Ernst Georgy
Aus den Memoiren einer Berliner Range
Ernst Georgy

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Drittes Kapitel.

Harmlose Kleinigkeiten.

Bei Herrn Regierungsrat Bach ist Gesellschaft. In namenloser Erregung fegt Lotte durch die Zimmer. In ihrem Eifer, auch bei den Vorbereitungen mitzuhelfen, taucht sie bald in der Küche auf, wo sie selbst die alte, nervengehärtete Kochfrau aus der Fassung bringt. Bald wirtschaftet sie neben den Schwestern im Speisezimmer und den Salons. Nachdem sie unter Aechzen und Stöhnen die silbernen Messer mit einem weichen Leder abgerieben hat, vertraut ihr die Mama einen Stoß Teller an. Sie soll mit einem reinen Tuch die blanken Ränder nachwischen, damit man keine Fingerspuren darauf wahrnehmen kann. Das erste Dutzend ist ohne Schaden auf dem Büffett untergebracht, da frohlocken die Teufel des Uebereifers bei dem zweiten. Ein Teller liegt zertrümmert am Boden, ein andrer zeigt zwei abgestoßene Kanten. – Mit einer schallenden Ohrfeige wird das bestürzte Kind seiner Thätigkeit enthoben und in die hinteren Gemächer verbannt. Tiefbeleidigt zieht Lotte sich zurück, nimmt die Lieblingspuppe auf den Arm und kauert in ihrem Schmollwinkel – der Puppenecke – nieder.

Schwarze, düstere Gedanken bewegen sie und nehmen rachelustige Formen an, Sie brütet still vor sich hin, bis sie plötzlich das Köpfchen hebt und die kleine Nase schnüffelnd in die Luft streckt. Merkwürdig süße, künftige Delikatessen verratende Düfte schmeicheln zu ihr herüber. Sie atmet sie wohlgefällig ein, schnellt dann aus ihrer hockenden Lage empor und begibt sich auf die Suche. Richtig! Im Nebenraum, auf einem langen Tisch hat Frau Schütz die Herrlichkeiten des kalten Büffetts, Kompotts und Speisen aufgestellt. Ein gierig sehnsüchtiges »Donnerwetter« entfährt ihr. – Langsam umkreist sie zu verschiedenen Malen die Tafel. In ihren Fingerspitzen zucken unerlaubte Wünsche, zieht es geheimnisvoll. In der Angst, nicht mehr widerstehen zu können, verfällt sie auf ein Gebet und sagt es stoßweise halblaut vor sich hin, trotzdem es in keinem Zusammenhang mit den gewollten Sünden steht: »Befiehl dem Herrn deine Wege und warte – auf ihn – er – und warte – – ach, mein lieber Gott, ich möchte doch aber so gern – bitte, laß doch eine Schüssel 'runterfallen und kaputtgehen, damit ich sie auflecken kann.«

Jedoch nichts dergleichen geschieht. Dazu ist Madame Schütz viel zu vorsichtig. Das Kind beherrscht sich mit verzweiflungsvoller Vorsicht. Seine Blicke wandern über die mit eingemachten Kirschen, Quittenscheiben und Eiern verzierten Salate, auf denen malerisch prächtig wirkende Muster prangen. Gott sei Dank! Auf dem Hummersalat liegen die Preißelbeerhäufchen und die Früchte ganz schief in der gelben Mayonnaise. Da muß sie ja nachhelfen. So geht es doch wirklich nicht! Flink wird das Zeigefingerchen benetzt und langsam rückend gleitet es auf der verzierten Oberfläche hin und her. »So,« meint Lotte befriedigt, »nun geht es. So sieht's viel besser aus!« Dabei saugt sie hier und da an der Fingerspitze, an der doch immer ein wenig von all dem Guten sitzengeblieben ist. Nur schade, daß an den andern Gerichten so gar nichts zu verbessern ist! – Langsam schleicht sie zu ihren Puppen zurück und beginnt zu spielen; aber ein unsichtbares Tau scheint sie gewaltsam wieder an den Vorratstisch zu ziehen. – Sie ergreift daher ihre drei Lieblinge und sagt nach ihrer Gewohnheit halblaut: »Wartet, ihr armen Kleinen, ihr müßt doch auch etwas von der Gesellschaft sehen, kommt man mit Mama!«

Und den »armen Kleinen« wird nun die Herrlichkeit erklärt und gezeigt. Dann setzte Lotte die Puppen auf einen Stuhl, und um die Zeit zu vertreiben und die Wünsche zu übertäuben, spielt sie Schule mit ihnen. »Dreimal sechs, Feodora?« – »Achtzehn!« – »Gut, mein Kind! – Achtmal zwölf, Iwan?« – »Sechsundneunzig!« – »Bravo! – Nun noch siebenmal fünfzehn, Rosalinde?« – »Hundertfünf!« – »Sehr nett, das habt ihr gut gemacht!«

Dreimal wird die Prüfung wiederholt und fällt jedesmal zur Zufriedenheit der Lehrerin aus. »Dafür sollt ihr belohnt werden!« ruft Lotte befriedigt. »Aber womit?« Sie schaut umher: da liegt ein kleiner Löffel. Ihr Herz pocht vor plötzlichem Jubel. Nun weiß sie, womit sie den musterhaften Fleiß ihrer Schülerinnen belohnen kann; dagegen würde Mama nichts haben. Sie hat ihr selbst etwas Wundervolles versprochen, wenn sie einmal eine Prämie nach Haus brächte! Na, und die drei haben sich doch wirklich eine Prämie verdient. Was aber? Nun, ein Löffelchen Kompott, das ist doch eine große Belohnung und wird nicht gemerkt.

