Ernst Georgy
Aus den Memoiren einer Berliner Range
Ernst Georgy

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Kunst und Gunst

Lotte schwamm in Wonne. Bei ihnen wurden die Vorderzimmer von Maurern, Malern und Tapezierern in Ordnung gebracht, da gab es soviel Unordnung und Schweinerei in der Wohnung. »Es war einfach entzückend!« Schon, daß man eng zusammengequetscht in dem Zimmer der Schwestern speisen mußte, hielt sie für eine herrliche Abwechslung. Ihr Interesse für Farben und Stuccaturarbeiten wuchs in wenigen Tagen derart, daß ihr beglückter Vater erklärte: »Das Mädel hat Sinn für Schönes, so was muß man fördern!« So brachte er ihr denn richtig am nächsten Tage einen großen Kasten mit Tuschfarben und Pinseln mit. »Aber nicht wieder Tiere quälen, Lotte, das bitte ich mir aus. Sieh mal, Kind, mit diesen Dingen muß man einfache Sachen verschönern. Zum Beispiel hier sind Bogen, auf denen sind uns die Abenteuer des Odysseus aufgezeichnet. Nun muß man ausprobieren, welche Farben am besten zu einander passen und die schönsten Wirkungen geben; die trägt man dann mit den Pinseln sauber und nicht zu dick auf die Gewänder, Bäume, Kähne und so weiter auf. Verstehst du, wie ich das meine? Ja, gut! Ich werde eins der Bilder antuschen, und du versuchst es dann bei den andern!«

Die pfiffige kleine Person führte aber ihre Probearbeiten mit so viel Geschmack aus, daß ihr Vater ihre ersten Bilder sofort triumphierend jedem Bekannten zeigte. Er nahm Lotte auch verschiedenemal in die Nationalgalerie mit und weckte und förderte ihr Kunstverständnis durch vernünftige Erklärungen. – Sobald eine ihrer Schwestern nach Verlauf einiger Wochen irgend ein illustriertes Buch aus dem Bücherschrank nahm, gab es Aerger und Schelte. Fast jede Illustration war von Lotte übermalt und durchaus nicht immer sehr sauber. Dann hieß es aber stets: »Daran ist nur Papa schuld, solch' Kind versteht das noch nicht!« – Die Schwestern mußten ihren Grimm verschlucken, und die Jüngste ging frei aus.

Die Renovierung des ganzen Hauses innen und außen hatte auch eine solche des Gartens zur Folge. Beete und Wege wurden in Ordnung gebracht und die Lauben gestrichen, nur der Spielplatz blieb von dem allgemeinen Reinigungstaumel verschont. Da Herr Marker ein Mann von Bildung war, erstand er bei herumziehenden Italienerjungen eine Reihe von größeren Gipsstatuen. Die schönsten und größten, Hebe, Fortuna, Viktoria und Pallas Athene, wurden auf Sockeln in den Beeten verteilt und »machten sich famos«. Die Jungen und Lotte waren ordentlich stolz auf die neuen Zierden ihres ureigensten Gebietes. Sie rannten mit Kühne Wette, um die Göttinnen abendlich unter Dach und Fach zu bringen. Sobald der Himmel sich dunkel bewölkte und die ersten Tropfen fielen, öffnete sich bei Markers das Küchenfenster und der ehrsame »alte Kaffer«, wie ihn seine jüngsten Mieter respektwidrig nannten, rief mit Stentorstimme: »Kühne, Kühne! . . . Lotte!,.. Jungens! . . . Kinder, tragt Heben und die andern Griechen in die Kabuse! Es wird gleich losgießen!«

