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Das Glück im Bettelsack

Über der weiten Waldwildnis entlud sich heute nacht ein Wolkenbruch. Es geschah dabei keinem urbaren Lande ein Schaden. Nur die am Waldstrom liegenden Wiesenstreifen wurden vom Schotter begraben. Und die kleine blühende Rodung am Hang des Spitzberges war ein nacktes Steinfeld geworden. Es zeigte kaum ein Span oder eine Schindel den Ort an, wo früher das einsame Haus lag. Aber die alte, riesige Linde stand in jungsommerlichem Grün und mit springenden Knospen inmitten der neuen Steinwüste. Die wilden Bergwasser hatten diesen Baum nicht zu stürzen vermocht, dessen Wurzeln seit Jahrhunderten gar fest und innig die Felsblöcke umschlangen. Unter dem Ästebereich dieser Linde hatte die fortgeschwemmte Hütte gestanden und ringsumher war wohlgehegtes, eine reichliche Ernte versprechendes Saatengefilde. Die Bewohner des vernichteten Heimwesens waren mit dem nackten Leben davongekommen. Sie lagerten jetzt in der Morgenfrühe drüben am Waldsaum. Es war ein greises Ehepaar mit seinem Sohne. Der weißhaarige, hagere Alte lag in eine Stallkotze gewickelt auf einer sonnbeschienenen Steinplatte. Das alte Weiblein saß in einen Sack gehüllt daneben und starrte mit glanzlosen Augen auf die so arg veränderte Lichtung hinaus. Und der junge Bursch ging gebückt unter der besagten Linde herum und suchte vergeblich nach irgendeinem Kleinod, welches die Wasser hätten zurücklassen können. Die Leute hatten ja ein Barvermögen von vierzig Silbergulden besessen. Endlich schnellte der Jüngling den Oberkörper zurück und ging zu den Alten hinüber. Er war ein bildschöner, prächtig gewachsener Mensch. Auf dem Leibe trug er nur ein Hemd und eine Leinenhose. Seine übrigen Reichtümer waren mit der Hütte dahin. »Nichts!« sagte er dann drüben und sah mit seinen großen, treuen Blauaugen traurig der Mutter in das liebe, runzelige Gesicht.

»Auch recht«, entgegnete die Alte. »Wie Gott will.« Und der Greis setzte in demselben ruhigen, ergebenen Tone hinzu: »Jetzt nimmst du halt den Bettelsack, Martin.«

»Da hast du ihn«, sagte die Greisin, den Sack vom Leibe nehmend. Dieser Sack hing heute morgen auf einem Aste der Linde. Und als die drei dieses sinnige Andenken an Ihren Besitz entdeckten, da schrien sie fast allzugleich: »Der Bettelsack!« Martin sah jetzt gar düster vor sich hin. Bis auf den heutigen Tag war er fast übermütig gewesen. In dem Bewußtsein seiner Kraft und seines Fleißes hätte er an alles früher geglaubt, als daß er einmal werde betteln müssen. Er hielt sich als den einzigen Erben des Anwesens auf dem Spitzberg für einen gemachten Mann. Das plötzliche Unglück traf ihn nun zwar recht schmerzlich, aber es lehrte ihn bisher noch keine Demut. Was er fühlte, war eine ohnmächtige Wut und Erbitterung gegen das Schicksal.

»Es nützt nichts, mein Kind«, sagte nach einer Pause der Alte. »Du mußt den Sack nehmen. Uns zwei Alten ist es ins Land hinaus zu weit. Wir verbleiben auf diesem Wege. Mußt schon du gehen oder mit uns verschmachten.«

»Vollend es, Martin!« bat die Alte. »Bist eh ein bißl schwach in der christlichen Demut, so brav du sonst bist. Zeig's, was du für uns vermagst! Du könntest uns jetzt im Stich lassen und dein Fortkommen suchen, damit du nit betteln müßtest. Aber tu's nit, Martin! Nimm lieber den Sack da und du bleibst glücklicher dabei!«

»Ich hab' ihn ja schon«, sagte Martin, indem er sich schnell um den Sack bückte. Die Bitte der Mutter hatte ihn besiegt.

»Jetzt hör, was du erbetteln mußt«, sprach der Alte. »Brot, daß wir genug haben für eine ganze Woche. Feuerzeug. Eine große Baumsäge und zwei Äxte brauchen wir auch; die kannst du ausleihen. Wir bauen uns hier eine Reisighütte. Dann schlagen wir unser Holz nieder und verkaufen es auf der Stelle. Mit dem Geld können wir uns dann schon so weit helfen, daß wir vor dem Winter unter ein festes Dach kommen. Und im Frühjahr machen wir hier wieder ein Feld.« Er sagte das ziemlich guten Mutes, obwohl an den fortgeschwemmten Äckern die Müh' und Plage seines ganzen langen Lebens hing. Martin nahm also den Bettelsack und trat den schweren Weg an.