Also schnell eingetaucht! So! Nun bekommt jede Puppe ihren Löffel Stachelbeeren. Ei, das schmeckt, nicht wahr? An der Schüssel ist noch keine Abnahme zu sehen. – So nimmt die gewissenhafte Prüfung ihren Fortgang, und nach einigen Rundfragen muß immer der Löffel zur Prämienausteilung herhalten. Lottes Gewissen ist aber erwacht, denn schon zeigt ein Rand an der Schüssel an, wie weit die süße Masse einst reichte und wie viel tiefer das Niveau von Fach zu Fach des Examens sinkt. Schelte gibt's doch, sogar »dolle«; also weiter! Ihr Herz pochte unruhig, und in der Aufregung jagt sie jetzt mit den Fragen und Antworten. – Wohl selten hatte ein noch so gewissenhafter Lehrer mit seiner Klasse solches Glück vor dem Schulinspektor, wie diese kleine Lehrerin mit den glühenden Wangen, denn ihre Zöglinge versäumen keine Frage! – So müssen denn die geduldigen Stachelbeeren auch immer von neuem herhalten. Mit der letzten Frage: »Rosalinde, welches ist der höchste Berg in Asien?« – – »Der Gaurisankar!« – – »Brav!« ist auch die Schüssel geleert. –

Nun steht das kleine Mädchen doch entsetzt davor. »Ach, lieber Gott, schon!« Die Thränen dringen ihr in die Augen, und wie versteinert bleibt sie an dem Ort der That stehen, trotzdem sich Schritte nähern. – Schwester Ella erscheint mit einer eben fertig gewordenen Schüssel: »Gut, daß du hier bist, Lotte! Ich muß dich gleich in Ordnung bringen. Papa will, daß du beim Abendbrot dabei bist. – Was hast du denn?« Ella betrachtet den Verzug, der ihr sehr merkwürdig vorkommt, und überschaut dann die Tafel. Sofort riecht sie »Lunte« und spürt die Ursache bald heraus. »Nanu, Lotte, wo sind denn die Stachelbeeren? In der leeren Schüssel hier waren doch zwei Liter davon! Hast du etwa genascht?« – Drohend blickt sie auf die Sünderin, die sich ihr plötzlich mit lautem Gebrüll an den Hals wirft: »Ach, meine liebe, gute Ella,« schluchzt sie, »ich habe ja gar nicht genascht, wahrhaftig nicht; – aber ich habe mit den Puppen Schule gespielt, und – da – haben – sie immer so gut gekonnt, und da mußte ich ihnen doch Prämien geben – so –«

Ella beißt sich krampfhaft auf die Lippen. »Was,« sagt sie, scheinbar sehr zornig, »zwei Liter Stachelbeeren zur Prämienverteilung, das ist doch unerhört.«

– Nun folgte eine lange Strafpredigt, welche die Sünderin völlig zerknirscht anhörte. Der Schluß war ein Versöhnungskuß und das Versprechen, der Mama erst morgen von der »Verfressenheit« Kunde zu geben. Zuletzt bekam Lotte erst einen tüchtigen Schluck Natronwasser als vorbeugendes Mittel und wurde dann niedlich gemacht. – Nach ihrer Art hatte sie das verübte Verbrechen längst vergessen, als die ersten Gäste eintrafen.

Von allen Anwesenden reizte Lotte eine liebenswürdige Greisin am meisten. Sie wich nicht aus der Nähe der würdigen Frau Oberbürgermeisterin und zeigte sich so aufmerksam und musterhaft, daß die alte Dame ganz entzückt war von »dem süßen Herzchen«. Was lockte nun aber das jugendfrische Ding zu ihr?

– Die arme alte Dame war fast taub und trug ein großes Hörrohr, das sie jedem hinreichte, der mit ihr zu sprechen wünschte. Den ganzen Abend zerbrach sich Lotte den Kopf, was sie nur fragen könne, um endlich einmal den riesigen schwarzen Schlauch des nützlichen Instrumentes in die Hand zu bekommen. Daß die Oberbürgermeisterin nebenbei noch mit einem Riesenkropfe begabt war, erhöhte ihren Zauber des Ungewöhnlichen noch bei ihrer kleinen Verehrerin. – Im Speisezimmer herrschte lebhaftes Stimmgewirr. Die vorzüglichen Speisen, witzige Toaste belebten die Stimmung merklich. Lotte verhielt sich nachdenklich, sie grübelte nach und biß auf keine der Redereien an, die necklustige Freunde ihr zuschleuderten. Ihr Vater, der mit ihr Staat machen wollte, ärgerte sich über ihre Schweigsamkeit und sagte zu seinem Schwager: »Wahrscheinlich haben meine Frau und die Mädel mir das Kind so eingeschüchtert, daß sie nicht den Mund aufzumachen wagt. Schade, daß du sie nicht in ihrem vollen Glanze genießen kannst. Du machst dir keinen Begriff von ihren Tollheiten. Der wildeste Bengel kann nicht mehr leisten.« Bei diesen Worten strahlte sein Gesicht in väterlichem Stolze.

