter Linie, auch die Leistungen sind nicht das Wichtigste.

Vor 36 Jahren war ich in einer gemischten Bergschule 268 auf Besuch. Am Pult stund ein älteres Buckelmännlein mit einem weißen Bockbärtchen. Die Leistungen der Schüler waren keineswegs hervorragend, aber wenn man das schwache Manndli betrachtete, mußte man staunen, daß es noch so viel herausbrachte. Aus seinen himmelblauen Idealistenaugen leuchtete ein so warmer Strahl über die Klasse hinweg, daß alles in Schwung kam. Was er auszuteilen hatte, war durchaus gewöhnliches Schulbrot. Aber wie er es mit einer Liebe und Sorgfalt in die Hände nahm und austeilte, das ist mir bis auf den heutigen Tag unvergeßlich geblieben.

 

Methodik und Pädagogik und Psychologie sollte man eigentlich bei einer guten Mutter studieren. Die hat diese Künste im Griff, wie das Salzen einer Suppe. Und woher schöpft sie? Aus dem unversiegbaren Born heilig reiner, opferwilliger Liebe. Das ist der langgesuchte Grundton, auf den alle Kinderherzen abgestimmt zu sein scheinen. — Wer lehrt die gute Mutter mit dem Kinde reden? In welchem Wörterbuch findet sie ihre unnachahmlichen Wendungen? Aus dem unbegreiflich hohen Baum macht sie blitzschnell ein Bäumli, das man überblicken kann. Aus der bedrohlichen Kuh ein Hoopeli und die Stimme schmeichelt, streichelnd fährt die Sprache dem Tier über den Leib: es tut dir nichts, sieh, es ist mir lieb, hab’s auch lieb! Was dem Kinde Entsetzen einflößen könnte: schnell ein anderes, weniger unheimliches Kleid anziehen: aus dem Grab wird ein Chilchegrebeli. Die Kirche ist ja ein Schutzort, ein Sonntagshaus, in dessen Nähe man Schirm und Schatten genießt, wohin Vater und Mutter am Sonntag gerne gehen. Flugs hängt die Mutterliebe dem schwarzen Käfer, 269 den das Kind auch fürchten könnte, einen komischen Sprachfrack um: E Graagger, e Graagger, lue, lue wie-n-er scheichlet! Denn was man komisch finden kann, fürchtet man nicht mehr. Dem Kleinen, Unscheinbaren, das dem Kinde entgehen könnte, hilft die Mutter nach, indem sie es durch den sprachlichen Ausdruck größer erscheinen läßt, das Kind gleichsam durch das Vergrößerungsglas schauen läßt. Instinktiv, ohne jegliche Überlegung findet sie immer dem Kinde gegenüber den richtigen Ausdruck, vergrößert, verkleinert, beleuchtet — je nachdem es für das Kind, für das Verständnis des Kindes passend erscheint.

So lehrt die Mutter und überträgt unbewußt auf das Kind ihre ganze Weltanschauung und Wertschätzung der Dinge, und das Kind merkt gar nicht, daß es lernt.

 

Kein Mensch begehrt, daß das Kind alles bei sich behalte, was es an leiblicher Speise zu sich nimmt — aber seine geistige Kost soll es behalten. Von der leiblichen Speise soll das Kind wachsen. Ist das nicht genug, auch auf das Geistige übertragen? Kann ein Mensch alles, was er an geistiger Nahrung aufnimmt, behalten? Muß er nicht manches fallen lassen, um freie Fassungskraft zu bewahren für das Neue?

Zu vergessen — ist ein Urrecht des Kindes.

 

An Gesetzen, Verordnungen, Lehrplänen, Programmen, Examen, Wissen, Fertigkeiten, Zwang und Autorität fehlt es nicht. Das alles ist aber mechanisiert, verkalkt, und die Seelen hungern trotzdem. Es genügt zum Karriere machen, nicht aber zum Seelenfrieden und Herzensglück!

 

270 Heute geben mir meine Buben wieder einmal zu denken. Prügelten einander mit Burgerlust. «Wartet, euch wollen wir sempachern», schrie die eine Partei. «Und wir euch morgartern, ihr Knürpfe.» «Und wir euch neueneggern.» «Und wir euch grauholzen.» Und wie das Ungewitter wurde gefaustet und mit Schnauben und Keuchen gerungen, daß es Schweißtröpfe regnete und die Kleider Risse bekamen wie der Lehmboden in der Julihitze. Und wie verblüfft sie waren über mein barsches Dazwischenfahren! Ganz verdutzt und kleinlaut die einen, halb trotzig die andern. Mit schlecht verhehltem Unmut standen sie umher und vergruben die kampfgeballten Fäuste und Fäustchen mürrisch in ihre Rock- und Hosentaschen, als wäre ihnen ein unerträgliches Unrecht zugefügt worden.

Und ein Unrecht habe ich ihnen zugefügt. Der alte Schulmeister kann wie Ahasver nicht sterben. Zurückgeblickt habe ich nachher in meine eigene Jugendzeit. Lebendig geworden ist mir wieder, wie es dazumal herging. Die Vordern und die Hintern hießen damals unsere Parteien, weil die eine vom Schulhaus talaus, die andere talein zog. Es war eine Fehde seit Menschengedenken. Jede neue Generation trat sie als Vätererbe an und hielt es für eine heilige Pflicht, sie weiter zu pflegen. Jede Partei hatte ihre Vormänner und berühmten Kämpfer. Schon die Kleinen wurden als Rekruten ausgemustert und waren die eifrigsten. Zu Zeiten drohte der Kampf wirklich blutig zu werden. Bewaffnet bis an die Zähne mit Stöcken, Seilenden, Kettenstumpen und ähnlichen Schlagwerkzeugen stellten sich die Kämpfer ein. Einmal brachte einer einen Scheidweggenring und der andere eine stiellose Gartenjäthacke mit sich. Gebrauch 271 wurde aber von diesen Mordwerkzeugen nicht ein einzigmal gemacht. Man begnügte sich damit, sie triumphierend vorzuweisen. Rühr mich an, wenn du darfst! Rühr du mich an! Komm nur, wenn es dich gelüstet! Es war bloß ein dem Herzen so unendlich wohltuendes Purzelbaumschlagen und Wälzen in der Prahlerei und Krakehlerei. Als wie die hartgesottensten Bösewichter der Delawaren und Mingos standen wir uns mit wutentflammten Augen gegenüber, prahlten wie Goliath und Chingachgook und der alttestamentliche Jehovah. Und hatten die Kraft im Maul, wie ein Haushund den Mut in der Kette hat, gruselten uns allerlei von Heldentaten vor.

Zudem unser Geschichtsunterricht: eine ununterbrochene Kette von Schlächterei und Menschenmord, eine wahrhaft heidnische Geschichtsauffassung, die fast allein Schiwa dem Zerstörer huldigt. Schiwoitentum!

 

Der Lehrer muß wieder zurück zur einzigen Quelle, die rein und urfrisch sprudelt, zur Kindesnatur!

Er muß die Lebensluft der kindlichen Seele zu ergründen versuchen!

 

Man könnte einwenden: Menschennatur ist Menschennatur seit Adams und Evas Zeiten her, immer die gleichen Charakteranlagen. Das ist wohl richtig im großen und ganzen, im kleinen und besonderen dagegen ist es grundverschieden. Kein Blatt am großen Baum der Menschheit deckt sich völlig, randeben mit dem andern. Jeder ist ein Ich, eine Persönlichkeit und dieser persönlichen Eigenart gehört des Lehrers volle Aufmerksamkeit. 272 Wie verschieden nur schon in der Entwicklung; einer versteigt sich schon mit zwanzig Jahren zu Gedanken, die ein anderer erst im fünfzigsten zu kopfen vermag.

 

Wir Lehrer sind Geizhälse, die alle Tage ihre Schätze hervornehmen und sich in deren Anblick sonnen wollen. Das Kind wird gefüllt und ausgedrückt wie ein Schwamm. Das Beste geht ihnen dabei verloren; die Freude an der Sache.

Wir behandeln die Kinder wie Zwergbäume, jeder frische Trieb wird zurückgekneipt. Möglichst früh soll Fruchtholz werden und das Fruchttragen losgehen, und so bleiben die Bäume Zwerge.

 

Die zwei Buben des Lochbauern kommen ganz gelbgrün und abgemagert nach der Heuernte in die Schule, voll Müde, als ob sie über einen frischgeschichteten Heustock wateten, voll Schlaf schon in der ersten Stunde. Der Vater will, daß sie geschickt werden, ich soll drillen und drillen. Aber die Barmherzigkeit wird siegen. Ich will lieber ein miserabler Schulmeister sein als ein unverständiger Mensch.

 

Die Lehrer, die einem nie warmfühlend nahetreten, bleiben nach den Gesetzen der Perspektive immer klein und je weiter man sich von ihnen entfernt, zeitlich, räumlich, gedanklich, desto kleiner werden sie, bis sie zuletzt nur noch als tote Punkte erscheinen. Je näher heran, desto größer. Wer meint, er müsse beständig in Wolkenhöhe über den Kindern thronen, ohne menschliche Schwäche, ohne Fehler, als Selbstgerechter und 273 Unfehlbarer, der vergißt, daß in diesen Regionen gefährliche Kälte weht. Ein Lehrer, der schlechthin alles kann und weiß, dem nie Menschliches begegnet, der ein Vollkommenheitsbold ist, dem werden die Kinder zwar ihren Respekt nie versagen, aber ein menschlich schönes, vertrauliches Verhältnis wird sich nicht ausbilden können. Eine kleine verzeihliche Schwäche wird den aufrichtig nach allem Guten strebenden Lehrer nicht herabsetzen, sondern ihn ihnen nahe bringen. Besonders wenn er den Mut hat, seine Fehler einzugestehen.

 

Heute endlich wieder Schule. Ich mußte mich ganz zusammennehmen, um die Kinder nicht allzusehr merken zu lassen, wie groß meine heimliche Freude, mein Glück ist, daß sie wieder da sind. Ich habe wieder ein Publikum zu dem ich sprechen darf von dem, was mich bewegt. Törichter Schulmeister! Es sind doch herzige Bengel, die man — samt ihren Unarten — schwer entbehrt. Den ganzen Morgen bin ich umhergetrippelt um was auszudenken für den Unterricht, womit ich ihnen eine Freude machen kann, habe mir das Gehirn zermartert, um ihnen ein geistig Gericht vorzusetzen, an dem sie wohlleben können. Und das frohe Geschrei und herzhafte Lachen hat mir am morgen süßer in die Ohren geklungen als Schwalbengezwitscher im Frühling. Ich mußte absolut einem die Wangen streicheln, natürlich habe ich vorsichtigerweise das Kleinste auserwählt. Es hat so lustige Grübchen in den Wangen.

 

Der Lehrer gehört zur besten Gesellschaft, zu den Kindern!

 

274 Die Bibel ist ein Meer, auf dem der stolzeste Dampfer segeln kann, ohne auf Grund zu fahren, mit Klippen freilich, an denen das stolzeste, wissenschaftliche Dreathnought zu schanden gehen kann, und wiederum ein Wässerlein, aus dem ein Kind mit der Hand schöpfen kann.

Sie ist aber dem Kinde wie eine unbewegte Fläche, über die es ziemlich gleichgültig hinwegsieht. Der Lehrer muß die Bewegung, muß Licht und Leben hineinleuchten lassen und die Türe öffnen vom jungen Leben zu diesem alten Leben, das der Jugend mit seinen bildhaft einfachen und schlagkräftigen Motiven aber doch näher steht, und begreiflicher ist als manche kunstvoll abgeleitete Morallehre oder ethische, differenzierte und nuancierte Klauberei. Vor allem muß sie aber dem Lehrer selber lebendig und lieb sein, daß er mit Herzenswärme unterrichten kann. Er muß sie selbst innerlich verarbeiten, muß ausgestalten, daran dichten und träumen — nicht mit kaltem Verstand sezieren und sondieren, sondern mit Phantasie und Gemüt beteiligt sein. Abstrakte Lehren sind wie Spreu im Winde, Gestalten haften. Was nützt es, Kindern streng kritisch den Wahrheitskern herauszuschälen? Wer kann das? Theologen selbst sind ja einander beständig in den Haaren, was zum Beispiel historisch unanfechtbar sei und was nicht. Vorläufig genügt es, den Kindern die Gestalten der Bibel lieb und die Lehren an diesen Gestalten klar zu machen. Eine Weltanschauung anbahnen, aber nicht schon ausbauen. Wer kann sagen, daß seine religiöse Erkenntnis abgeschlossen und seine Weltanschauung fertig sei, daß da nichts mehr zu ändern und zu verbessern sei. Was nützt die unanfechtbarste Wahrheit, wenn 275 sie kalt und tot ist? Was nützt die historisch ausgefeilte Gestalt, an der kein erdichteter Zug mehr wäre, wenn sie nicht ergreift, anzieht, zur Nachahmung anspornt.

