Ernst Georgy
Aus den Memoiren einer Berliner Range
Ernst Georgy

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.

Das zerbrochene Drehkreuz im Zoologischen Garten.

»Etsch! Ich geh' nach 'n Zologschen und ihr nicht!« sagte Mäxchen Helm eines Morgens, als er die Genossen seiner Kindheit vor dem Hause traf. Haffners kamen aus dem Wilhelmsgymnasium und Lotte aus der Schule. Sie hatte rotverheulte Augen und machte das patzigste Gesicht, das im Bereich ihrer Fähigkeiten lag. Franz war ein begeisterter Verehrer des kleinen Mädchens und daher taktvoll genug, sie nicht nach der Ursache der Thränenströme zu fragen, die noch grauschwärzliche Spuren auf den dicken Bäckchen zurückgelassen hatten. Da sein Bruder hingegen weniger zartbesaitet war, fragte er alsogleich, was denn los wäre.

Ein verächtliches »Ph–P–« war die Antwort, und die rote Unterlippe schob sich energisch vor.

»Haste nachgesessen?«

»Nich' für 'n Sechser, du Affe! Aber der Herz, das Scheusal« – es zuckte bereits wieder wetterleuchtend – »sitz' ich schon mal funfzehnte, und der Papa hat mir ein Luccaauge versprochen, wenn ich zur besseren Hälfte gehöre, und da – und da – kitzelt mich – die – die Frida unterm Tisch. Wie ich sie grade so recht schön am Zopf habe – fragt er mich so 'n ollen Quatsch von Karl dem Großen. Ich – kann nicht – und da – da setzt er mich zur Strafe sechs 'runter. Ch, ch,« damit begann von neuem ein herzbrechendes Schluchzen.

Ihre Seelenfreunde standen stumm vor solchem Schmerz, nur Franz entgegnete, die Fäuste ballend: »So 'n Schinder! Na, laß man, Lotteken, dem streichen wir's noch mal an. Die ollen Lehrer sind wahrhaftig nur zum Kinderquälen auf der Welt!«

Eine kleine Pause trat ein. Dann fragte Lotte plötzlich mitten aus den Gluckstönen heraus: »Mit wem gehste denn?« Ihren scharfen Inquisitorblicken war nicht entgangen, daß Mäxchen schon im Sonntagsanzuge steckte.

»Mit Tante Malchen, und ich darf zwei Stullen oder 'n Stückchen Kuchen essen und ein Glas Bier dazu trinken, hat sie mir versprochen!« Neidvoll sahen ihn die andern an. »Heute abend erzähle ich euch von den Nubiern, die sind jetzt da! Soll'n famose Knöppe sein und großartig reiten – wenn –« Plötzlich entdeckte er die gute Tante, die ihm dies Vergnügen bereiten wollte, in der Ferne. Sie kam langsam näher. Ohne einen Blick weiter an Lotte oder die Jungen zu verschwenden, trollte sich Max und sprang der Tante entgegen. Sie nahm den Neffen sogleich an die Hand und ging mit ihm weiter.

»Na, so was!« rief Fritz erstaunt, »läßt sich der große Bengel von der alten Tante führen! Er ist doch kein Baby mehr; dafür kriegt er noch seine Dresche.«

»Und überhaupt!« warf Lotte hin, ohne ihrem rätselhaften Einspruch eine nähere Erklärung hinzuzufügen.

Wie ein Hündchen den Schwanz furchtsam einzieht, wenn »Herrchen« irgend eine verbotene Unart entdeckt, so zeigte sich Bachs Jüngste heute von ihrer sanftesten Seite. Die sechs Plätze, die man sie, natürlich ungerechterweise, hinuntergesetzt hatte, lasteten auf ihrer Seele. Mit seltener Gewissenhaftigkeit begab sie sich sogleich an ihren Arbeitstisch, um die Schulaufgaben zu erledigen. In pomphafter Weise wurde der Plötz aufgeschlagen und mit Heften und Federn dekoriert. Es sollte auf alle Fälle so aussehen, als wäre sie in ihre Pflichten versenkt, wovon auch die häuslich hin und her schaltenden Schwestern überzeugt waren. »Das gute Kind« hatte schlauerweise in ihrer Mappe, die sie auf dem Schoße krampfhaft festhielt, ein Exemplar von Andersens Märchen verborgen und teilte ihre Zeit denn auch pflichtschuldigst zwischen dem »Reisekameraden« und zwei niedlichen Papierpuppen, die sie stets in ihren Büchern und Heften mit sich führte. – Sobald jemand das Zimmer betrat, summte Lotte mit lauter Stimme die Vokabeln vor sich hin, die sie im nächsten Momente wieder grausam ignorierte. So rückte die Zeit des Mittagessens heran. Zwei Minuten, ehe sie ins Speisezimmer gerufen wurde, sagte sie sich die Spalte französischer Worte einmal ernstlich auf und – konnte sie sogleich. Mutter Natur hatte sie nämlich mit einer ganzen Portion Verstand und einem phänomenalen Gedächtnis versehen. Diesem gütigen Umstande war es zu danken, daß die Versetzungen regelmäßig stattfanden, und daß die Zeugnisse meist mit folgender Notiz gekrönt waren: »Lotte ersetzt durch natürliche Begabung, was an Fleiß und Aufmerksamkeit fehlt.«