Sie fanden dabei auch absolut nichts lächerlich, sondern gehorchten in diesem Falle ausnahmsweise aufs Wort. Tief im Hochsommer hatte nun der biedere Hauswirt seinen Geburtstag, der immer ein Fest für unser Quartett war. Frau Regierungsrat buk eigens dazu einen riesigen Cremor-Tartari-Kuchen, Haffners sandten eine Torte und Helms einen Blumentopf durch die Kinder zu Markers hinab. Dieser wiederum vergalt die alljährliche Spende mit »feiner Aufnahme«. Es gab stets Himbeerwasserbowle und Theekuchen, wobei pro Besuch zwei Stücke berechnet waren. In einer sentimentalen Anwandlung hatte sich Lotte zu einem dieser Festtage einst das Gedicht: »Gott grüß Euch, Alter, schmeckt das Pfeifchen« einstudiert und damit von Marker, der es für eine rührende Anspielung auf seine Erlebnisse hielt, reichen Dank geerntet. – Auch diesmal zerbrach sie sich schon wochenlang vorher mit den Jungen den Kopf, wie sie den herannahenden Tag noch besonders feiern könnten. Fritz und Franz beschlossen, ihm ein Liedchen ganz früh am Morgen zu blasen, Mäxchen sollte dazu trommeln und Lotte auf einem alten Gewehr des Majors einige Zündhütchen abknallen.

Alles, was knallte, war ihr aber höchlichst unangenehm, darum übernahm sie die Trommelei. »Ich kann mir überhaupt nicht helfen,« sagte sie, »aber es ist nicht genug! Diesmal müssen wir was Besonderes thun. Wir haben ihm Pussy totgemalt, du . . . Donnerwetter, ich hab's. Wozu habe ich denn den Tuschkasten? Natürlich ihr kommt nicht auf so was, ihr seid wirklich belämmert! Wir malen ihm die Griechen an; aber recht schön, dann wird er sich doch freuen!«

»Das ist wirklich 'ne famose Idee, Lotte!« meinte Franz. Mäxchen sagte, den Himmel sinnend betrachtend: »Wenn es doch bloß pladderte, daß wir die ollen Dinger von den Sockeln 'runternehmen und in der Laube malen könnten. So langen wir doch nich' 'ran!«

»Marker ist mit seiner Frau nach den ›Zelten‹ gegangen, zum Kegelklub! Wir können es auch so riskieren!« rief Lotte. »Sonst trocknet die Geschichte auch nicht mehr!«

Sie stürzte fort, den Kasten zu holen, und kam nach wenigen Minuten mit ihm wieder zum Vorschein. Die vier Göttinnen standen schon auf den Bänken in der Laube aufgepflanzt. »So,« befahl Lotte glühend vor Eifer, »jetzt bekommen sie alle schwarze Haare, blaue Augen und rote Lippen. Die Kronen, ich meine die Diademe, kriegen zwei aus Gold, zwei aus Silber!« Mit hastiger, leidenschaftlicher Aufgeregtheit bearbeitete jedes Kind eine der Figuren. Da sie damit gleichzeitig eine Art Wettkampf um die Meisterschaft verknüpften, gab sich jedes die größte Mühe. Kein Wort wurde gewechselt. Die Arbeit schritt vor, und schon nach einer Stunde waren die Köpfe fertig und sahen nicht übel aus. Mit weiser Vorsorge erwog die Besitzerin des Tuschkastens nun, daß ihre Farben nicht für die ganze Gewandung der Göttinnen reichen würden. Darum bemalten sie nur die Ränder und die Gürtel mit recht grellen Streifen und vergoldeten noch die symbolischen Abzeichen einer jeden. Die bunten Gipsgestalten nahmen sich gar nicht schlecht aus. Mit unsäglichem Stolze trommelten die Kinder die Dienstboten des ganzen Hauses zusammen. Alle kamen in den Garten und bewunderten die Kunstwerke. Schließlich mußten selbst die Eltern hinabsteigen und beäugen. Der Major, Herr Helm und der Rat lachten über die modernisierte Klassik nicht wenig; aber sie verhehlten doch eine gewisse Besorgtheit nicht, daß Markers über diese Ueberraschung ärgerlich sein könnten. – Nachdem noch das Ständchen genau geprobt und verabredet war, trennten sich die vier Kinder, ungeduldig den nächsten Morgen ersehnend.