Es handelt sich also nicht darum, wissenschaftlich und kritisch zum Beispiel den historischen Kern herauszuschälen, sondern zu beleben, zu besonnen, Kraft, Vertrauen, Lebensweisheit und -Kundigkeit daraus zu gewinnen. Es handelt sich auch nicht darum, dem Kinde die Meinung und Auffaßung des Lehrers als einzig unantastbar richtige darzustellen und einzuprägen. Immer weitherzigste Toleranz vorbereiten. Ein liebevolles Versenken in den Stimmungs- und Gedankengehalt der Bibel anstreben! Auch wenn die Schüler die Einzelheiten vergessen, so sollte ihnen ein holder Schein, eine schöne Stimmung, eine liebe Erinnerung bleiben, nach der früher oder später Sehnsucht erwacht, sie zurückführt und zu eigenem Forschen, Denken und Aufbauen antreibt. Wie wenig Einfluß der Religionsunterricht in den auf die Schuljahre folgenden Entwicklungsjahren aufweist, ist jedem Beobachter bekannt.

 

Fabian Hummel (Simon Gfeller) hatte einen Geschichtslehrer, langsam, logisch, trocken wie einer, der im Bergwerk des Geistes arbeitet, mühsam Klotz um Klotz lospickelt und mühsam zu tage fördert. Eines aus dem andern wachsen läßt: Wurzel, Stamm, Ast, Zweiglein, Blättlein, jedes sorgsam verbunden.

Aber die Zöglinge hatten kein Verständnis für diese treue Arbeit. Trocken hieß es, langweilig, unerträglich. Aber hinter dieser Trockenheit, das spürte man, ein 276 nobler Charakter, ein unbestechliches Gerechtigkeitsgefühl, eine gefestigte Mannesnatur, die sich nichts Unwürdiges bieten ließ.

Da kam die letzte Klassenstunde. Ein abschließender Überblick, ein Appell, ein letztes Heraufheben des Wichtigsten — dann ein persönliches Abschiedswort.

Ich danke der Klasse für ihre Arbeit. Ich habe das Zutrauen, daß aus ihr tüchtige Kräfte emporsprießen werden. Möge es allen wohlergehen im Leben — ich wünsche allen von Herzen...

Schlucken..., ein Reißen im Gesicht, ein krampfhaftes Verbeißen der Kiefer. Die senkrechte Falte zwischen den Stirnwülsten zuckte, langsam löste sich eine große schimmernde Träne und rollte hinunter über die bartige Wange. Ein Neigen des Hauptes, ein hastiges Ergreifen der Bücher, ein stilles Abtreten vom Katheder und aus dem Lehrsaal... Tiefe Stille in der Klasse...

Von da an sah ich das Bild dieses Lehrers immer durch die Träne. Nie mehr trocken, grau, eintönig, umleuchtet von freudigen Regenbogenfarben!

Ach Gott, hätten wir gewußt, daß er so warmen Anteil nahm an unserem Glück und Wehe, uns so viel Liebe entgegenbrachte, so ernst um uns besorgt und bekümmert war! Wie viel besser hätten wir für ihn gearbeitet, wie viel mehr Freude ihm zu bereiten versucht!

Nein — die Träne war nicht zu spät geflossen!

Etwas ganz Unerhörtes, Stolz, geehrt, erhoben sein — geadelt sein — etwas seltsam Warmes floß in unsere jungen Herzen. Alles was er in uns pflanzen wollte — nicht fürs Examen, nein fürs Leben — hat sie begossen, im letzten, entscheidenden Augenblick. Erst durch diese Träne hindurch sahen wir ihm hinunter in sein Herz 277 und auf den Goldgrund seiner Seele. Was alle Verstandesschärfe und Logik, alle Pflichttreue und alles Beispiel nicht vermocht hatte in uns zu wecken, — die Begeisterung für unsern Lehrer — diese eine einzige Träne, sie vermochte es.

Wir lieben ihn noch heute, weil wir hinter seine herbe Männlichkeit geblickt und seine ächte Liebe erkannt haben. Seinem Werk hat das Höchste nicht gefehlt: Die Liebe. Uns unreifen, undankbaren, widerspenstigen, kritiklustigen Jungen vermochte er Liebe entgegenzubringen! Diese aus der Träne schimmernde Liebe hat uns gebändigt fürs ganze Leben.

 

Der Fluch der Erziehung: Daß sie um des allgemeinen Guten das besondere Gute im Menschen erstickt und überwuchert.

Im großen Bildungskochtopf: Du wirst gemahlen, angenäßt, geklopft, gehämmert, gebacken — um als examenfertiger Krapfen aus der Fettbrühe zu steigen.

Alljährlich wird eine Schnur gespannt: Bis hier hinauf hast du zu wachsen, alle Äste schön gleichmäßig zu entwickeln, nicht zu dick, nicht zu dünn — entsetzliche Vergewaltigung!

Vielen scheint die Erziehungskunst so wunderbar vollkommen und ausgestaltet, ihre Wege sind so sicher, so unfehlbar zum Ziele führend, als ginge man zwischen zwei hohen Mauern...

Man hat uns die Unendlichkeit des Weltalls gezeigt, aber uns nicht die Kräfte und Gaben erweckt, es wirklich geistig zu durchdringen und uns dadurch in eine unendliche Leere hinausgestoßen.

 

278 Wie leicht ist es, mit der Feder in der Hand Schule zu halten und in schönen Artikeln wundervolle Erfolge zu schildern! Da gibt es wenig Schwierigkeiten, die das pädagogische Genie nicht spielend bewältigt. Der Glanz des neuen Fundes überstrahlt und verklärt alle Unzulänglichkeiten und die derart angeregten Kinder sprühen und sprudeln die geistreichen Einfälle nur so hervor. Es gibt wirklich solche glückliche Finder, aber es gibt ihrer auch welche, denen bloß ihr lebhaftes Geltungsbedürfnis einige schillernde Blasen aufgestoßen hat. Es braucht, um wirklich nachhaltig zu wirken, langen und geduldigen Atem und mancher bescheidene Landlehrer, der nie eine Führerrolle anstrebte, hat im Stillen segensreicher gewirkt als mancher von den Schulblatthelden, die nach jedem gelegten Ei laut und nachdrücklich gackern müssen.

 

Man verlangt heute vom Lehrer, daß er ein Künstler sei. Und mit Recht! Der wahre Künstler hält sein Werk hoch. Er ringt darum, aus ihm etwas zu machen, er arbeitet mit ganzer Seele. Was er darstellen will, muß ihm lieb sein. So sollen auch wir Künstler sein.

Aber nur von dem werden die Kinder bleibenden Gewinn haben, was als tiefinnerliches, geistiges Erlebnis aus dem Gemüte des Lehrers auf sie übergeht.

 

Was aus dem Ärmel geschüttelt wird, ist zumeist ärmlich!

 

Über keinen wird länger Gericht gehalten als über den Lehrer. Wehe dem, der ungerecht ist, Augenblickserfolge mit Gewalt erzielt, er sät Unkraut in seinen Acker, 279 das jahrzehntelang absamt. Wohl dem, der in ruhigem Vertrauen seinen Weg geht, im Kinde den Erwachsenen achtet und auch auf steinigen und tüppelhürnigen, knolligen Acker sät, einmal blüht sein Weizen so gewiß, so gewiß nicht ein Quintchen Liebe verloren gehen kann, denn das Gesetz der Erhaltung der Kräfte gilt ebenso im Geistigen wie im Materiellen.

Von der Sprache und von der Arbeit des Schriftstellers

Unsere Muttersprache ist der Zauberspiegel, mit dem wir den Schulkindern Welt und Leben erleuchten möchten. Ist dieser Zauberspiegel klar und blank gehalten, so verhilft er den Kindern zu scharfumrissenen, eindrucksmächtigen Vorstellungen. Ist er trübe und unrichtig eingestellt, so erzeugt er verschwommene Vorstellungen und Gedanken, die weder zupacken noch dauernd zu wirken vermögen. Die Sprache ist unser vornehmstes Veranschaulichungsmittel. Von unserer Mitteilungsgabe, unserer Sprachgewandtheit und unserer Sprachkraft hängt zu einem guten Teil der Erfolg unseres Unterrichtes ab, nicht nur in der Deutschstunde, sondern in allen Fächern.

 

Nicht vergessen: Die Kinder sollen merken, was gute Mundart ist, sie sollen auch in dieser ihrer Muttersprache geübt werden. Es muß gezeigt werden, daß das nicht nur Tratsch und Quatsch ist, sondern eine Sprache, die ihre Qualitäten hat, so gut wie die Schriftsprache. Die Schule soll und darf nicht Zerstörerin und Verächterin der Mundart sein, wenn sie nicht unser Schweizertum schädigen will.

 

280 Die gewachsene Mundart: Der emmentalische Adam ist wohl aus einem Lättkloß erschaffen worden, nicht aus lockerer, leichter Rieselerde. Er ist Bodenbestandteil, schaut sich an wie eine Bodenfrucht und auch seine Sprache ist ihm aus der Erde heraus und unter dem Werkholz hervor gewachsen. Sie bildet mit der Bodenart, mit der Arbeit, mit dem Fühlen, Denken und Sein des Emmentalers eine unteilbare Einheit. Auf dieses Land, auf diese Täler und Höger gehört dieser Mensch. Sein Wesen ist ein Abbild des Landes, friedliche Alpen, auf denen die Kühlein glöckeln, frischgrüne Waldhügel, fruchtbare Ebenen und Mulden, rissige Krächen und abschüssige Fluhsätze, nichts von alledem fehlt im Wesen des Emmentalers und alles dies drückt sich auch aus in der Mundart, die er spricht.

Du triffst keine himmelaufragenden Berggipfel. So äußert sich Freude und Leid des Emmentalers nicht himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, es ist gehaltene Freude, stilles, verhaltenes Leid, das sich nicht in einem Wortschwall äußert, sondern verschlossen in sich getragen und «verwärchet» wird. Gedämpfte Freude: Er fährt selten einmal «der obere Tili no» schießt nicht mit dem Kopf «a d’Ungerzüg ueche» oder gar «a d’Rafli ueche». Er ist in Beifall und Anerkennung nicht «schützig». («Er mueß no nid dürusen e Löl sy», hieß es in einem Emmentalerdorfe, als dem Ortspfarrer von einer ausländischen Universität der Titel eines Ehrendoktors verliehen wurde.) Er schätzt die menschliche Tugend und Vollkommenheit nicht übertrieben hoch ein: «Dr Bescht het e Geiß gstohle», weiß, daß der Schein trügt «au der Napoleon het sälber uf’s Hüsli müeße». Jeder trägt sein Sorgenbürdeli, und was ihm 281 zufällt, dem entrinnt er nicht. «We eim e Dräck uf d’Nase ghört, so gheit er ihm nid uf d’Schueh.» Die Rede fließt nicht, wie ein schäumender Strom, sie fließt bei einigen höchstens wie ein munterer Bach, bei vielen tröpfelt sie bloß wie ein Rinnsal nur zu Zeiten und der Rest ist Schweigen. Die Emmentaler haben in der überwiegenden Mehrzahl eine Abneigung gegen das viele und schöne Reden. Keinem sind sie abgeneigter und betrachten ihn im Grunde mit Verachtung, als dem «Schnorrenwagner, dem Laferanti, Braschti, Plaveri», der bloße Worte macht, hinter denen nichts steckt. Die Kinder werden entsprechend erzogen. Sind Fremde da, so heißt’s: Schwyg! Bei Tische: Schwyg! Bei der Arbeit: Schwyg! Kommen sie dann in die Schule, so heißt es plötzlich: Red doch, red, worum redsch du nid?

