Ernst Georgy
Aus den Memoiren einer Berliner Range
Ernst Georgy

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Fünftes Kapitel.

Ein Sonntagnachmittagspaziergang.

Die großen Ferien, die so viele Eltern passend mit dem Namen: »Furien« belegen, waren vorüber. Die Reisenden waren von ihren Aufenthaltsorten frisch und erholt zurückgekehrt und hatten die Heimgebliebenen in demselben Zustand angetroffen. Drunten im Garten tobten die Kinder, denen sich Franz und Fritz wieder zugesellt hatten. – Eines Tages kam Lotte zornentbrannt in den Garten herab. »Die infamigten Katzen!« sagte sie mit nachdrucksvollen Handbewegungen. »Denkt nur, unsre Mädel haben die halbe Nacht nicht schlafen können; solchen Radau haben die Biester gemacht!«

»Das ist ulkig!« rief Fritz. »Vater hat gesagt, er will sich von der Polizei 'n Schießschein geben lassen und die Kanaillen niederknallen, ihn haben sie auch so gestört!«

»Wem seine sind's eigentlich?« fragte Mäxchen, der, äußerst pedantisch veranlagt, allen Dingen auf den Grund ging.

»Wollen doch mal denken,« erwiderte Lottchen, »na, also: die olle graue von Markers, Fäustlichs schwarzer Kater und die kleine weiße von drüben aus der Schlächterei. Die drei Viecher kommen immer auf unser Laubendach; wenn wir ihnen doch bloß mal etwas auswischen könnten!«

»Das ist doch mächtig einfach!« meinte Franz.

»Du ollet Schaf! Erst können vor Lachen! Wo hernehmen und nicht stehlen!« zitierte Lotte ihre Auguste.

Die Kinder dachten nach.

Fritz brachte nach einer Pause seinen Vorschlag vor: »Wißt ihr was? Ich habe 'ne großartige Idee, Markers Puß haben wir ja im Keller, die brauchen wir bloß zu fangen, na, und für die andern Viecher legen wir Schlingen auf den Lauben. Ich habe mir von meinem Onkel, dem Oberförster, zeigen lassen, wie man das macht. Dann kriegen wir sie sicher!«

Der Anschlag gegen die Freiheit der Katzen wurde angenommen und mit Stricken und Bindfäden die Schlingen auf den Dächern der beiden großen Lauben angelegt. Aber Tage vergingen, ohne daß die Bedrohten sich in den Netzen gefangen hätten. Der nächtliche Lärm dauerte jedoch fort. Die Aufmerksamkeit des Quartetts wurde durch einen äußeren Anlaß von seiner Verfolgungswut abgelenkt. An einem schönen Vormittage erschienen fünf Maler mit Leitern, Farbentöpfen und Oelgeruch, um dem Hausflur einen neuen Anstrich zu geben. Die Kinder hockten nun den ganzen Tag bei den Handwerkern und schlossen mit ihnen »dicke« Freundschaft. Dabei machten ihnen nur die Dienstboten des Hauses Konkurrenz, die jetzt unheimlich viel einzuholen hatten und tagsüber wohl an zwanzig mal den Durchgang zur Straße benutzten. Mit enormer Begriffsfähigkeit bemerkten die Kinder bald, daß sich zwischen Haffners Julie und Herrn Schwarz, dem Obergesellen, etwas »anbandelte«. Sie unterstützten das entstehende Liebespaar und spielten willig zwischen ihr und ihm die Vermittler. Herr Schwarz poussierte das hübsche Mädchen etwas, und sie ging nur zu gern darauf ein. So wurden denn Lotte und Fritz schon nach zwei Tagen Ohrenzeugen einer Einladung des stattlichen Malers: »Na, Fräulein Julchen, wie wäre es? Woll'n Sie Sonntag'n bißken mit mir nach dem Lindenpark in Schöneberg schremmeln kommen?«

Während Julchen noch ein wenig spröde that und an ihrer weißen Schürze zupfte, fragten Fritz und Lotte wie aus einem Munde: »Was ist denn Schremmeln?«

»Ei, das wißt ihr nicht und wollt Berliner sein? Na, ihr seid keine echten, mit Spreewasser getauften.«

»Oho,« meinten beide, beleidigt, daß man an ihrer Zugehörigkeit zu dem geliebten Berlin zweifeln konnte, »so'n juter Berliner wie Sie noch lange!«

»Man darum keine Feindschaft nicht, Fritzeken!« begütigte der freundliche Maler. »Also Schremmeln heißt Tanzen. Und der Lindenpark ist der schönste Ort, wo es gibt. Da ist Konzert, Sommertheater, Karussell . . . .«

»Karussell, ach, wie wundervoll!« schrie Lotte, begeistert die Hände zusammenschlagend. Sie starrte, in plötzlich auftauchende Träume versunken, trübe vor sich nieder.