Der kleine Racker hatte wohl gesehen, daß diese Bemerkung die drohenden Wolken auf den Gesichtern der Eltern lichtete und manchmal sogar zu einem geschmeichelten Lächeln verklärte. Sie gewöhnte sich daran, die mündlichen Aufgaben stets bis zum letzten Augenblicke zu verschieben und – erreichte ja schließlich auch dasselbe.

Gerade als Lotte nach dem Kaffee in den Garten entschlüpfen wollte, klingelte es. Neugierig wie ein Spatz, blieb sie sofort lauschend stehen, um zu hören, wer da käme. Es waren zwei Cousinen der Mutter, die bei ihr in höchstem Ansehen standen. Sie hatte sich nämlich daran gewöhnt, Verwandte und Freunde je nach den Mitbringseln in verschiedene Kategorieen zu teilen, und auch ihre Sympathieen demgemäß eingerichtet. Da Tante Bertha und Emma es nie an den nötigen Bestechungen in Schokolade fehlen ließen und auch sonst »das süße Dingelchen« mit Bewunderung und Kosenamen aller Art verhätschelten, ging sie freiwillig zur Begrüßung in den Salon. – Huldvollst nahm Lottchen ihre Tüte in Empfang, ließ sich abküssen und legte in Fragen und Antworten einen solchen Freimut, daß Frau und Fräulein Bachs erleichtert aufatmeten, als sie endlich verschwand.

Die blitzschnelle Erwägung: »O weh, was hast du nun wieder angerichtet?« kreuzte ihr Hirn, als die Mama hinter ihr her kam.

»Höre mal, Lotte! Nimm sofort den blauen Kuchenteller und hole vom Konditor an der Ecke für dreißig Pfennig Kirschkuchen, aber recht frischen. Dann laß von Auguste schnell alles hübsch zurechtmachen und hereinbringen! Zeige mal, daß du meine gute Tochter bist!«

Dieser aufmunternde Appell rührte die gute Tochter aber gar nicht. Sie stellte denn auch sofort die Gegenforderung: »Kriege ich auch was ab, Mutta?«

»Wenn was übrigbleibt, natürlich!« antwortete die Rätin etwas ungeduldig.

»Na, dann kann ich man gleich verzichten, denn die beiden halten sich immer sehr 'ran nach ihrem weiten Wege,« maulte die Kleine vor sich hin. Nach einem Blick auf das mütterliche Gesicht drückte sie sich aber sofort.

Nach einer kurzen Unterhaltung mit Lina, Markers Hausmädchen, ihrer Busenfreundin, die sie schon um ihres »Konditorschatzes« willen aus Berechnung liebte, kam Lotte endlich auf den Hof. Hier legte sie zwei Finger zwischen die Zähne und stieß drei gellende Pfiffe aus. Dieses Signal übte die erwartete Wirkung. Hinter der Gartenmauer tauchten mit einemmale Franz und Fritz auf. Als sie den ungewohnten Hut auf dem Kopfe der Kameradin entdeckten, fragten beide wie aus einem Munde: »Gehst du auch fort?«

»Ja.«

»Wohin denn?«

»Möchtet ihr wohl gern wissen?«

»Denn nich'!« rief Fritz empört und wandte sich nach dem Spielplatz zurück. Der Bengel ließ sich nicht uzen und imponierte damit Lotte ungemein, die ihre Tyrannengelüste dafür an dem um ein Jahr jüngeren Franz ausließ.

