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Die Bundesschwester

Es war nach einer Exkneipe der E…tia. Eigentlich dauerte diese Kneipe noch fort. Letzteres würden wenigstens die anwesenden Burschenschaftler behauptet haben. Aber die in der kleinen Stammbude herrschende Stille war so beredt. Und in den Mienen der Korpsbrüder wollte es gar nimmer blitzen wie vor einem Jubelsturme. Allerdings ließen einige Herren der Tafelrunde nicht Gedanken lesen. Dieselben hatten ihre Gesichter auf die über dem Tische verschränkten Arme gelegt. Der Senior saß noch in seiner gewöhnlichen prächtigen Haltung da. Nur lächelte er immerfort ganz seltsam. Dieses Lächeln wurde selbst von des Seniors beiden Tischnachbarn nicht für geistvoll gehalten, welche ihn von Zeit zu Zeit mit allmählich hinschwindender Erwartung ansahen. Fernerhin befanden sich zwei jung, pausbackige Füchse starr und regungslos in einer zärtlichen Umarmung, gerade als ob sie Modelle abgäben. Ihnen gegenüber saß ein auffallend schöner, schwarzäugiger Bursche, dessen Haupt auf die Brust herabgefallen war. Er schien sich einem tiefen Seelenweh zu überlassen. Am unteren Tafelende saß bei dem dicken, ältlichen Fuchsmajor eine Dame. Derselben sah man es zum Glücke sofort an, dass sie niemanden zu ihrer Ehrenwacht brauchte. Ihr Äußeres konnte manchen in dem Glauben an die sagenhaften, nordischen Reckinnen bestärken. In dem von dickem, blondem Haargeflecht umrahmten, scharf geschnittenen Gesicht spiegelten sich in gleich außergewöhnlichem Maße edles Selbstbewusstsein, Scharfsinn und Gutmütigkeit. Vor dem Gliederbau dieses Weibes wäre mancher Liebhaber zarter Frauenschönheit einfach zurückgeprallt. Die Größenverhältnisse dieses Körpers wirkten trotz ihrer Formenschönheit erschreckend. Thusnelde hieß die Dame. Sie stand zu der Burschenschaft E…tia in einem seltsamen – Verwandtschaftsverhältnisse. Sie war nämlich zugleich eine Schwester und ein Kind dieser Verbindung. Das kam so: Thusneldes rechtmäßiger Vater, der nun längst verstorbene, weltberühmte Gelehrte, war auch der rechtmäßige Vater der E…tia. Er nannte Thusnelde und E…tia mit gleicher Liebe und Zärtlichkeit seine Kinder. Auch sorgte er für die beiden recht weise und prächtig und hinterließ ihnen außer reichen Geistesschätzen noch andere, zu welchen die drei Millionen Thusneldes gehörten. Dass Thusnelde das Kind der E…tia genannt wurde, darf als keine Verletzung schwesterlicher Würde angesehen werden. Die leibliche Mutter dieses Kindes starb gleich nach dessen Geburt. Und da war auch sogleich die E…tia da und vertrat mit bestem Wollen und Können Mutterstelle an der kleinen Thusnelde.

Einige alte Herren der E…tia konnten sich noch jetzt mit diesbezüglichen Kindermädchenzeugnissen ausweisen. Sie waren auf diese Dokumente stolz wie auf Hofratsdiplome.