Schwarz beobachtete sie belustigt. Er zupfte sie an ihrem dicken Zopfe und sagte, lustig mit den Augen zwinkernd: »Ja, denke man bloß, Lotteken, die Inhaber vom Karussell sind meine Verwandten. Er ist meines Vaters Brudersohn.«

»Ach!« stöhnte das Kind aus tiefstem Herzen und blickte halb neidisch, halb verwundert ob dieser idealen Verwandtschaft auf ihn. »Können Sie da frei fahren?«

»Na, das kommt auf die Zeit und den Andrang an; seit Bullermanns ihr Gaul gestorben ist, müssen sie selbst mit 'nem Hund drehen, das ist nicht etwa so leicht. Ein- oder zweimal darf ich mit 'rumrutschen, dann muß ich aber mit schieben helfen! Umsonst ist heutzutage nicht mal der Tod!« Er wandte sich nun zu dem noch immer thatenlos dastehenden Julchen, gab ihr einen leichten Ellbogenstoß und sagte: »Nu, Fräuleinchen, haben Sie sich's überlegt, kommen Sie mit? Um halb Fünf bin ich dann vor der Thür und hole Ihnen ab.«

Die Gefragte schien mit ihrem inneren Kampfe fertig zu sein. Sie stieß ein eiliges »Ja!« hervor, rannte schnell nach der Hausthür und verschwand.

Schwarz pfiff munter vor sich hin und pinselte weiter. Dann kletterte er auf eine Leiter, um noch höher hinaufzureichen, und war mit ganzer Seele an der Arbeit. Da störte ihn Lotte auf, die leise fragte: »Herr Schwarz, bitte, sagen Sie doch, wie teuer ist es denn da einmal 'rum, und spielt auch ein Leierkasten?«

»Na und ob nicht! Sogar mit Glocken- und Trommelwerk! Die Leute sind reich! Wenn es euch mal so sehr karusseliert, dann geht nach dem Lindenpark. Du hast doch die Jungen, die können ruhig ein Weilchen mit drehen helfen, dafür läßt euch mein Cousing auch frei fahren; dich besonders, so'n hübsches Mädel!«

Lotte lächelte geschmeichelt: »Kostet es im Lindenpark Eintrittsgeld?«

»Massenbach! Aber wenn ihr Möpseken kommt, dann sagt ihr einfach dem Billetöhr, daß ihr zu Bullermanns gehört und mitschieben sollt. Er läßt so'ne Spatzen immer noch durchhuppen!«

Lotte sah Fritz fragend an, und dieser sie. »Hättest du die Traute dafür?« sagte sie leise. Er schnipste verächtlich mit dem Finger: »Ich? Selbstverständlich! Aber das könnte dir so passen, du Schafskopp, daß wir da stundenlang drehen, und du fährst als noble Prinzessin drin 'rum, nicht wahr?«

»Habe ich euch nicht immer Obst mitgemaust?«

Auf diesen Einwand schwieg der unritterlich veranlagte Jüngling beschämt.

Für heute zogen sich die beiden Leutchen auf ihren Spielplatz zurück. Sie erwähnten nichts mehr von dem herrlichen Restaurant, wo es Konzert, Theater und Karussell gab. Aber Schwarzens Bemerkung saß wie ein scharfer Hieb, die Wunde blutete weiter. Als der Lehrer Lotten am folgenden Morgen mit der ganzen Klasse die Schönheiten einer Fata Morgana in der Wüste ausmalte, da erstand auch vor ihren Augen solch ein zauberhaftes Luftgebilde. Sie sah kreisende, von Gold und Silber schimmernde Karussells und hörte dazu Drehorgeln und Trommeln. Den ganzen Heimweg über erwog sie die Möglichkeit, daß die drei Jungens mit ihr zum Lindenpark gehen könnten und dort – ach! – –

Vor der Thür wartete Max Helm ihrer mit funkelnden Augen: »Wir haben es!«

»Wen? Das Karussell!« fuhr es aus ihr heraus.