»Komm mit, Franz, ich muß zum Konditor!«

»Ich habe keine Mütze unten!«

»Schad' nix, wir sind ja gleich wieder da!«

Von alters her konnte Adam der Eva Bitten nur schwer widerstehen, und so sehen wir denn Franz und Lotte gemeinsam den Gang antreten. Schon die erste Laterne gab durch ihren massiven Eisenpfahl Anlaß zum Aufenthalt. Die beiden Gesinnungsgenossen kreisten nämlich so lange um den Stützpunkt, bis sie, schwindlig geworden, auf den Boden sanken. Dann wurde an der alten Pumpe auf der Straße gepumpt. Lotte schwang den Schwengel, Franz hielt das Ausflußrohr zu und bespritzte zwei unschuldige Portierskinder aus der Nachbarschaft, die auf der Bordschwelle saßen. Als die beiden Würmer von vier und fünf Jahren, total durchnäßt, heulend flohen, sahen sich die Sünder verdutzt an und suchten eilig das Weite. Der Schneider Hempel, der Vater dieser Geschöpflein, hatte erst neulich Max und Fritz verhauen, weil sie die Hausglocke gezogen hatten und davongelaufen waren. Die nächste Tücke aber wollte er den Eltern mitteilen, so hatte er hoch und teuer geschworen, da hieß es also vorsichtig sein.

Der freundliche Konditor hatte die Kuchenstücke auf dem Teller geordnet und jedem Kinde einen Bonbon in den Mund, gesteckt. Solange das Lutschen an diesem vorhielt, gingen sie manierlich. Da entdeckte Lotte auf der andern Seite der Straße Fritz Herrmann, ihren grimmigsten Feind. Er war Schlosser, uralt, schon zwanzig Jahre, und neckte sie, wo er konnte. Am wütendsten wurde sie, wenn er sie am Zopf ziepte und seine kleine Zukünftige nannte, der »olle rothaarige Ekel«! Auch jetzt wagte er es, ihr zuzunicken. Sofort setzten sich die beiden Aristokraten in Positur und johlten laut und nichts weniger als vornehm: »Fritze mit de Pudelmütze« und »Rotkopp, die Ecke brennt, die Feuerwehr kommt angerennt!«

Still vor sich hinlachend, ließ der Wackere die Schmähungen über sich ergehen. Als aber der Diskant von Kleinlottchen seine Höhe überschritten hatte und nicht weiter konnte, hörte sie plötzlich auf und steckte ihm einfach ihre rote, gesund aussehende Zunge zur Ansicht aus. Fritz Herrmann schüttelte nun ballend die rechte Faust und nahm einen Anlauf, als ob er die beiden Missethäter ergreifen wolle. Diese nahmen schleunigst Reißaus und erreichten keuchend das Vaterhaus, den Schutz und Schirm so vieler Bedrängten. Franz wandte sich um und machte die Entdeckung, daß sie gar nicht verfolgt wurden, worauf er krebsrot von der Jagd und der ihm innewohnenden heldenhaften Entrüstung, in die Worte ausbrach: »So'n Feigling! Da steht er und glotzt! Nich' mal hinter uns her wagt er!«

Lotte wollte dem zurückgebliebenen Feind gerade noch einen Verachtungsruf nachschleudern, wenigstens machte sie eine blitzschnelle Wendung. Pardauz! Da glitt sie aus und saß im Handumdrehen auf ihrem festen Hinterteilchen. O weh, und das Schlimmste kam hinterher! – Der Kuchenteller war ihr aus den Patschen gefallen und lag am Boden. Merkwürdigerweise war er ganz geblieben, aber – aber der schöne Kirschkuchen war auf die rechte Seite gerollt und sah arg verstaubt aus, während die roten saftigen Früchte in allen Himmelsgegenden kullerten und ebenfalls eine graue Umhüllung annahmen.