Zu Mittag kam der Bursche aus dem weiten Walde in das offene, fruchtbare Land. Er getraute sich hier nicht in den Sonnenschein hinauszutreten, so sehr schämte er sich seines geringen Anzuges und des Bettelsackes. Draußen waren die Felder voll fleißiger Leute. Martin spähte vom Waldrande nach solchen Stellen, wo man ungesehen in das naheliegende große Dorf gelangen konnte. Dann setzte er sich aber auf einen Stein, stützte den blonden Kopf in die Hände und weinte so bitterlich wie noch nie im Leben. Er rang vergebens nach Fassung, bat vergebens seinen Gott um Demut und um Mut zum Bettelngehen. Das Ehrgefühl war zu mächtig in ihm, bäumte sich zu wild gegen das grausame Unglück auf, welches ihn hinaus zur Erduldung der peinlichsten Scham trieb. Er gab sich ganz seinem Schmerze hin. Seinen kraftvollen Körper erschütterte ein wildes Schluchzen. Endlich lag er, schon förmlich vernichtet und erschöpft von dem Sturm in seinem Inneren, auf dem Stein. Und da schreckte ihn plötzlich eine voll und angenehm tönende Frauenstimme auf: »He, was fehlt dir?«

Martin sah ein junges, engelschönes Weib und in den Mienen desselben aufrichtiges Staunen und Mitleid. Er war förmlich geblendet von ihr nach einem einzigen, scheuen Blicke. Dann senkte er die Augen und schämte sich unendlich seines Aussehens und seiner Tränen. Das Weib hatte auch gegen eine bedeutende Verwirrung zu kämpfen, aber sie war es doch, die zuerst Worte fand.

»Ich hab' dich erschreckt«, sagte sie in bedauerndem Tone. »Das war nicht meine Absicht. Ich hab' gemeint, du könntest meine Hilf' brauchen.« Er schüttelte nur den Kopf und sah sie dann plötzlich an, ob nicht vielleicht ein spöttisches, verletzendes Lächeln um ihren Mund zucke. Aber sie sah ihn fast wehmütig an und ermutigte mit ihren milden Blicken im Nu sein ganzes Herz. Sie wandte sich mit einer so traurigen Miene zum Gehen, als täte es ihr leid, ihn mit seinem Schmerz allein lassen zu müssen. Martin wurde von seinem Herzen dazu gedrängt, dieses Weib zurückzuhalten. Er hatte eine Empfindung, als sei ihm mit der Fortschreitenden das menschgewordene Glück erschienen. »Du gehst schon!« rief er. »Hast dich gewiß viel mehr vor mir g'schreckt als ich vor dir.« Da blieb sie stehen und wandte sich mit einem freudigen Blick um. Martin trat rasch auf sie zu. Er sah erst jetzt, daß sie keine Engelsgewänder trug, sondern einen groben, bäuerlichen Kittel und keine Flügel, sondern einen schweren Streurechen. »An dir find' ich nichts Schreckliches«, sagte sie einfach, »aber dein Unglück muß schrecklich sein. Und man geht so schwer von einem Unglücklichen fort, dem man nicht helfen kann.«

»Ich kenn' es, daß du ein goldenes Herz hast«, entgegnete er. »Ein bißl neugierig wär' ich freilich auch«, gestand hingegen wieder sie.

»Kannst alles wissen«, sagte er mit vollem Vertrauen zu ihr. »Heut' nacht hat uns das Wasser die Felder abgetragen und das Häusel auch mit. Gar nichts ist uns geblieben. Siehst ja, wie ich dahergehe. Nur der Bettelsack da – ja, mit dem soll ich jetzt betteln gehen, und ich trau' mich halt nicht recht.«

»Und darum hast du so geweint?« fragte sie.

»Ach, du weißt eben nit, wie schwer so etwas ist. All's ist leichter zu ertragen als die Schand'.«

»Du wirst halt gar ein bißl zu viel Ehrg'fühl haben, mein Lieber.«

»Ich kann nit dafür«, sagte er. »Das Ehrg'fühl laßt sich nit ablegen wie ein unbequemes G'wand.«

»Du bist freilich recht unglücklich«, gab sie vollen Ernstes mit einem mitleidigen Blicke ihrer großen, sprechenden Kinderaugen zu. »Aber«, fuhr sie fort und es leuchtete plötzlich in ihrem Gesichte auf. »Ich kann dir ja diesmal helfen.«

»Wie denn?« fragte er gespannt.