Er sah sie verständnislos an: »Aber Dusel! Das Biest, die weiße Katze. Sie sind auf der Laube gewesen, und sie ist hängen geblieben!«

»Ei Donnerwetter! Was machen wir nun?« sagte sie jetzt auch aufgeregt. »Totschlagen aber bitte nicht!«

»Quatsch!« erwiderte der Kamerad. »Mach', daß du auch in den Garten kommst! Fritz und Franz wollen eben versuchen. Markers Pussy zu fangen; dann kriegen die beiden Viecher Keile!«

Die Kinder stürzten auf den Spielplatz. Auf der Laube miaute »die Weiße« kläglich. Haffners saßen mit total verkratzten Gesichtern da und hielten die graue Hauskatze mit vereinten Kräften fest. Kaum erblickte Lotte die Tiere und die vor Grausamkeit funkelnden Augen ihrer Freunde, da rührte sich ihr gutes Herz. »Bitte, bitte, nicht schlagen, Jungens! Wir wollen ihnen lieber einen andern Schabernack spielen!« flehte sie mit solcher Inbrunst, daß Mäxchen den schon erhobenen Stock sinken ließ.

»Was aber dann?« fragte er enttäuscht.

»Unsinn, hau' zu, die dumme Liese hat immer was!« schrie Fritz ärgerlich. Aber Lotte fing an zu weinen, und da kam ihr Franz sofort zu Hilfe.

»Na, denn bon!« sagte er, »dann schlag' du was andres vor; aber 'ne Strafe müssen sie kriegen für den Radau in den Nächten! Flink, schlag' vor!«

Lotte zermarterte ihr Hirn, um die Katzen vor Strafe zu schützen. Sie ließ die Blicke umherschweifen, und siehe da, sie trafen auf einen frischgestrichenen Gartentisch. Die Idee kam gleich einer Erleuchtung!

»Ich hab's,« sagte sie vergnügt lachend. »Schwarz und seine Gehilfen haben jetzt Mittagszeit. Kühne liegt doch irgendwo besoffen, da können wir uns die Farbentöpfe holen und pinseln die Biester bunt an!«

»Hurra!« brüllte Fritz, »Mädchen, du bist doch nicht so dämlich, wie du aussiehst! Flink, lauft und holt Pinsel und Farben her!« Dabei hatte er Pussys Vorderpfoten ein wenig fahren lassen. Das Tier zog ihm sofort die Krallen seiner Linken scharf über die Hand. »Na warte, du gemeines Ding,« brüllte er sie an, »dich male ich mit allen Farben an, daß dir Hören und Sehen vergeht!« Damit packte er sie von neuem.

Inzwischen stürzten Max und Lotte durch Garten und Hof nach dem Hausthor. Dort standen in einer Reihe aufgepflanzt die Töpfe mit Farben, daneben lagen die Pinsel, nach der Größe geordnet. Der Flur bekam eine Verzierung von bunten Blumensträußen, daher hatten die Kinder Auswahl unter den mannigfaltigsten Rot, Blau, Grün etc.

»Was nehmen wir?« fragte Max, von der »Fülle der Gesichte« betäubt.

Lottes Wangen glühten: »Für die Weiße rot und grün! Für Pussy, die sieht so schon so dreckig aus, hier das Hellgelb und dazu dies Kornblumenblau! Die Köpfe von beiden machen wir schwarz, das sieht dann wunderhübsch aus!«