Thusnelde und die E…tia bekamen dann gottlob keine Stiefmutter. Der alte Gelehrte begnügte sich vollauf mit der Liebe seiner Kinder. Und er sah Thusnelde so stark und treu behütet. Wie das Kind aufwuchs, ist unschwer zu erraten. Die Korpsbrüder warfen sich zu seinen Erziehern auf. Und der vielbeschäftigte Papa duldete dies. Eigentlich hätte er das Kind niemandem so gerne anvertraut als den Studenten. Die schleppten es auf ihre Buden und Mensurböden mit und hätten sich unmöglich auf etwas mehr einbilden können als auf das Kind der E…tia. Überdies wurde Thusnelde von ihrem Papa jeden Abend mit in die Kneipe genommen. Das Kind war doch nirgends so gut aufgehoben. Wenn es schlafen wollte, trug es ein hierzu tauglicher Bursche heim. Und wenn hierzu keiner mehr tauglich war, dann gab es neben der Stammbude einen kleinen, stillen Erker, in welchem ein Kinderbettchen stand. – Thusnelde zählte vierzehn Jahre, als ihr Vater starb. Mit der Vormundschaft über das Mädchen wurde selbstverständlich ein solcher alter Herr der E…tia betraut, welcher es ganz im alten Geiste weiter erzog. Es lag nun keineswegs in diesem Geiste, dass Thusnelde ein Vielliebchen der Studenten wurde. Sie sollte ihnen ein Gegenstand der reinsten Verehrung sein und in göttlicher Höhe und Unanfechtbarkeit vor ihnen stehen als eine Schwester ihrer über alles erhabenen E…tia. Thusnelde zeigte alsbald alle Eigenschaften, welche ein Straucheln auf dem schmalen, gefahrvollen Pfade jener Würden verhüteten. Der fast ausschließliche Verkehr mit Männern verlieh Thusnelde eine ungemeine Sicherheit und Natürlichkeit des Benehmens. Es wäre selbstverständlich sinnlos oder wenigsten sehr naiv gewesen, wenn man das Auftreten Thusneldes nach einer Vergleichsanstellung mit den herkömmlichen Umgangsformen der Frauen zu frei befunden hätte. Wenn der jungen Dame ein diesbezüglicher Maßstab angelegt wurde, geriet sie in die wohl gerechtfertigste Empörung. Sie hatte deshalb nach einigen unangenehmen Erfahrungen, die sie mit Damen machte, aller ferneren Gemeinschaft mit dem ihr ganz erbärmlich erscheinenden, schwachen Geschlechte abgeschworen. Die feine Gemütsbildung und gesunde Sittlichkeit Thusneldes hatten vorderhand ein wirklich tadelhaftes Benehmen noch immer so ziemlich ausgeschlossen. Wie es mit den Herzensangelegenheiten der jungen Dame stand, das mag das folgende, leise geführte Gespräch erhellen, bei welchem sie es ebenso wenig an Aufrichtigkeit fehlen ließ als der nur mäßig bekohlte Fuchsmajor:

»Weißt Du, mein Lieber, ich vergehe vor Weh und Schande. So lange bin ich Eure ehrliche Schwester geblieben. Ihr konntet meiner Kameradschaft trauen. Ich hatte nie so einen verdammten, weiblichen Hintergedanken – bis jetzt. Hab' allzeit der E…tia reine Lieb' und Treu' geschworen, so hoch das ging, und nun verlieb' ich mich so gemein in einen Burschen, der mir heilig sein sollte. Nie hätte ich mich eines so erbärmlichen Verrates, einer so schändlichen Entweihung der E…tia fähig gehalten. Wie ich mich verachten muss wegen dieser sündigen Liebe! Und wie kläglich mein besserer Mensch alle Kämpfe gegen die Bestie in mir verliert. Ach Du Trauter, ich kann Dir meinen inneren Zwiespalt gar nicht schildern. Was sind da für herrliche Kerls ein- und ausgegangen, und was für ein verwegenes Spiel trieb ich mit ihnen, ohne je im Mindesten mein Herz zu verbrennen, und jetzt, wo es mir schon ein Leichtes sein sollte, meine Würde zu bewahren, wo ich an der Schwelle des Tantenalters triumphierend über die Gefahren lachen sollte, die meiner Unschuld noch drohen könnten, gerade jetzt höhnt mich der Teufel und macht mich so närrisch in diesen Jungen verliebt.« – Es ist zu erbärmlich«, pflichtete nun auch der Fuchsmajor bei. »In einen so käsigen Jungen musst Du Dich verlieben, Unglückliche. Ich ließe mir's am Ende noch gefallen, wenn Du Dich in mich verliebt hättest.« Thusnelde lächelte belustigt. »Ja freilich, Alter, das wäre was anderes. Wir zwei als ein Liebespaar hätten gewiss Vernunft genug, um unsere Liebe alsbald sehr abgeschmackt zu finden. Aber schau' den Jungen da drüben doch mal gehörig an.«

»Ach, das tat ich schon tausend Mal«, entgegnete der Fuchsmajor. »Und ich lerne Dich doch nicht begreifen.« Dabei sah er wieder mit einer Kennermiene zu dem schon erwähnten, schwarzäugigen Burschen hinüber, welcher seine eben geschilderte Haltung bislang nicht verändert hatte.

