Theophil Gautier
Kapitän Fracasse. Erster Band
Theophil Gautier

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Die Herberge »Zur blauen Sonne«

Der Ort, an dem die ermüdeten Ochsen von selbst stehen blieben, war eine armselige Gruppe von Hütten, die man in einer minder abgelegenen Gegend nicht mit dem Namen eines Dorfes bezeichnet hätte.

Dieser Flecken bestand aus fünf oder sechs kleinen Häusern, die unter ziemlich schönen Bäumen umherstanden, deren Wachstum durch allerlei Abfälle und Dünger begünstigt worden war. Diese von Lehm, Kieseln, halbbehauenen Baumstämmen und rohen Brettern erbauten Häuser mit großen, moosbewachsenen, fast bis auf die Erde herabhängenden Dächern und daran gebauten Schuppen, in denen einige mit Kot bedeckte Ackergerätschaften lagen, schienen geeigneter, unreine Tiere zu beherbergen als nach Gottes Ebenbild geschaffene Wesen. Auch wurden sie von einigen schwarzen Schweinen mit ihren Herren geteilt, ohne daß die einen vor den andern den mindesten Ekel verraten hätten. Vor den Türen standen oder saßen einige Kinder mit dicken Bäuchen, dünnen Armen und Beinen und fieberhafter Gesichtsfarbe in zerlumpten Hemden oder auch in Leibchen, die nur ein Bindfaden schnürte.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Das Haus, vor dem die Zugstiere mit jenem Instinkt der Tiere, die niemals den Ort vergessen, wo sie Nahrung und Streu gefunden, haltmachten, war eines der bedeutendsten des Dorfes.

Die Herberge »Zur blauen Sonne« hatte ein Dach von Ziegeln, von denen manche dunkelbraun, andere wieder hochrot waren. Sie bewiesen, daß kürzlich Reparaturen stattgefunden, und daß es wenigstens nicht in die Gastzimmer regnete. Weniger unkultiviert oder weniger arm als die übrigen Bewohner des Dorfes hatte der Besitzer der Herberge den Ansprüchen des zivilisierten Lebens einige Zugeständnisse gemacht. Das Fenster des schönen Zimmers hatte Glasscheiben, eine Seltenheit zu jener Zeit und in jenem Lande. Ein an das Haus stoßender Schuppen diente zum Schutz für Wagen und Tiere. Zwischen den Gittern der Krippen hindurch ging das Heu wie zwischen den Zähnen eines ungeheuren Kammes, und lange, aus alten Tannenstämmen gehöhlte, auf Pfähle gestellte Tröge enthielten das am wenigsten faule Wasser, das die benachbarten Tümpel lieferten. Mit Recht behauptete daher Meister Chirriguirri, daß zehn Meilen in der Runde keine so bequeme und so gut eingerichtete Herberge existiere wie die »Zur blauen Sonne«. Auch täuschte er mit dieser Behauptung weder sich selbst noch andere, denn die nächste Herberge war wenigstens zwei Tagreisen entfernt.

Der Baron von Sigognac empfand unwillkürlich einen gewissen Grad von Scham, daß er sich mitten unter dieser Truppe umherziehender Komödianten befand, und zögerte, die Schwelle der Herberge zu überschreiten. Denn Blasius, der Tyrann, der Matamor und Leander ließen ihm die Ehre des Vortrittes, und Isabella, die die redliche Schüchternheit des Barons erriet, näherte sich ihm mit entschlossener, schmollender Miene. »Pfui, Herr Baron, Sie zeigen den Frauen gegenüber eine eisigere Zurückhaltung als Josef und Hippolyt. Wollen Sie mir nicht den Arm bieten, um mich in diese Herberge zu geleiten?«

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Sigognac verneigte sich und bot seine Hand der Isabella, die seinen abgetragenen Ärmel mit der Spitze ihrer zarten Finger berührte, so daß dieser leichte Druck eine Ermutigung enthielt. In der Tat kehrte auch der Mut des jungen Barons sofort wieder zurück, und er trat mit triumphierender Miene in die Herberge. Es war ihm ganz gleich, wenn es auch die ganze Welt sähe. In dem herrlichen Königreich Frankreich kann ein Mann, der eine schöne Frau begleitet, sich niemals lächerlich machen, sondern höchstens Eifersucht erregen.

