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Falsche Barmherzigkeit

Der Hans auf der Rud hatte abgehaust. Er brauchte zu seinem Lebensunterhalt mehr Bier als die armselige Bauernwirtschaft tragen wollte. Der starke, mutige Mann mochte sich nicht kasteien, und es bangte ihm um die fernere Beschaffung des nötigen Trunkes nicht, als das Gehöft glücklich vertrunken war. Man konnte ihn keinen Lumpen heißen, weil er mehr brauchte als die meisten. Er war ja auch stärker, größer, gesünder, fröhlicher als die meisten, und das hielt er für sein Glück. Anderen Leuten schadete sein Abhausen nicht. Allein und ledig, wie er war, ging er mit einem kleinen Bündel von seinem Vaterhause fort. Sein Fortkommen in der Heimat zu suchen, schämte er sich. Er hielt es für gar zu schwer, da Knecht zu sein, wo er Herr gewesen war. Als er auszog, dämmerte gerade ein Frühlingsmorgen über dem Heimattal. Und vor Tagesscheiden kam er in einer Ortschaft am Ausgange des Gebirges an. Er glaubte sich jetzt mit seinem Gange einen ordentlichen Abendtrunk verdient zu haben. Geld dazu hatte er noch – mehr aber nimmer. So durstig er auch war, blieb er doch oben vor dem Dorfe auf der Bergstraße stehen. Der Ausblick von dieser Stelle auf das im Abendscheine liegende farbenreiche, ebene Land zwang den auf seiner ersten Reise begriffenen Burschen zu einer heiligen, kindlichen Bewunderung. Wie er seine schönheitstrunkenen, fromm staunenden Augen herumgehen ließ, blieben sie zuletzt, ohne viel von ihrem Ausdrucke zu verändern, auf einem jungen Weibe haften, das nahe am Wege vor dem blühenden Schlehdorn saß. Er versenkte sich mit seiner vollen Unbefangenheit in dem Anblick des Mädchens, bis dieses über und über erglüht emporsprang und in sinnverwirrter Verlegenheit durch den Schlehdorn flüchten wollte. Hans hatte im letzten Augenblick so viel Geistesgegenwart, um die Unbedachte gewaltsam von ihrem Vorhaben abzuhalten. »Du willst Dir ja Deine ganze Schönheit vom Leibe reißen«, rief er. Dabei vergaß er es, mit seinen großen Händen von ihr abzulassen. Sie fand trotz ihrer Verlegenheit gleich eine rechte Antwort.

»Besser das, als Du erdrückst mich«, sagte sie.

»Du kannst unversehrt von mir gehen«, entgegnete er. »Aber zuerst musst Du mir gutwillig ein wenig stand halten. Ich glaub', es wär schad', wenn wir zwei fremd auseinandergingen.«

Sie seufzte: »Ach, wenn der Mensch wüsst', an wem er vorbeigehen und mit wem er sich bekannt machen soll.«

»Manchmal fühlt er 's«, sagte Hans.

»Und manchmal fühlt er falsch.«

»Ah? Hast Du schon öfters falsch gefühlt?«

Sie nickte. »Ja freilich. Erst unlängst wieder. Aber reden wir gescheit, wenn schon gered't sein muss. Wir fangen ja gar zu kurios an.«

»Setzen wir uns da auf den Rasen«, rief er.

»Gut«, sagte sie und fügte dann mit einem halb traurigen, halb lustigen Lächeln hinzu. »Versäumen tun wir ja alle zwei nichts. Gelt?«

Er sah ihr verwundert in das schöne, ernste Gesicht. »Weißt Du vielleicht, wer ich bin und dass ich abgehaust habe?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Du gehst ja daher, wie wenn die ganze Welt Dein gehöret. Und g'rad drum mein ich, dass Du nicht viel versäumst. Also Du bist ein abgehauster Bauer.«

»Ja. Ich bin mit meiner Sach' fertig word'n, weil ich ein Mann bin, dem mehr Bier gehört, als mein Grund abgeworfen hat.«

Sie lächelte. »Wenn Du richtig einer bist, dem so viel Bier gebührt, da wirst Du Dir's auch weiterhin zu verschaffen wissen.«

»O ja!« rief er frohgemut und reckte die mächtigen Arme. »Ich kann arbeiten.«

Sie seufzte nun wieder und sagte: »Und mich verdrießt die Arbeit.«

»Wie?« rief er befremdet. »Faul und nichtsnutz schaust aber nit aus.«

»Mir frommt keine Arbeit«, erklärte sie in ernstem, herbem Tone.