 

Mundartwendungen sind mit Gefühlswerten gesättigt und befrachtet, gehen zu ganzer Wand ein und wirken unmittelbarer als die Schriftsprache. Wo die Schriftsprache Unvorstellbares, Verallgemeinertes setzt zum Beispiel wie bei «stolz», bleibt die Mundart beim vorstellbaren, charakteristischen Einzelbeispiel und setzt «boghälsig». Die Mundart ist eine Sprache, die malt, Bilder schafft, sichtig bleibt. In der Mundart kann man weniger der Eitelkeit frönen, als in der Schriftsprache. Die Fremdwörtler meinen ihrem Rößlein mit Entlehnungen aus allen möglichen Sprachen goldene Hufeisen aufzuschlagen, aber dieses Rößlein hat einen Eselsschwanz. Die Mundart sticht mit scharfem Messer in Eitergeschwüre, schlägt mit Knüppeln wuchtig drein und fitzt mit Besenreisruten. Handkehrum fehlt es ihr 282 nicht an graziösen Wendungen, um Verfängliches unschuldsvoll darzustellen. Und wie spiegelt sich in der kleinsten, unscheinbarsten Wendung der Charakter des Volkes: «Ja nii» sagt der Oberemmentaler. Das heißt: Lieber Freund, ich will dir nicht wehe tun und gebe gerne zu, daß du auch dein Wissen und deine Verdienste hast, und nichts liegt mir ferner, als dich zu kränken. Aber in diesem Falle kann ich dir nicht Recht geben und muß nein sagen, so gerne ich ja sagen würde.

Oder man denke an das biedere «Jerejo». Jere kommt aus Herje und herrjere. Es ist der Herr Jesus, der schnell vor das Wörtchen gestellt wird, um ihm etwas recht vertrauenerweckendes, zuverlässiges zu geben. Wie es der Mundart Freude macht, durch Verkuppelung des Größten mit dem Kleinsten eine komische Wirkung zu erzielen, zeigt die Verbindung «Es Wältsgottsbrösmeli». Ein geradezu furchtbares Bild für den Redner, der nicht von der Stelle kommt und nur Geringwertiges zutage fördert: «Er rybt uf em glyche Loch ume wie ne Chuehschwanz.»

 

Sobald ein schriftdeutsches Wort fehlt, dafür aber ein Mundartwort feiner oder kräftiger, schärfer zeichnet, was man ausdrücken will, darf es unbedenklich gebraucht werden. Jede Gegend hat ihre besonderen Worte und ihre Lokalworte, aus denen oft die wertvollsten Neuschöpfungen entstehen. Gotthelf, Keller zum Beispiel waren Mehrer des allgemeinen, deutschen Sprachgutes. Warum liest man Rosegger so gerne? Weil er eine eigene Sprache hat und sich um keine Regeln kümmert, sondern spricht, wie es ihm ums Herz ist. Ehemals hatte jeder seine besondere Sprache. Hans Sachs, Luther, Uli 283 Bräcker! Heute haben wir die langweiligste Allerweltssprache. Die schönsten Wörter sind erblindet wie alte Fensterscheiben, gleichgültig rollen sie über unsere Zunge. Wir achten nicht mehr auf das Gepräge der Wortmünze, die wir ausgeben. Das Gepräge ist auch kaum mehr erkennbar.

 

Mehrfach schon habe ich die Ansicht äußern hören, Kinder würden leichter richtig sprechen lernen, wenn ihnen die Eltern von Anfang an die Dinge mit dem richtigen, das heißt bei den Erwachsenen gebräuchlichen Namen bezeichneten. Manchen, darunter sogar tüchtigen Schulmännern, scheint der häufige Gebrauch des Diminutiv (Bäumeli, Betteli, Hüseli, Blüemeli) oder des abgekürzten Diminutivs (Bäumi, Betti, Hüsi), sowie anderer eigens für das Kind erfundener Koseformen (Ljri, Greisi [Spielzeuge], Butti, Bebe, schlöfele, furtigoh etc.) kindisch und falsch vorzukommen.

Glücklicherweise wird es keiner rechten Mutter einfallen, sich um derartige Bedenken ernstlich zu kümmern. Es mag aber immerhin nicht überflüssig sein, die hohe Bedeutung dieser Sprachbehandlung klarzustellen. Ihre Berechtigung ergibt sich beinahe von selbst. Niemandem würde einfallen, ein Kind von Anfang an mit Gurkensalat, Salzfleisch oder Senfsaucen nähren zu wollen. Und kein Mensch wird verlangen, daß sich das kleine Bübchen in den derbgenagelten Lederschuhen des Vaters fortbewegen könne. Ebensowenig kann man von den Kindern fordern, daß sie sich gleich in den Sprachformen der Erwachsenen heimisch fühlen sollen. Ebenso unbedingt nötig wie eine eigene Kindernahrung und Kinderkleidung ist eine besondere Kindersprache. 284 Ist ja doch die Kinderseele noch viel zarter und feiner als der kindliche Körper. Ja diese Kindesseele muß von der Mutter erst recht eigentlich zum Leben erweckt werden. Die Liebkosungen und die Liebeslaute der Mutter spielen dabei die Rolle der Dornröschenküsse.

Wehe dem Kinde, das ihrer entbehren muß!

An jeder sorglich behüteten Wiege wiederholt sich aufs Neue, was sich in der heiligen Nacht im Herbergenstall zu Bethlehem begeben hat, wie es uns die alten Meister in herrlichen Bildern dargestellt haben: Könige und Hirten müssen ihre Knie beugen, Ochs und Eselein ihre Reverenz machen vor dem Kindlein in den Windeln. Das unermeßlich Große muß sich demütig neigen und winzig klein werden, das Gewaltige schwach, das Rauhe zart, das Grobe fein, das Bedrohliche harmlos, wenn es sich eine bleibende und freundliche Stätte im Bewußtsein des Kindes erobern will. Und da sich die rauhe Wirklichkeit zu einer solchen Verwandlung nicht bequemen kann, so muß die Mutterliebe dieses Wunder vollbringen, muß dem Kinde einen Zauberspiegel vor das seelische Auge halten, der die Dinge dieser Welt mit holdem Scheine umflossen erscheinen läßt. Dieser Zauberspiegel ist die dem Bedürfnis der Kinderseele angepaßte Muttersprache. (So kindisch und kleinlich diese bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen mag, so unerhört kühn ist sie in Wirklichkeit.) Durch das Mittel der Sprache verwandelt die Mutter Sonne, Mond und Sterne in lauter kleine freundliche Lichtlein (Bubeli), die mit dem Lampenlicht und Herdfeuer, welchen beiden das Kind staunende Bewunderung entgegenbringt, verschwistert sind. Damit ist dem 285 Kinde ein Interesse eingepflanzt, eine Klassifikation der Erscheinungen geschaffen, ihr Hauptmerkmal hervorgehoben, ein geistiges Erfassen angebahnt und das genügt vorderhand vollständig. Denn wie der zarte Pflanzenkeim vorerst nur von all der Feuchtigkeit der ihn umgebenden Erde einen einzigen Wassertropfen aufzusaugen vermag, trotzdem in ihm ein himmelanstrebendes Wachstum und eine felsensprengende Wurzelkraft sich zu regen beginnt, so vermag auch die Kindesseele vorerst wenig von den sie umflutenden Eindrücken zu assimilieren.

Um so notwendiger wird sein, daß alle störenden und bedrohlichen Einflüße fern gehalten werden. Sogar das Tier kennt die zarteste mütterliche Fürsorge. Das Finklein rupft sich mit wahrhaft fanatischem Eifer die eigenen Flaumfedern aus und polstert damit das Nest, damit sich seine Jungen beim Erwachen zum Leben im linden, warmen Bettlein wohlig geborgen fühlen können. Gleicherweise sorgt eine rechte Mutter, daß sich ihr Kindlein, wenn der Nebel vor dem erwachenden Geiste zu schwinden beginnt, nicht in eine gleichgültige, kalte, oder gar in eine unheimliche, furchterregende, feindselige Welt versetzt fühlen müsse. Sie bettet nicht nur den kleinen Leib, sondern auch den Seelenkeim, die knospende Seele lind und weich. Sie setzt es in eine Umgebung, deren Gegensätze alle das Kind mit hellen, freundlichen Blumenaugen anlächeln und einen Hauch paradiesischer Sorglosigkeit und Friedseligkeit atmen. Was irgendwie kalt oder bedrohlich aussieht, dem zieht sie bald ein liebliches, bald ein buntes, komisches Sprachgewändlein an. Sie glättet mit Gewandtheit langweilige, griesgrämige Falten und Runzeln weg, verjüngt, belebt 286 und erwärmt sie. Sie schmeichelt mit ihrer Sprache die scharfen Kanten von Tisch, Bett und Ofen hinweg, verdeckt die Hörner der Kuh, besänftigt die Wildheit des Pferdes und beschneidet der Katze ihre Krallen. In diese Kosenamen liegt für das Kind die Bitte eingekapselt: Hab’s lieb! Siehe, es ist mir auch lieb!

Und alles das tut auch die ungelehrte Mutter, sie hat es aus keinem Leitfaden herausgeklaubt, ihr bedeuten die Orthographie nicht die Säulen der Welt, ihr ruht die Welt nicht auf Paragraphen. Sie tut es kraft ihrer Mutterliebe, die Berge versetzt. Sie handelt nach den ewigen Gesetzen des Herzens. Grammatikalische und stilistische Regeln sind für sie unbekannte Gegenden und mit erfrischender Unbekümmertheit verwendet sie eine Art Diminutiv auch beim Verbum, um die größere oder geringere Stromstärke der Tätigkeit anzudeuten. Sogar das Adjektiv wird unter Umständen mit der Verkleinerungsform bedacht, was aber mehr eine Konzentration bedeutet, bei der die Intensität der Eigenschaft sogar noch gehoben wird.

In dem Maße wie der Geist des Kindes erstarkt, läßt die Mutter mit den kindlichen Formen nach; die gebeugte Welt darf sich langsam strecken. Immer ist ihr die Sprache das, was für den Wanderer die Schraube an seinem Feldstecher, mit deren Hülfe er sich die Gläser so einstellen kann, wie sie seinem Auge am besten passen.

Es ist einleuchtend, daß eine derartige Einführung ins Leben für die spätere Entwicklung geradezu bestimmend sein muß. Je nachdem der Hase im Lager vom Hunde angestochen wird, nimmt er seine Richtung. Wie beharrlich, ja unauslöschbar schlimm Erstlingseindrücke haften bleiben können, davon ein kleines Beispiel. 287 Als ich das erste Mal mit kindlicher und mißtrauischer Furcht einen Molch betrachtete, erzählte mir ein Arbeiter, um sich einen Jux zu machen, Molche seien ganz heillose Tiere mit starken Giftzähnen und einer unglaublichen Kieferkraft. Zum Beweise zeigte er mir eine Hacke (Stöckhaue), die an der stählernen Zunge ein daumennagelgroßes, halbrundes, tiefeingegrabenes Mal aufwies. Ein Molch sei ihm an die Hacke hinaufgesprungen und habe so wütend hineingebissen. Das war für mich ganz überwältigend; in Zukunft galt mir der Molch als das abscheulichste, verrufenste Tier der Schöpfung. Von da an ging ich jedem ruhig auf der Straße liegenden Mölchlein wie einem Geßlerhute ausweg und machte lieber den Umweg um das halbe Dorf, auch dann noch, als ich längst mit der absoluten Harmlosigkeit des Tierchens vertraut war. Ja auch heute noch rinnt mir allemal ein kalter Schauder über die Nerven, wenn ich ganz unvermutet auf das unschuldige Schwarzröcklein stoße, und wenn mir ein Hans Turnach ein solches auf mein Kleid praktizieren würde, so würde ich unzweifelhaft ebenso entsetzt aufschreien wie das Fräulein Fanny (aus Turnachkinder im Sommer), während ich ein Fröschlein oder ein Eidechslein jederzeit ohne Besinnen in die bloße Hand nehme und auch vor der Kröte durchaus kein Grauen empfinde. Wie ganz anders stellt sich ein Kind zu den Tieren, wenn eine rechte Mutter die erste Vorstellung besorgt und die Bekanntschaft einleitet. Von Anfang an tritt es zu ihnen in ein lebhaftes, persönliches Verhältnis von zartester Innigkeit. So erzogene Kinder können um ein verlaufenes Hündlein, um ein verirrtes, mutterloses Vöglein, ein verunglücktes Kätzlein Tränen des reinsten Mitleides weinen, die zu 288 den Tränen Erwachsener an den Gräbern ihrer Angehörigen im gleichen Wertverhältnis stehen wie Perlen zu Kieselsteinen. Ihnen ist es wichtig genug, auch einer kleinen Waldameise ein ehrlich Grab zu graben und den Hügel mit einem Kreuzlein zu schmücken und der Inschrift: Hier ruht eine Ameise.