Das Eis wurde herumgereicht, und eine kleine Ermattungspause trat in der Unterhaltung ein, als sich Lotte plötzlich erhob und mit verklärtem Ausdruck auf die Oberbürgermeisterin zutrat. Mit flehender Gebärde ergriff sie stolz das Hörrohr. Diese Bewegung lenkte alle Blicke auf sie. Alles schwieg, begierig des Kommenden harrend. Die Kleine hob sich auf die Zehen, wurde glühend rot vor Anstrengung und brüllte mit ihrer hellen Kinderstimme vernehmlich: »Frau Oberbürgermeister!«

»Ja; mein Herzchen?« entgegnete diese milde, dabei lieb lächelnd. »Frau Oberbürgermeister, ist der Kropf und die Taubheit in Ihrer Familie erblich?«

»Nein, Herzchen!«

Ein panischer Schreck legte sich über die bisher so muntere Gesellschaft, Die Wirte wurden kreideweiß, denn sie sahen die verstörten Mienen der beiden Töchter der alten Dame, die wutentbrannte Blicke wechselten. »Allmächtiger!« stöhnte die Rätin fassungslos, »das Mädel bringt mich unter die Erde!«

Inzwischen hatte die älteste Schwester schon Lotte gepackt und aus dem Zimmer gebracht.

»Du gehst sofort ins Bett!« sagte sie, bebend vor Entrüstung. Die Kleine war ganz erstaunt, sie fühlte sich unschuldig, und noch klang in ihrem Herzen die stolze Wonne nach, den »Hörrüssel«, wie sie das Ding nicht ganz unpassend bezeichnete, benutzt zu haben.

Drinnen hielt die Verstörung an, bis die liebe alte Dame laut sagte: »Aber, meine verehrten Herrschaften, bitte machen Sie doch nicht solche entsetzten Gesichter! Glauben Sie ja nicht, daß das kleine Engelchen mir weh gethan hat, die Frage ist doch recht logisch gewesen!« Sie lachte herzlich und brach damit den Bann.

Das »Engelchen« hatte sich schnell getröstet und Mäxchen Helm über die Hintertreppe zu sich geholt. Beide saßen einträchtig in der Küche und leckten mit hingebendem Fleiße die verschiedenen Schüsseln aus. Ein paar recht heiße Tage brüteten über der Reichshauptstadt. Alle Menschen ächzten und stöhnten über die Hitze. So oft es ging, nahm Frau Regierungsrat Bach ihren Strickstrumpf und flüchtete auf den Balkon, um aus den schwülen Zimmern in die freie Luft hinauszukommen. Sie las dann während ihrer Thätigkeit ein gutes Buch oder blickte auf das Leben und Treiben der Straße herab. Eines Nachmittags stellte sich Besuch von außerhalb ein. Es war Frau Geheimrat Buchhardt mit ihrer Tochter aus Hannover. Beide Damen waren außerordentlich steif und als echte Welfinnen erbitterte Gegnerinnen von Berlin. So gaben sich denn die drei Bachschen Damen außerordentliche Mühe, die Gäste, die mit solchen Vorurteilen kamen, liebenswürdig aufzunehmen und von der Vortrefflichkeit ihres Wohnortes zu überzeugen.

Lotte wurde einen Augenblick in den Salon gebracht und vorgestellt. Sie machte in ihrem weißen Kleidchen mit dem aufgelösten Haar einen sehr vorteilhaften Eindruck. Ihr Knicks und der ehrfurchtsvolle Handkuß, den sie der älteren Dame auf die knochige Rechte drückte, zeugten von guter Erziehung. Frau Buchhardt verfehlte denn auch nicht, der bescheiden lächelnden Mutter ein paar Höflichkeiten über Aussehen und Betragen ihrer Jüngsten zu sagen. Damit hatte sie der stolzen Besitzerin des »Kleinodes« die Zunge gelöst und mußte eine ausführliche Rede über ihre Erziehungsart und deren Erfolge über sich ergehen lassen. Im Laufe der Unterhaltung wandte sich das Gespräch auf die Reinlichkeit des Berliner Magistrates. Die beiden Provinzler setzten ein so ironisches Lächeln auf, daß ihre Wirtin innerlich zu kochen begann. Sie warf einen Blick auf die Straße.

»Bitte sehr, gnädige Frau, ich kann den Beweis der Wahrheit antreten. Sehen Sie selbst.« – Die Gäste erhoben sich und blickten ebenfalls über die Brüstung hinab. »Jetzt, wo es so glühend heiß und infolgedessen auch sehr staubig ist, werden unsre Straßendämme zweimal täglich gesprengt und gefegt. Diese roten Wagen mit ihren Brausen sind eine wahrhafte Erlösung. Sie bringen ordentlich frische Luft und nehmen den ungesunden Staub!«

Die Rätin triumphierte und blickte neugierig auf die geschlagenen Hannoveranerinnen. Zu ihrer Verwunderung nestelte die Tochter gerade ihre Lorgnette hervor und schaute durch das Instrument so scharf und spitz lächelnd hinab, daß ein unbestimmter Argwohn in ihr aufstieg. Sie sollte nicht lange im unklaren bleiben. Fräulein Buchhardt sagte mit ihrer hohen Stimme so leise und milde sie nur konnte: »Wie unvorsichtig sind diese Kinderchen – sie können sich doch recht erkälten! Verzeihung; verehrteste Frau, ist das kleine Mädchen da, inmitten der Knaben, nicht Ihr Töchterchen?«

