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Das Notzeichen

Bald nach dem ersten Hahnenschrei ging als erster Frühaufsteher des Dorfes der alte Grabenbauer zur Heumahd aus. Der sah die brennende Wachskerze im Stubenfenster der alten Bachlerin und ahnte auch, was dies zu bedeuten habe. Aber er war bei seinem mühevollen, sorgenreichen Bauernwerke arg erhärtet.

»Hab' auch meine Notzeichen gegeben und ist mir niemand beigesprungen«, sagte er voll Trotz und Bosheit und polterte in den schweren Röhrenstiefeln seines Weges. Dann kam das Gesinde des Perlhofes den Dorfplatz herab. Das junge Volk bemerkte die brennende Kerze auch, war aber zu dumm und zu leichtsinnig, um dabei das Rechte zu denken. Endlich schob die Grillenbäuerin einen Fenstervorhang zur Seite, um nach dem Tage auszuspähen, und brach auch alsbald in ein Geschrei aus, das jeder Ortsunkundige bedingungslos für unvernünftig und übertrieben gehalten hätte.

Die Grillenbäuerin besaß eine Stimme, mit der sie allzugleich die Viehherden von neun Almen zusammenrufen konnte. Aber sie wußte, was sie tat. Es war ihre Pflicht, jeden Dorfbewohner von dem Notzeichen der alten Bachlerin sofort zu benachrichtigen. Die Grillenbäuerin verwendete zur Erweckung sämtlicher Schläfer des Dorfes nur ein Weilchen. Als sie aber in das Haus der Bachlerin hinüber kam, fand sie dasselbe nahezu vollgestopft von Menschen. Die Bachlerin lag ruhig lächelnd in ihrem blütenweißen Federbett.

»Verzeiht mir dem Aufruhr«, sagte sie. »Ich hab' mich nur nicht ohne Gruß aus der Welt drücken wollen. Das hält' euch geschmerzt. Bis jemand zufällig in meine Einschichte gekommen wär', hätt' ich wahrscheinlich nimmer warten können – darum hab' ich die Kerze ins Fenster gestellt.«

Die Leute bemühten sich, der Alten die Gedanken an das Sterben auf die landläufige Weise auszureden.

»Nichts da«, sagte die Bachlerin entschieden. »Hergericht' ist zum Sterben, gestorben wird. Ich mag nicht ewig dableiben. Oder meint ihr, ich hätte euch umsonst herstrapaziert?«

Die letztere Frage ließ manchen der Versammelten etwas Freudiges erhoffen, denn die Bachlerin hatte in den letzten Jahren jede ihr erwiesene Aufmerksamkeit insofern bar bezahlt, als sie jeden Besuch wenigstens mit einem Stück Gugelhupf oder Mohnstrudel entlohnte. Und jetzt war es an der Zeit, daß sie mit ihrem Gelbe herausrückte, auf das ebensogut niemand als jedermann im Dorfe eine Anwartschaft haben konnte. Die völlig verwandtenlose, leutselige Alte stand ihnen allen ziemlich gleich nahe, und weil ihr das kleinfältige Beglücken vieler Menschen stets ein Bedürfnis war, konnte man mit Grund auf eine möglichst allgemeine Verteilung ihres Vermögens hoffen. Der alte Bader des Dorfes gesellte sich als einer der letzten zu den Versammelten.

Er wollte der Bachlerin den Puls fühlen, sie aber sagte: »Der ist in Ordnung.« Dann fragte er, was ihr weh tue. »Nichts«, entgegnete sie. »Ich sterbe den natürlichen Tod und der tut wohl. Weh getan hat das Leben.«

Das war richtig. Sie bestand einen schweren langen Daseinskampf, ehe sie vom Bachlerhof in das kleine Ausgedinghäuschen kam. Drei geliebte Kinder hatte sie verloren, einen braven Mann, dann wirtschaftete sie als Witwe, bis sie den Hof verkaufen mußte, weil ihre Kraft zu Ende ging. Nach dem Bader kamen noch der Pfarrer und der Schullehrer des Dorfes.

»Wollt Ihr mich nochmals versehen?« fragte sie den ersteren.

»Nein«, antwortete er, »für Euch ist's mit dem einem Male genug.«

Sie war nämlich noch vor drei Tagen selbst zur Kommunion gegangen, ehe sie sich legte.

»Was Ihr höchstens noch tun könntet, wäre ein gutes Werk«, meinte der Pfarrer.

Damit verletzte er sie ein wenig. Wenn die Bachlerin mit den guten Werken bis heute gewartet hätte, da wäre ihr jetzt das leuchtende Morgenrot draußen gewiß nicht wie der weit offene Himmel vorgekommen. Sie fühlte, daß sie sonst gar nichts mehr zu tun brauche, als die müden Lider schließen und einschlafen.

Und sie glaubte an ein glückseliges Erwachen. An ihr Geld hätte sie sich jetzt ohne die Anspielung des Pfarrers gar nicht mehr erinnert. Sie war überzeugt, daß dieses Geld nach ihrem Tode auf jeden Fall Verdruß stiften würde, darum traf sie am liebsten gar keine Verfügungen. Aber als der Pfarrer zu ihr sprach, sah sie in manchem Gesicht einen häßlichen Zug. Es schien ihr plötzlich, als warteten alle die Menschen hier nur noch auf dieses Geld, als wohnten ihnen allen sonst gar kein echtes Gefühl mehr inne. Und so kam es, daß die alte Bachlerin noch in ihrer letzten Stunde in hellen Zorn geriet.