Vor allem wirkt diese Art der Sprachbehandlung also auf das Gemüt des Kindes. Man könnte hier die Frage aufwerfen, ob wohl die Ungeheuer der Weltgeschichte, die Mörder und Bluthunde auch eine Mutter hatten, die ihnen ihre Mitgeschöpfe lieb zu machen bestrebt war. Was für gemütsarme, liebeleere, unkindliche Kinder würde eine Mutter aufziehen, der die Sprache der Liebkosung verboten wäre! Wie viel Zartes und Feines würde mit einem solchen Verbot nicht bloß aus dem Leben des Kindes, sondern auch aus dem Leben der Mutter verbannt.

Wie viel schwerer müßten dem Kinde die ersten Sprachversuche fallen, wenn ihm keine Mutter mit einfachern und mit den ihm gemäßen Formen beispränge. Es wäre wohl wert, den Einfluß der Kindersprache auf das geistige Wachstum des Kindes wissenschaftlich zu ergründen.

 

Ach das Anfangen! Wenn ich meinen Schülern ein Aufsatzthema gebe, ermuntere ich sie damit: Fängt an wo es euch gelüstet! Und um mich ihnen zu erklären brauche ich ein Bild, das sie kennen: das Bild der Ziege, die am Stricke weidet. In der Mitte steht der Pfahl, das ist die Überschrift. Rundum liegt die grüne Weide zum abgrasen. Ob rechts oder links oder wo sonst angefangen werde ist nebensächlich. Hauptsache 289 ist, daß der Gedankenstrick stets zum Pfahl zurück reicht.

 

Wer ist da im Fehler, wenn er Leuten unter zwanzig Jahren Themen stellt wie: «Der herbstliche Blätterfall in Beziehung zum Menschenleben». Wer ist töricht, der Lehrer oder die Schüler, die nichts mit der Aufgabe anzufangen wissen?

Geistige Notzucht, Anleitung zur Lüge, zur Oberflächlichkeit, zum Pharisäertum! Wie sollen Jünglinge fühlen und denken können wie Greise, die den Tod vor Augen haben! Heißt das nicht, sie zur Heuchelei erziehen? Worte machen, ohne daß eigene Vorstellungen, ehrliche Gefühle, klare Gedanken dahinter stecken, das heißt Phrasendreschen. Wohin man damit gelangen kann, erzählt Maria Waser im Kunstwart. Ein Lehrer stellt als Aufgabe: Steter Tropfen höhlt den Stein. Ein Schüler hört falsch und fabriziert einen Aufsatz über das Thema: Steht der Tropfen, heult der Stein. Ja um Gotteswillen, wie man denn über solchen Unsinn schreiben könne. Ei, das sei gar nicht so schwer. Daß Steine schreien ist ja gar keine so unerhörte Sache, kommt schon in der Bibel vor — und wie sollten sie denn nicht heulen, wenn sie ausgetrocknet sind und Durst leiden! Man nimmt das Thema oder ein Wort daraus und wirft es als Angel in das Meer des Gedächtnisses, bleibt kein Fisch hängen, so doch eine Kröte. Die schmeißt man in die Pfanne, und den Fraß mag verdauen, der ihn bestellte — der Schulmeister.

 

Die schlimmste Art des «höhern» Aufsatzes ist wohl der ästhetisierende, der Literaturaufsatz. Man dachte, 290 wenn man Lesestücke, Gedichte und Dramen recht gründlich seziere, dann müßten die jungen Leute schreiben und gestalten lernen. Man hatte sich getäuscht. Und warum wohl? Ich will Bilder sprechen lassen. Ein Meister baut einen feinen Dom. Techniker zeichnen den Plan nach, messen jede Länge, Breite und Höhe und numerieren jeden Stein. Erhöht dieses Beziffern und Numerieren ihre Freude, ihren Gewinn am Kunstwerk, verleiht es ihnen die Fähigkeit, auch nur ein Waschhaus aufzurichten? Ein Gärtner legt sich einen wundersamen Garten an, ein Kunstwerk in der Einteilung, der Zusammenstellung der Farben. Schüler nehmen ihn zum Muster für ihren Schulgarten und ahmen ihn nach. Aber o weh, die Pflänzlein wollen nicht blühen, die Farben nicht zueinander stimmen, das Unkraut wuchert, das Ganze bleibt ein elendes Gestrupf. Vielleicht aber läßt sich ein Kind nicht verdrießen und legt sich zu Hause ein Gartenbeet an, düngt und bearbeitet es gut und setzt ein paar Blumenstöcklein ein von einer Sorte, die es kennt. Es begießt und pflegt sie mit Liebe und sie blühen und machen ihm Freude. An ihnen studiert es die Lebensbedürfnisse der Pflanzen und lernt mit ihnen umgehen. Nach und nach sammelt es immer neue Arten und beobachtet sie und bald hat es ein hübsches Gärtlein eingerichtet. So will auch der Garten der Sprache gepflegt sein.

Nicht aus Büchern, nicht durch Nachahmung gelangen die Kinder zu lebendigem Sprachgut, das sie sicher beherrschen, sondern durch Beobachtung von Natur und Menschenleben. Jeder Schriftsteller, der nicht ein bloßer Nachahmer ist, sondern Ursprünglichkeit und Eigenart besitzt, wird bezeugen, daß er diesen Weg gewandert 291 ist. «Und wenn Natur dich unterweist, dann geht die Seelenkraft dir auf», heißt es im Faust. Wo frische, tiefe Lebenseindrücke das Herz erschüttern, da quillt der Born der Sprache auf. Wer ins Leben geschaut, der versteht das Buch und den Dichter. Wer nur ins Buch geschaut hat, versteht noch lange nicht das Leben. Nur wenn das Buch dem Kinde zum seelenerschütternden Erlebnis wird, darf es zum Aufsatzstoffe werden. Nur aus innerer Ergriffenheit, aus innerer Anschauung vermag das Kind schöpferisch zu gestalten. Muten wir ihm Aufgaben zu, die es weder begreifen noch bewältigen kann, dann versündigen wir uns gegen seine innerste Natur und sind seine Verführer, nicht seine Erzieher.

Wie können wir wähnen, es zur Wahrhaftigkeit zu erziehen, wenn wir es zwingen, Gefühle und Worte zu heucheln, die ihm fremd sind.

 

Ich glaube, daß meine Bearbeitung des «Hansjoggeli, der Erbvetter» nach Jeremias Gotthelf Aussicht hat, als ein Musterstück seiner Art sich auch in der Zukunft auf dem Spielplan zu behaupten. Im eignet etwas von Gotthelf’scher Fülle und Gotthelf’schem Reichtum. Ich habe während sechs Jahren an dieser Bearbeitung gewerkt.

Es ist auch nicht so, daß es sich um ein Geschenk des Zufalls handelte. Romain Rollands Schrift über das Volkstheater habe ich gründlich durchgangen, und es war mir nicht zuviel, Alfred Kerrs fünfbändiges Werk «Die Welt der Bühne» durchzustudieren, obschon mich das stinkende Selbstbewußtsein Kerrs und seine manirierte Sprache abstieß. Manches kluge Wort, manche 292 feine Beobachtung hat sich mir dabei eingegraben und mir geholfen, mir, dem ja der Zusammenhang mit dem lebendigen Theater fehlte. Dabei habe ich mir aber meine eigene Haltung nicht nehmen lassen, sondern mir nur angeeignet, was mich an innerer Wahrheit überzeugend ergriff.

Kerr ist ja für das Volksstück nicht eingenommen, mit den «dummen Kindbauern» soll man ihm nicht kommen. Diese hätten die Welt nie einen Zoll vorwärts gebracht, daß es aber nicht nur auf das Vorwärtsstürmen ankommt, sondern auch auf das treue Erhalten des Bewährten, Errungenen, bedenkt er nicht. Als nervösem Großstädter und Vertreter des jüdischen Intellekts entgeht ihm eine ganze Welt von Werten, die er nicht kennt. Unter den «dummen Kindbauern» gibt es Menschen, die ihm an wahrer Lebensweisheit hoch überlegen sind. Scharfsinn und Verstand sind eben nicht alles, sie können auch mit seelischer Dürre und Kaltherzigkeit verbunden sein und letzten Endes bringen Glauben und Vertrauen die Welt sicherer vorwärts als Skeptizismus und Pessimismus allein. Und daß der Bauernstand und das Landvolk immer und stets das notwendige Kräftereservoir für die zermürbende, seelenzerstörende Großstadt bilden, ist ihm wohl nicht unbekannt, er will es aber nicht wahr haben, es paßt ihm nicht in seinen Kram.

 

Der Kirchgemeinderat von Wynau wünscht Glockensprüche für sein neues Kirchengeläute und merkwürdigerweise berndeutsche. Nun hat die Mundart wohl ihre Vorzüge: Phrasenlosigkeit, Einfachheit, Bild- und Schlagkraft, Verständlichkeit. Was ihr aber abgeht, ist 293 der hymnische Schwung. Dicht neben dem Schlicht-Einfachen liegt das Banale und viele vermögen beides nicht auseinander zu halten. Ich habe darum geraten, auf die drei Glocken den Engelsgesang der weihnachtlichen Frohbotschaft zu setzen: Ehre sei Gott in der Höhe! Friede auf Erden! Und an den Menschen ein Wohlgefallen! Diese alte Botschaft neuerdings zum Losungswort zu erheben und über das ganze Land klingen zu lassen, scheint mir eine glücklichere Lösung zu sein, als einer gegenwärtigen Strömung (die vielleicht zum Teil nichts ist als Modelaune) zu folgen. Ich würde mich an etwas halten, das ewig gültig ist, das für unsere Zeit wie gemacht erscheint, das überirdischen Weihnachtsglanz ausstrahlt.

 

Unsere Mundart- und Mundarttheaterliteratur ist gegenwärtig in Gefahr zu entarten durch Verkünstelung, in Gefahr, daß es ihr gehe wie dem Jodel, dem Handharfenspiel, den Volksliedern, den Trachten, kurzum allem Volkstümlichen, das der Verkitschung bereits weitgehend zum Opfer gefallen ist. Auf der ganzen Linie droht oder herrscht das Bestreben, Wirkung zu erzielen, Aufsehen zu erregen durch Überladen und maßloses Verzieren, durch Übersteigern und Verfälschen des Gefühlsmäßigen, durch Erkünsteltes. Darum predige ich nach links und rechts: Bleibt bei der Wahrheit, schwindelt nicht Gefühle vor, wo keine sind, haltet Maß im Schmücken, verfallt nicht dem Mundartprunk und den verlogenen Reizmitteln, haltet euch an das Schlichte, Einfache und Ächte, mag es auch äußerlich weniger bestechen und vorübergehenden Erfolg verheißen.

 

294 Man kann Mundartschriftsteller sein, ohne die Sonne für eine Stallaterne und die Erde für einen Säuzuber anzuschauen.

 

Wer immer mit dem Strom schwimmt, kommt am sichersten vorwärts — und abwärts!