Der Herbergswirt kam seinen Gästen entgegen und stellte mit einem Pathos, das die Nachbarschaft Spaniens verriet, sein Haus zur Verfügung der Reisenden.

Ein ledernes Wams, das um die Hüften herum durch einen Gürtel mit messingener Schnalle festgehalten ward, ließ die kräftigen Formen seiner Büste hervortreten. Die mit einem Zipfel in die Höhe gesteckte Schürze aber und ein großes Messer in einer hölzernen Scheide mäßigten den wilden Ausdruck, der vielleicht in seiner Miene lag, und gaben dem ehemaligen Schmuggler eine beruhigende Beimischung von Koch. Ebenso wog sein freundliches Lächeln die beunruhigende Wirkung einer tiefen Narbe auf, die von der Mitte der Stirn ausgehend, sich bis unter das kurz verschnittene Haar zog. Mißtrauische und furchtsame Reisende hätten vielleicht das Gastwirtshandwerk für einen Mann von dieser Art als ein allzu friedliches betrachtet. Aber, wie gesagt, die »blaue Sonne« war einmal in dieser Wüste das einzige bewohnbare Gasthaus.

Das Zimmer, in das der Baron Sigognac und die Komödianten traten, war nicht so prachtvoll, wie Chirriguirri versicherte. Der Fußboden bestand aus festgestampftem Lehm, und mitten in dem Zimmer bildete eine von großen Steinen erbaute Estrade den Herd. Eine in der Decke angebrachte Öffnung, durch die von einer eisernen Stange eine Kette herabhing, vertrat die Stelle des Schornsteines, so daß der ganze obere Teil des Zimmers zur Hälfte in dem Rauchnebel verschwand. Um den Herd herum, aber bloß auf drei Seiten, um dem Koch den freien Zugang zu gestatten, schaukelten sich hölzerne Bänke auf den Unebenheiten des Fußbodens. Hier und da standen dreibeinige Schemel herum, die in ein Brettstück hineinpaßten und von denen das eine über die andern hinausragte, so daß es im Notfall als Lehne dienen konnte. Späne von Tannenholz warfen, in eisernen Klammern brennend, über dies alles einen roten, räucherigen Schein. Von der Decke herab hing an einem eisernen Haken eine lange Speckseite, die in dem Halbdunkel eine beunruhigende Ähnlichkeit mit einem Gehängten darbot.

An der Ecke einer der Bänke schlief, als die Schauspieler eintraten, ein kleines Mädchen von acht bis neun Jahren, wenigstens schien sie nicht älter zu sein, so mager und klein war sie. Mit den Schultern an die Lehne der Bank gestützt, ließ sie ihren Kopf, von dem lange Haarflechten herabfielen, auf die Brust herunterhängen, so daß man ihre Züge nicht unterscheiden konnte. Ihre Arme hingen schlaff zu beiden Seiten des Körpers herab. Ihre Beine schwebten, zu kurz, um den Boden zu erreichen, mit gekreuzten Füßen in der Luft. Diese Füße waren durch die Einwirkung der Kälte, der Sonne und der rauhen Witterung rot geworden wie ein Ziegelstein. Zahlreiche, teils vernarbte, teils frische Ritzwunden daran verrieten häufiges Herumlaufen in Gebüsch und Wald. Diese übrigens klein und zart geformten Füße trugen Stiefelchen von grauem Staub, ohne Zweifel das einzige Schuhwerk, das sie jemals kennengelernt hatten. Die Kleidung des Mädchens war die allereinfachste, die man sich denken konnte. Sie bestand aus bloß zwei Stücken: einem Hemd von so grober Leinwand, daß die Schiffe feinere zu ihrem Segelwerk haben, und einer Kutte von gelbem Barchent nach aragonesischer Mode, wahrscheinlich aus dem am wenigsten abgenützten Teil eines Unterrockes der Mutter herausgeschnitten.

Isabella, Serafina und die Soubrette nahmen Platz auf dieser Bank, und ihr Gewicht zusammen mit dem allerdings sehr leichten des kleinen Mädchens reichte kaum hin, um der auf dem andern Ende sitzenden Masse der Duenna die Wage zu halten. Die Männer verteilten sich auf die andern Bänke und ließen zwischen sich und dem Baron von Sigognac ehrerbietig einen leeren Raum.