Thusnelde fiel die Prüfung des Geliebten endlich etwas langweilig aus. Des Fuchsmajors Gesicht hatte während der minutenlangen Stille einen schläfrigen Ausdruck angenommen. Die junge Dame fand es nötig, ihren Gesellschafter kräftig zu rütteln. »He, Alter, mir scheint, Du willst Dich auch in ihn verlieben!« – »Wär's ein Wunder?« brummte der Fuchsmajor.

»Ich habe schon genug gesoffen, um ihn mit Recht für eine Juno Ludovisi oder eine Venus von Milo ansehen zu können.«

»Ich möchte aber doch noch einige gescheite Worte mit Dir reden, Bruderherz.«

»Na, meinetwegen – versuch's.«

»Also höre, ich will mich kurz fassen. Ich habe geschworen: Wenn ich mich je in einen meiner Bundesbrüder verlieben sollte, dann E…tia, ade! Um mit meiner jetzigen unbesiegbaren Liebe, die mich von meinem Piedestal stürzte, noch länger als Bundesschwester bei Euch zu bleiben, dazu hab' ich nicht die nötige Schamlosigkeit. Wenn auch niemand von diesem Seelenzustande, welcher ein Hohn auf meine bisherigen Ehren und Würden ist, eine Ahnung gekriegt hätte, so vermag ich doch nicht bei Euch zu bleiben. Eine unverdiente Verehrung zu ertragen, dazu gehört viel Niederträchtigkeit. Also siehst Du, Alter, ich muss scheiden und Euch meiden. Je eher, desto besser. Und wär's auch nur darum, um den prächtigen Jungen da nicht zu verderben. Bisher ist es mir noch mit schwerer Mühe gelungen, ihm meine Liebe zu verhehlen. Sobald er mich aber durchschaut, wär's um uns beide geschehen. Ich bilde mir ein, dass der Bursche von mir nimmer abließe. Und dann wäre ich zu schwach zum Widerstreben. Dass er mit mir tief unglücklich werden müsste, ist einmal heilig.«

»Und Du mit ihm«, warf der Fuchsmajor ein.

»Na, ich wüsste mich ganz wohl mit ihm zu bescheiden«, entgegnete Thusnelde lächelnd. »Aber er! Es wäre jammerschade um das junge Blut. Gehängt verdiente ich zu werden, wenn ich diesen Mann der Welt raubte. Aus dem wird was, wenn ich ihn nicht kriege. Er ist ebenso strebsam als talentiert. Und seine Armut an irdischen Gütern wird ihm gerade ein Sporn zur Arbeit sein. Mit mir müsste er verderben. Ich und mein Geld würden ihn faul und elend machen. Ich bin und bleibe im Grunde doch nichts als eine Bundesschwester, ein echtes, leichtlebiges Kind der E…tia. Und er muss einmal was anderes werden als ein Bundesbruder, wenn er überhaupt recht werden soll. Siehst Du das ein, Alter?«

»Nein, Thusnelde, das sieht ein ordentlicher Student nie ein, ich zum Beispiel will mein Lebelang Student bleiben.«

Thusnelde antwortete: »Er ist eben nicht so närrisch wie Du.« Dann fügte sie nach kurzem Nachdenken langsam hinzu: »Tu' mir die letzte Liebe, Alter, und entschuldige mich morgen, so gut es geht, bei allen meinen Burschen da. Bis ihr ausgeschlafen habt, wird das Kind der E...tia verschwunden und verschollen sein. Und da hast Du noch einen Kuss, Alter. Na, meinetwegen noch einen. So … der Junge da drüben, mein süßes Verhängnis, ist jetzt auch eingeschlafen wie die anderen alle.

»Ja, es sieht so aus«, entgegnete der Fuchsmajor.

»Da muss ich ein Verbrechen an ihm verüben«, lispelte Thusnelde mit eigentümlich aufflammenden Augen. »Aber verrate mich nicht, Alter.«

»Tu', was Du willst, Thusnelde.«

Sie näherte sich ihrem Geliebten. Und als sie sich überzeugt hatte, dass er wirklich schlief, küsste sie ihn flüchtig und doch recht gierig auf den Mund.

»Ade Alter! Fahrt alle wohl!« flüsterte sie dann dem auf seinem Sitze verbleibenden Fuchsmajor zu. »Vielleicht sehen wir uns wieder. Wenn einmal einer von Euch recht hilfsbedürftig werden sollte, dann wird die Schwester der E…tia alsbald auf ihrem Posten sein – so es Gott nicht anders will.«

Und mit diesen Worten zog sie zur Stammbude hinaus – zum letzen Male.


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