»Gib mir deinen Bettelsack«, entgegnete sie lächelnd und nahm ihm den Sack aus der Hand. »So. Weißt, was ich jetzt tu? Für dich betteln geh' ich. Mir kommt's leichter an als dir. Bleib du nur da sitzen und wart auf mich! In einer Stund' bin ich da.«

Somit wollte sie frischweg in das Tal hinauslaufen. Aber Martin hielt sie zurück.

»Das ist zu viel«, sagte er. »Das kann ich nit annehmen.«

»Still sei!« befahl sie, daß er dann gar kein Wort mehr zu sagen wünschte.

»Was brauchst dir denn am Notwendigsten?« forschte sie dann.

Er erzählte ihr die Dinge her: »Brot für eine ganze Woche, Feuerzeug, eine Baumsäge und zwei Äxte.«

Sie lachte und rief: »Man sieht's, daß du nit mehr erbetteln willst, als du haben mußt, und daß das der einzige solche Gang ist, den du machen willst.« Und fort war sie mit dem Bettelsacke. So blieb dem Burschen nichts übrig, als auf ihre Rückkehr zu warten. Sie kam erstaunlich schnell zurück. Den Bettelsack brachte sie vollgestopft daher. Und auch eine funkelneue Säge und zwei Beile schleppte sie mit. Sie schritt mit der schweren Last gar leicht und flink daher.

»Nun?« rief sie, bei dem Burschen angelangt. »Bin ich fleißig gewesen?«

Er schlug vor Verwunderung die Hände ineinander.

»Und das alles soll ich jetzt so ohne weiteres von dir annehmen?«

»Es bleibt dir sonst nichts übrig«, lachte sie. »Das Werkzeug g'hört auch dein.«

»O Gott!« sagte er gerührt. »Wer ist denn gar so barmherzig?«

Sie antwortete: »Ich bin halt in dem Dorf gut bekannt. Weißt. Und noch nie betteln gegangen. Für dich das erstemal. Weil du mir gar so viel erbarmt hast. Na und jetzt behüt' dich Gott.« Sie reichte ihm die Hand, welche er ungestüm erfaßte. Seine Stimme klang ungewöhnlich weich, als er sagte: »Für so was gibt es keinen mündlichen Dank, so was muß man schuldig bleiben sein Leben lang. Aber damit ich mich nach Kräften dankbar zeigen kann, so sag mir, wie du heißt und wo du daheim bist.«

»Liesl heiß' ich und in dem Dorf da unten wirst mich finden, so lang ich leb'.«

»Da nehmen wir nit für unser Lebtag Abschied«, sagte er schnell.

»Schön«, entgegnete sie mit einem ernsten und doch seltsam strahlenden Blicke. »Kommst halt einmal zu mir, ich erwart' dich.«

»Wirklich?« fragte er schier entzückt.

»Ja«, rief sie und huschte hinaus in den Sonnenschein.

Martin sah ihr mit einer ihm ganz neuen, süßen Wehmut nach. Er hatte auf seiner Wanderung hierher schwer an seinem Unglück getragen. Jetzt trug er aber außer dem vollen Bettelsack noch ein Herz übervoll von einer jungen, übermächtigen Liebe.

Und der heimeilenden Dirne war auch etwas bisher Unerlebtes geschehen. Sie meinte auch mit dem Bettelbuben das einzige, wahre Glück gefunden zu haben.

Den drei Leuten am Spitzberg gelang es wirklich mit dem, was Martin heimbrachte, ihr künftiges Heim zu begründen. Sie schlugen ihr Holz nieder, verkauften es, bauten eine neue Hütte und kauften Hausrat und eine Kuh. Im nächsten Herbst ernteten sie schon wieder ein weniges auf einer frischaufgeschütteten Scholle. Und nach drei gesegneten Jahren hatten sie mit unsäglicher Müh' und Plage die Wirtschaft wieder auf den einstigen Stand gebracht. Aber die beiden Alten erschöpften dabei ihre letzte Lebenskraft und starben bald nacheinander eines schönen, seligen Todes. Martin verlebte einen ganzen Winter in Trauer und Einsamkeit. Aber in seinem Herzen lebte seit jenem Tage, den er halb im höchsten Glück verbrachte, eine Liebe, welche neben sich nicht lange andere, gewaltige Gefühle duldete. Als es Frühling wurde, machte sich Martin auf einen zur Winterszeit beschlossenen Gang. Er nahm den Bettelsack, welchen er seither ganz besonders in Ehren hielt, und füllte ihn wieder genau mit solchen Dingen, wie er von jenem Weibe erhielt. Auch eine neue Säge und zwei Äxte nahm er mit. Und so ging er hinaus in das freie Land und in das Dorf, wo die Unvergeßliche wohnte. Er spürte in drei Häusern nach ihr. In dem vierten, einem prächtigen Gehöfte, fand er sie. Sie saß in der efeuumrankten Fensternische einer großen, schönen Stube und spann. Als sie den strammen Burschen in seinem prunkhaften Feiertagsgewande im Türrahmen sah, sprang sie auf, stieß dabei das Spinnrad samt dem Rockenstuhle um und unterdrückte mit genauer Mühe einen Jubelschrei.

