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Der helfende Narr

Zwischen dem Strom und der waldigen Au zog die Landstraße über einen angeschwemmten Schotterhügel. Vor der Hügelspitze war etliche Klafter weit die Straße so steil, daß hier seit altersher die Fuhrleute mehr schimpften als längs meilenlanger Strecken.

Heute um die Mittagszeit konnte ein junger Karrenzieher sein Fuhrwerk lange nicht über diese böse Wegstelle bringen. Es war der schwächliche braune Mensch, den die Leute der Gegend den Wagltandler nannten.

In Dörfern, die von hier aus stromabwärts lagen, hatte er mit wechselndem Kaufmannsglück den vielartigen Fetzenkram erhandelt, der ihm nun eine allzu schwere Wagenlast wurde.

Etliche Fuhrleute, die knapp nacheinander den Hügel hinauffuhren, rief er um Hilfe an. Weil ihn der vorderste grob und spottvoll abwies, taten die übrigen desgleichen.

Er fluchte ihnen so recht wie ein Verzagter nach. Dann ließ er von dem Wägelchen ab, legte sich am Straßenrand in das Gras und wartete auf einen Helfer.

Als nächster Straßenwanderer kam von unten her ein junger Mann, der zum Helfen zwar die Kraft zu haben schien, aber nicht auch den Willen. In seinem hübschen Gesicht malten sich Stolz, Trotz und Verdruß.

»Den red' ich gar nicht an«, dachte der Wagltandler, »das ist gewiß einer, der früher nobel durch die Welt gefahren ist und der sie jetzt vernichten möcht', weil er in zerlumpten Schuhen gehen muß. Der könnt' bissiger sein als all die groben Fuhrleut' zusammen. Ich wart'. Es wird ja mit der Zeit ein vollständigerer Mensch daherkommen.«

Der andere streifte nun mit einem Blick das Wägelchen, dann sah er etwas neugierig auf den Besitzer des armseligen Fuhrwerkes. Es kam ein kleines Lächeln in sein Gesicht.

»Rasten Sie gern?« fragte er.

»Nein! Gott bewahr! Gezwungen!« rief der Wagltandler, und er zeigte ehrlich die freudige Überraschung, die er empfand.

Da zog der starke, junge Mensch das Wägelchen bergan. Der nachschiebende Wagltandler hätte während der Fahrt den Helfer laut lobpreisen mögen, aber sie ging ihm zu schnell, als daß er während ihrer Dauer auch nur zu einem Worte Atem gefunden hätte.

Als sie auf der Hügelspitze anhielten, beeilte er sich mit dem Geständnis: »An Ihnen hab' ich mich unten groß geirrt. Weil Sie dort nämlich so finster dreingesehen haben.«

Der andere zuckte die Achseln und antwortete: »Eben deshalb schau' ich ja so finster drein, weil sich die Leut' so leicht an mir irren. Die Menschen sollten halt einander viel länger anschauen, bevor sie was Übles dabei zu denken wagen. Meinen jetzigen langen Weg mach' ich auch nur darum, well ich jemanden finden möcht', der sich nicht gar zu bald an mir irrt.«

Er sah nun den anderen an, als ob er hätte fragen wollen: »Ist's dir denn auch wirklich angenehm, wenn ich von mir weiterred'?«

Aus den Augen des Wagltandlers sprach eine wahrhaftige Neugier.