Sie packten die ausgesuchten Töpfe und eine Reihe Pinsel auf ein gegen die Wand lehnendes Brett und trugen es gleich einem Tablett auf den Platz der Exekution. Selbstverständlich wollten Fritz und Franz auch nicht thatenlos zusehen, sondern an dem »Teufelswerk« mitmalen. Schnell entschlossen banden sie die Beine des unglücklichen Tieres so fest gegen die Stäbe der Laube, daß es sich nicht rühren konnte. Dann begannen sie jubelnd und erregt die künstlerische Thätigkeit. Fritz und Lotte bemalten Markers »Graue«, die andern beiden Schlächters »kleine Weiße«. Trotz des kläglichen Miauens der beiden Opfer wurden die Pinsel immer wieder eingetaucht und die Farbe ein paarmal dick auf dem Fell aufgetragen, wo sie sich an den weichen Haaren sofort festklebte. Der Geschmack der Kinder feierte Orgien. Pussy hatte einen schwarzen Kopf, einen kornblumenblauen Körper und hellgelben Schwanz mit roten Beinen. Die fremde Katze bekam einen grünen Kopfanstrich, roten Körper und blaue Beinchen. – Eine Viertelstunde verging den jungen Künstlern wie im Fluge. Ihr Werk war vollendet.

»So jetzt lassen wir sie noch ein Weilchen hier in der Sonne liegen, dann trocknen sie schneller und verwischen nicht gleich!« meinte Fritz. »Wir können ja inzwischen Räuber und Prinzessin spielen.«

Jauchzend tobten die vier Kinder durch die Wege. Die Katzen trockneten im Sonnenbrande. Auf einmal sagte Lotte, erschrocken im Rennen innehaltend: »Um Gotteswillen, wir müssen die Farben und Pinsel zurückbringen, sonst merkt man, daß wir es waren!«

»Quatsch, auf die Idee kommt kein Gott!« rief der unschuldige Franz in höchster Selbsttäuschung. Aber sie kamen doch ihrem Rate nach und brachten die Töpfe an Ort und Stelle, ehe die Maler aus der Mittagspause zurückkamen.

Punkt zwei Uhr wurden Haffners zum Essen heraufgerufen. »Derjenige, der von euch zuletzt aus dem Garten geht, bindet die Viecher los!« befahl Fritz. Er versetzte dem nichts ahnenden Mäxchen eine furchtbare Ohrfeige im Vorbeigehen und entfloh schleunigst, ohne auf die wütenden Scheltreden des Kameraden zu achten.

Um halb drei wurde Max abbefohlen, und um drei Uhr Lotte. Sie schnitt rasch die Schlinge und die Bindfäden durch und verschwand ebenfalls. Auf dem Tatorte befanden sich nur noch die entsetzten Katzen, die sich streckten und reckten unter beständigem Zerren der verkleisterten Haare.

Die drei uns besonders interessierenden Familien saßen friedlich in ihren Speisezimmern, als sich auf dem Hofe ein markerschütternder Schrei hören ließ. Diesem folgten verschiedene andre und wahre Stürme von Gelächter. Man hörte schreien, rufen, Fenster aufreißen. Die Bewegung nahm zu.

»Sieh doch mal nach, was da unten los ist, Ella,« sagte der Rat etwas ungeduldig; »sobald Handwerker im Haus sind und der Wirt verreist, sind die Frauenzimmer außer Rand und Band.«

Ella erhob sich und blickte hinunter, auch sie schrie auf und schüttelte sich vor Lachen. »Kommt her, kommt her!« stöhnte sie dazwischen atemlos.

Auch die andern stürzten ans Fenster, Lotte hinterher. Das ganze Haus war auf den Beinen. Der Major und seine Gattin, das Ehepaar Helm, kurz alle Mieter lagen in den Fenstern; denn unten gab es ein sonderbares Schauspiel: Auf dem Hofe hockten, verschüchtert, verängstigt, klägliche Miaus ausstoßend, die beiden farbenprächtigen Katzen. Neben diesen kauerte, die Hände ringend, das Markersche Mädchen. Die Herrschaft war noch im Bade und hatte ihr Pussy, das süße Tierchen, besonders anvertraut. Die Maler, Kühnes, alle standen tröstend und lachend neben ihr.

»Das war't ihr, niederträchtige Bengel!« hörte man den Major ins Zimmer donnern. »Diesmal gibt es aber exemplarische Strafe. Ihr kommt beide Oktober ins Kadettenhaus!«

»Du warst auch dabei, Lotte!« rief jetzt auch der Rat. So zornig hatte die Kleine ihren Vater aber doch noch nicht gesehen. Er war entrüstet über diese Tierquälerei.

Wie immer, so trug auch diesmal unser Quartett gemeinsam die Folgen seiner Unart. Erst »Keile«, dann »Strafarbeiten«, zuletzt, auf verabredeten väterlichen Beschluß, viertägige »Verbannung« aus dem Garten. So banden die drei Herren ihren Gattinnen eine viertägige Zuchtrute in der edelsten Absicht.