Zwischen Gott und den Menschen

Wer wünscht sich eine Wiese, auf der nur eine Sorte Blumen blüht? Wer einen Wald, in dem nur eine einzige Baumart wächst? Wer eine Hofstatt mit einer einzigen Fruchtsorte? Wer möchte die Getreidearten ausschalten und zugunsten einer einzigen Normalart vereinheitlichen? Sollten alle Tiere einen Rüssel haben oder alle die gleichen Hörner? Sollte man den Vögeln nicht die Flügel oder Kämme oder Schwänze abhacken oder den Fischen die Flossen und sorgen, daß alle gleiche Körperform, gleiche Köpfe, gleiche Bewegungsorgane, gleiche Stimme, gleiche Farbe, gleiche Eigenschaften und ein völlig einheitliches Wesen zur Schau trügen?

Nein, so töricht ist kein Mensch, daß er in allen Dingen Uniformiertheit verlangen würde. Auch der Einfältigste begreift ohne jegliche Belehrung, daß diese Artenmenge herrlicher Schmuck und Reichtum, unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des Lebens und ein unermeßlich großes und gütiges Gnadengeschenk Gottes bedeutet.

Jeder findet sich ohne weiteres mit der Tatsache ab, daß es unter den Menschen Große, Kleine, Dicke, Dünne, solche mit blonden, braunen, roten und schwarzen Haaren gibt, solche mit graden Nasen, solche mit 295 Stülpnasen und solche mit Hakenschnäbeln. Auch darin sieht man nichts Außerordentliches oder Schädliches, daß die Geistesgaben der verschiedenen Menschen ganz verschiedener Art sind, daß es unter ihnen Rechnungskünstler, Redhäuser, Bürotiger, Bücherwürmer, Singeriche, Sterngucker, Malkästler, Grübler und Philosophen, Wasserratten und Bergfexe und eine schier endlose Kette anders gearteter Fähigkeiten gibt, das findet man durchaus in Ordnung.

Nun aber kommen wir zu einem Punkte, da hört die Unbefangenheit auf und es weht plötzlich ein anderer Wind, ein heißer, föhniger und stürmischer — das Denken wird eifervoll, sobald es sich um religiöse Dinge handelt. Man meint sich zu versündigen und es Gott schuldig zu sein, strenge und unerbittlich zu urteilen und damit fängt die Verkrampfung an. Hier soll nun plötzlich alles über einen Leist geschlagen werden. Wenn du in diesen Belangen nicht gleicher Überzeugung bist wie ich, dann bist du verloren. Daß auch die religiösen Anlagen, Gaben und Fähigkeiten unter den Menschen ungleich verteilt sind, will man nicht genügend in Betracht ziehen. Und doch liegt es auf der Hand, daß nicht nur die Erbmasse, sondern auch Erziehung, Studium, Umgang und Erfahrung eine individuelle Richtung im Bilden einer religiösen Überzeugung beeinflussen. Es müßte doch klar einleuchten, daß auch die menschlichen Denkapparate und die Fähigkeiten des Fühlens ungleich veranlagt und ausgebildet sind, daß es darum ein närrisches Unterfangen ist, die Menschen religiös gleichschalten zu wollen. Wohl heißt es: eine Herde und ein Hirt! Aber nirgends steht geschrieben, daß diese Herde nur aus einer Tierart bestehen müsse, daß es 296 lauter Schafe, einfärbige Schafe sein sollen, es dürfen sehr wohl weiße, schwarze, braune und gescheckte sein und auch die Öchslein, die Esel und Kamele sollen dabei Platz haben. So soll man auch der menschlichen Gesellschaft nicht Zumutungen stellen, die sie einfach nicht erfüllen kann. Nur das eine darf man von jedem verlangen, daß er seinen Willen richte auf das was gut und wahr und menschenwürdig sei und daß er auch die Art des andern respektiere nach dem Grundsatze: Alles was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das tut ihr ihnen. Das Ziel ist für alle das gleiche: Sittliche Vervollkommnung! Zu diesem Ziel aber führen verschiedene Wege. Wissens- und Glaubensfreiheit ist in der Bundesverfassung gewährleistet, aber dieser Grundsatz wird in Tat und Wahrheit oft verletzt durch Aufdringlichkeit und Übereifer. Es gibt auch einen moralischen Zwang, eine geistliche Unterdrückung. Und sie führt dazu, daß nur äußerlich erfüllt wird, was innerlich nicht bejaht wird. Vergleichsweise machen es die Leute dann wie mit den Haaren. Diese werden gescheitelt, gekräuselt, pomadisiert. Und ähnlich wird eine äußerlich aufgedrungene Seelenhaltung zu einer pomadisierten Religion führen, zu bloßem frommem Getue, zu Heuchelei und Scheinheiligkeit. Warum sollte man sich nicht auch an der Mannigfaltigkeit der Glaubensrichtungen freuen können. Hat doch jede irgend einen Vorzug, einen Lichtpunkt, irgend eine Berechtigung, immer vorausgesetzt, daß sie aufrichtig und ernsthaft sei. Meines Erachtens ist auch die Landeskirche, das heißt manche von ihren Predigern, nicht frei vom Sektenstandpunkt, der sich darin äußert, daß sie sich als Generalpächter und Alleinverwalter der Wahrheit aufspielen 297 möchten, statt immer mehr nach der Wahrheit zu suchen. Im Suchen liegt des Strebens Lohn, wer Wahrheit sucht, der hat sie schon (Hans Klee).

Wie viel reicher, reiner, vollkommener wird das Gebiet des Religiösen beleuchtet, wenn es von allen Standpunkten aus in Angriff genommen wird! Grundsätzlichkeit und Enge sind nicht zu verwechseln, Festhalten am Errungenen, treues Dazustehen schließen Duldsamkeit und Verständnis für die Ansichten anderer nicht aus.

 

Die Waage und das Pendel sind ebensogut religiöse Symbole wie das Kreuz. Maßhalten und Triebbeherrschung sind Grundsätze seelischer Hygiene.

 

Sich selbst gerecht zu werden, seine geistige Freiheit zu bewahren und sich dabei der Gemeinschaft seiner Mitmenschen nützlich und dienend einzuordnen, gehört zum schwersten, was es gibt.

 

Die alttestamentlichen Gestalten als ethische Maßstäbe und Gewichtseinheiten können wir heutige nur noch mit Auswahl und Bedingtheit anerkennen, sie können uns nicht mehr in allem Vorbild sein. Vielleicht haben tausende von Menschen gelebt, die diesen Vorbildern nach dieser oder jener Richtung hin überlegen waren, ohne daß die geringste Kunde von ihnen zu uns gekommen ist, es gibt auch da das Grab des unbekannten Soldaten. Die Bibel ist nicht das einzige Reservoir großer und heilsamer Gedanken, die biblischen Gestalten sind nicht allein die Träger und Förderer der menschlichen Entwicklung. Es gibt tausende und abertausende von Menschen, die heißer um Gott gerungen 298 haben, als ein Abraham, Isaak und Jakob. (Die wirklichen Gottesmänner der Bibel sollen unangetastet bleiben.)

Gott als Realität und treibende Kraft sehen wir im Leben großer Menschen. Einen Moses treibt sie aus einem behaglichen Familienleben hinaus in eine Aufgabe, die ihn zum geplagtesten Menschen der Erde macht. An ihm kann man lernen, welche weltbewegenden Kräfte Ideen sind. Mit den starken Hebeln Gott, Freiheit und Vaterland lüpft er aber ein ganzes Volk aus dem Sumpf.

Die Propheten! Pestalozzi! Irgendwie ist es immer die Kraft Gottes, die sie treibt, die Reformatoren! Aber auch in einem Ramakrishna und Vivekananda und Gandhi wirkt sie lebendig. In jedem guten Menschen tritt sie schwächer oder stärker zutage als Sehnsucht nach Wahrheit, Schönheit, als Liebe und Güte. Muß nun Theologie das ablehnen? Muß Theologie notgedrungen Intoleranz und Enge bedeuten? (Wobei ich allerdings begreife, daß um der Wahrheit und Klarheit willen grundsätzliche Abschrankung notwendig sein kann.)

 

Ich kenne eine alte Frau in meiner Nähe, der die Kartoffelernte allemal eine Festzeit ist, weil sie dabei so recht von Herzen den Segen der Arbeit und den Segen der Erde empfindet. Gottlob gibt es immer noch Bauern, die mit solchen Gedanken und Gefühlen an einem Kornacker stehen, ohne nur an den Kornpreis zu denken.

Hinter diesem Erdsegen leuchtet der alten Frau, dem Grabenmüetti, das Auge und das Antlitz Gottes freundlich 299 auf. Es empfindet dabei die Vatergüte und Vaterliebe Gottes und fühlt sich darin geborgen, sagt dankbar und vertrauend Ja zum Leben und Ja zu Gott und diese Zuversicht hilft ihm immer wieder über schwere Schicksalsschläge hinweg.

 

Ich las in Schweitzers Leben-Jesu-Forschung den Abschnitt über Eschatologie. Nach meiner Laienmeinung handelt es sich hauptsächlich um folgende Fragen: Erlösung durch das Blut Christi oder Selbsterlösung, Arbeit und Schaffung eines diesseitigen Gottesreiches durch die Menschen oder Wiederkunft Christi und gewaltsame Umwälzung im Sinn der spätjüdischen Gottesreicheshoffnungen. Die Gläubigen hoffen immer noch, daß ihnen alles geschenkt werde, die Ernüchterten sehen ein, daß Gott ihnen längst geholfen und soviel geschenkt hat, um es erarbeiten zu können. Freilich nicht in einer Generation, sondern im Laufe der Jahrtausende durch eine langsame, manchmal durch Stillstand und Rückläufe unterbrochene Entwicklung. Wir Menschen sind zu ungeduldig.

Dann die weitern Fragen: Autorität oder eigenes Denken. Immer wieder möchte man die Menschheit auf den Standpunkt der Alten zurückstoßen und ihre Ansichten und Meinungen als göttliche Offenbarung ausgeben. Krieg und Kriegsfolgen, Krise u.a.m. haben die Menschheit so erschüttert, daß sie wieder nach dem Alten greift und sich an jedem Strohhalm zu halten sucht. Auf die Dauer kann aber auch eine bloße Gefühlswelle nicht helfen, sondern muß sich wieder verbinden mit klarem, vorwärtsschauendem, gütigem Denken. Wollen wir denn das kostbarste Vermögen, das uns geschenkt 300 ist und uns über das Tier erhebt, verkümmern lassen. Nein, das wollen auch die Dialektiker nicht, sie sind in gewisser Beziehung sogar eingefleischte Rationalisten.

 

Ihr seid das Salz der Erde! Aber wie einem die Kartoffelröschti schlecht schmeckt, in der einem die Salzkörner unzerschmolzen auf die Zunge kommen, so hat man es auch mit jenen Menschen, die beständig in den biblischen Salzkübel langen und Salz ausstreuen, ohne daß das geistliche Salz sich mit ihrem Wesen vermählt hätte und sich in ihrem Tun und Lassen wirksam erweisen würde.

 

Es gibt liebenswürdige Fehler und erkältende, unerträgliche Tugenden. Lieber, viel lieber will ich mit Menschen leben, die Fehler und Schwächen haben als mit erzlangweiligen, selbstgerechten Tugendbolden.

 

Welt, Erde und Mensch von Rudolf Steiner bietet eine anthroposophische Zusammenschau der kosmischen und menschlichen Entwicklung auf Grund alter Mysterienweisheit. Ohne den Wahrheitsgehalt abwerten zu können oder zu wollen, wird einem klar, daß Steiner auf alle Fälle einer der größten, vielleicht der größte Dichter der verflossenen Jahrzehnte ist und daß er seine Künstlerlocken und -Krawatten mit Fug und Recht trug. Was ihn mit der Theosophie auseinandergebracht hat und darüber hinausträgt, ist das Verständnis für den Christusimpuls und das Bestreben, nicht bloß auf dem Bestand der alten Geisteswissenschaft hocken zu bleiben, sondern selbständig daran zu bauen und sie für die Zukunft 301 fruchtbar zu machen. Man mag sich zu seinem Standpunkt stellen wie man will, das eine wird kein Unparteiischer leugnen können, daß er ein Riesenwerk geschaffen und ein Riesengeist gewesen ist.