Die Rätin riß ihr Pincenez hervor und sah nach einem kurzen Blick stumm verzweifelt ihre Aelteste an. Von unten tönte Jauchzen und Freudengeschrei herauf, hinter dem Sprengwagen marschierten mit jubelndem Gelächter eine Reihe Kinder. Sie hatten Strümpfe und Schuhe ausgezogen und sorglich am Rande des Vorgartens niedergelegt. Allen voran tanzte Lotte, die selig bald das rechte, bald das linke Beinchen von dem kalten Wasser übersprudeln ließ. Zufällig sah sie in die Höhe und rief den Zuschauenden, unbefangen mit dem Kopfe nickend, zu: »Nicht wahr, Mutta, fein? – Wir schinden ein umsonstiges Fußbad!«

»Schicke augenblicklich das Mädchen hinunter und laß Lotte heraufholen!« meinte die Rätin, heiser vor Empörung. Eine Tochter verschwand, und nur mit Mühe lenkte sie das Gespräch in andre Bahnen. Nach einer Weile kehrte Fräulein Bach zurück, der Jubel unten war verstummt.

»Ich habe Lottchen in den Garten gebracht, Mütterchen. Fritz hat sie zu dem Unsinn verführt. Sie hat ihr Unrecht eingesehen und reuig versprochen, nun artig zu sein. Nicht wahr, es ist dir doch recht so?«

»Gewiß, mein Kind!«

Die beiden Besucherinnen wollten Abschied nehmen und äußerten nur noch den Wunsch, den Garten zu besichtigen. So machte sich denn die Rätin bereit und geleitete sie die Treppe hinunter. Eine fast unheimliche Stille empfing sie, die beängstigend gegen den sonstigen Radau abstach. – Wenn sie bloß nichts Unartiges vorhaben, dachte die geplagte Wirtin, atmete aber auf, als sie die hellen Anzüge durch die Büsche schimmern sah, welche die Abteilung des Kinderspielplatzes vom Blumengarten trennten. Sie blieben an einer niedrigen beschnittenen Hecke stehen und spähten hinüber. Die drei Jungen standen in einer Reihe, links von Lottchen aufgepflanzt. Vor ihnen, in einer Entfernung von zehn Schritt, war eine Stange in die Erde gesteckt, nach der sie alle vier anscheinend scharf zielten. Ein leiser Ruf: »Los!« erscholl. Plötzlich ein schnalzend unangenehmes Geräusch und vier Pflaumenkerne wurden mit mächtigem Kraftaufwand nach dem Ziele gespieen. Alle hatten es aber verfehlt, und so befahl Lotte laut: »Jungens, ihr seid olle Waschlappen, ihr müßt feste spucken, sonst trefft ihr nie!«

»Um Gottes willen, Lotte, was treibt ihr nun wieder? Ich kenne euch ja gar nicht mehr! Ihr seid doch sonst nicht so unartig!« rief die Mutter entsetzt.

»Aber, Mutta, wir sind ja artig. Wir spielen doch nur Zielspucken, – das thun wir immer! Im Mai und Juni benutzen wir Kirschkerne dazu. Wenn's die nicht gibt, Kieselsteine. – Versuch' bloß einmal, ob du ebenso weit kommst wie ich – fast sechs Schritt kann ich schon. Alles Uebungssache!«

»Schweig!« donnerte ihr die Mutter entrüstet zu, die heute alles viel gereizter aufnahm, weil sie sich vor diesen »unleidigen Frauenzimmern« ihrer Tochter schämte. Sehr ungnädig ließ sie sich von den Jungen begrüßen und die Hand küssen und sandte das Kind sofort hinauf. Dann begann sie vor den Damen eine Entschuldigungsrede, die diese mit stillem Hohnlächeln abwehrten.

»Aber, verehrte gnädigste Frau, alterieren Sie sich bloß nicht so! Es gibt ja nichts Reizenderes als solch ein Kind, das man in Freiheit dressiert,« entgegnete die Geheimrätin sauersüß. Aber Frau Bach sah sie mißtrauisch an, sie traute der sanften Rede bei diesem Gesichtsausdruck nicht. Endlich waren die Gäste fort. Verärgert stieg sie treppauf und war nahe daran, vor Wut zu bersten, als sie Lotte auf des Vaters Schoß fand, den Kopf an dessen Schulter geschmiegt und vergnügt mit den Beinen baumelnd.