Zwei Wochen vergingen. Obgleich Kinder sonst für ihre Unarten kein Gedächtnis haben, sondern meist von einem Tage zum andern vergessen, blieb der Vorfall mit den Katzen doch in ihrem Gedächtnis schaudernd haften. Markers Pussy war zwei Tage nach der Bemalung sanft verreckt. Die Zweifel, ob sie oder ein anderer Zufall daran schuld, plagten unsre vier Rangen. Sie setzten den noch immer bunten Leichnam unter vielen Tränen in einer Gartenecke bei und hörten zerknirscht die ermahnenden Reden des Herrn Rats an. Auch die fremde weiße Katze war nie mehr gesehen worden. Und durch die Träume der kleinen Sünder huschten häufig gespenstische Katzen. Es ging im Garten lange Zeit ordentlich manierlich und ruhig zu, so daß die Eltern wieder Vertrauen faßten und die Zügel lockerer ließen. Die »Mörder« hatten es nämlich auch für viele Tage mit den Dienstmädchen verspielt und mußten sich erst nach und nach wieder in die Herzen der weichherzigen Küchenfeen einschmeicheln.

Dazu verhalf ihnen ein ganz besonderer Umstand, und zwar das Liebesverhältnis zwischen Schwarz und Haffners Köchin Julie. Der Maler arbeitete jetzt in der Nähe des Gymnasiums, das die beiden Brüder besuchten. Er vertraute ihnen stets die Briefe für »sein Mädchen« an und bahnte damit auch den Weg der Versöhnung. Julchen tat »dicke befreundet« mit den Jungen. Als sie von ihrem Ausflug nach dem Schöneberger »Lindenpark« zurückkehrte, erzählte sie ihnen so viel von den Herrlichkeiten dieses einstmals so berühmten Lokales, daß die Kinder den innigen Wunsch bekamen, selbst einmal dieses »Wundertier« zu besuchen. Jede Partei versuchte, den Eltern diesen Begehr vorzutragen, wurde aber schnöde abgewiesen.

»Papa hat gesagt, auf so ein ausgefallenes Bumslokal könnte nur ich verfallen!« erzählte Lotte mit einer gewaltigen Schippe. »Aber ich gehe doch hin; was ich will, will ich und thue ich!« Dabei stampfte sie energisch mit dem Fuße auf. »Ihr könnt ja zu Hause bleiben, feige Waschlappen!« höhnte sie weiter.

»Was du dich traust, trauen wir uns auch, du dumme Trine!«

»Affenschwanz! Esel! Schweigt!«

»Schweig du!«

Der Hieb mit der »Feigheit« saß und übte seine Wirkung. Als Lotte am Sonntag hinunterkam, sagte sie harmlos: »Macht, was ihr wollt, ich gehe heute nach dem Lindenpark. Meine Eltern und Schwestern sind bei Onkel Doktor eingeladen!«

»Du kannst doch nicht allein gehen!« rief Franz besorgt.

»Na, und ob nich'!« entgegnete sie und knipste mit den Fingern. Dann wandte sie sich diplomatisch weg und schlug am Reck einige Wellen.

Die Jungen sahen sich an. »Weißt du, die Eltern sind in Lichterfelde beim Kommandanten, da kommen sie immer erst spät nach Haus. Wir könnten ruhig mitgehen!« meinte Fritz.

»Aber, wenn uns der Bursche verpetzt. Er hat heut keinen Ausgehtag!«

»Der muß seinen Rand halten! Ich habe gesehen, wie er gestern Cigarren und Gilka gemaust hat, das weiß er auch!«

»Na, dann wollen wir doch!«

»Mir ist recht!«

Nur Mäxchen ließ sich ruhig für feige erklären und blieb daheim. Seine Stellung in der Schule war jetzt eine so »maue«, daß er sein Kerbholz nicht noch mehr belasten durfte. Traurig blieb er also um halb Vier allein im Garten sitzen, als die andern »losstiebelten«, den armen Burschen noch mit der Lauge grimmigsten Spottes übergießend.