Die beiden Kinder sahen sich versteint vor Entsetzen an. Lottes Unterlippe senkte sich bedenklich nach unten. Eins, zwei, drei sprang sie auf ihre Füße und versetzte dem nichtsahnenden Freunde eine schallende Ohrfeige: »Du bist dran schuld, du Affe!« brüllte sie und wehrte seine Annäherung mit einem wuchtigen Schulternstoß. Er ergriff ihren Zopf und rüttelte daran, als wolle er ihn losreißen. Doch hielt er mitten in dieser Thätigkeit inne und starrte sie verwundert an. Ein wahres Sonnenleuchten ging über ihr Gesicht. Vergessen war der Kampf, Fritze Herrmann und aller Schmerz. »Der Teller ist ja ganz, und den Kuchen machen mir auch in Ordnung,« jauchzte sie, ihre Gedanken sofort in die That umsetzend. Sie ergriff schleunigst den Teig und leckte einfach die graue Kruste ein paarmal energisch ab. Franz verstand die geniale Idee sofort. Er bückte sich nun mit ihr um die Wette und sammelte die herausgefallenen Kirschen. Sie leckten jede einzelne einigemal ab und betteten sie in die dazu bestimmten Höhlungen des Untersatzes. – Nach wenigen Minuten lag das Gebäck sauber und anscheinend ebenso saftglänzend als zuvor da und wurde von dem kleinen Mädchen der Köchin übergeben, die es hineintrug. Lotte wischte sich rasch den Mund ab und bedauerte insgeheim, daß sie so dumm gewesen und nicht die einfache Prozedur noch für sich auf der Treppe wiederholt hatte. – Mit der unheimlichen Artigkeit, die sich bei ihr nur zeigte, wenn sie in der Schule bestraft worden war oder wenn Kuchen auf dem Tische stand, betrat sie auch jetzo den Salon. Die Gäste waren schon bei der Arbeit und ließen sich die »unheimliche Aufwartung« vorzüglich schmecken, denn »gerade die Obstkuchen haben immer etwas so Erfrischendes«!

Frau Regierungsrat beendete augenscheinlich eben eine längere Rede, von der ihre Jüngste noch folgendes aufschnappte: »Ja, es sind drei prächtige, wohlerzogene Knaben, mit denen wir sie ruhig spielen lassen können. Der Garten ist einfach unbezahlbar für uns. Nach Tisch geht das Kind hinunter und bleibt ungestört bis zum Abendbrot auf dem Spielplatze. So wissen wir sie in vollster Sicherheit im Schutze von vier Wänden, und doch in guter freier Luft.«

Das Trio Haffner-Bach hatte den ganzen Nachmittag im Garten herumgetobt. Die so sichere Mama und ihre beiden erwachsenen Töchter hätten doch wohl einen guten Teil von ihrer Gemütsruhe verloren, wenn sie Lottes Streiche, ihre wilden Turnkunststücke, ihr wenig mädchenhaftes Wesen genauer beobachtet haben würden. Von der Vogelperspektive des weinumrankten Schlafzimmerfensters nahm es sich durchaus harmlos aus, wenn der »geliebte Wildfang« als Häuptlingsfrau, kühnlich Squaw bezeichnet, umhersprang oder schaukelnd durch die Luft flog.

Als ihr Seelenfreund Mäxchen Helm um halb Sechs noch einen Abstecher in den Garten unternahm, glühten seine Wangen, blitzten seine Augen. Wes das Herz voll ist, des läuft der Mund über! Und sein Herz war so übervoll von all den geschauten Wundern; er mußte sich freisprechen. Die drei Gefährten waren bereits so müde getollt, daß sie sich willig bereit erklärten, jetzt einmal schweigende Zuhörer abzugeben. – Eiligst suchten sie bequeme Sitze. Fritz kletterte auf das Reck, Lotte und Franz auf den Barren. Während sie mit heroischem Gleichmut auf den schmalen runden Stangen balancierten und mit den Beinen baumelten, »legte Max los.« Na, und der konnte erzählen! Seine lebhafte Phantasie ging mit ihm durch. Es war gut, daß seine Schilderungen nicht einem wissenschaftlichen Werk zu Grunde gelegt wurden, denn: »die Nubier aßen lebendige Kinder – und die Rhinocerosse waren so groß wie ein Haus – und drei Walfische schwammen in dem kleinen See, so lang wie der Turnsaal – die Affen aber! – Nein, so was Schönes gab's doch nicht mehr in der ganzen Welt!« Jegliches neue Wunder entlockte den Lauschenden einen tiefen Seufzer oder ein langgezogenes »Ah« des Staunens. Endlich ging Max der Atem aus; er wußte nichts mehr. Ehe er von neuem ausholte, sprachen die drei andern schon wild durcheinander. Sie überschrieen sich einfach gegenseitig. Die Nachbarn mußten denken, daß sich schon wieder eine Prügelei entspinne, und doch war der Kernpunkt der Unterhaltung nichts weiter als: »Wir müssen hin; aber wie?«