»Du unartiges, abscheuliches Kind!« rief sie zornschnaubend. »Nichts als Aerger und Verlegenheit hat man von dir! Keins der Mädel hat mir so viel Schande gemacht wie du! Na warte, wir werden jetzt andre Saiten aufziehen! Jetzt marsch in dein Zimmer, ich will dich bis zum Abendbrot nicht mehr sehen!«

Der Rat trennte sich nur ungern von seiner Lotte, ließ sie aber ohne ein Wort ziehen. Geduldig hörte er nun die Klagen seiner Gattin an und verbiß das Lachen, weil er sah, wie die Kränkung noch in ihr wühlte. Endlich sagte er ruhig: »Ich bitte dich, Mutterchen, gräm dich doch über diese Kinderstreiche nicht. Einmal warst du mit den beiden Scheusälern im Bade zusammen und wirst sie selten genug wiedersehen. Es ist ja ganz schnuppe, ob sie nun unsre Kleine für wohlerzogen halten oder nicht!«

Der Besuch der Buchhardtschen Damen hatte dennoch auch in Lottes Herz einen Stachel hinterlassen. Sie fühlte nach einer langen Unterhaltung beim Nachtgebet, daß ein Teil der Familienehre auch durch sie vertreten werden mußte. Der Flecken auf dem so reingehaltenen Wappenschilde der Bachschen Ehre war unstreitbar durch sie verursacht. Anstatt nun in sich zu gehen und sich Besserung zu geloben, warf sie einen grimmigen Haß auf die beiden »Knochengerüste«, wie das Dienstmädchen Auguste die Damen bezeichnete. Da die Gäste aus Hannover einige Wochen in Berlin verweilten, hatte Lotte es schweigend hinzunehmen, daß sie sich noch einigemal bei Bachs einfanden.

Seelenvergnügt rannte sie eines Morgens dem Eiswagen der Norddeutschen Eiswerke nach. Mit der rechten Hand ließ sie die Schulmappe an einem Lederriemen Kreise durch die Luft schwingen, mit der linken sammelte sie zwei auf den Damm gefallene Eisstücke auf und steckte sie ohne Weiterungen in den Mund. Da rief sie eine bekannte milde und doch unausstehliche Stimme an: »Ei, ei, Lottchen, wenn das die Mama sähe!« Sie drehte sich um und erkannte ärgerlich »die Buchhardt«, die vorbeiging, um Ella und Kläre zum Museum abzuholen.

Nun war ihr Maß gerüttelt und geschüttelt voll. Lotte ratschlagte mit den Spielgefährten wohl mehr als eine Stunde, wie sie Rache nehmen könnte. Die abenteuerlichsten Sachen kamen zu Tage, ehe ein Vorschlag angenommen wurde. Fräulein Buchhardt trug einen mächtigen Florentiner Hut. Dieser wurde zuerst aufs Korn genommen. Vom Haffnerschen Balkon aus ergoß sich eine Ladung »Spucke« auf dies unschuldige Objekt, als die Inhaberin vor dem Hause wartend auf und ab spazierte. Dann kam die »Olle« an die Reihe. Die Geheimrätin brachte stets einen seidenen Pompadour mit, den sie meist über den Arm gehängt hatte. Auf diesen fahndeten Lotte und Genossen. Eines Tages nach dem Kaffee wollte die Rätin Bach der Badefreundin eine schöne Stelle im Tiergarten zeigen. Da beide Damen zum Abendbrot wieder daheim sein wollten, hängte die Geheimrätin ihren sonst unentbehrlichen Pompadour unter ihrem Regenmantel im halbdunkeln Korridor auf. Sie hatte jedoch nicht mit Lottes Spürnase gerechnet. Diese entdeckte den riesigen Seidenbeutel und schleppte ihn zur Ausführung ihrer Rachegelüste in den Garten. Dort hegten die Kinder, vielleicht in vorahnender Gewißheit, seit Wochen einen langen, dünnen Regenwurm in einer Zigarrenschachtel. Der sollte jetzt Verwendung finden! Fieberhaft wurde der Pompadour geöffnet, – aber wer beschreibt das unbeschreibliche Erstaunen der Kinder, als sie in ihm zwei Stücke Sträußelkuchen und eine Melone in Kuchenteig vom Kaffee her fanden. Der Jubel und das Gelächter waren grenzenlos. Sofort war der Racheplan zu teuflischer Grausamkeit gediehen. Franz bohrte mit seinem kleinen Finger einen Gang in die Melone, und dort hinein praktizierte man den unglücklichen Regenwurm, der sich verzweifelt krümmte und wand. Dann wurde die Oeffnung mit Krümeln verschlossen. Inzwischen hatte Fritz einen Zettel geschrieben, auf dem stand nichts weiter als: »Pfui, Naschkatze!«

Am Abend, als sich die Geheimrätin verabschiedete, hing ihr Pompadour harmlos da. Sie versprach, bald wiederzukommen, ward aber nicht mehr gesehen. Sanglos und klanglos verschwand sie aus Berlin. Nach einigen Tagen erzählte Lotte ihren neusten Streich. Er trug ihr zwar eine Ohrfeige ein, jedoch »die Speisekammer im Buchhardtschen Pompadour, bestehend in gemopstem Kuchen und Regenwurm« kann noch heute alle bis zu Lachthränen rühren.

Auf die Hitzperiode folgten Regentage, die Lottchen zu ihrer geheim und laut geäußerten Wut nicht im Garten verbringen durfte. Das ganze Haus litt unter ihrer beständigen Anwesenheit, und Auguste in der Küche stöhnte häufig: »Wenn doch bloß erst wieder die Sonne schiene und die Jöhre 'runter müßte! Sie kehrt mir ja das Unterste zu oberst!« Aber der gute Petrus hatte diesmal kein Einsehen, es goß weiter, so einen richtigen märkischen Landregen. Der trübselige lange Sonntagvormittag nahte, an dem unsre Heldin nicht einmal zur Schule zu gehen brauchte. Also kamen zu den endlosen Freistunden noch die fünf Unterrichtsstunden hinzu.