Sie schliefen wohl längst den Schlaf der Gerechten, als sich ein starkes Gewitter zusammenballte und über Berlin niederging. Kühne schloß um zehn Uhr gerade das Haus ab, als der Regen herabströmte. Er torkelte nach dem Hofe und starrte in den Garten, über dem blaue Blitze zuckten. Seine umnebelte Gedankenwelt lichtete sich, als die kalte Wassermasse auf ihn heruntergoß. »Sünd ooch dü Jriechen drün?« fragte er sich dumpf, denn es war ihm so, als hätte er sie heute nicht von den Postamenten gehoben. Langsam schwankte er in das Dunkel hinein nach der Laube. Da fiel ihm ein, daß die »Bälger« ja heute die Puppen bemalt hätten und er nun endlich die erwünschte Gelegenheit habe, Rache an ihnen zu nehmen. Mit Vorsicht tappte er sich bis zu den Werkzeugen seiner Niedertracht durch. In der kurzen Helle, welche die Blitze verbreiteten, trug er sie in den Regen hinaus auf ihre Plätze und zog sich triumphierend und triefend in seinen Keller zurück. Sein Höllenwerk war trotzdem von Helms Bertha, die am offenen Fenster liebessehnsuchtelte, beobachtet worden. »Na warte, du Halunke, du Trunkenbold, das streich' ich dir an, damit willste bloß die Kinder reinfallen lassen!« flüsterte sie vor sich hin. Die vier Rüpel standen bei ihr in höchster Gunst.

Markers Geburtstag brach sonnenglänzend an. In höchster Gala erschienen Lotte und die Jungen und schreckten den Rentier mit ihrem Ständchen und dem Geknall aus dem Morgenschlummer. Er erhob sich äußerst geschmeichelt und erschien im Schlafrock mitten unter ihnen.

Lotte geriet bei seinem Kommen in solche Begeisterung, daß sie kurz Ordre gab: »Wir singen ›Heil dir im Siegerkranz‹!« Drei Verse wurden glühend abgesungen.

Der also Gefeierte kam sich wirklich neben den Knirpsen wie ein Fürst auf dem Thron inmitten treuer Vasallen vor. In einer für ihn königlichen Aufwallung befahl er Lina, schnell jedem für bare zehn Pfennig Pflaumenkuchen zu holen. Das Mädchen wollte ihren Ohren nicht trauen, um aber die »Spendierhosenstimmung« für ihre Günstlinge zu benutzen, raste sie zum Bäcker und erwischte noch vier Stücke, die noch vom Abend vorher übrig waren.

Die Geschenke wurden überreicht, die Gratulationen der Eltern übermittelt, die Aufwartung verzehrt.

»Nun kommt ja erst die Hauptüberraschung,« sagte Lotte strahlend, »Sie müssen mit uns in den Garten kommen!«

Huldvollst geruhte das Geburtstagskind mitzugehen. Er mußte am Eingang die Augen schließen und versprach, sie nicht zu öffnen, ehe Fritz: »Jetzt« schreien würde.

Alle Dienstmädchen waren an den Fenstern. Helms Bertha ging merkwürdigerweise in weißer Schürze am Eingang ebenfalls auf und ab. Auch sie knixte und gratulierte dem in Wonne schwimmenden Hausherrn.

Er ließ sich von Lotte und Fritz führen, öffnete aber entsetzt die zugekniffenen Augen, als ein vierstimmiger Schreckensschrei an sein Ohr drang. Starr blickte auch er auf seinen Stolz, die sich sonst so »edel« aus dem Grün erhebenden »Griechen«. Da standen sie: aber wie sahen sie aus! Das Rot, Schwarz, Blau, Gold und Grün war ineinander geflossen, vom Regen verwaschen und in die Poren des Gipses eingedrungen. »Die schönen Puppen sind futsch!« kreischte er verzweifelt.

Es gab Geheul, Schelte, Wutausbrüche, als das brave Dienstmädchen mit der Wahrheit an den Tag kam. Die Eltern der Vier versprachen, neue Göttinnen zu stiften, und so entlud sich denn Markers berechtigter Zorn nur auf Kühne. Der stand wieder »im Thran« teilnahmlos da.