»Kinder, ich weiß wie!« rief Max hastig. »Tante hat entdeckt, daß das Drehkreuz am Ausgange kaput ist. Weißt du, hat sie gesagt, wenn hier einer schlau ist, kann er umsonst 'rein. Er braucht sich bloß umgekehrt 'reinzudrehen, hat sie gesagt. Wollen wir?«

Wie eine reife Pflaume vom Baume, so purzelte Lotte von ihrem ziemlich hohen Sitze herab platt auf die Erde und strampelte mit allen vieren vor Wonne. Auch die Jungen kamen herunter und führten einen Kriegstanz des Entzückens auf. Sie hatten den festen Entschluß gefaßt, den Zoologischen Garten zu besuchen; alles andre war »wurscht«. Franzens schüchterner Einwand, daß die Eltern ihnen vielleicht selber Erlaubnis und Geld zu dem Vergnügen geben würden, fand einstimmige höhnische Ablehnung.

»Das ist ja gerade das Feine, sich umsonst 'reinzuschwindeln!« bemerkte Max.

»Für Geld kann jeder 'rein!« meinte Lotte verächtlich, und Fritz gab seinen Senf in folgender Weise dazu: »Wir müßten ja einfach Wichse kriegen, wenn mir so was nicht benutzen. Glaubt ihr, Robinson hätte seinem Vater fünfzig Pfennig abgebettelt, wenn er bloß 'n entzweiiges dämliches Drehkreuz hätte benutzen brauchen?«

Die Erwähnung des Lieblingshelden entschied sogleich. Der Kriegsplan wurde sofort in einer »Sandkule« im leisesten Flüsterton ausgeheckt. Kühne spritzte den Garten wie allabendlich mit rührender Gewissenhaftigkeit, und die »Petze durfte nichts hören, sonst war's Tinte! ne, Essig!«

Lotte konnte nicht einschlafen, das Geheimnis, die Aufregung über das Bevorstehende lag wie ein Alp auf ihr. Ach, wenn sie es doch bloß einem einzigen Menschen hätte sagen dürfen; aber der in die Hände der Kameraden geleistete Eidschwur band ihr die Lippen. Endlich hielt sie es nicht länger aus. Sie kletterte aus ihrem Bette, eilte auf den Zehenspitzen durch das Zimmer und holte sich aus der Wiege im Puppenwinkel ihre Lieblingspuppe: Feodora. Die geliebte »Tochter« im Arme, schlich sie in ihr warmes Lager zurück. Und nun drückte sie den Zeugbalg fest gegen ihr pochendes Herzchen und beichtete mit halblautem Flüstern in das verschwiegene Porzellanöhrchen. Mit dem schon halb im Schlafe gesprochenen: »Was sagst du nur, Feo, du kommst vielleicht sogar –« hauchte sie einen schwachen Kuß in die Luft, neigte das traumumfangene Köpfchen und entschlief. Am Bettchen vorbei huschten, nur der Schlummernden sichtbar, wunderliche Tiergebilde und merkwürdige Nubiergestalten auf Elefanten und Kamelen. Morpheus trieb sie mit der Peitsche geheimnisvoll webend vorüber.

Am andern Tage um vier Uhr öffnete sich das Hausthor, und heraus traten mit roten Wangen und unruhig blickenden Augen unsre vier Helden, die sich heute größer erschienen und wichtiger vorkamen als jemals die größten Entdeckungsreisenden vor dem Einfall in ungekannte Länder. Sie hatten die verschiedenen Eltern nicht etwa in Unkenntnis über ihr Fortgehen gelassen. I bewahre! So und so viel Schulgefährten und sie wollten sich nur zu einem gemeinsamen Spiel im Tiergarten zusammenfinden. Selbst die hartgesottensten Vaterherzen konnten dem Gebettel nicht widerstehen, so setzte sich denn unsre kleine Karawane mit vierzig Pfennig »Zehrgeld« versehen in Bewegung.

»Schade, daß wir schwindeln mußten,« rief Lotte, »aber wißt ihr, ich bin überzeugt, mein Papa und meine Mama werden sich mächtig freuen, wenn ich ihnen heute abend die Ueberraschung erzähle!«

»Können sie auch!« sagte Max Helm und fügte als praktischer Kaufmann in spe hinzu: »Na, denkt mal, sie sparen an uns, wenn's gelingt, zwei Mark. Fünfzig Pfennig pro Person, das macht immer was aus!«

»Ich rieche so was wie Wichse,« schnupperte Franz, knipste aber gleichgültig mit den Fingern, »mein Oller liebt nischt Extras, alles muß einen Tag wie den andern sein. Wenn wir aber drin waren, kann er uns doch das Gesehene nicht wieder wegnehmen.«