Gerade heute erwachte Lotte um sechs Uhr und stand sofort auf. Zornig fuhr der Regierungsrat aus dem herrlichen Sonntagsmorgenschlummer auf, als feste Beinchen den Korridor auf und nieder stampften und eine helle Stimme laut das schöne Lied: »Die Sonn' erwacht in ihrer Pracht etc« brüllte. Die sorgsame Gattin verließ sofort ihr Lager und rief durch den Spalt der Schlafzimmerthür energisch: »Lotte!«

»Ja, Muttachen?!«

»Sei mein gutes Kind und gehe sofort in die Vorderzimmer, Papa und die Mädel möchten so gern noch ein Weilchen schlafen!«

Sie verließ sich auf das brave Herzchen ihrer Jüngsten, die denn auch sogleich abtrollte. Im Salon blieb sie stehen und sah sich nach irgend einem Gegenstand der Zerstreuung um. Nichts schien ihr so geeignet als das Klavier. Eins, zwei, drei saß sie auf dem Sessel und klappte den Deckel auf. So wenig musikalisch Lottchen auch war, liebte sie es doch, sich in freien Ergüssen auf den Tasten zu ergehen. Mit aller Kraft paukten ihre Fingerchen drauf los, um den selbst komponierten »Zigeunermarsch« vom Stapel zu lassen. Auf diesen folgte ein sich in drei Tönen bewegendes »Lenzeswehen«, das dann wieder von einem »Dragonermarsch« abgelöst wurde. Zu all dem fürchterlichen Durcheinandergerase auf dem unseligen Instrumente sang sie selbstgedichtete, konfuse Phrasen, wie: »Da ergriff der Zigeuner wild die schöne Carmen und hussa, hassa, heißa schwang er sich auf sein wildbäumendes Roß Mazeppa und raste mit ihr in die Steppe hinaus.«

Träumerisch blickten die Augen des mit großer Phantasie begabten Kindes in die Ferne. Sie sah die eigene Erfindung wie wirklich vor sich und lauschte mit glühenden Wangen auf die wüsten Töne, die den Sturm in der Steppe darstellen sollten. Plötzlich vernahm sie deutlich ein lautes, hartnäckiges Klopfen an der äußeren Korridorthür. Erschreckt sprang sie auf und eilte hinaus. Nach einem Blick durchs Guckloch öffnete sie Kette und Riegel und zuletzt mit Heidenlärm die Thür selbst. In äußerst merkwürdigem Aufzuge stand Major Haffner vor Lotte. Er trug Schlafschuhe, eine Mütze und einen langen Offiziersmantel, unter dem weiße Unterbeinkleider hervorlugten. Sein strenges Gesicht schaute noch bärbeißiger drein als sonst; ja, sein Bart bibberte ordentlich vor Entrüstung.

»Höre mal, liebe Lotte,« – donnerte er sie an – »du scheinst allein in der Vorderwohnung zu sein, sonst hätte dein Herr Vater längst diesen verrückten Radau verboten. Ich bitte dich aber energisch, diese Tonübungen auf später zu verlegen. Es ist jetzt noch nicht sieben Uhr, man kann ja kein Auge zuthun bei diesem Lärm, verstanden!« Damit stieg er wieder treppab und ließ sie wie einen begossenen Pudel stehen. Sie fühlte sich in ihrer Künstlerehre gekränkt und hatte einen ungemessenen Respekt vor dem Vater ihrer Freunde.

Leise schlich sie ins Zimmer zurück und begann zu lesen, nachdem sie sich vorher ihre Puppe Feodora als Trösterin herbeigeholt hatte. Nach und nach kamen endlich die Schwestern zum Vorschein, denen die Eltern bald folgten. Die Familie pflegte am Sonntag das Frühstück gemeinsam einzunehmen, und dabei gleich die Tagesordnung aufzustellen. Der furchtbare Regen machte einen Ausflug in die Umgegend unmöglich, daher beschloß der Regierungsrat, heute mit den Seinen einige längst verabsäumte Besuche nachzuholen. Lotte wurde, laut Kronrat, daheimgelassen und fürstlich entschädigt. Mäxchen Helm sollte heruntergeholt werden, um mit ihr zu spielen. Beide Kinder sollten von Auguste mit einer Tasse »recht« süßen Kakaos und geschmierten Semmeln, wofür Lotte entschieden ihr Seelenheil verkauft hätte, bewirtet werden. Diese Aussicht besänftigte augenblicklich die aufsteigenden Thränen. – Wenige Minuten später sprang das Kind zu Helms und schleppte mit ihrem Gefährten Soldaten und Festung ins Wohnzimmer, wo sich alsbald erbitterte Kämpfe mit Erbsengeschossen entspannen.

Einige Stunden wurden mit glühenden Bäckchen und blitzenden Augen durchkämpft. Selbstverständlich mußte Max als Gast anstandshalber die französische Partei übernehmen und mit dieser nach tapferer Gegenwehr unterliegen. Deutschland hatte gesiegt! Darum konnte das aufgetragene »wunderbare« Frühstück mit freudiger Genugthuung verspeist werden. Während des Essens und Trinkens versanken die beiden Kinder in behaglich genießendes Stillschweigen, so daß wirklich sonntägliche Ruhe über der Bachschen Wohnung lag, da die andern längst ihre Besuchstour angetreten hatten.