»Danken Sie es Ihrer wackeren Frau und den kleinen Kindern, wenn ich Sie überhaupt behalte. Sie niederträchtiger Trunkenbold!« donnerte ihn der Wirt an und ließ die Sonne seines Wohlgefallens wieder über den noch immer weinenden Kleinen strahlen. Sie waren bitter enttäuscht über die mißlungene Ueberraschung.

Man munkelte im ganzen Hause verstohlen, daß Frau Kühne, eine wirkliche Musterfrau, ihren Gatten manchmal mit »Handwachteln« traktiere, wenn er's gar zu toll treibe.

Lotte heckte mit ihren Konsorten einen teuflischen Plan aus, wie sie dem »schlechten Kerl« zu solch einem ehelichen Zärtlichkeitsbeweis verhelfen könnten. Eines Nachmittags hatte die Portiersfrau ihren Gatten auf einen Stuhl vors Haus gesetzt, den Kinderwagen neben ihn postiert und ihm den Auftrag gegeben, auf seinen schlafenden Jüngsten aufzupassen.

Lotte bemerkte dies und kam auf einen genialen Einfall, als sie Kühne nach einer Viertelstunde schnarchen hörte. Die Verschworenen schlichen hinzu, hoben das schlummernde Kühnekind sorglich aus den Kissen des Wagens und trugen es ins Kellergeschoß, wo sie es vorsichtig auf das Lager seiner älteren Schwester betteten. – Dann schleppten sie aus der Kabuse die vermalte, verregnete Hebe heraus und legten sie in das winzige Korbgefährt.

Vom Haffnerschen Balkon aus beobachtete unser Quartett, was nun kommen würde. Nach einer Stunde kam die Kühne von ihrer Wäscheablieferung zurück, verschwand in ihrer Wohnung und kehrte mit einer Flasche Milch wieder. Sie trat zum Wagen, lüftete die Vorhänge, beugte sich zärtlich hinunter und – prallte zurück. Glühend rot vor Wut drehte sich die cholerische Frau um und versetzte eins, zwei, drei dem noch immer schlafenden Gatten zwei feste Maulschellen. Dieser fuhr empor und überlegte, was er denn nun wieder verbrochen.

»Frau Kühne« – rief Fritz jetzt von oben herab – »ängstigen Sie sich nicht. Ihr Paule liegt auf Marthas Bett. Wir haben's gethan, um uns für Herrn Markers Geburtstag neulich zu rächen. Nun können Sie sehen, wie er aufpaßt!«

»Freche Jöhren, wenn ich euch doch auch mal verwichsen könnte!« murmelte die Kühne vor sich hin. Sie war aber still, trug den Wagen in ihre Behausung und holte sich dann ihren Mann nach. Unten wird er wohl nicht gerade mit Zärtlichkeiten überhäuft worden sein, denn man hörte die rüstige Wäscherin noch lange toben und jammern. Der Kampf zwischen dem Hauswart und den Kindern rückte nun in ein neues Stadium. Sie waren fortan für einander Luft; keine Partei kümmerte sich mehr um die andre.

Schräg über die Straße lag ein winziger Laden, in dem ein Inhaber nach dem andern verkrachte. Jeder Erwerbszweig des Geschäftslebens war daselbst schon probiert und fallen gelassen worden. Seit einem Jahre behauptete sich dort eine »uralte Jungfrau«; unsre Vier, ihre Hauptkunden, schätzten sie auf mindestens fünfundvierzig Lenze. Sie betrieb einen Handel mit Papier, Federn, Abziehbildern und andern für die Schule notwendigen Dingen. – Sei es nun, daß die »alte Giftmorchel«, wie Lotte sie nannte, zu mürrisch war, zu wenig Auswahl hatte oder wirklich schlechte Ware kaufte, kurz, am Ende des Jahres mußte auch Fräulein Lobbes ein rotes Schild ans Schaufenster kleben. Auf diesem stand: »Ausverkauf«. Gretchen Thronick, Lotte Bach und die ganze Klasse kamen nun täglich, irgend einen Gegenstand zu verlangen, der bereits nicht mehr vorhanden war.