Einige Hände voll Gestrüpp hatten die Flamme wieder belebt, und das Knistern der trockenen Reiser, die sich in der Glut krümmten, erfreuten die Reisenden, die von den Strapazen des Tages doch ein wenig angegriffen waren.

Chirriguirri näherte sich den Reisenden mit der ganzen Höflichkeit und Anmut, die sein von Haus aus so barbarisches Äußeres gestattete.

»Was soll ich den Herrschaften auftragen? Mein Haus ist mit allem versehen, was Standespersonen wünschen können. Wie schade, daß Sie nicht gestern gekommen sind. Ich hatte einen Wildschweinskopf zubereitet, der so köstlich schmeckte, daß leider auch nicht so viel davon übriggeblieben ist, als man brauchen würde, um einen hohlen Zahn zu füllen.«

»Das ist allerdings beklagenswert«, sagte der Pedant, indem er sich die Mundwinkel leckte. »Wilder Schweinskopf ist ein Gericht, das ich jedem andern vorziehe, und gern hätte ich mir einmal einige Verdauungsbeschwerden dadurch zugezogen.«

»Und was würden Sie erst zu der Wildbretpastete gesagt haben, die die Herren, die ich diesen Morgen beherbergte, bis auf die letzte Rinde aufgezehrt haben?«

»Ich würde gesagt haben, sie sei vortrefflich, und ich hätte das Verdienst des Kochs gebührend anerkannt. Was kann es aber nützen, unsern Appetit grausam durch trügerische Speisen zu reizen, die jetzt schon längst verdaut sein müssen?«

»Sie haben recht, mein Herr«, antwortete Chirriguirri mit zustimmender Gebärde. »Die Erinnerung ist nichts Greifbares, aber dennoch kann ich nicht umhin zu bedauern, daß ich auf so unkluge Weise meinen Lebensmittelvorrat habe aufzehren lassen. Gestern war meine Speisekammer gestopft voll, und vor erst zwei Stunden habe ich die Unklugheit begangen, meine sechs letzten Terrinen köstlicher Entenleber aufs Schloß zu schicken.«

»Ha, welch eine Hochzeit von Kana könnte man mit allen den Gerichten anstellen, die Ihr nicht mehr habt, und die von glücklicheren Gästen verzehrt worden sind. Ihr habt uns indessen nun lange genug schmachten lassen; sagt uns ohne weitere Umschweife, was Ihr habt, nachdem Ihr uns in so schön gesetzten Worten gesagt, was Ihr nicht habt.«

»Ihr Wunsch ist sehr gerecht. Ich habe Speck, Schinken und Stockfisch«, antwortete der Herbergswirt und versuchte schamhaft zu erröten wie eine überraschte gute Hausfrau, der ihr Mann plötzlich drei oder vier Freunde mit zu Tische nach Hause bringt.

»Nun gut,« rief die ausgehungerte Truppe wie aus einem Munde, »dann gebt uns Speck, Schinken und Stockfisch.«

»Ja, ich will Ihnen eine Specksuppe bereiten lassen, die ihresgleichen sucht«, fuhr der Gastwirt fort, indem er seine Dreistigkeit wiedergewonnen und seine Stimme erdröhnen ließ wie die Fanfare einer Trompete. »Die Brotkrumen sollen im feinsten Gänsefett geröstet, die Kohlblätter mit ambrosischem Wohlgeschmack zugerichtet und mit einem Speck gekocht werden, der weißer ist als der Schnee auf dem Gipfel des Maladetta – eine Suppe, die würdig wäre, die Tafel der Götter zu zieren.«

»Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, aber macht schnell, denn ich berste fast vor Hunger«, sagte der Tyrann mit der Miene eines Menschenfressers, der frisches Menschenfleisch wittert.