»Wie kommt das?« wollte er wissen.

»Hör' zu«, sagte sie. »Da hinter den Stauden ist mein Haus und mein Grund. Es ist ein Örtel, auf dem man bestehen kann. Das Geld ist erträglich, die Wirtschaft gut eing'richt't, mein Wald steht seit Urahns Zeiten, und der mindest Baum drinn ist ein Fass Bier wert. Das all's habe ich von meinen seligen Eltern geerbt. Zwei Jahr' hab' ich da allein gewirtschaftet und nit schlecht. Aber da auf einmal stört mir der Teufel mein Werk und meinen Frieden. Kommt da, von Gott weiß wo, eine ganz vergessene Verwandtschaft meiner Mutter daher – ein Vetter von mir – mit Weib und Kind und nist't sich hier ein. Meine Mutter hat mich oft gewarnt. »Lass nur den Vetter Wolf nit über die Schwell', wenn er einmal wieder heimkommen sollt. Er ist ein Lump, ein Faulenzer, hat sein Sach' verschwend't, ein liederlich's Weibsbild g'heirat und zieht vazierend durch die Welt. Nun jetzt ist er halt kommen mit sein'n ganzen Anhang – sieben Köpf'. Er ein Schnapsbruder, sie ein durch und durch nichtsnutzig's Leut. Und von den sechs Kindern will noch kein's sein Brot verdienen. Das hätt'st Du sehen sollen, wie geschwind alle daheim waren in mein'm Haus. Gleich hat alles ihnen gehört. Nit anders wie der Feind wirtschaften sie da bei mir. Seit ich nur einmal ja gesagt hab', fragen sie mich um nichts mehr. Kurzum, ich bin nimmer ich selber, ich weiß mir nimmer zu raten, und wenn mich nit bald wer von der Bagasch erlöst, ist's um mich geschehen.«

In Hans rührte sich großes Erbarmen für das Weib, ein gerechter Zorn über die Schmarotzer und eine mächtige Heldenlust, die Unglückliche von ihren Bedrängern zu befreien. Im Vollgefühl seiner Kraft reckte er wieder die Arme und rief:

»Soll ich Dir das Gesindel ausräumen? Darf ich? Es macht mir eine Freud'!«

Sie sah ihn fragend an. Dann sagte sie nachdenklich:

»Es wär' schon recht, wenn Du sie mir hinausschmissest. Aber das hätt' jetzt doch keinen rechten Sinn, sonst hätt' ich mir schon einen gedungen dazu. Weißt, es sollt hast doch irgendein Vorwand sein, unter dem man die Leut' hinausbrächt. Wart', da fällt mir schon was ein. Du – wie wär's, wenn Du Dich für meinen Bräutigam ausgeben tätst? Weißt, in der Eigenschaft könnt'st Du die Leut' schon aus dem Haus weisen. Im Notfall brauchest die Grobheit nit zu sparen – na – was meinst Du dazu?«

Sie sah ihn wieder forschend an, und es lag dabei eine sonderbare Verheißung in ihrem Blicke. Es war nicht anders, als wenn sie ihm gesagt hätte: »Hilf mir, dann gehör' ich Dein mit Leib und Leben.«

Hans war augenblicklich voller Hoffnungsfreude. Er hatte sich noch kein schöneres Ziel erträumt als dieses, an dem er nun schon zu stehen meinte. Mehr als die junge Schöne und einen Anteil an ihrem Reichtum glaubte er sich gar nicht wünschen zu können.

»Einverstanden!« rief er und nahm dabei ihre Hände innig in die seinen. »Deinen Bräutigam zu machen, ist mir ein liebes, ehrenvolles Geschäft.«

Auf ihrem Gesichte strahlte ein glückliches Lächeln. Dann scherzte sie. »Davon wirst du gern wieder ablassen, bis der Spielzweck erreicht ist.«

Er zuckte mit den Achseln und scherzte auch. »Vielleicht wird uns das Spiel so lieb, dass wir's gar nimmer g'raten mögen. Ich komm' ja leicht ins Feuer bei so was, und dass ich nit so ung'schickt bin dabei, wirst du bald sehen. Da nimm Dir nur einmal so viel zum Muster – schau…«

Er umschlang sie mit seinen Armen und küsste sie leidenschaftlich auf den roten Mund. Sie ergab sich eine Weile der Übermacht, dann schien ihr doch eine Wehr geboten. Aber ehe sie dazu kam, sich recht zu sträuben, gab er sie schon wieder frei. Es hatte ihn sonderbarer Weise befremdet, dass sie sich seine Küsse so lange ohne Widerstand gefallen ließ. »Verzeihe!« bat er nun plötzlich, schamrot werdend über sein wildes Ungestüm.