Die beiden Haffners in weißen Matrosenanzügen und hellblauen Kragen, Lotte in weißem Mullkleid mit hellblauer Schärpe, aufgelöstem Haar und großem weißem Helgoländer Hute, sahen wie recht gepflegte vornehme Geschwister aus. Wohlgefällig blickten ihnen viele der Vorübergehenden nach, die allerdings nicht wußten, auf welch verbotenen Pfaden dies Trio wandelte. Sie mußten, um zu ihrem Ziele zu gelangen, an dem Hause vorübergehen, in dem die übrige Familie Bach zu Besuch weilte. Natürlich entdeckte Lotte ihren Vater und den Onkel rauchend auf dem Balkon. – Hinter einem Omnibus mitrennend und sich scheu duckend, kamen sie an dem gefährlichen Punkte vorüber. Langsam schlenderten sie nun den letzten Teil des Weges, der heute außergewöhnlich belebt war. Sämtliche Dienstmädchen des Westens wallfahrteten mit ihren »Schätzen« nach dem »Schwarzen Adler« und dem »Lindenpark«, um dort ihren Ausgehnachmittag zu verbringen.

Unsre drei, mit dem Wege nicht recht vertraut, schlossen sich furchtlos dem großen Haufen an und standen endlich mit einer Menge Einlaßbegehrender vor dem Eingang ins »gelobte Land«. Ihre Herzen klopften nun doch etwas unruhig ob der Erwartung ihres Schicksals. – Endlich war die Reihe an ihnen. Der Billeteur betrachtete die drei reizenden, von besserer Herkunft zeugenden Kleinen mit einer gewissen Spannung.

»Na, Kinnings, wollt ihr ooch etwa 'rin? Ihr jeht noch auf Kinderbillete! Man 'raus mit die Börsen!«

Das Trio wechselte entsetzte Blicke, keins von ihnen hatte einen Pfennig bei sich. Fritz faßte sich ein Herz und sagte zu dem gutmütigen Berliner: »Nee, Herr Kastellan, wo nischt is, hat der Kaiser 's Recht verloren! Wir haben gar kein Geld; aber wir möchten so gern 'rin. Wir kennen Bullermanns, denen das Karussell gehört.« – Er sprach recht berlinisch, wie es sein Vater that, wenn er mit seinen Soldaten redete; denn »so was« macht populär!

»Nanu brat' mir einer 'n Storch! Nächstens seid ihr noch Verwandte von dem ollen Schnapssack und seiner Schlange!«

»Das nun gerade nicht,« rief Lotte, deren Gefühl sich gegen solche Zumutung sträubte, »aber wir kennen einen Vetter, den Maler Schwarz, der hat unser Haus frisch gestrichen. Wenn wir von dem kommen, dürfen meine Brüder das Karussell schieben und ich freifahren. Bitte, lassen Sie uns doch durch, lieber Mann!«

Der also Angeredete lachte, zupfte Lotte an ihrem langen Haar und klopfte die Jungen auf die Backen. »Na, dann lauft man, ihr Galgenstricke, und lernt erst besser schwindeln. Ich bin viel zu gutmütig for so 'n Pack wie ihr!«

Die Kinder machten, daß sie vorwärts kamen.

»Grüßt Onkel und Tante Bullermann!« schrie ihnen der Beamte noch nach.

So waren sie nun im Lindenpark! Zuerst blieben sie ordentlich eingeschüchtert stehen. Vor ihnen wogte eine lachende und schnatternde Menschenmasse hin und her flutend auf und ab; dazu der Lärm der Militärkapellen, das Schießen und das Fallen der Würfel an den Buden, das klingelnde, trommelnde Geräusch des Bullermannschen Etablissements. – Man wußte nicht. wohin man zuerst die Blicke wenden sollte. Langsam gingen sie weiter, Hand in Hand, hier und dort verweilend. Aber der Leierkasten drang bohrend in Lottes Ohr und erweckte in ihr die Lust, endlich das zu erreichen, was ihr das Höchste schien und die Veranlassung ihrer Flucht in das Lokal gegeben hatte. Leise und sicher lenkte sie den Kurs der Jungen und führte sie in die Nahe des Karussells, das sich lustig drehte. Gerade als sie davor standen, war eine Pause eingetreten. Frau Bullermann, ein dickes, gewöhnlich aussehendes Weib, forderte mit lebhaften Rufen die Umstehenden auf, Platz zu nehmen und eine Fahrt mitzumachen. Sofort füllten sich die Schaukeln, Wagen, kühne Reiter bestiegen die Pferde und Elefanten. – Innerhalb der phantastischen Tiergestalten, der schwebenden Sitzgelegenheiten, stand der Gatte der fetten Frau neben einem ermatteten, vor Durst lechzenden Hunde, der an den großen Schwebebaum gespannt war, um den sich das Karussell drehte. Er mußte den Pfahl, mit beiden Händen dagegenstemmend, vor sich herschieben, damit der Hund nicht anhalten konnte. Auch der »reiche« Bullermann keuchte und wischte sich mit seinem roten Taschentuch prustend den Schweiß vom Gesichte. – Der Augenblick war selten günstig! Lotte verstand ihn auszunützen.