»Zagarriga! decke rasch den Tisch in dem schönen Zimmer«, rief Chirriguirri einem vielleicht gar nicht vorhandenen Knaben zu, denn der Gerufene gab trotz des eindringlichen Rufes des Patrons kein Lebenszeichen. »Was den Schinken betrifft, so hoffe ich, daß die Herrschaften damit zufrieden sein werden. Er kann dem besten Bayonner den Rang streitig machen, denn er ist weiß, rot und zart und der appetitlichste von der Welt.«

»Wir glauben an dies alles wie an das Evangelium,« rief der Pedant ungeduldig, »bringt nur aber dieses Schinkenwunder bald zum Vorschein, oder es stehen hier kannibalische Szenen in Aussicht wie auf gescheiterten Schiffen. Wir haben nicht wie der Herr Tantalus Verbrechen begangen, daß wir auf diese Weise gefoltert zu werden verdienten.«

»Sie haben vollkommen recht«, hob Chirriguirri in dem ruhigsten Tone wieder an. »Heda, ihr alle da draußen, rührt euch, beeilt euch, sputet euch! Diese Herrschaften haben Hunger und können nicht warten.«

Das Küchenpersonal rührte sich ebensowenig als der vorhin genannte Zagarriga, und zwar aus dem guten Grunde, weil es weder existierte, noch jemals existiert hatte. Die ganze Bedienung der Herberge bestand in einer großen hagern Dirne, namens Mionnette. Jene imaginäre Dienerschaft aber, die Meister Chirriguirri fortwährend rief, gab nach seiner Meinung der Herberge ein gutes Ansehen, belebte und bevölkerte sie und rechtfertigte die hohe Zeche.

Durch das viele Rufen der Namen dieser märchenhaften Diener war der Wirt »Zur blauen Sonne« endlich dahin gekommen, an die Existenz solcher Personen selbst zu glauben, und er wunderte sich beinahe, daß sie nicht ihren Lohn verlangten – eine Bescheidenheit, für die er ihnen Dank wußte.

An dem dumpfen Klirren und Klappern, das sich in dem Nebenzimmer hören ließ, erratend, daß der Tisch noch nicht fertig gedeckt war, begann der Herbergswirt, um Zeit zu gewinnen, das Lob des Stockfisches zu preisen. Es war dies allerdings ein ziemlich trockenes Thema, das ein gewisses Aufgebot von Beredsamkeit nötig machte. Zum Glück war Chirriguirri daran gewöhnt, unschmackhaften Gerichten durch das Gewürz seiner Worte Wert zu verleihen.

»Möge nun«, sagte der Pedant, »dieser wunderbare Fisch nur bald geruhen, aus der Pfanne auf den Teller zu springen, sonst lösen wir uns in Dunst und Nebel auf wie Schemen und Gespenster, wenn der Hahn kräht und die Sonne wieder aufgeht.«

»Es würde sich aber nicht schicken, den Fisch vor der Suppe zu verzehren; es hieße dies die Ochsen hinter den Wagen spannen,« entgegnete Meister Chirriguirri mit stolz verächtlicher Miene, »und die Herrschaften sind viel zu wohl erzogen, als daß sie sich einen derartigen Verstoß zuschulden kommen lassen. Nur noch ein wenig Geduld. Die Specksuppe ist sogleich fertig.«

»Bei den Hörnern des Teufels!« schrie der Tyrann, »ich wäre gern mit einer spartanischen Suppe zufrieden, wenn sie nur gleich aufgetragen würde.«

Der Baron von Sigognac sagte nichts und verriet keine Ungeduld. Er hatte ja den Abend zuvor gegessen! In seinem Hungerschloß hatte er sich schon längst an einsiedlerische Enthaltsamkeit gewöhnt. Diese häufige Wiederkehr von Mahlzeiten setzte seinen nüchternen Magen in Erstaunen. Isabella und Serafina beklagten sich ebenfalls nicht, denn jungen Damen, von denen man glaubt, sie nährten sich von Tau und Blumensaft, steht es nicht gut an, wenn sie Heißhunger verraten. Der auf seine Magerkeit bedachte Matamor schien ganz entzückt zu sein, denn er hatte seinen Gürtel soeben um ein Loch enger geschnallt, und der Dorn der Schnalle war ohne Mühe eingeschnappt. Der Leander gähnte und zeigte die Zähne. Die komische Alte war eingeschlummert, und unter ihrem zusammengedrückten Kinn zeigten sich drei Falten schlaffen Fleisches wie Würste.