»August« (das war der Bursche) »meint auch, daß wir abends unsre Kloppe kriegen,« ergänzte Fritz. »Ich habe vorsichtshalber zwei Hosen übereinander gezogen und Zeitung zwischengelegt, dann spürt man's nicht so!«

»Famose Idee!«

»Unsinn!« entgegnete Lotte, »ich garantiere, unsre Eltern freuen sich nur über unsre Findigkeit!«

Die Erwartung machte die Kinder ziemlich schweigsam. Sie gingen, still vor sich hinträumend, bis ungefähr zur Landgrafenstraße. Dort schlug Fritz, um den Weg zu beschleunigen, einen Dauerlauf vor. Der Rat wurde angenommen. Sie stellten sich in Positur, drückten die Hände zu Fäusten geballt gegen die Seiten und rasten bei der Zahl »drei« wie abgeschossene Pfeile los. – Da alle vier mit vorzüglichen Organen begabt waren, gelangten sie heil und gesund bis zum Haupteingang. Hier blieben sie keuchend, schweißtriefend stehen; aber Mäxchen, der weise Mentor des heutigen Ausfluges, wies sie weiter. Hier war noch nicht der Eintritt ins Paradies. So wanderten sie noch eine anständige Strecke Weges am Zaune entlang. Beide Brüder Haffner verloren die Geduld.

»Ich denke, wir versuchen, hier 'rüber zu klettern. Es sind soviel Hocker und vorstehende Bretter, daß auch Lotte leicht 'raufkommt. Ist sie erst oben, springt sie einfach 'runter!« sagte Franz, ritterlich der Dame gedenkend, als deren Beschützer er sich fühlte.

Aber das undankbare Mädel versetzte ihm einen nicht gerade sanften Stoß: »Immer haste was mit mir; wenn du 'raufkommst, komme ich schon lange, und wenn's noch glatter wäre. Ich klettere besser wie du!«

»Du bist doch aber 'n Mädchen!«

»Brauchste mir gar nicht immer vorzuschmeißen, ich kann doch nicht dafür!« antwortete sie zornig und ballte die Faust. »Ihr ollen Männer denkt wunder, was ihr seid! Paß man auf, was ihr könnt, können wir erst recht!«

»Lotte, zank' nicht immer, sondern halt' den Schnabel. Wir wollen uns nicht das feine Vergnügen verderben!« rief Fritz so energisch, daß sie keine Entgegnung wagte.

Damals war die Umgebung des Zoologischen Gartens, wenigstens an jener Stelle des Kurfürstendammes, noch nicht die elegante Straße, der Mittelpunkt jeglichen Sports. Wo sich heute stolze Mietspaläste erheben, standen in jenen Tagen winzige Häuschen, von Gärtnereien oder Kohlenplätzen umgeben. Das Terrain lag teils brach für die kommenden Baugründe, teils wurde es von kleinen Ackerbauern für landwirtschaftliche Zwecke, Gemüse- und Kartoffelanlagen, ausgenutzt. Kein Zuschauer vom »hohen Balkone«, kein Reiter oder Radler störte die Kinder, die jetzt kurz entschlossen an dem alten, wackeligen Zaune in die Höhe krabbelten. Fast zu gleicher Zeit langten sie oben an, warfen ein Bein als Stütze hinüber und saßen nun rittlings da. Die Kletterei war leicht von statten gegangen und hatte bis auf einen dreieckigen Riß in Lottes Kleid keine Folgen gehabt. Begierig schauten sie in den Garten hinab. Fritz wollte gerade hinunterspringen, als Max ihn beim Arme packte. »Vorsichtig, sieh doch, wir können nicht weiter! Ringsherum sind ja die Gitter, wir sind in einem Tierkäfig!«

Richtig! Da sprangen auch schon von allen Seiten graziöse Antilopen herbei und blickten mit erschreckten Augen zu den merkwürdigen Gästen in der Höhe auf.