Zu Rudolf Steiners Vorträgen über Initiationswissenschaft: Man weiß nicht, soll man eine solche Geistestollkühnheit, die die ganze Welten- und Menschheitsentwicklung durchschauen und beherrschen will, bewundern oder als eine Vermessenheit ablehnen. Es ist aber für Steiner unmöglich, nur Erarbeitungsmethoden zu geben ohne auch von den Resultaten etwas mitzuteilen. Auf diese Weise würde ihm seine ganze Lebensarbeit verunmöglicht. Spätere Geschlechter werden da besser und unbefangener urteilen können, auf Grund der alten Unterscheidungsformel: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Darauf fußend muß ich sagen: Alle Anthroposophen, die ich kennen lernte, haben mir einen vortrefflichen Eindruck gemacht: Pfarrer, Lehrer, Maler, Schriftsteller, alle zeigten sich als über das gewöhnliche Maß verantwortungsbewußte und verfeinerte Leute, die an sich strenge Selbstzucht üben. Es mag ja auch andere geben, aber welche Bewegung hat nicht unerwünschten Anhang?

Der Christusbegriff, wie ihn Steiner einführt oder, besser gesagt, das Mysterium von Golgatha, wie er es würdigt und wertet, das ist mir sympathisch, jedenfalls sympathischer als die dogmatisch-orthodox-kirchliche Verkündigung. Daß Christus als Richter, in den Wolken himmelhoch über der Erde, wiederkehren soll, ist ihm eine Geistestatsache, die für die Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung ist, nicht für das Ende. Christusgeist soll unter der Menschheit herrschend werden 302 und sie vorwärts bringen, wobei der Mensch selbsttätig sein muß und darum nicht unterdrückt werden darf, wie ihn die Krisentheologie unterdrückt. Diese Theologie ist eine Theologie der Furcht, die immer nur wie hypnotisiert auf das Endgericht starrt. Die Anthroposophie enthält eine Theologie der Hoffnung auf Entwicklung (Evolution). Die dialektische Theologie entwurzelt den Menschen, vernichtet ihn in seinem Selbst, erblickt im Streben der Selbsterlösung durch die von Gott geschenkten Kräfte eine schwere Sünde.

Der Anthroposophie mit ihrer Karmalehre ist dieses Streben nach Vervollkommnung unter Mithülfe und Unterweisung durch göttliche Geister Bedingung des Aufstieges. Sie deutet das «Hineinsterben in Christo» nicht als Selbstvernichtung, sondern im Gegenteil als Erweckung und Verfestigung des Besten und Edelsten im Menschen, des wahren, mit Christusgeist geläuterten Ich.

 

Bravsein und rechttun sei ein Dreck vor Gott. Dieser Unsinn geht freilich auf die Reformatoren und Paulus zurück, bleibt aber dennoch unsinnig und graßiert gegenwärtig als Schlagwort, um alle Ethik und allen Idealismus zu bodigen. Daß alles menschliche Streben unvollkommen ist, wird niemand bestreiten und sich nicht dem Pharisäismus in die Arme werfen. Es gibt aber einen Mittelweg. Mein Vater fand ihn, als er unsere sterbende Mutter tröstete: «Wenn dem ärgsten Sünder vergeben werden kann, warum denn nicht dem, der aufrichtig bestrebt war, das Beste zu leisten und auch wirklich sein Möglichstes getan hat.» Und das hat einer gesagt, der jeden Abend herzlich betete und wie ein 303 Kind an der Hand des Vaters vertrauensvoll ins Grab stieg.

Die Geringschätzung des Ethischen, die Herabsetzung allen Rechttuns und Bravseins ist ein Irrgang der Theologie. Diese Auffassung findet sich freilich schon im Evangelium als Ausfluß der Eschatologie, findet sich bei Paulus und den Reformatoren, nicht nur bei der dialektischen Theologie. Das Gottesreich als überethischer Zustand hatte nicht nötig, besonders Gewicht darauf zu legen. Wir haben aber noch nicht das Gottesreich und haben sie nötig. Denen, die nicht mit Glaubensfähigkeit übermäßig ausgerüstet sind, ist sie eine Stütze und es ist ein Unrecht, diese Stütze zu zerschlagen.

Im Gleichnis vom verlorenen Sohn fehlt ein Mittelglied zwischen dem ältern und dem jüngern Sohn. Es fehlt die Tochter, die dem Vater ein Trost sein könnte, die zwischen den Brüdern vermittelt, die am jüngern Sohn mit herzlicher Liebe hängt, trotz seiner Verirrungen, die aber die Verdienste des ältern Sohnes zu schätzen weiß und ihm zuredet, gegen den fehlbaren Bruder nicht hart zu sein. Ladet aber nicht auch der Vater den Ältern ein zum Freudenmahle? Nicht das Rechttun und Bravsein des ältern Sohnes ist ein Fehler, sondern die pharisäische Einbildung auf dieses Rechttun und Bravsein und vor allem die Lieblosigkeit gegenber dem Jüngern.

Schon Paulus und die Reformatoren taten wie alle Menschen tun, sie nahmen aus dem Evangelium das, was ihnen zusagte und bauten es aus, und verloren gar oft darüber den Zusammenhang mit dem ganzen Evangelium. Wollen wir sie schelten? Nein! Jeder greift nach einem Halt wo er ihn findet, und besser ist es, sich 304 irgendwo zu halten, als sich ganz fallen zu lassen. Aber man löse auch denen nicht die Hände, die anderswo angreifen als es die geeichte Theologie tut. Die Bibel ist das Wort der alten Weisen von Gott. Auch zu ihnen hat Gott nie anders geredet als durch ihr Denken und Schauen. Ihr Bestes und Kostbarstes haben sie uns hinterlassen. Wir wollen es hochhalten und verehren. Aber es wäre eine traurige und mißbräuchliche Anwendung, wenn uns die Anbetung der Alten eigenes Denken und Schauen verbieten wollte und als Frechheit und Sünde ankreiden wollte. Prüfet alles und behaltet das Beste, hat doch auch ein Paulus gesagt. Die Menschheit für ewig auf das festzunageln, was den Eschatologen der jüdischen Spätzeit als Höchstes galt, hieße Segen in Unsegen kehren. Wir sind Geschöpfe Gottes, so gut wie sie und nicht geringeren Rechts als sie, mag das anmaßend klingen oder nicht. Freilich meine ich damit nicht etwa Christus, sondern die Apostel. In Christus mischt sich Göttliches und Menschliches in einem überragenden Grade, der ihn über alle himmelhoch hinaushebt.

Nicht Selbstvergottung wollen wir treiben, aber auch nicht jegliche Selbstachtung zertreten lassen. Der Schöpfer hat den Menschen mit Kräften ausgestattet, damit er sich selber helfe. Gott hat dem Menschen die Vernunft gegeben, damit er sie brauche. Wie sympathisch ist das «innere Licht», der Quäcker!

 

Und Gott sprach: Ich schuf dich, damit du mich in dir erschaffest.

 

Im Mittelpunkt theologischer Betrachtung steht immer der Tod als der Sünde Sold. Merkwürdig: Alle Pflanzen 305 müssen sterben, alle Tiere müssen sterben, das ganze Mineralreich muß sterben, Welten müssen vergehen, obschon sie nichts gesündigt haben. Nur der Mensch muß sterben, weil er ein Sünder ist. Ob ein großer oder kleiner, das kommt gar nicht drauf an; der Säugling, der noch nicht gut und böse unterscheiden, der weder denken noch handeln kann, ist dem Tode gleich unterworfen, wie der Mensch in der Vollkraft seiner Jahre und der tatenlose Greis, der verantwortungslose Irrsinnige oder der Idiot.

Und doch kann es die Kirche nicht lassen, den Tod als Sündenfrucht und Sündenstrafe hinzustellen, Todesangst zu pflanzen, Todesschrecken zu verbreiten in einer verwerflichen Weise. Daß der Tod ein ehernes Gesetz ist, dem alles Leben unterworfen ist, daß ohne Tod das Leben ein Schrecken würde, unendlich schrecklicher als der Tod selber, wird von unserer Theologie meist übersehen. Östliche Weisheit sieht darin viel tiefer. Sie weiß noch etwas davon, daß der Tod letzten Endes Gnade ist und nicht absolut Strafe sein muß. Strafe sein kann er, ihn aber ausnahmslos hinzustellen als Sündenstrafe für den Fall der ersten Eltern Adam und Eva und als Strafe für jeden Menschen, ist eine Ausflucht der Theologie, um sich die Menschen gefügig zu machen, sie zu unterwerfen.

Darum tut man wohl, selber zu prüfen und sich nicht alles weismachen zu lassen. Mit der Unterscheidung von gut und böse ist das Entwicklungsprinzip in die Menschheit gekommen. Was waren die ersten Menschen vor dem Sündenfall? Unschuldige, aber auch entwicklungsunfähige Tierchen. Erst durch den Ungehorsam wurden sie sündig, aber auch mündig, wurden sie Menschen, 306 kämpfende, ringende Geschöpfe, mit eigener Verantwortung belastet, aber gerade dadurch auch gehoben. Mit dem Schlaraffendasein war’s freilich zu Ende, aber als Heilmittel wurde ihnen das Geschenk der Arbeit zuteil, nicht eine Strafe, sondern ein köstliches Geschenk, das dem Leben freilich Sorge und Anstrengungen beigesellte, damit aber auch Wert und Würze gab, es schwer, aber auch reich und fruchtbar machte.

 

Gelesen in W. Muschgs «Mystik in der Schweiz»: Hoch und frei reckt sich im frömmlerischen Gewimmel seiner Zeit die Gestalt Meister Eckehards auf! In ihm schlägt noch einmal östliche Weisheit durch. Auch die Sünde vermag den Menschen nicht von Gott zu trennen. «Vollkommenheit ist nicht möglich ohne Sünde!» Nach ihm kann die Sünde auch als etwas Gutes angesehen werden, weil sie vor Hochmut bewahrt und antreibt, Gott zu lieben. «Die Sünde ist auch ein Werk Gottes, nicht nur der Menschen.» Das will wohl sagen, daß die Sünde ein Erziehungsmittel Gottes sei, von ihm selber in eine ewige Ordnung gestellt. «Sünde ist schon Weh und Strafe genug.» Der Mensch sei damit schon genug geschlagen und gedemütigt, daß er einsehen müsse, schwer gesündigt zu haben. —

Herrliche Aussprüche, die so völlig meinem eigenen Denken und Fühlen entsprechen.

 

Man hat oft das peinliche Gefühl, daß den Theologen (gottlob nicht allen) die Bruderliebe fehlt. Sie möchten richten, rächen und strafen und weil sie selber die Macht nicht haben dazu, soll Gott es an ihrer Stelle tun. So vor 307 allem die dogmatisch verknöcherten, die das Brot aus lauter Sauerteig kneten möchten.

 

Man hat die Bibel verglichen mit einem abgrundtiefen See, aus dem jedes Kind mit der Hand schöpfen könne, den aber kein Geschöpf der Welt auszutrinken vermöge. Jeder schöpft an der Stelle, die ihm am leichtesten zugänglich ist, wo ihm das Wasser am erquickendsten erscheint. Jeder holt sich das heraus, was ihm für ihn als besonders bestimmt erscheint, was ihm als das Wahrste und Bedeutsamste unmittelbar einleuchtet und sich am besten mit seiner seelischen Verfassung und seinen Beobachtungen und Erfahrungen vereinigen läßt. Das andere, was ihm nicht so bedeutsam oder sogar zweifelhaft erscheint, läßt er unbeachtet nebenher gehen oder setzt sich mit diesem oder jenem in Widerspruch, wenn es ihm nicht gelingt, es so zu verstehen und zu deuten, daß es für ihn fruchtbar wird. Diese Art Bibellesen ist sicherlich nicht nach dem Geschmack der Kirche. Sie sieht darin einen Mißbrauch, eine Auflehnung gegen das Bibelwort, eine Anmaßung des Menschen. Geht man aber einen Schritt weiter, so gewahrt man, daß auch die Theologen und kirchlichen Richtungen die Bibel nicht anders lesen, nicht anders lesen können als so, und daß jede Richtung wieder das herausliest und hervorhebt, was zu ihrem Gedanken- und Glaubenssystem paßt. Nur wollen sie das nicht wahr haben und gelten lassen und trumpfen auf mit Gotteswort und göttlicher Offenbarung und alleinigem Rechthaben. Im Grunde ist aber just dieses alleinige Rechthaben- und Verstehenwollen auch eine Anmaßung, denn wer kann von sich selber behaupten, daß er ein Gefäß des Heiligen Geistes 308 sei? Ist nicht ehrliches Streben nach Wahrheit und Klarheit das Höchste, was dem Menschen möglich ist? Wohl gibt es absolute Wahrheit, aber sie zeigt einem jeden Menschen ein besonderes Gesicht und darum muß es einem jeden erlaubt sein, sie mit seinen Mitteln und Gaben zu erfassen. Wie oft habe ich erfahren, daß einem dieser oder jener Spruch der Bibel plötzlich bedeutsam wird und aufleuchtet, weil man endlich im Leben auf den Standpunkt gekommen ist, von wo aus man dies Leuchten wahrnehmen kann, wahrnehmen muß. Es gibt Bibelwahrheit, die unmittelbar aufleuchtet, so daß sie keines Beweises bedarf. Es gibt Bibelwahrheit, deren Verständnis erst durch Erlebnisse angebahnt und gefördert wird.