Das kleine Mädchen, das auf dem andern Ende der Bank geschlafen, war aufgewacht und hatte sich emporgerichtet. Man konnte jetzt ihr Gesicht sehen. Sie hatte das schwarze Haar auf die Seite gestrichen. Unter dem verbrannten Gesicht leuchtete eine matte, wachsähnliche Blässe hindurch. Die Wangen, deren Knochen hervorstanden, waren farblos. Das ganze Leben schien sich in die Augen geflüchtet zu haben. Die Magerkeit des Gesichtes ließ diese Augen ungeheuer groß erscheinen. Der breite schwarze Ring, der sie umgab, verlieh ihnen einen fieberhaften, eigentümlichen Glanz. Das Weiße sah fast blau aus, so sehr stachen die Augensterne durch ihr dunkles Braun ab, und so dicht war die Doppellinie der Wimpern. In diesem Augenblicke verrieten diese seltsamen Augen kindische Bewunderung und Begehrlichkeit, und waren hartnäckig auf die Schmucksachen der Isabella und der Serafina geheftet, deren geringen Wert die kleine Wilde ohne Zweifel nicht ahnte. Das Funkeln eines Besatzes von unechtem Gold, der trügerische Schimmer eines Halsbandes von venetianischen Perlen blendete sie und versetzte sie in eine Art Ekstase. Offenbar hatte sie in ihrem Leben noch nie etwas so Schönes gesehen. Ihre Nüstern weiteten sich, eine schwache Röte stieg ihr in die Wangen, ein sardonisches Lächeln umspielte ihre bleichen Lippen, von Zeit zu Zeit unterbrochen durch ein fieberhaftes, rasches, trockenes Zähneklappern.

Zum Glück achtete niemand von der Gesellschaft auf diesen armseligen kleinen, von nervösen Zuckungen geschüttelten Lumpenhaufen, denn man wäre erschrocken über den unheimlichen wilden Ausdruck in den Zügen dieser blassen Larve.

Die Kleine konnte ihre Neugierde endlich nicht mehr bemeistern. Sie streckte ihre Hand, die so braun, so fein geformt und kalt war wie die eines Affen, nach dem Kleide der Isabella aus, dessen Stoff ihre Finger mit einem sichtbaren Gefühl von Vergnügen und wollüstigem Kitzel betasteten. Dieser abgetragene, auf allen Falten spiegelnde Samt schien ihr der neueste, der kostbarste und weichste der Welt zu sein.

Obschon die Berührung eine ganz leichte war, so drehte die Isabella sich doch um und sah die Bewegung der Kleinen, der sie mütterlich zulächelte. Die Kleine nahm sofort mit einer instinktartigen Gewandtheit, die einer vollendeten Schauspielerin Ehre gemacht haben würde, eine kindisch-dumme Miene an und sagte in ihrem bäuerischen Dialekt und mit kläglicher Stimme:

»Ach, das ist so schön wie der Mantel der Heiligen Jungfrau auf dem Altar.«

Dann senkte sie die langen Wimpern, stützte ihre Schultern wieder an die Lehne der Bank, faltete die Hände, kreuzte die Daumen und tat, als ob sie vor Ermüdung einschliefe.

Mionnette, die große, hagere Magd, meldete in diesem Augenblick, daß das Essen fertig sei, und man begab sich in das Nebenzimmer.

Die Schauspieler ließen der Küche des Meisters Chirriguirri alle Ehre widerfahren und stillten, ohne freilich sich von der gepriesenen Vorzüglichkeit überzeugen zu können, ihren Hunger und ganz besonders ihren Durst durch lange Züge aus dem ledernen Weinschlauch, der immer mehr zusammenfiel wie ein Dudelsack, aus dem die Luft entweicht. Eben war man im Begriff, sich wieder vom Tische zu erheben, als plötzlich Hundegebell und Pferdegetrappel sich in der Nähe der Herberge hören ließ. Drei Schläge, die mit ungeduldiger Autorität gegen die Tür geführt wurden, verkündeten einen Reisenden, der nicht gewohnt war, lange zu warten. Mionnette beeilte sich zu öffnen, und ein Reiter trat, mitten unter einer Meute Hunde, herein, die die Magd beinahe über den Haufen rannten und sich durch das Zimmer zerstreuten, die soeben vom Tische genommenen Teller ableckten und in einer Minute mit ihren Zungen die Arbeit von drei Aufwaschweibern verrichteten.