Enttäuscht mußten diese den Rückweg antreten. In bedeckter Stimmung eilten sie weiter und standen endlich vor dem hinteren Ausgang, an dem das Drehkreuz angebracht war. Ihnen allen schlug das Herz. Eilig spürten sie umher, keine Menschenseele war zu erblicken. Mäxchen schlich bis zum Gitter und lugte hinein. Zwei Damen kamen langsam heran, um sich herauszudrehen. Ein Beamter der Gartenverwaltung saß auf einem Stuhle und hielt ein Nickerchen ab, denn es war früh am Nachmittag und der Besuch momentan schwach. Mäxchen raste zu seinen Kumpanen zurück und erstattete Bericht. »Kinder wißt ihr, wir lassen die alten Tanten herausgehen und versuchen's dann einzeln. Dann läuft der, welcher drin ist, in die erste Allee links und wartet da auf die andern. Wenn wir auf 'nmal kommen, wacht womöglich der Kaffer auf und – aus ist's!«

»Wer soll anfangen?« flüsterte Fritz erregt.

»Abzählen!« erscholl es, – das probateste Mittel als Vorbeugung für etwaigen Streit. »Eene – mene – wing – mang – ose – pose – packe dich – eier – weier – weg!« zählte Franz in maßloser Aufregung gleichfalls leise. – Das »Weg« traf Lottchen.

Ohne ein Wort zu sagen, machte sie Kehrt und schritt mit energischem Hüftschwung auf die Pforte zu. Und doch klopfte ihr Herz so gewaltig, waren ihre roten Bäckchen ganz blaß vor Angst; aber um keinen Preis der Welt hätte sie all die tausend Befürchtungen kundgethan, die fieberhaft ihr Hirn kreuzten. Sie sah sich ergriffen – verhauen – mit dem grünen Wagen nach dem Wolkenmarkt gebracht – gefangen – hingerichtet wie die arme Königin . . . . na, wie hieß sie doch man! Quatsch – denn nicht! So stand sie vor dem merkwürdigen Instrument. Die Fremden waren soeben heraus und gingen mit sorgfältig hochgenommenen Röcken watend durch den tiefen, staubigen Sand des Fahrwegs. – Mit heroischem Entschluß drückte sie ihr Körperchen gegen die Eisenstangen der Schraube. Ein ächzend, lauter, rostiger Ton erscholl. Erschreckt spähte sie nach dem Schlafenden, der ungerührt weiterschnarchte. Nun preßte sie mit aller Kraft, und – siehe, das schwere Ding setzte sich nach dieser falschen Richtung in Bewegung und drehte sie, ehe sie sich's versah, in den Garten hinein. Scheu nach dem Cerberus sehend, schlich sie auf Zehenspitzen über den knirschenden Kies, in den ersten bezeichneten Baumweg zur Linken. Die Freude wollte noch nicht recht aufkommen, sondern brach erst los, als auch die drei Freunde neben ihr standen. Es war die höchste Zeit, denn gerade blinzelte der sorgsame Wächter mit den Augen und streckte die Arme räkelnd von sich, dabei ein so tiefes »Aaooh – Ooaah« von sich gebend, daß man es auf hundert Schritt weit hören mußte.

Gleichviel, ob er aufstand und seinen Stuhl bis zur Schraube trug, der »Schöps« kam zu spät! Unser Quartett jubelte, tanzte und sang vor Wonne. Kolumbus' Entdeckung Amerikas erschien ihnen nicht zu vergleichen an Waghalsigkeit und Gefahr mit ihrer Expedition. – Nun lagen die Wunder des Gartens vor ihnen, und sie stürzten sich hinein. –