»Was wollen wir jetzt machen?« unterbrach Lotte ihre Verdauung, »Immer Soldaten ist langweilig! Wollen wir Puppen spielen?«

»Dir piept es wohl im Kopp!« entgegnete Mäxchen empört. »Jungens und eure dämlichen Puppen!«

»Na, dann meinshalben Lesen!«

»Is nicht!« rief Max. »Ich hab' Vater schon 'ne halbe Stunde Zeitungen vorlesen müssen. Aber wir können doch 'n bißchen aus dem Fenster sehen!«

So begaben sich denn beide in die Vorderzimmer. Der junge Gast, dem die Bachschen Salons stets wie eine Wunderwelt erschienen, hatte das »Fenster« nur als schnöden Vorwand benutzt. Er kümmerte sich auch gar nicht weiter um die Straße, auf der, des Wetters wegen, kaum eine Katze zu sehen war, sondern ließ sich von der Wirtin die verschiedensten Nippessachen zeigen und erklären. Sein besonderes Entzücken war ein Photographiealbum mit Musikwerk. Nachdem dies unzähligemal seine Stücke heruntergeleiert hatte, wollten die Kinder sich mit der Konstruktion der feinen Walzen und Räder vertraut machen. Mäxchens prahlerisches: »Ich verstehe mich auf so 'was, denn Tante Laura hat neulich ihre Spieldose auseinandergenommen und gereinigt, dabei habe ich ihr geholfen und kenne jetzt den Rummel aus dem ff!« beruhigten Lottes doch etwas ängstlich pochendes Herz. Nachdem man den Glasschutz zurückgeklappt hatte und das geheimnisvolle Innere offen vor ihnen lag, überwog auch Lottes Forschungsdrang die Scheu vor dem stets verboten gewesenen Album. Sie war ebenso neugierig und eifrig als der Freund bei der Arbeit. Zuerst wurde der kleine Stahlkamm im Werk mit einem Taschenmesser zum Klingen gebracht, dann schraubten sie mit einem Falzbein die Schrauben der kleinen Walze los und kratzten deren haarfeine Stahlstacheln mit einer Schreibfeder, über die kaum hörbaren Töne in Verzückung geratend; und zu guter Letzt wurden zwei kleine Klammern ebenfalls ans Tageslicht befördert. Nachdem sie sich ein paar Minuten mit den Teilen vergnügt hatten, bat Lotte aber doch, er solle nun alles wieder »zusammenschustern«. Max versuchte sein Heil und vollzog die Wiederherstellung mit beeilter Geschicklichkeit.

Siehe da! Alle Teile waren wieder an Ort und Stelle festgeschraubt! Triumphierend wurde noch einmal der Schlüssel eingesteckt und das Uhrwerk aufgezogen. Jedoch kein Laut wurde hörbar! – Die beiden sahen sich ratlos an. Lotte versuchte selbst noch einmal ihr Heil. Sie drehte wohl zwanzigmal den Schlüssel um, was man sonst höchstens dreimal thun durfte, schüttelte, klopfte, rüttelte, doch alles blieb still. – Der junge Helm erbleichte, begann von neuem seine Schrauberei, versuchte wieder – wieder vergeblich! Das Spielwerk war entschieden zerbrochen!

Keins der Kinder sprach ein Wort über den Vorfall. Sie legten das Album schweigend an seinen Platz zurück und verließen gedrückt das Zimmer. Lotte geleitete den Spielkameraden, der noch ganz betäubt schien, über den Korridor ins Wohngemach ihrer Schwestern. Kläre war im Besitze eines sehr schönen Stereoskops, das mit den dazu gehörigen Photographieen auf ihrer Kommode lag. »Setz dich man hin, Mäxchen,« sagte unsre kleine Range mild und zartfühlend, »wenn es rauskommt, nehme ich's auf mich. Du kriegst nichts ab! Uebrigens sehen sie das Album selten an; wenn viel Zeit vergeht, ahnen sie nicht, daß wir es waren, und ich werde mich hüten, mich zu melden. Wir wollen nun diese Sachen besehen.« Der, wie Lotte sich insgeheim ausdrückte, »bedripste« Gast erhob keinen Widerspruch. Er ließ sie alles herbeischleppen und setzte sich dann neben sie auf das alte rote Ripssofa, das der Stolz der beiden älteren Bachschen Schwestern war. Der Rat hatte seiner Gattin zum Geburtstag ein neues »Persersofa« und dito Teppich geschenkt, und seine »herzliebe Olle« hatte ihren Töchtern das ausrangierte Salonmöbel mit verschiedensten Gebrauchsanweisungen überlassen. Es war eine ihrer Hauptfreuden, zu sehen, wie sich die Gesichter ihrer Mädels beim Anblick des neusten Schmucks ihres Zimmerchens verklärten. – Das kindliche Pärchen betrachtete in seltener Verträglichkeit die plastisch erscheinenden Photographieen durch die Gläser. Da sandte ihnen ein mißgünstiges Geschick ein Zankobjekt in Gestalt einer Darstellung der Gefangennahme Napoleons des Dritten. Ein heftiger politischer Streit entwickelte sich, als Lotte sagte, daß einem der arme französische Kaiser doch eigentlich ein ganzes bißchen leid thun könne. Max bestritt dies energisch, und die Gemüter erhitzten sich von Moment zu Moment mehr.