Sie tobte und schalt aber nicht, sondern stimmte ein langes höhnisches Gelächter an, durch welches das Todesröcheln zu hören war. Viele der Anwesenden glaubten nicht anders, als daß die Alte nun verrückt geworden sei. Ohne ihr Gelächter zu unterbrechen, richtete sich die Bachlerin im Bette auf, dann langte sie zwischen Strohsack und Bettbrett hinab und brachte einen großen, roten, vollgepfropften Wollenstrumpf zum Vorschein. Die Spannung der Anwesenden war nun unbeschreiblich. Es dauerte lange, bis die Alte den oben fest verschnürten Strumpf geöffnet hatte, aber als sie damit fertig war, vollführte sie vor den weit aufgerissenen Augen der Versammelten ein ganz artiges Kunststück. Sie nahm den Strumpf an der Spitze und säte dann seinen klingenden, glitzernden Inhalt in einem schönen, sprühenden Bogen zum offenen Stubenfenster hinaus auf die morastige Dorfstraße.

»Schnell! Schnell!« lachte sie dann, die wenigen, die sich nicht sofort zum Hinausrennen entschließen konnten, mit drängenden Gebärden ermunternd. In wenigen Augenblicken war die Stube menschenleer, und draußen ging eine halb lustige, halb ernste Jagd los. Die Bachlerin war auf ihr Lager zurückgesunken. Sie richtete keinen Blick mehr nach dem Fenster, durch welches lautes Geschrei hereindrang. Als sie länger in die dunkle Ofenecke sah, gewahrte sie die Umrisse eines dort lehnenden Menschen.

»He! Wer ist denn noch da?« fragte die Alte.

»Ich«, brummte erst nach einem Weilchen eine tiefe Stimme.

»Na, lass' dich sehen.«

Er kam zögernd in den Vordergrund. Sie erkannte den jungen, derbknochigen Menschen nicht gleich, der nun vor ihr stand, aber als sie ihm länger in das schmale, seltsam vergrämte Gesicht gesehen hatte, rief sie aus: »Ach, richtig, des Grabenbauern Seppl. Freut mich, daß du gekommen bist.«

»Na ja«, sagte er, »aber ich muß jetzt gehen. Mein Vater ist schon lang auf der Wiese. Ich hab' Euch nur noch einmal ›Vergelt's Gott!‹ sagen wollen.«

»Für was?«

»Na? Habt mir viele gute Bissen zugesteckt, derweil ich noch in die Schul' gegangen bin. Vergelt's Gott! sag' ich noch einmal.«

Damit wollte er hinaus.

»Halt!« rief sie.

Er kehrte nur widerstrebend um.

»Wie geht es euch denn am Grabenhaus, Seppl? Notig, gelt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Was will man? Gesund sind wir.«

»Aber arm, Seppl.«

»Das macht nichts.«

»Und voller Schulden.«

»Ich kann ja reich heiraten.«

»Ja, eine, die du nicht gern hast.«

Er zuckte mit den Achseln.

»Dazu sind heut' viele Leut' gezwungen. Und man lebt ja nicht ewig.«

»Ein schöner Trost für dich, Seppl.«

»Ein Trost für arme Leut'«, entgegnete er.

»Du«, sagte sie, »was denkst dir dann zu dem Krieg da draußen?«

»Was? Daß jetzt die Scham und das Ehrgefühl aufhören auf der Welt.«

Sie sah ihm erst jetzt gehörig in die großen blauen Augen, und da erkannte sie es: der war gut, gefühlvoll und schamhaft durch und durch.

»Man stirbt lieber, wenn man so etwas sieht, Seppl. Aber Gott sei Dank, einen Geldstrumpf hab' ich noch. Und das ist erst der richtige, der große, in dem sind die Taler und Dukaten. Siehst du, Seppl, der gehört dir allein. Aber sag's höchstens deinem Vater, sonst keinem Menschen!«

»Nein, das ist zu viel«, sagte er ernst und machte gegen den schwarzen Geldstrumpf, der ebenfalls unter dem Strohsack gelegen hatte, eine abwehrende Handbewegung.

»Es ist mein letzter Wille«, sagte sie entschieden. »Darf ich einen letzten Willen haben oder nicht? Gift mich nicht, Seppl, sonst –« Sie regte sich wahrhaftig wieder auf.

Da erschrak er und schob den Geldstrumpf hinter den Rock. »Bachlerin –« sagte er, sonst brachte er vor Freude und Rührung kein Wort mehr hervor.

»Wir zwei verstehen uns«, sagte sie. Behüt dich Gott, Seppl!« Dann kamen mit erhitzten Köpfen einige Weiber in die Stube zurück. Sie bemerkten absichtlich den Burschen nicht, der zu stolz gewesen war, um sich an dem Geldklauben zu beteiligen.

Zwei Stunden später hatte die Bachlerin stille hinübergeschlafen, und man läutete die Sterbeglocke. Der Grabenbauer und sein Sohn knieten betend auf der Wiese unten. Der Junge sah mit strahlenden Augen zur Höhe, aber der Alte war in sich zusammengesunken, und über sein hohlwangiges Gesicht liefen Tränen.

»Ist das nicht eine schöne Straf' für meinen Menschenhaß?« fragte dann der Alte. »Glaub' mir's, Seppl, ich geh' an keinem Notzeichen mehr vorbei.«


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