»'n Tag, Herr Bullermann,« schrie sie mit ihrer hellen Kinderstimme, »schönen Gruß von Ihrem Vetter, dem Maler Schwarz. Sie sollen doch meine Brüder schieben helfen lassen und mich frei mitfahren. Wollen Sie?«

Der Mann maß mißtrauisch die beiden Jungen, sie sahen gar zu fein aus. Aber ihre Arme und Beine waren muskulös, sein Gesicht erheiterte sich zusehends. »Na, wenn ihr durchaus wollt; mir kann's recht sein!« brummte er endlich. Ehe Fritz und Franz recht zur Besinnung kamen, hatte man ihnen die Hüte abgenommen und sie hinter den großen Querbaum gestellt. »Hier drückt ihr feste jejen und rennt mit. Et is nich' schwer!« sagte der Besitzer tröstend; dann hob er Lotte, die vor Wonne quietschte, auf ein gesatteltes Schwein. »Wenn ihr zehnmal die Toure mitjemacht habt, dann dürft ihr un det Mechen dreimal umsonsten mit 'rum und in de joldene Schaukel!«

Frau Bullermann hatte mißmutig den Personenwechsel im Inneren mit angesehen. Sie war aber schon fast heiser und ließ es geschehen, daß »er« sich auch mal ausruhte. Als alle Plätze besetzt waren, trat sie hinter den Leierkasten, drehte und befahl: »Los!«

Der Hund zog an. Die Jungen preßten und rasten mit herum. Der Schweiß floß in Strömen von ihren Stirnen; doch die »Geschichte machte Spaß!« Das Gejuchze und Gejauchze der Fahrenden, die Zurufe der Zuschauer drang bis zu ihnen; aus allem Jubel heraus vernahmen sie stets das trillernde selige Lachen des sogenannten Schwesterleins. So ging es eine Fahrt nach der andern. Zuletzt setzten die Knaben ihren Ehrgeiz ein, die zehn Touren zu machen, obgleich ihre Brustkästen bis zum Platzen geweitet waren und ihre Adern wie starke Bindfäden auf Stirn und Händen hervortraten.

Wenn Herr Major Haffner und seine Gemahlin, die hochwohlgeborene von Soundso, ihre Stammhalter in »dem« Zustande als Bullermannsche Karussellschieber gesehen hätten! Na, ich danke, Ohnmachten, . . . Weinkrämpfe, . . . womöglich Schlaganfälle wären die natürlichen Folgen gewesen!

Jedoch sie sahen, ahnten es nicht und . . . auch dieses neue Vergnügen fand ein Ende. Endlich waren die Jungen zehnmal herum. Da sie bis zum Tode erschöpft fast zu Boden fielen, hob Bullermann sie ohne Weiterungen in die »vergoldete« Schaukel, flößte ihnen etwas Fusel zwischen die widerstrebenden Lippen und wischte ihnen den Schweiß ab. Lotte setzte sich zu ihnen, und die Freifahrten waren der Lohn für die vorangegangene qualvolle Mühe.