»Bist richtig gekommen?« schrie sie aber endlich doch und schritt ihm mit leuchtenden Augen entgegen. Er sah sie fast ebenso an, und sie verstanden sich wunderbarerweise besser, als wenn sie viel tausend Worte zueinander geredet hätten.

»Vor allem«, sprach er nach einer geraumen, stummseligen Weile, »vor allem sag mir die braven Leut an, die du dazumal meiner Statt anbettelt hast. Ich will ihnen wieder alles mit tausend Dank zurückgeben.«

»Und nachher?« fragte sie. »Was willst du denn nachher?«

»Mit dir reden«, antwortete er zögernd, und dabei schoß ihm eine brennende Röte in das Gesicht.

»So?« fragte sie lächelnd. »Was denn?«

»Das Wichtigste, was ich in mein'm Leben zu reden hab'.«

»Da bin ich aber neugierig!« rief sie und setzte bittend und ermunternd hinzu: »Geh, sag mir's gleich.«

»Darf ich?« fragte er hastig und setzte dann rasch hinzu: »Hast mich gern? Willst die meine werden?«

Er hatte sie an den Schultern gefaßt und sah sie mit lodernden Augen an. Und ihr wurde es im Strahl seiner Augen so heiß, daß sie es schier nicht aushielt und nichts Besseres zu tun wußte, als ihren Kopf an dieses Mannes Brust zu legen. Und dann machte sie ihm ihr Geständnis: »Ich habe auf dich gewartet mit unendlicher Sehnsucht und täglich mehr dahinschwindender Hoffnung. Und jetzt bist du doch gekommen, was mir auch eine helle, herrliche Ahnung in mancher Stunde verhieß. Ich glaubte an dich seit dem ersten Augenblicke, wo ich dich sah, wie an keinen zweiten Menschen, ich liebe dich und werde dich lieben mein Leben lang wie keinen Zweiten. Gott sei gelobt, weil du gekommen bist.«

Jetzt wußte Martin erst, was er wert war. So viel hatte er sich nie auf sich selbst eingebildet wie jetzt, trotz all seines natürlichen Stolzes. Er reckte sich im besten Vollgefühl und sagte: »Du gehst gleich mit mir und schaust dir dein künftiges Heim an. Es wird dir g'fallen, was du mit deinem gottgesegneten Bettelgehen gestiftet hast.«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich kann nit mitgehen, mein lieber Bub. Ich bin da angebunden.«

»Ach!« rief er heiter. »Du getraust dich nit, dem Herrn von dem Hof da den Dienst aufzukünden? Glaub's freilich, daß du als ein braver Dienstbot' nit' vor der ausbedungenen Zeit davon willst. Aber ich werd' dem Herrn deiner Statt aufkünden.«

»Das mußt du nit tun«, sagte sie lächelnd, »denn mein Herr bist du.«

»Nein, ich bin nur dein Mann«, entgegnete er rasch, ohne sie recht zu verstehen, und fügte dann ungestüm hinzu: »Aber wo ist er denn, dein Herr?«

»Ich hab' keinen Herrn.«

»Also deine Frau?«

»Ich hab' auch keine Frau, mein lieber Mann.«

»So? Wem gehört denn nachher der herrschaftliche Hof da?«

»Dein!«

»Was!?«

»Ja, weißt, ich bin bis jetzt eine ledige Bäuerin gewesen.«

»Ach! Ach! Und du bist für mich betteln gewesen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Leider nit. Der Verdienst fehlt mir.«

»Ach! Darum bist du so schnell zurückgekommen dazumal.«

»Ja. Aber gelt, mein lieber Bub, jetzt hast mich auf einmal viel weniger gern?«

Da küßte er sie und sagte: »Derweil wächst nur meine Lieb von Augenblick zu Augenblick!«

Und das junge Weib erfuhr es später, daß er mit den letzten Worten nicht log. Sie verlebten eine lange, schöne Zeit miteinander und bewahrten kein Kleinod so wohl wie den Bettelsack, mit welchem sie ihr Glück fanden.


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