Seit nun Max Helm in seinem jüngst gekauften Gummi Löcher und Maden entdeckte, seit Franz dünne, an Stelle der gewünschten englischen Löschblätter erhalten hatte, verschworen sich auch die drei Jungen gegen die unglückliche Lobbes. – So kam bald Fritz, bald Franz und forderten unglaubliche Dinge, wie ein Pfund »Borsdorfer Aepfel mit Wärzchen« oder »entkernte Pflaumen«. Die Lobbes ließ sich zum Schutze ihren großen fünfzehnjährigen Neffen kommen. Sobald nun eines der Kinder hereintrat, rief sie: »Adolf, sei so gut und komm her!« Der handfeste Bursche erschien dann mit drohender Miene. –

Da galt es denn für die Verschworenen, die Taktik zu ändern. Sie mußten ernstere Dinge heraussuchen. Da standen sie denn mit Greten und Lotten minutenlang kichernd und nachdenklich vor den Stufen, die hinaufführten, und überlegten Büchertitel. Dann ging eins von ihnen, blaurot vor verhaltenem Gelächter, hinein und verlangte das Buch: »Le soldat mort ou la pomme de terre« oder den Schmöker: »Mazeppa oder die erdolchte Kosakin«. Selbstverständlich fiel die arme Ladenbesitzerin die ersten beiden Male auf die Dummheit hinein. Sie durchkramte ihren ganzen Büchervorrat, ohne diese Werke der Litteratur zu finden. Dann kam sie hinter diese Schliche und zeterte fürchterlich.

In den nächsten Tagen beruhigte man sie durch ernste Heftkäufe und begann dann von neuem. Wenn es halb zwei Uhr wurde, fühlte die Lobbes ein nervöses Zittern. Sie wußte, ihre Peiniger nahten. So sann sie auch auf Bestrafung; denn auch der getretene Wurm krümmt sich.

Der Straßendamm wurde aufgerissen. Hohe Sandhügel erhoben sich zu beiden Seiten der Trottoirs. Man wollte neue Röhren legen und dann asphaltieren. Nun hielten sich unsre Rangen erst recht auf der Straße auf, um nur ja keinen der Vorgänge zu übersehen. Sie quälten dann die Lobbes, so oft diese sich in der Ladenthür zeigte. »Haben Sie jetzt schon Hefte mit blauem Deckel?« fragten sie sogleich.

»Für eure lumpigen Groschen schaffe ich nichts mehr an, das wißt ihr doch!« brummte sie dann.

»Wir brauchen sie aber!« trumpfte Fritz.

»Geht wo anders hin, dumme Jöhren! Ich verkaufe aus!«

»Dann nicht, meine Schönste, dann haben wir gescherzt!« hieß es oder: »Lobbesen, Sie werden noch Hoflieferant!«

Ein anderes Mal fragte Lotte sie ganz ernst: »Ach, entschuldigen Sie, Fräuleinchen, Sie haben doch sicher noch den alten Fritz gekannt, wie sah der eigentlich aus?«

So quälte man das arme Wurm mit der ganzen Grausamkeit einer noch verständnislosen Jugend. Jeder Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Die Geduld der geplagten Lobbes war zu Ende. Sie beschloß jetzt, den fünf Bälgern ihre Frechheiten einzutränken. – Wie die Spinne im Netz auf die Fliege lauert, hockte sie hinter der Ladenthür und wartete auf ihre einzigen, aber ach, so schändlichen Kunden.

Und sie kamen!

An einem Sonntag früh – die Sandhügel lagen noch, aber die Arbeiter fehlten heute – kamen sie: die drei Jungen und Lotte, sowie Gretchen Thronick in einem hochroten Kattunkleid. Kichernd hielten sie wieder vor der Treppe Rat. Dann eilten sie, die Mädel voran, die eisernen Stufen hinauf. Noch waren sie nicht ganz oben, da riß die wütende alte Jungfer zornglühend die Thür auf und erschien mit einem weißen Porzellangefäß. Es war von der Art, die man sonst nur unter Betten und in verschwiegenen Nachttischen bewahrt.