 

Wer gegen den Himmel spuckt, dem fällt der Geifer auf die eigene Nase.

 

Es ist unglaublich, wie es mir ergeht. In hundert Pfarrhäusern bin ich in den letzten Jahrzehnten zu Gast gewesen. Und wen habe ich da angetroffen? Fast lauter liebe, freundliche, zuvorkommende Menschen. Und wie danke ich es ihnen? Mit Geschimpf und Ablehnung ihrer Bestrebungen, soweit sie reaktionär sind. Wie ist denn das zu verstehen? Sachlich, nicht persönlich! Der Mensch ist ein Produkt seiner Vererbung, seiner Erziehung, seiner Erfahrung und stark beeinflußt durch Zeitströmungen, Zeitereignisse! Je nachdem kommt er zu einer bestimmten Überzeugung. Das Recht einer solchen Überzeugung nehme ich auch für mich in Anspruch, auch das Recht, mich dafür zu wehren. Deswegen wünsche ich aber keinem Gegner auch nur das geringste 309 Böse. Der Pfarrerberuf ist wohl heute einer der schwersten und die heutige Pfarrergeneration eine der rührigsten und pflichteifrigsten. Das darf zu ihrer Ehre gesagt werden, auch wenn man nicht mit der Richtung einverstanden ist, die die heute vorherrschende Theologie der Dialektiker einschlägt. Es gibt auch unter dieser Richtung tüchtige Vertreter, die nur das Beste wollen, es aber nach meiner Meinung auf verkehrtem Wege suchen, wenn sie alles Menschliche vermöbeln und verholzen wollen zur größern Ehre Gottes. Ich glaube an den Menschen (trotz aller Scheußlichkeiten der letzten Jahrzehnte) und wehre mich dafür.

 

In jeder Religion liegt ein Wahrheitskern und mich ergreift immer eine große Rührung, wenn ich daran denke und zu überblicken versuche, wie die Vertreter aller Rassen bis in den hintersten Weltwinkel hinein nach göttlicher Erleuchtung und Hülfe streben in tausenderlei Art und Form. Wäre es nicht etwas Bejammernswürdiges, wenn diesem Streben nicht von der andern Seite etwas entgegenkommen würde, wenn das alles umsonst und leere Täuschung wäre? Aber just um dieses Strebens willen mag ich es nicht leiden, daß unsere dialektische Theologie am Menschen nur den Sünder sieht. Ein Sünder ist er, aber ein Sünder, der sich nach dem Lichte sehnt und es nicht verdient, daß man ihn immer nur verkrosen und zerknirschen will. Hülfe man ihm doch, das Gute in ihm zum Wachstum zu bringen, statt ihm immer sein Böses um die Nase zu schlagen.

Das Wichtigste, mein lieber Christ
Ist heut, daß du ein Sünder bist!

 

310 Nun habe ich Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit gelesen und es ist mir einigermaßen klar geworden, was die Anthroposophie unter übersinnlicher Erkenntnis versteht. Indessen ist auch das intuitive Denken immer noch an ein Organ gebunden, genau wie die Sinneseindrücke, und die Gefahr, falsch zu denken, keineswegs geringer als die Gefahr, falsch und ungenau zu hören oder zu sehen. An Stelle der religiösen Offenbarung setzt Steiner seine eigene Offenbarung. Mir scheint aber, daß zwischen seinem Wissen und dem Glauben der andem im Grunde kein so großer Unterschied sei (wenn man vom Glaubensinhalt absieht und nur die Geistestätigkeit in Betracht zieht). In beiden Fällen handelt es sich um ein überzeugt sein von irgend einer Wahrheit. Worte sind da Schall und Rauch. Auch zwischen Intuition und Spekulation scheint es mir, ist die Grenze schwer zu ziehen. Und nehmen nicht die Anhänger seine Offenbarungen glaubend auf? Stehen nicht auch seine Erkenntnisse, der Inhalt seines Denkens in Gefahr, später dogmatisch zu verknöchern? So sehr er sich gegen alles Dogmatische wehrt und für völlige Freiheit des Denkens sich einsetzt. Wie er das tut, finde ich kühn und begeisternd. Aber auch hier lauert im Hintergrunde eine Gefahr; die der Selbstvergottung. Sie ist freilich nicht so groß wie etwa bei manchen Künstlern, die ihr Wissen und Können als Summe aller Intelligenz und Erleuchtung einschätzen, ihr Werk über die ganze Schöpfung stellen und somit hochmütig den Teil für größer anschauen als das Ganze. Von diesem Hochmut findet sich bei Steiner nichts. Hoch schätze ich auch seine Einsicht und Duldsamkeit ein. Er weiß, daß es vielen unmöglich ist, zu denken wie er denkt und will niemanden zwingen, 311 sich ihm anzuschließen. Nur wer aus Einsicht und freiem Willen kommt, ist ihm schätzbar.

 

Kann man die Menschen verachten, ohne sich selbst mitzuverachten? Man mag sich über die andern erheben wie man will, man gehört doch zu ihnen, bleibt Mensch und Mitbetroffener! Und verbrennt mit der Säure, mit der man andere äzt, die eigenen Finger und die eigene Seele. Das Gericht über die andern wird zum Selbstgericht. Das Volk sagt schlicht und treffend: Wer andern nichts traut, ist selber nichts wert.

 

Diese öffentlichen Beichten gehen mir wider den Strich. Die Katholiken haben ein Beichtgeheimnis, das leuchtet mir viel besser ein. Es ermöglicht eine Seelenführung, ohne daß der Bekennermut in eine Bekennerwut umschlägt und die Seelen durch Massensuggestion überrumpelt werden. Ich zweifle nicht, daß diese Oxfordbewegung Gutes will und Gutes stiftet, aber die Gefahr der Veräußerlichung, der Verflachung droht auch ihr, das Neue, die Sensation, das Getue mit seiner eigenen Besserung und Erhöhung wird auch sie entwerten. Bei einer jeden Bewegung gibt es bloße Nachläufer, und immer sind es die oberflächlichen und darum schlechten Anhänger, die ihr am meisten schaden.

 

Auf eine Bekehrung ist nicht viel zu geben, wenn sie nicht ausmündet in ein beständiges Wachsein.

 

Bekehrungswut ist immer ein sicheres Zeichen für Geistesenge.

 

312 Niemand wird Karl Barth um seiner Haltung im deutschen Kirchenstreit willen die Hochachtung versagen. Wenn er wie eine Mauer das Wort aufrichtet: «Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen!» ist das einem Hitler gegenüber sicherlich eine hochgerechtfertigte Manneshaltung und Christentat. Aber auch dieses Wort schützt nicht vor Irrtümern. Wir Menschen können Gott nicht anders als menschlich begreifen und erkennen und damit ist immer der Möglichkeit Tür und Tor geöffnet, daß wir das als göttlichen Willen betrachten, was unser menschlicher Wille ist. «Gott will es», schrien die Kreuzfahrer, als sie über die Mauern Jerusalems stürzten und Greise, Weiber und Kinder erbarmungslos hinmetzelten.

 

Warum ich während neun Tagen nichts ins Tagebuch schrieb: Weil ich von morgens früh bis abends spät über zwei Werken Karl Barths saß: Über dem «Römerbrief» und dem «Credo». Bis mir der Kopf rauchte! Die Theologie Barths spielt heute eine Rolle, so daß man sich mit ihr gezwungenermaßen auseinandersetzen muß, auch wenn man keine große Neigung dafür hat. Dabei wird es dem mit dem Öl der Theologie ungesalbten Laien, der nur seinen nüchternen Lebens- und Menschenverstand hat, nicht leicht, sich in diesen Wirrgängen auch nur einigermaßen zurechtzufinden und man kommt sich anmaßend vor, wenn man nicht gleicher Meinung sein kann und seine Vorbehalte zu machen hat.

Der «Römerbrief» Barths entstand während des Weltkrieges, die erste Ausgabe, die mir zur Verfügung stand, ist eine Frucht des Entsetzens über die Weltlage 313 und die gegenwärtige Menschheit. So ist es denn nicht weiter verwunderlich, daß sie von einem tiefen Pessimismus durchzogen ist. Barth hat den Ernst der Lage erfaßt und geht mit Ernst dagegen vor. Niemand wird diesem Vorgehen die tiefe Berechtigung absprechen können, sondern mit ihm einig gehen: Es kann und darf nicht so weiter gehen, es müssen Wehren gebaut werden! Es muß ungeheuer Vieles besser werden!

Aber nun frägt es sich, wie das geschehen könnte, welche Heilmittel in Anwendung gebracht werden sollen. Barth kennt nur eines: Glauben an Gott, und zwar an den Gott der Bibel und die Wörtlichnahme dieser Bibel als der ausschlaggebenden Offenbarungsquelle Gottes.

Dabei zeigt Barth eine merkwürdige Vorliebe für den Gott des Zornes, fast in jedem Kapitel seines Kommentars zum Römerbrief kommt dieser Gott zur Erwähnung. Es ist also der Gott des alten Testamentes, der ihn am meisten anzieht. Als Herr und König wirkt Gott, dem Ausdruck «Vater» weicht Barth geflissentlich aus. Denn Gott Vater nennen, heißt ihn verharmlosen. Der Urheber dieser Verharmlosung heißt allerdings Jesus Christus, denn er hielt es für nötig, Gottvertrauen den Menschen einzuflößen. Auch Paulus ist der Gedanke der Gotteskindschaft nicht fern, aber in das System Barths, das der frevelhaften Menschheit einen heilsamen Schrecken einflößen möchte, paßt dieses Verhältnis nicht. Jedenfalls nehmen ihn die, denen er am meisten in die Glieder fahren sollte, die Menschenungeheuer von heute, am allerwenigsten ernst, während empfindliche Gewissen dadurch in Not gebracht werden. Allerdings geht der Schrecken an denen vorüber, die glauben können. 314 Glauben heißt die einzige Himmelspforte, die Barth offen läßt. Daß in der Menschheit sich ein Bewußtseinswandel vollzogen hat und die Menschen von heute nicht mehr die gleiche Glaubensfähigkeit haben, wie vor zwei Jahrhunderten und zwei Jahrtausenden, darauf nimmt Barth nicht Rücksicht. Für ihn kommt Zeit nicht in Betracht, da er weder an einen Fortschritt noch an eine Entwicklung glaubt. In der Bibel kommen verschiedene Anschauungen von Gott und seinem Wirken und Willen zum Ausdruck, womit erwiesen ist, daß die Bibel Offenbarung enthält, aber nicht in allen Teilen eindeutige Offenbarung ist. Sie gibt uns Kunde davon, wie den Alten Gott in ihrem Schauen und Denken erschienen ist. Was sie gefunden, haben wir Heutigen vorbehaltlos zu glauben. Nach Barth haben wir die Bibel nicht voraussetzungslos und neutral zu lesen, theologische Auslegung kann nicht neutral sein, sie muß der Bibel recht geben. Gewiß haben uns die Alten (geistlich verstanden) Wohnungen gebaut, Gärten angelegt, Ringmauern zum Schutz errichtet, aber wenn wir daran nichts ändern und ausweiten dürften, würden sie uns zu hemmenden Kerkern. Wenn die Alten das Recht hatten, nach der Wahrheit zu suchen, wer will dieses Recht den Heutigen abstreiten. Die Bibel soll nicht zum Gefängnis für den Menschengeist werden!