Dann ruhten sie noch auf der Bank in der Nähe des Hauptorchesters aus, bis sie wieder einigermaßen zu Menschen wurden. Um halb sechs Uhr ging ein Mann mit einer großen Glocke durch das ganze Lokal und zeigte den Beginn der Vorstellung auf dem Sommertheater an. Auch diese, obgleich nicht sonderlich geeignet für junge Ohren, wurde von den Kindern »genassauert«; aber ihre Lust an dem Leben und Treiben um sie herum war vorbei. Sie fühlten Hunger und Durst und eine bleierne Müdigkeit. Müde hatten sie sich nebeneinander auf zwei Stühlen in eine Ecke des durch Stricke abgeteilten Zuschauerraumes gesetzt. Während auf der Bühne buntbefrackte Sänger und ziemlich freche Chansonetten ihre Lieder herunterjohlten, schlief Lotte ein und ließ den Kopf auf Fränzchens Schultern sinken, der sich nicht rührte. Sowohl er, als auch sein Bruder hielten noch mit Gewalt die Augen auf; sie starrten abgespannt zu den Vortragenden hin und lauschten den Gesängen, ohne ihren Inhalt zu verstehen.

Nicht weit von ihnen saß eine lebhafte Gesellschaft Kleinbürger bei Bier und mitgebrachten »Stullen« um eine Anzahl zusammengeschobener Tische. Der eine der vorher so gesprächigen »Herren« war auf einmal still geworden, er blickte fortwährend nach den Kindern herüber. Sie kamen ihm so sehr bekannt vor; endlich erhob er sich.

»Wo willst du denn hin?« fragte ihn seine Frau.

»Weißte, Lise, ich kann mir nich' helfen; aber die Jungen da kenne ich. Ich wette, es sind die von Hauptmann Haffner. Als ich bei ihm Bursche war, waren die Bengel erst vier und drei Jahre alt; aber sie sahen ak'rat so aus. Ich frage sie mal, ob oder nich'.« Er trat an die Kinder heran und packte sie bei den Schultern, so daß sie erschreckt zusammenfuhren: »He, du, heißt du Fritz?« – dieser nickte »und du Franz? . . . Ja, na, dann seid ihr Hauptmann Haffner'n seine beiden?«

»Papa ist jetzt Major!« entgegnete Fritz; aber der Einwurf wurde nicht gehört. Der brave Spießbürger schüttelte sie ordentlich vor Freude: »Kennt ihr mich nich' mehr. Jungen? Ich bin ja Vatern sein Heinz, der Bursche, wißt ihr nich'? Ich war doch drei Jahre bei euch, ihr Herzensschlingel, ihr! Banditen!«

Das Wiedersehen wurde gefeiert, Lotte vorgestellt, nachdem sie sich ein wenig ermuntert hatte. Dann brachte man die drei »Ausreißer« an den andern Tisch, wo sie vor allem gespeist und getränkt wurden. Die »vornehmen Jöhren« erregten förmliche Sensation. Ganz gegen ihren Willen wurden sie, besonders Lotte, von allen Mitgliedern der Gesellschaft abgeknutscht. Inzwischen ging Heinz Schulze ins Nachbarhaus, wo er sein Fuhrwerk eingestellt hatte, und spannte an, um »seine Jungen und das Mächen« nach Hause zu fahren. Er hatte ein kleines Bauerngut und trieb einen einträglichen Milchhandel nach Berlin, wohin er tags über zweimal »hineinmachte«.

Der Regierungsrat und sein Vetter, der Doktor, sowie einige andre Herren standen in der Dämmerung rauchend auf dem Balkon. Plötzlich beugte sich der Rat vor, warf seine Asche auf die Straße und sagte lachend: »Wenn ich den Racker nicht zu Hause im Bett wüßte, würde ich sagen, daß unsre Lotte da eben in dem Milchwagen vorbeigefahren ist. So kann man wirklich durch optische Täuschungen oft zu falschen Behauptungen kommen und sich Dinge einreden, man weiß nicht wie!«

»O nein!« lachte der Arzt, »nur so ein verliebter Vater wie du, lieber Leo. Mit solcher Vaterliebe im Leibe, siehst Lotten ›du in jedem Weibe‹.«

»Donnerwetter, der Mensch mißbrauche die Citate nicht und begehre sie nimmer anzuwenden!« fiel ein andrer lächelnd ein.

Als Bachs abends spät heimkehrten, schlief Lotte mit unschuldigstem Gesichtchen, den besten Alibibeweis darstellend. Da sie und die Jungen reinen Mund hielten, kam dieser Ausflug nach dem Lindenpark erst nach Jahren ans Tageslicht. Da war Ermahnung und Strafe aber verfehlt und unterblieb. So blieb denn auch ihnen nur eine freundliche Erinnerung daran zurück.


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