»Infame Tierquäler!« kreischte sie und goß eine nicht gerade wohlriechende, gelbe Flüssigkeit über die schreienden Kinder aus. Diese machten wie wahnsinnig kehrt und stürzten brüllend davon über die Sandhaufen bis auf die andre Straßenseite. Der Laden wurde geschlossen, und die Rolljalousie rasselte laut herab. – Die fünf begossenen Kinder blieben atemlos stehen.

»So ein Schwein!« keuchte Fritz. »Wißt ihr, was das war?«

»Ja, pfui Deibel, äx!« erwiderte Lotte, sich schüttelnd. »Ich habe die ganze Schute« (eine Hutform) »voll!« Sie senkte beständig nickend den Kopf.

»Mein rotes Kleid, das neue Kleid, o weh, seht doch, das gibt sicherlich Flecke. Na, aber die Schelte!«

Die Mädchen waren besonders angefeuchtet, weil sie die ersten gewesen waren. Sie eilten zur Pumpe und wuschen sich mit naß gemachten Taschentüchern wenigstens den Geruch ab. Dann wanderten sie schweigsam in der Sonne auf und ab, um zu trocknen. Erst als sie sahen, daß wirklich gelbe Flecke auf dem roten Kleid Gretes und dem dunkelblauen Hute Lottes zurückblieben, fügten sie sich ins Unvermeidliche. Dann kam ihnen auch das Lustige der Situation zum Bewußtsein und sie quiekten vor Vergnügen über dies »ferklige Sprengmittel«. Der Rat lachte aber diesmal nicht mit, er war entrüstet und schäumte über diese schmutzige Person mit ihrem ekelerregenden Thun. Er erschien bei Jungfer Lobbes im Laden und erklärte ihr, sie der Polizei übergeben zu wollen. Nachdem man einige Minuten lang einen erbitterten Wortkampf vernommen, wurde es plötzlich still. Die vier Rangen lauschten betroffen vor dem Geschäft. Nach einer Weile trat der sonst so gütige Mann sehr ernst heraus. Er ging mit den Jungen und Lotte ruhig in eine der Lauben des Gartens. Dort setzten sie sich alle nieder.

»Ihr treibt es aber zu arg!« sagte er beinahe traurig. »Ihr wißt, daß ich gewiß über unartige Streiche nicht allzu böse bin. Berliner Kinder seid ihr nun mal, und die dürfen schon Rangen sein und dumme Streiche machen! Das tobt sich aus! Jedoch echte Berliner Rangen machen wohl dumme, aber nie schlechte Streiche! Das habt ihr aber gethan und leider schon zum zweitenmal! Arme Tiere quälen und eine einsame alte Jungfer kränken, ist eine Schlechtigkeit, bei der mir das Lachen vergeht! Ihr habt mich damit tief betrübt und müßt euch sehr zusammennehmen, um mein Vertrauen wieder zu erlangen! Geht, geht, ihr seid noch keine wahren Berliner!«

Diese Worte wirkten mehr, als alle Schläge es vermocht hätten. Tief beschämt saßen die Vier da, die Köpfe gesenkt und leise ihren Thränen freien Lauf lassend. Als sich nun der Regierungsrat erhob, stürzte Lotte mit einem Jammergeheul auf ihn zu: »Papa, Papa, verzeih', wir wollen ja auch alle von jetzt an echte Berliner Rangen werden, sei nur wieder gut!« Er wurde nun von allen Vieren geküßt, mit Thränen betaut und empfing so viel ernste Versprechen, daß er Generalpardon erteilte. Er wußte bestimmt, daß Fritz, Franz, Mäxchen und seine Lotte nichts Schlechtes mehr mit Absicht thun würden.


 << zurück weiter >>