Einige ohne Rücksicht auf Schuld oder Unschuld kräftig geführte Peitschenhiebe beschwichtigten wie durch einen Zauberschlag diese Aufregung. Die Hunde flüchteten sich keuchend unter die Bänke, streckten die Zungen heraus, legten die Köpfe auf die Pfoten oder ringelten sich zusammen. Der Reiter trat geräuschvoll mit den Sporen klirrend in das Zimmer, in dem die Schauspieler aßen, mit der Selbstsicherheit eines Mannes, der überall zu Hause ist, mag er sein, wo er will. Meister Chirriguirri, der doch sonst nicht so schüchtern war, folgte ihm mit dem Barett in der Hand und mit diensteifriger, fast furchtsamer Miene.

Der Kavalier berührte, auf der Schwelle des Zimmers stehenbleibend, leicht die Krempe seines Filzhutes und durchlief mit ruhigem Blick den Kreis der Schauspieler, die seinen Gruß erwiderten. Er konnte dreißig bis fünfunddreißig Jahre zählen. Blondes, spiralförmig frisiertes Haar umrahmte sein sanguinische joviales Gesicht, das von Luft und rascher Bewegung dunkel gerötet war. Seine Augen waren dunkelblau und seine Nase ein wenig stumpf, aber sonst gut geformt. Ein kleiner roter, an den Spitzen gewichster und emporgedrehter Schnurrbart schmückte die Oberlippe, während der Kinnbart nach der Form eines Artischockenblattes gestutzt war. Dazwischen zeigte sich ein Mund, dessen obere etwas schmale Lippe wieder gutmachte, was die breite, rote, starke Unterlippe vielleicht zu Sinnliches hatte. Die Stirne, die er entblößte, indem er seinen Hut auf einen der hölzernen Stühle warf, war weiß und glatt, weil sie durch den Schatten des Hutes vor der Sonnenhitze geschützt war, und verriet, daß dieser Kavalier, ehe er den Hof mit dem Landleben vertauschte, einen sehr zarten Teint besessen haben mußte. Die ganze Physiognomie war angenehm, und die Heiterkeit des freimütigen Zechers und Gesellschafters milderte darin glücklich den Adelsstolz.

Die Kleidung des Eintretenden bewies durch seine Eleganz, daß der Marquis – dies war sein Titel – trotz seines Aufenthaltes in der Provinz, seine Beziehungen zu den Lieferanten der Hauptstadt nicht abgebrochen hatte. Ein umgeschlagener Spitzenkragen ließ den Hals frei. Zwischen dem zitronenfarbenen, mit Silber besetzten sehr kurzen Wams und den Beinkleidern quoll eine Flut weißer Wäsche hervor. Ebenso ließen auch die Ärmel dieses Wamses das Hemd bis an den Ellbogen sehen. Ein blauer, mit Silber besetzter, auf der Schulter hängender, durch eine Agraffe festgehaltener Mantel vervollständigte dieses Kostüm, das für die Jahreszeit und das Land vielleicht ein wenig zu kokett war, das sich aber gut rechtfertigen ließ: der Marquis war soeben mit der schönen Yolande auf der Jagd gewesen und hatte sich nach Kräften zum Adonis gemacht, um seinen Ruf als schöner, eleganter Mann aufrecht zu erhalten.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

»Für meine Hunde eine Suppe, für mein Pferd einen Metzen Hafer, für mich ein Stück Brot und Schinken, und für meinen Jäger einen Imbiß!« sagte der Marquis in jovialem Tone, indem er am Ende der Tafel neben der Soubrette Platz nahm, die beim Anblick eines so eleganten schönen Herrn ihm sofort einen zündenden Blick und ein siegreiches Lächeln zusandte.

Meister Chirriguirri setzte einen zinnernen Teller und einen Becher vor den Marquis. Die Soubrette schenkte ihm einen tüchtigen Trunk ein, den er auf einen Zug hinunterstürzte. Die ersten Minuten wurden der Stillung eines Jägerhungers, des wütendsten, den es geben kann, gewidmet. Dann ließ der Marquis seinen Blick um den Tisch herumschweifen und bemerkte den unter den Schauspielern neben Isabella sitzenden Baron von Sigognac, den er von Ansehen kannte und dem er begegnet, als er mit der Jagd an dem Ochsenkarren vorübergekommen war.