Politik ist immer eine gefährliche Sache. Lotte schlug mit der Faust auf den Tisch, Max trommelte auf dem Holzkasten des Stereoskops. Irgend einer von ihnen riß an der Tischdecke oder verhakte sich in dem Stoß Bilder – kurzum, der Apparat fiel um. Als Lottchen ihn auffangen wollte, sauste er gegen das Schreibzeug, das stets die Tischmitte behauptete. Was nun geschah, wissen die Kinder nicht mehr genau zu sagen. Nur eins sahen beide versteinert mit an. Die Tischplatte senkte sich nach ihnen, die Photographieen rollten zu Boden, das Stereoskop hinterdrein und – aus dem durch die Neigung aufgegangenen Tintenfaß ergoß sich ein dicker Strahl schwarzer Flüssigkeit auf das rote Sofa! – Wehe, wehe!

Max hielt den Tisch, Lotte die Decke fest. Dann sammelten sie die heruntergefallenen Gegenstände und trugen sie, da sie nichts »abbekommen«, auf die Kommode. Das Schreibzeug wurde mit Papier gereinigt, neu gefüllt; und alles hätte harmlos wie zuvor dastanden, wenn nicht die Lache auf dem Rips das Unheil verkündet hätte.

»Wie kriegen wir die Tinte 'raus?« jammerte Lotte verzweifelt.

»Löschblätter!« stammelte Mäxchen schüchtern.

Seine Freundin stürzte fort und kam mit einem Pack Löschblätter zurück. Eiligst wurde die Flüssigkeit aufgenommen und sog sich auch wirklich in dem Papier auf. Trotzdem blieb ein riesiger schwarzer Fleck gerade in der Mitte der Ripsfläche.

»Salz oder Zitrone nimmt meine Mutter immer!« meinte der junge Helm nachdenklich.

Mit Vorsicht entfernte sich Lotte, um Auguste nichts von dem »graulichen Pech« merken zu lassen. Sie kehrte auf den Zehenspitzen wieder, den Raub unter der Schürze versteckt. Beide vorgeschlagenen Mittel aber halfen nichts, vielmehr verschlimmerte die Zitrone noch die Sache, denn ein paar unangenehme hellrot-gelbe Streifen kamen hinzu.

»Ich Esel!« rief Lotte plötzlich und schlug sich gegen die Stirn. »Bimsstein ist ja das Einzige, was wirklich hilft!« Sie rannten nach dem Waschtisch und fanden wirklich zwei ansehnliche Stücke Bimsstein vor. »So,« flüsterte Lotte eifrig, »schnell, die machen wir mit dem Wasser in den Krügen naß und reiben dann den Stoff tüchtig ab, das hilft sicher!«

Beide beugten sich nun über die breite Sitzfläche des Sofas und begannen aus Leibeskräften zu scheuern.

»Es wird schon heller!« jauchzte Mäxchen. Sie hielten eine Sekunde an und gingen dann wieder ans Werk. Wirklich, die Flecke schwanden, »es« wurde heller und heller! Den Kindern rann in ihrem Eifer und Jubel der Schweiß von der Stirn.

Plötzlich hielten sie beide an und starrten hinunter. Lottes Arme senkten sich wie gelähmt. »Donnerwetter!« entfuhr es ihnen beiden wie aus einem Munde. Der starke Rips hatte nach langem Widerstände den harten Steinen weichen müssen. Die Tintenflecke waren verschwunden, denn da, wo sie einst gewesen, prangte ein riesiges Loch, leuchtete starkes hellgelbes Futter hervor. Der ausgefranste Rand, die durchdringenden Roßhaare gaben dem schönen Sofa ein trauriges Ansehen. Es glich einer schönen Frau, deren Gesicht durch häßliche Brandnarben entstellt ist.

»Na, ich danke!« sagte Max. »Das setzt was! Aber du warst schuld, du hast die Tinte umgeschmissen und den Bimsstein vorgeschlagen!«

»Und du hast gezankt, alter Streithammel, und du bist schuld, nur du!« entgegnete Lotte.

Aus Worten wurden Thätlichkeiten. Bald lagen beide rollend und aufeinander einschlagend am Boden. Das Gebrüll lockte Auguste aus der Küche herbei. Sie trennte die Raufenden und wies den kleinen Gast mit einem tüchtigen »Stubs« als Wegzehrung aus der Wohnung. Um ihn nur ja rasch loszuwerden, schleppte sie ihm selbst schleunigst seine Spielsachen nach. Als sie wieder herunter kam, erhielt Lotte von ihr die erste Schelte in tüchtigen Ermahnungen. Diese waren aber nur die Vorboten noch schlimmerer Vorgänge. Ellas Vorwürfe und Klaras Ohrfeigen steigerten sich in gediegene Prügel, die Mama verabfolgte, als die Sache am Nachmittage entdeckt wurde. Auf ihr Zimmer verbannt, verlebte Lotte, während vorn Gäste lachten und scherzten, traurige Stunden. Aus ihren lustigen blauen Augen tropften die Thränenströme ebenso beharrlich, wie draußen die Regengüsse. Kurzum, dieser Sonntag war und blieb ein verregneter, innen wie außen.


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