Sie setzten sich nun, ohne dazu noch einer weiteren Verständigung zu bedürfen, nebeneinander an der Straße auf den Rain und der Helfer redete weiter: »Aus dem Bergland dort droben bin ich her. Meine Eltern haben dort in einer kleinen Stadt Häuser und Gründ' besessen. Ich war ihr einziger Erb'. Und sie haben mich eigentlich zu sonst nichts als eben nur zu ihrem Erben erzogen. Ich bin aber doch nicht ihr Erb' worden, denn sie haben aus allerlei gewöhnlicher Ursach' ganz und gar abgewirtschaftet. Nachher war ich viel ärmer als einer, der zum Betteln erzogen worden ist. Zu einer Arbeit war ich dann auch nicht gleich zu brauchen, wie's nötig gewesen wär'. Zu einem Schreiberposten wär' ich vielleicht mit meinem bißl Schulbildung befähigt gewesen. Hab' aber keinen erhalten. So bin ich ein gemeiner Taglöhner worden. Bei Bauten, Fabriken, Landwirtschaften könnt' ich jetzt werken wie irgendein anderer – soweit es nämlich auf die Kraft und Geschicklichkeit ankäm'. Aber ich halt's doch bei keiner Arbeit halbwegs lange genug aus. Es gibt gar niemanden, der die Dienstherrn so oft wechselt wie ich. Nicht der liederlichste Zigeuner verläßt so schnell wieder einen Platz wie ich. Um mit meinen Arbeitgebern auszukommen, hab' ich gar nicht die nötige Duldung. Ich bin wohl zu viel in der Empfindlichkeit erzogen, und das liegt mir an. Und die heutigen Arbeitgeber und Arbeitsgenossen sind nicht dazu erzogen, auf eine solche Empfindlichkeit die rechte Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil. Sie reizen eine solche Empfindlichkeit gar zu gern, wo sie eine finden. Man kann halt auch noch so verträglich von einer Menschenklass' in die andere kommen und sich auch noch so zug'hörig stellen, angeblasen und angeschnattert wird man doch wie die Gans in der fremden Schar. Und mich wirft leider förmlich ein Wort um wie einen anderen ein Stoß. Hernach bleib' ich auch länger gekränkt, als es gescheit sein mag. Streiten tu' ich niemals. Das ist mir immer zu gemein. Aber leiden tut's mich nimmer, wo mir einmal was geschehen ist. Oft geh' ich wegen einem einzigen Blick auf immer von einem Platz weg. Ich kann mir nicht helfen. Ich bin halt so. Zu etwas bringen werd' ich's mit meinen Eigenheiten gewiß niemals in dieser Welt. Ich sollt' halt nicht dienen müssen. Arbeiten tu' ich gern. Helfen auch. Aber ohne Lohn sollt' ich's halt tun können! Aus reiner Lust zur Arbeit und Hilf'! So sollt's in der Welt sein, daß ein jedes das meist' für die andern tät' and das wenigst' für sich selber, daß nicht, wie jetzt, eines vor dem anderen denken tät': ›Wie kann ich dich mir dienstbar machen? Und wie vor mir kleiner?‹, sondern: ›Wie kann ich dir dienen, dich erfreuen, dich erheben?‹ Na, es wird ja ganz gewiß sicher einmal so werden. Die ganz hohen, feinen Gemüts- und Gefühlsschulen werden der Welt nicht ausbleiben. Und sie werden's einmal völlig leiten.«

Dann fragte er halb verzweifelt und halb lustig den Wagltandler: »Wissen Sie nicht, wo ich mich ohne baren Lohn so gerade um Gottes- und Menschenlieb' willen verdingen könnt'? Wo ich recht fein geehrt und geschätzt werden tät' für die gemeinste Taglöhnerarbeit? Wo man mir weniger zahlungswegen und mehr aus reiner Sorg' um mich einen Platz am Tisch und ein Bett gäb'! Kennen Sie Menschen, die ein solches Dienen gehörig brauchen und ehren könnten? Oder gibt's solche Menschen überhaupt noch nicht?«

Der Wagltandler hatte zuletzt mit einer merklichen hoffnungsfreudigen Erregung zugehört. Jetzt faltete er plötzlich die Hände vor dem Taglöhner und flehte ihn heiß, eindringlich an: »Soviel ich kann, bitt' ich Sie, helfen Sie meiner alten, armen Mutter etliche Tage Korn dreschen! Wir haben von dem, was wir seit Jahren mühselig erhandelten, da oben im Marktflecken ein kleines Häusl angekauft und ein Feld, sind aber auf den Besitz noch vieles restlich. Jetzt wäre wieder eilig eine Rate abzuzahlen. Und wir können sie mit bestem Willen nicht so schnell flüssig machen, als wir sollten. Für unsere Tandlwar' ist bares Geld nur so langsam hereinzubringen. Aber unser neues Korn haben wir nun gottlob in der Scheuer. Ich und Mutter haben's mitsammen geschnitten und eingefahren. Nun sollten wir's auch schnell mitsammen dreschen. Drei Metzen davon könnten wir dem Händler geben. Er gäb' uns sofort dafür das Geld. Eine gute Ratenhälfte hätten wir dann. Und die andere Hälft' sollt' ich schnell beim Handel aufbringen. Ich sollt' beides zugleich und kann's nicht! Helfen Sie mir! – Helfen Sie mir! – Ich will es Ihnen treu gedenken mein Leben lang! Und ich will Sie schätzen und lieben wie noch niemals einen Menschen. Meine Mutter wird Sie mit silbernem Geschirr und mit Daunenbetten bewirten wollen. Sie wird's freilich nur mit falschem Porzellan und mit Entenfedern können. Aber sie wird dafür um desto echter für Sie beten!«

Aus dem Gesicht des Taglöhners sprachen Rührung und Fröhlichkeit. »Vom Herzen gern geh' ich mit Ihnen«, sagte er. »Vielleicht bringen Sie mich da wahrhaftig in das neue Leben, das ich mir immer gewünscht habe.«

Sie zogen miteinander.