Ihr gefiel nun sein Wesen erst recht, und sie lächelte. »Ein bissel Scham hast Du doch noch. Und drum verzeih' ich Dir. Aber jetzt ans Werk. Das Drangeld hast Du Dir schon genommen, und die Zahlung wird sich nach dem Gelingen richten.« –

In der großen, dämmerigen Stube saß Vetter Wolf mit den Seinen um den Tisch. Sie sprachen gerade das Abendgebet, wie das ja auf dem Lande alle Leute tun. Aber Hans überraschte und rührte es doch, dass diese da beteten. Nach der Schilderung der jungen Bäuerin hätte er das gar nicht von ihnen erwartet. Vetter Wolf sah nun wirklich wie ein Schnapssäufer aus, wie einer, dem von seinem Unglück gar nicht mehr zu helfen ist. Das Weib mit ihrem blassen, vergrämten Gesichte konnte einem jedoch erbarmen. Von den Kindern hatten die meisten feine Blondköpfe mit großen, ernsten Augen. Das Abendessen stand vor ihnen auf dem Tische. Eine große Schüssel Milch und ein Haufen noch ungeschälter Erdäpfel. Hans war mit der jungen Bäuerin vor der halb offenen Tür stehen geblieben. Er wollte das Beten nicht stören und sah nun dem Weib groß und forschend in die Augen, als wenn er dabei gefragt hätte: »Müssen sie wirklich hinaus?«

Sie verstand die stumme Frage nicht, wunderte sich aber über sein Aussehen, ja verändert kam ihr dasselbe vor.

»Nun?« fragte sie erwartungsvoll. Wie sie ihn dabei mit ihren Mienen an sein Versprechen gemahnte, das entsetzte ihn förmlich.

»Soll ich sie denn gleich ausräumen?« fragte er leise.

»Nun? Wann denn?« gab sie erstaunt zurück und fuhr dann ermunternd fort: »Fang nur gleich an.« Dann lockte sie wieder wonnig mit ihren schwarzen Augen und flüsterte: »Je eher wir sie draußen haben, desto eher könne wir wieder ungestört reden.«

Aber ihn schreckte jetzt das Locken ihrer Augen. »Gelt, essen lassen wir sie aber noch?« fragte er sie.

Da sah sie ihn wieder an, als ob sie fürchtete, sein Verstand hätte sich verwirrt. »Warum denn?« fragte sie. »Schau' doch die vielen guten Sachen an auf dem Tisch.«

»Gut«, antwortete er ernst. »So müssen sie halt fort. Heda?« schrie er dann vor den Tisch hintretend. »Jetzt hat der Schmarotz ein End'. Ich leid' keine Mitesser an mein'm Tisch. Bin der künftig Bauer da. Wann mein Braut der Narr ist, der sich da gutwillig abrauben lasst, so werd' ich ihr das bald abgewöhnt haben.«

Dann kehrte er sich mit scharf befehlendem Tone an die junge Bäuerin: »Gleich nimm die Milchschüssel da vom Tisch!«

Sie tat nun wirklich gleich, was er ihr befahl. Dabei wusste sie sich trefflich den Anschein zu geben, als ob sie es aus Furcht täte. Aber er sah es ihr doch deutlicher an, wie gerne sie die Milch in die Küche hinaustrug. Im nächsten Augenblicke war sie wieder zurück. Er dachte es sich wohl, warum sie so geschwind war. Sie gönnte den Leuten die Erdäpfel nicht. »Die Erdäpfel räum' ab!« befahl er ihr. Und sie gehorchte wie früher. Die sechs Kinder sahen nun mit großen, schreckensvollen Augen von dem leeren Tisch in das Gesicht des jungen Mannes. Vetter Wolf war anscheinend zu blöd, um nach dem unerwarteten Ereignisse Worte zu finden. Er wollte etwas stottern, aber der Mund blieb ihm dabei weit offen. Das Weib sah Hans mit ihre großen, jammervollen Augen ruhig an und sagte dann leise: »Der neue Herr sind Sie. So greinen S' nur nimmer mit uns. Wir gehen schon. Und wir wünschen Ihnen Glück ins Haus. Wir gehen schon.« Sie nahm das kleinste der Kinder auf den Arm, obwohl es ihr viel zu schwer war, und ein anderes an die Hand. »Nur auf und weiter!« drängte sie dann die kleine Schar. »Sonst kriegen wir Schläg' von dem neuen Herrn.« Mit furchtsamen Blicken auf Hans schlichen die Kinder hinaus. Das Weib mit den zwei Kleinen folgte ihnen, und der Mann torkelte wortlos nach.