Isabella lächelte dem Baron zu, der leise mit ihr sprach. Es war jenes schmachtende, unbestimmte Lächeln, das mehr Sympathie als Heiterkeit verriet, und in dem sich der, der die Frauen kennt – und der Marquis hatte darin Erfahrung – nicht irren kann. Die Anwesenheit Sigognacs unter dieser herumziehenden Truppe überraschte ihn nicht mehr, und die Verachtung, die ihm die armselige Kleidung des armen Barons einflößte, minderte sich bedeutend. Das Unternehmen, seiner Schönen auf dem Thespiskarren durch das Labyrinth komischer oder tragischer Abenteuer zu folgen, schien ihm ein phantasiereiches, poetisches Gemüt zu verraten. Er gab Sigognac einen Wink des Einverständnisses, um ihm bemerklich zu machen, daß er seine Absicht durchschaue. Als echter Hofmann aber respektierte er das Inkognito des Barons und schien sich bloß noch mit der Soubrette zu beschäftigen, der er eine Menge teils aufrichtig gemeinter, teils spöttischer Schmeicheleien sagte, die sie in der gleichen Weise mit lautem Gelächter hinnahm, wodurch sie zugleich Gelegenheit erhielt, ihre prachtvollen Zähne sehen zu lassen.

Der Marquis, der ein Abenteuer, das sich so gut anließ, weiter zu verfolgen wünschte, fand es gut, sich sofort als einen leidenschaftlichen Theaterfreund und einen tüchtigen Kenner der dramatischen Literatur auszugeben. Er beklagte, daß man in der Provinz das Vergnügen des Theaterbesuchs entbehren müsse, der doch so sehr geeignet sei, den Verstand zu bilden, die Sprache zu veredeln und den feinen Ton zu vervollkommnen. Dann wendete er sich gegen den Tyrannen, der das Haupt der Truppe zu sein schien, und fragte ihn, ob er schon Verbindlichkeiten eingegangen sei, die ihn abhielten, einige Vorstellungen der besten Stücke seines Repertoirs auf dem Schlosse Bruyères zu geben, wo es sehr leicht sein würde, in dem großen Saale oder in der Orangerie eine Bühne aufzuschlagen.

Der Tyrann antwortete, gutmütig in seinen großen Bart hineinlächelnd, daß nichts leichter sei als dieses und daß seine Truppe, eine der ausgezeichnetsten in der ganzen Provinz, dem gnädigen Herrn zu Diensten stünde. »Vom König bis zur Soubrette«, setzte er lachend hinzu.

»Das trifft sich ausgezeichnet,« antwortete der Marquis, »und was die Bedingungen betrifft, so wird sich auch in dieser Hinsicht keine Schwierigkeit ergeben. Sie werden die Summe selbst bestimmen. Mit Thalia feilscht man nicht, denn sie ist eine Muse, die bei Apollo in hohem Ansehen steht und bei Hofe ebenso gern gesehen wird als in der Stadt und in der Provinz, wo man nicht so arm und knickerig ist, wie man in Paris zu glauben pflegt.«

Nach diesen Worten berührte er die Soubrette, ohne daß diese es übelnahm, bedeutsam mit dem Knie, stand vom Tische auf, zog seinen Filzhut bis auf die Augen herab, grüßte die Gesellschaft mit der Hand und entfernte sich unter dem Gekläff seiner Meute, um voranzureiten und auf dem Schloß alles zum Empfang der Schauspieler vorzubereiten.

Es war spät, und man mußte den nächstfolgenden Morgen frühzeitig aufbrechen, denn das Schloß Bruyères war ziemlich weit. Und wenn auch ein kräftiges Roß auf Querwegen eine Entfernung von drei oder vier Meilen mit leichter Mühe zurücklegen kann, so braucht doch ein schwerbeladener, von schon ermüdeten Ochsen auf einer sandigen Straße gezogener Wagen weit längere Zeit.

Die Damen zogen sich in eine Art Schuppen zurück, wo man ein Strohlager bereitet hatte. Die Männer blieben in dem Zimmer und behalfen sich, so gut sie konnten, auf den Bänken und Stühlen.

*


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