Der Wagltandler brachte ihn tatsächlich in jenes neue, schönere Leben. Seiner alten, dankerfüllten, ehrerbietigen Mitdrescherin lief der eigenartige Mensch nicht davon. Er hatte zuvor noch gar keine Arbeit mit solcher Befriedigung, so völlig frei von Ärger, Kränkung und Verdruß getan wie diese.

Es war ihm bei diesem glücklichen Drusch nur um die nächste Beschäftigung bange.

Seine Zukunftssorgen und -ängsten vor dem alten Dienstjoche währten nun aber nur kurz. Sein in den Dörfern der Gegend herumhausierender Freund brachte ihn mit Liebe, Eifer und durchaus wohlgemeinter List in einen wirklich schicksalsbestimmenden Ruf. Er schilderte seinen Helfer den Leuten als den edelsten, liebenswürdigsten und hilfsbereitesten Menschen der Welt. Wenn er ihn nebenbei auch ein bißchen als einen Narren schilderte, tat er es wirklich nur, um ihn dem Verständnisse der Leute näherzubringen. Er unterwies sie darin, wie man die Güte und Opferwilligkeit des seltsamen Menschen aufs vielseitigste ausnützen konnte, wenn man ihn zu behandeln verstand.

So geschah es, daß, ehe der Drusch zu Ende war, ein junger Bauer zu dem braven Drescher gelaufen kam und sich ihm beinahe wie einem im Geruche der Heiligkeit Stehenden zu Füßen warf. »Hilf mir! Hilf mir!« schrie der Demütige. »Du kannst mir helfen, wie sonst niemand. Und du willst es wie sonst niemand! Ich seh' dir's an! Gott sei Dank, daß ich dir's anseh'! Mein Weib ist mir unlängst gestorben. Lauter Not und Elend sind mir hinterblieben und drei kleine schlimme Buben. Jetzt brauch' ich in mein Haus einen guten, hilfswilligen Menschen! Es geht keiner zu mir, den ich nicht gut bezahl'. Und bezahlen kann ich keinen. – So sind die Menschen! Sie haben vom Menschen nur die Gestalt, und manche nicht einmal das so gehörig. – Aber du gehst mit mir! Dir seh' ich's an! Und ich möcht's jetzt auch keinem anderen mehr ansehen, wo ich dich seh'!«

Nach etlichen Tagen brachte er den willig Folgenden jubelnd in das verwahrloste Haus. Dort schuf der Gute, wo es am dringlichsten nottat, bald wie ein Knecht, bald wie eine Magd und bald auch wie eine rechte Hausmutter durch eine geraume Zeit.

Er machte alles Lebendige in dem Hause froh und war es auch.

Als dann der Übermut den Bauern wieder auf Freiersfüße brachte, kam, als ob sie auf dieses Ende schon gelauert hätte, eine alte Wittib daher und schleppte unter tausend guten und süßen Reden den Helfer fort, damit er ihr ein Stück Brachland pflüge und die Strohdächer des Hauses schleddere (wasserdicht mache).

Später geschah es nicht immer, daß der Gute im friedlichen Einvernehmen der Parteien von einem Hilfswerke zu dem anderen gebracht wurde. Es wurde manchmal um ihn gestritten und sogar gerauft. Dann sah er, daß er doch nicht völlig zum Guten und Rechten gekommen war. Von seinem Werte wurde er freilich durch den Streit klar überzeugt.

Mitunter erfuhr er auch aus dem Streite, daß man ihn jetzt überall den helfenden Narren nannte. Er half aber deswegen doch weiter, denn er sah, wie nötig es war.

Man riß sich lange um ihn. Er wurde alt dabei. Das Gerisse hörte erst dann auf, als es ihn jählings hätte umbringen müssen.

Die Leute stritten sich zwar nicht, um ihn pflegen zu können, als er der Pflege bedürftig wurde. Aber er sah doch auch recht vieles von der Saat, die er in seiner Güte gesät hatte, für sich selbst aufgehen.

Zuletzt konnte er ruhig darüber lächeln, daß man ihn den helfenden Narren genannt hatte.

Er sah, daß er im Grunde doch weder ein Narr gewesen, noch für einen gehalten worden war.


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