Zwei Stunden später finden wir unsre Freunde abgespannt und sehmüde in einem stilleren Teil der Anlagen bei drei Glas Milch sitzend. Sie hatten alles, alles gesehen: Die Nubier, ihre Lager, ihre wilden Ritte, die Tiere! – Vor den Affenzwingern hatten sie sich »gottvoll amüsiert«, vor den Raubtieren gegraut. Wo eine Tafel stand, auf der die Direktion das Publikum ersuchte, die ausgestellten Tiere nicht zu necken, da hatten sie Halt gemacht. Mit Stöcken und Steinen, Zischlauten und Pfiffen hatten sie die »Biester« möglichst kopfscheu gekränkt. Dieses wurde am Schwanz gezogen, der unglücklicherweise durch die Stäbe hing, jenes wurde mit einer Weidenrute gekitzelt, bis es fauchte. Das Nilpferd bekam eine Ladung Sand in den aufgesperrten Rachen, der Elefant ein halbverfaultes Stück Holz. Die merkwürdigsten Ansichten kamen zu Tage. Franz behauptete von mehreren bunten Vögeln steif und fest: »Sowas gibt's gar nicht, das ist Mumpitz, die sind angestrichen,« und Lotte konnte sich nicht von den Dickhäutern trennen. Sie stellte die sonderbare Bemerkung auf: »Die Tierchen sind einfach süß,« welches Wort gerade für diese Spezies am wenigsten geeignet scheint. Nebenbei fordert die Zoologie zu fortwährenden Vergleichen auf. Zuerst fanden sie zwischen den abschreckendsten Viechern und ihren Lehrern Aehnlichkeiten heraus, deren geistvolle Treffsicherheit die Hörer begeisterte. Zuletzt wurden sie anzüglicher und beschränkten sich auf ihren kleinen Kreis. »Mäxchen glich dem Rhinoceros, Franz dem Büffel, Fritz dem Gorilla und Lotte dem jungen Elefanten!« Die Witze erregten keinen Anstoß und wurden freundschaftlichst belacht. Zweimal hatten herumstreifende Beamte die Kinder angehalten und nach ihren Eintrittskarten gefragt, worauf Fritz geistesgegenwärtig erwiderte: »Die hat mein Papa, der Major Haffner! Er sitzt am See!« Der Titel des Offiziervaters hatte nie seine Wirkung verfehlt. – Jetzt ruhten sie von den Strapazen aus. Dann unternahmen sie einen neuen Streifzug. Plötzlich hielt Lotte an und wies mit der Hand auf einen erhöht angebrachten, versteckten Sitz. Mitten im Grün verborgen, genoß man von da oben eine reizende Rundsicht auf See und Garten. Ihre scharfen Augen hatten da ein augenscheinlich ganz in sich versenktes Liebespärchen entdeckt. »Donnerwetter! Ist das nicht . . .? – natürlich, das Kleid kenn' ich doch!« Sie rannte noch mehr in die Nähe und kam zurück, strahlend vor Triumph und Empörung: »Gewiß, das ist sie!«

»Wer denn?«

»Meine Cousine Frida! So'n Balg, hat sich da einen angeschafft und poussiert.« (Dies Wort hatte sie von Markers Lina angenommen.) »Kinder, die müssen wir 'reinlegen!«

»Au feste!«

Neuer Kriegsrat. »So geht's!« Die Kolonne teilte sich. Max und Lotte schwenkten eiligst ab. Fritz und Franz kletterten über das niedrige Eisengitterchen, huschten über das Gras, durchs Gebüsch, zwischen den Bäumen hindurch und hockten hinter den Liebenden.

»O du mein süßes Lieb,« klang es zu ihnen. Dann neigte sich der Jüngling und streifte hastig mit seinen Lippen ihre Stirn. – In diesem Augenblicke erhoben sich die Jungen aus ihrer kauernden Stellung, schnalzten, als ob sie küßten, riefen: »Na warte man, Frida, das sagen wir deinen Eltern!« – und verschwanden wie der Blitz. Das junge Paar blieb entsetzt zurück, den Zweifelsqualen und der Angst vor der Entdeckung überlassen.

Unsre vier aber trollten sich und verließen vollbefriedigt den »Zoologischen«, als die Abonnenten stromweise hineindrangen, um den Abend in freier, guter Luft zu verleben. Stolz benutzten sie den Hauptausgang und wanderten heim. Unterwegs wurden die Erlebnisse besprochen und jeder Junge, der harmlos des Weges kam, gerempelt, so daß sie, nach verschiedensten kleinen Intermezzi, vergnügt zu Hause anlangten.

Bei Regierungsrats wurde das Nassauern der Jüngsten nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen. Sie bekam eine donnernde Strafpredigt, hörte aber als sie beschämt abzog, wie der Vater lachend sagte: »Eigentlich ein famoser Streich, den die Range wieder ausgeheckt, den erzähle ich morgen im Bureau, da sind sie alle wild nach Lottes Tollheiten.« So war der Eindruck der mütterlich-schwesterlichen Sermone sofort verwischt.

Bei Helms mußte Max eine Seite Schönschrift schreiben wegen seiner »betrügerischen Gemeinheiten«. Und bei Haffners erfolgte das Strafgericht sehr abgeschwächt am nächsten Tage, denn die Eltern waren ausgebeten, als die Söhne heimkamen. – So triumphierte diesmal das Laster. Die Einzige, für die das zerbrochene Drehkreuz eine sehr üble Folge hatte, war Lottes Cousine Frida Rittler. Ihre erste junge Liebe wurde schnöde zerstört und sie kam unter strengste Obhut einer pädagogischen Gesellschafterin.


 << zurück weiter >>