Hans starrte noch mit großen Augen nach der Tür, als von den Bettelleuten keines mehr zu sehen war. Dann trat die Bäuerin verwundert vor ihn hin und legte beide Hände auf seine Schultern. Er riss sich jäh los von ihrer Berührung.

»Was hast denn?« schrie sie erschreckt. »Ich versteh' Dich nit.«

Er wandte sich nach ihr um. »Verstehst mich wirklich nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein!«

Er sah, dass sie die Wahrheit sprach. Sie begriff ihn nicht. »Weißt«, sagte er, »weil Du mich so schlecht verstehst, wär's schad' um ein weiteres Reden zwischen uns. Die Bettelleut hab' ich Dir ausgeräumt. Bezahlt für die Müh' hab' ich mich im Voraus gemacht. Eine Nachzahlung verlang ich nimmer. Also behüt' dich Gott.«

Jetzt erriet sie es doch, was ihn so schnell umgestimmt hatte. »Du hast Dich geschreckt an mir!« rief sie. »Es geht Dir zu Herzen, dass die Leut' fort sind. Du meinst jetzt, ich bin herzlos, unbarmherzig, weil ich sie hab' nimmer leiden mögen im Haus. Und Du bereust, dass du mit ihnen hart warst, dass Du Dich von mir hast zur Grobheit verleiten lassen, gelt?«

Er nickte. »Ja, so ist's. Warum soll ich's denn leugnen?«

Jetzt rang sie die Hände und jammerte: »So hätt' ich mir das letzte wegrauben lassen sollen? Ich glaub', die Barmherzigkeit soll auch ihre Grenzen haben.«

Er zuckte mit den Achseln.

»Ich seh' halt, dass wir nit ganz zusammenpassen täten. Zu meiner vollen Lieb' für Dich hätt nit mehr gehört, als Du doch im letzten Augenblick die Bettelleut zurückgerufen hätt'st.«

»Meinst Du, ich hätt's nit gern getan, hätt' dem Herzen nit viel lieber gefolgt als dem Verstande!« rief sie.

Er sah, dass sie ihn nun mit Lügen wieder gewinnen wollte und schüttelte den Kopf: »Nein, nein, Du hast sie gerne gehen sehen.«

Jetzt wurde sie rot vor Zorn und Unwillen über ihn. »Du bist ein Narr«, sagte sie. »Um einer falschen Barmherzigkeit willen sollt' ich mir alles wegnehmen lassen und selber eine Bettlerin werden? So was kann nur ein Narr verlangen.«

Er lächelte leise.

»Tröst' Dich halt damit, dass es eine falsche Barmherzigkeit gibt und dass ich ein Narr bin. Es ist ja möglich, dass Du recht hast, aber ich will's nit glauben. Behüt' Dich Gott.«

Er ging mit der großen, klaren Überzeugung fort, dass er recht fühlte und dass er wohl daran tat, dieses Fühlens wegen auf Weiberliebe und auf ein Vermögen zu verzichten. Auf dem Dorfplatz fand er die Bettelleute wieder. Sie hielten Rat, wohin sie sich wenden sollten. Vor allem war es ihnen um ein Abendbrot zu tun. Hans wäre nun gerne in das Wirtshaus gegangen. Aber er ließ doch noch viel lieber an seiner statt die Armen hingehen, indem er ihnen seine Barschaft gab. Er selbst kroch dann draußen vor dem Dorfe ganz seelenvergnügt in einen Heuschober. Am nächsten Morgen zog er frisch und froh in das ebene Land. Und Gott bescherte ihm draußen Arbeit und mannhaften Trunk.

 


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