Wenn sich der Mensch ein Recht herausnimmt, ist das (insofern ich Barth recht verstehe) die schwerste Sünde. Dies scheint mir ein Irrtum zu sein. Die Ichsucht bekämpfen, aber nicht das Ich auslöschen wollen. Den Eigenwillen zügeln und zum Guten lenken, nicht brechen! Das Menschliche darf nicht einfach erwürgt werden! Wenn es Kirkegaard (auf den die dialektische 315 Theologie zurück geht) Freude machte zu beweisen, daß der Mensch Gott gegenüber immer im Unrecht sei, ging er eben an der Tatsache vorbei, daß es Gott in seiner Güte Freude zu machen scheint, dem Menschen so viel Recht und Selbständigkeit zu schenken, daß seine Existenz nicht nur gesichert, sondern auch eine menschenwürdige sei.

Barths Vorgehen reißt den Baum aus seinem Erdreich, statt ihn zu lichten, ihm die dürren Äste und Wasserschoße zu entfernen und ihm Edelreiser aufzupfropfen. Freilich kann der Baum nicht allein leben von dem, was er aus der Erde zieht, Licht und Luft sind ihm ebenso nötig zu seinem Gedeihen und Fruchttragen. So würde auch der Mensch verarmen, entarten und zugrunde gehen, wenn ihm nichts Göttliches eingepflanzt wäre. Aber an dieses Göttliche im Menschen scheint Barth nicht, oder nur sehr schwach zu glauben. Ihm ist der Mensch (wenn ich ihn recht verstehe) durch und durch verdorben, nichts als ein Gefäß der Sünde. Sicherlich hat der Weltkrieg mit seinen Scheußlichkeiten und Unflätereien den Glauben an den Menschen weithin erschüttert. Aber hat sich in dieser Zeit nicht auch christliches Erbarmen, menschliche Güte gezeigt, auch wenn sie die Greuel alle nicht zu verhindern vermochten? Und stellt man sich nicht in Widerspruch zu Jesus selbst, wenn man dem Menschen alles Gute abspricht? Hat er nicht die Friedfertigen, Sanftmütigen, die nach Gerechtigkeit Dürstenden selig gesprochen und einen barmherzigen Samariter als Vorbild aufgestellt?

So könnten noch viele Einwendungen gemacht werden, es lohnt sich nicht. Das ganze System ist zu verwerfen. Mit dieser Theologie, die den Totalitätsanspruch 316 der Kirche wieder herstellen möchte, die dem Menschen jegliche Kraft zum Guten abspricht und mit sehenden Augen an der Wahrheit vorbeigeht, die jegliche Vernunft verleugnet, ist nicht zu paktieren. Es ist eine Glaubensdiktatur. Barth ist der Feind und Unterdrücker der Geistesfreiheit. Wie würde es ausfallen, wenn diese Richtung die Macht in die Hände bekäme? Wie arm wäre dann unsere Schule daran?

Ist es nicht traurig, um eines abstrakten Lehrgebäudes willen am blühenden Leben vorbeigehen zu müssen? Und ist es nicht Kleinglaube zu wähnen, die religiösen Grundwahrheiten der Bibel ertrügen eine vernünftige Prüfung nicht? Ist menschliche Vernunft und Denkkraft nicht auch eine Gottesgabe, so gut wie der Glaube?

 

Die Kirche klagt: Der Mensch hat den Glauben verloren! Mit viel mehr Grund könnte man klagen: Die Kirche hat den Glauben an den Menschen verloren. Man glaubt die Menschen zu kennen, wenn man recht schlecht von ihnen denkt. Man kennt nicht mehr Menschen, sondern nur Sünder. Wesentlich ist nicht mehr, daß der Mensch Gutes leistet, weit wichtiger ist es, daß ihm seine Sünden bewußt sind. Die Kirche mieschet heute vornehmlich an der Schattseite. Niemand bestreitet ihr das Recht, dem Sünder gehörig zuzusprechen. Aber das ist die Frage: Ob sie auf dem rechten Wege ist, wenn sie von der Menschennatur überhaupt nur Schlechtes denkt. Die Art wie der Mensch, auch der strebende Mensch, der guten Willens ist, eingeschätzt wird, ist eine lieblose. Warum muß der Mensch ein miserables Geschöpf sein? Zur größeren Ehre Gottes? 317 Je elender das Werk, desto größer der Meister, je miserabler und sündhafter das Geschöpf, desto heiliger der Schöpfer?

Zu Jesu Zeiten gab es unter den zwölf Jüngern nur einen Judas. Heute sind die Christen allesamt Judasse, gibt es keinen Weizen mehr auf dem Acker, sondern lediglich Unkraut!

Das Bild Gottes mußte renoviert und in alttestamentlichen Schreck- und Schauerfarben angestrichen werden, das lebenspendende Sonnenlicht muß wieder zur roten Höllenglut gesteigert werden, der Macht-, Gewalt- und Herrschgeist will wieder in die Kirche einziehen.

 

Die dialektische Theologie möchte im Religiösen eine Art Diktatur errichten. Hinter all diesem Streben steckt auch eine Wahrheit und ein guter Sinn: Der Verlotterung und Verwirrung zu steuern und etwas Festes, Sicheres und Einheitliches an die Stelle zu setzen. Dabei schießen diese Bestrebungen aber unheilvoll über das Ziel hinaus und werden zu einer Knebelung der Geistesfreiheit, die gefährlicher ist als das Chaos selber. Mit Schreckensdrohungen von ewiger Verdammnis wird ein Glaubenszwang ausgeübt, gegen den man sich mit aller Kraft wehren muß, wenn nicht die edelsten Geistesgüter und Errungenschaften ganzer Jahrhunderte verloren gehen sollen. Um einer einigen und machtvollen Kirche willen soll das Individuelle und die Persönlichkeit unterdrückt werden und doch kam alles Große und Förderliche von charaktervollen und erleuchteten Persönlichkeiten.

 

318 Letzter Tage ist mir ein wunderbares Büchlein in die Hände gekommen: Die Stimme Pestalozzis, eine knappe Zusammenstellung seiner Grundsätze in Zitaten aus seinen Werken. Was ich da gelesen, stimmt so sehr mit meiner Lebensauffassung, daß ich davon begeistert wurde. Der Abschnitt über das Religiöse ist eine Widerlegung der Barth’schen Theologie, wie sie nicht besser sein könnte, mir ganz aus dem Herzen gesprochen. Pestalozzi glaubte an das Göttliche in der Menschennatur und nicht daran, daß Gott das «ganz Andere» sei. Er glaubte fest, daß sich dieses Göttliche im Menschen immer durchringen werde, möge es zeitweilig noch so sehr mit Unrat überdeckt sein.

 

Gestern las ich Brunners «Unser Glaube». Auch Brunner operiert mit Höllenangst und ewiger Verdammnis und verweist triumphierend darauf, daß auch Jesus selber damit gedroht und daran geglaubt habe. Wie kann man behaupten, Gott sei die Liebe, sei ein gnädiger und barmherziger Gott, wenn die Menschen für ihre kurzen, irdischen Sünden ewig gestraft werden sollen! Meines Wissens sind es die Täufer Denk und Blaurock gewesen, die als erste auf die völlige Unvereinbarkeit dieser Annahme hingewiesen haben. So wenig wie Feuer und Wasser einander ertragen, so wenig lassen sich Vaterliebe und ewige Höllenverdammnis miteinander verbinden. Ein Gott, der seine Geschöpfe ewig strafen könnte, wäre der grausamste aller Teufel. Ein Gott, der von den Menschen verlangt, daß sie ihre Feinde lieben, daß sie siebenzigmal siebenmal vergeben sollen, und sich versöhnlich zeigen sollen, stünde unendlich tief unter ihnen und wäre die verkörperte Rachsucht und 319 Heuchelei, wenn er selber nicht auch sein Gebot hielte. Mit diesem entsetzlichen Wahn fanatischer Priester hat Gott nichts zu schaffen, das ist nicht mehr Heiligkeit, sondern Rachsucht, und wer ihn auf diese Weise zu furchtbarer Größe erheben will, der lästert ihn und macht ihn zur Karikatur. Und wenn das unsere Reformatoren nicht zu erkennen vermochten, waren sie in diesem Punkte unzulänglich, und die genannten Täufer standen weit über ihnen. Hier muß einmal noch besser reformiert werden, Bibel her, Bibel hin!

 

Ich glaube nicht, daß es mir möglich wäre, meinen größten Feind in die Höllenglut hinunter zu stoßen. Und wenn ich es in einem Wutanfall getan hätte, würde ich ihn nicht eine Stunde darin lassen können, sondern ihm wieder heraushelfen und meine Zorneshitze bereuen. Gott, das Urbild der Liebe und Güte aber sollte einen Sünder ewig in der Verdammnis lassen können? Wenn der Mensch Rechenschaft geben muß über sein Leben und Strafe empfängt dafür, was er Böses getan hat, so wird diese Strafe eine väterliche sein und nicht eine teuflische.

 

Ich lese das Buch von Leonhard Ragaz: «Der Kampf um das Reich Gottes in Blumhardt, Vater und Sohn und weiter». Statt «und weiter» hätte Ragaz ruhig schreiben dürfen «und mir», denn er ist der kongeniale Gesinnungsverwandte der beiden Blumhardt. Sein Name wirkt auf viele wie ein rotes Tuch. Es ist eigentlich ein Jammer, daß ihn die meisten nur beurteilen nach dem Geifer, den seine Feinde über ihn in den Zeitungen herabfließen lassen. Mit der Aufschrift «Verrückter 320 Antimilitarist» wird er abgestempelt für den Kehrrichtkübel. Die wenigsten haben eine Ahnung, was für eine geistesmächtige und glaubensstarke Persönlichkeit er ist, und wie er seinem Gewissen eine glänzende Laufbahn geopfert hat. Jeder moralische Fötzelhöck, jeder geldhungrige Geschäftshuber, jeder charakterlose Carrièremacher meint an ihm seine Klauen abwischen zu dürfen.

Wer seine Bücher gelesen hat und nicht total befangen ist, wird ergriffen sein vom Kampfe dieses Mannes und ihn achten und hochschätzen müssen, auch wenn er ihm nicht überall nachkommen mag und nicht sein ausgesprochener Parteigänger sein kann.

 

Die Lehre Jesu ist so innig mit den seelischen Bedürfnissen der Menschheit verwachsen, daß nichts an ihre Stelle treten kann und sie zu ersetzen vermag.

 

Furcht und Schwäche sind nicht die besten Grundlagen der Religion. Dankbarkeit und Liebe pflanzen besseres Vertrauen. Aber das Wort Gottvertrauen ist bedenklich im Kurswert gesunken. Gottesfurcht und Glaube gelten mehr. Für mich hat das Wort Gottesfurcht wenig rechten Sinn. Ehrfurcht vor Gott gilt mir mehr. Wenn wir Ehrfurcht haben vor Gott werden wir uns hüten, etwas zu tun, was ihn betrüben könnte und uns seiner Liebe und Güte unwert machen müßte.

 

... Und doch wäre so leicht von der göttlichen Liebe zu reden. Wie ist die Liebe einer Mutter, eines Vaters, Bruders, einer Schwester, einer Freundin so groß, so erhaben, und doch ein schwaches, schlechtes Abbild 321 der göttlichen Liebe. Wie das Glühen des Leuchtkäferchens im Verhältnis zum Lichte der strahlenden Sonne.

 

Ich will mir nicht den Glaubenszipfel aus den Händen reißen lassen, der mich so oft getröstet und angespornt hat und halte mich an das Einfache, Verständliche, zum Beispiel an die Stelle im 1. Johannesbrief 4.K.16.V., die ich mir auf den Grabstein wünsche:

Und wir haben erkannt
und geglaubt die Liebe,
die Gott zu uns hat.
Gott ist die Liebe
und wer in der Liebe bleibt,
der bleibt in Gott
und Gott in ihm


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