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Verzeihe

Hans sah es viel zu spät ein, daß er diesen Gang nicht hätte wagen sollen.

Bis zur ersten Hälfte des schrecklichen Weges rang sich der junge, rüstige Mann tapfer empor. Dabei verbrauchte er seine Kräfte. Er hatte diesmal seiner Stärke zu viel zugemutet. Wo der nächtigende Hochwald vor dem mondbeschienenen, kahlen Berggewände aufhört, da lehnte sich der einsame Wanderer an einen Baum und hielt Rast. »Zurück oder vorwärts?« fragte er sich. Es erschien ihm beides gleich gewagt. Das beschwerlichste Wegstück war freilich dasjenige zu dem ersehnten Ziel empor. Hier und da hatte der letzte Sturm allen Schnee von dem Gestein des steilen Hanges geweht. Wie tief die weiße flaumige Decke stellenweise sein mochte und welche Gefahren für den menschlichen Fuß sie barg, das war schwer zu ermessen. Jedoch der Weg durch die tiefe Finsternis des Hochwaldes war noch gefährlicher gewesen. Hans scheute sich nach dem bereits Überstandenen viel mehr vor der Rückkehr als vor dem Bergwärtsstreben. Übernachten wollte er hier nicht. Das Leben war ihm jetzt trotz aller Todmüdigkeit lieber als je. Es hätte hier oben in der furchtbaren Kälte kein Mensch eine Stunde Rast halten können, ohne dabei zur ewigen Rast hinüberzuschlafen. Hans wollte mit dem letzten Kräfteaufgebot weiter, bergauf. Schon während er stand, gefroren ihm die durchschwitzten Kleider so hart, daß er sich in denselben vorkam wie in einem Eispanzer. So begann er denn wieder den heißen Gang. Bei jedem dritten Schritt verlor er schon den festen Boden unter sich und sank bis an den Hals in eine Schneewehe, welche obenauf sehr harmlos aussah. Mit schwerer Mühe schob er sich durch den Schneeriegel und erklomm jenseits desselben ein nacktes Felsenriff, auf welchem eine einzige junge Fichte stand, welcher der Wind den frischen, kerzengeraden Gipfel zu Füßen gelegt hatte. Hans riß die jungen Zweiglein von dem Gipfel und hatte dann einen langen Stock, mit welchem er vor sich die Tiefe des Schnees untersuchen konnte. Wo der junge Mensch keinen Grund fand und keinen Ausweg, dort mußte er schließlich dennoch durch, um schließlich vorwärts zu kommen. Bald war er wieder in Schweiß gebadet, und sein Eispanzer schmolz. So oft er aber atemlos und schier verzweifelnd auf einen der nackten, schwarzen Steine hinfiel, welche die Inseln in diesem weißen Meer bildeten, da rührte die Kälte seinen ganzen Leib wie mit Raubtierzähnen an. Die Schmerzen allein hätten den armen abgehetzten Mann weitergetrieben, wenn er auch des Willens zum Leben und Ringen in dieser Wildnis bar gewesen wäre. Aber alle Mühen und Qualen dieses Weges verringerten nicht des jungen Menschen Lebenslust. So elend und sterbensmüde er sich körperlich fühlte, im Herzen war ihm nicht zum Sterben. Er sah sein Ziel vor sich, ein über alles in der Welt geliebtes und begehrtes Ziel. Er konnte sich nimmer etwas so Trauriges und Entsetzliches vorstellen, als angesichts jenes Zieles elend zugrunde gehen zu müssen. Jedoch er gedachte sich seiner körperlichen Not und Schwäche nicht hinzugeben, ehe ihn vollständige Ohnmacht umfing. Oben auf dem langgestreckten Bergrücken standen zwei majestätisch gestaltete Felsenungeheuer. Die hoben sich tiefschwarz von dem sternenhellen Winterhimmel ab, nur hie und da trugen sie kleine im Mondenlicht mattfunkelnde Eisplatten. Zwischen diesen Bergkronen lag im tiefen Schnee das Heim des Wanderers: eine einschichtige Holzhütte.

Die schaute mit ihren beiden Stubenfenstern zu Tal. Durch die Fenster brach ein roter Schein, welcher von dem offenen Herdfeuer kam. Bei diesem Lichte spann ein junges blondes Weib und hatte keine Ahnung, daß Hans so nahe in großer Not war. Wie heldenmütig würde sie sonst herabsteigen, um ihren Liebsten heimzuholen! Sie hatte ihm schon einmal ihren Mut und ihre Liebe zu beweisen. Das war, als sie ihn heiratete und heraufführte in ihr Heim.

Hans galt zuvor als der größte Lump des ganzen Berggaues. Es hätte sich keine Zweite in allen Tälern der Runde getraut, sein Weib zu werden. Er war ein bildschöner Mensch. Reden und scherzen ließ es sich mit ihm so angenehm wie nur je mit einem. Und tanzen! Die reichsten Großbauerntöchter hatten ihn zu ihrem liebsten Tänzer. An seinem Singen konnten sich die Talleute auch nicht satt hören. Er hätte mit dem Singen schweres Geld verdienen können, sang aber nicht auf anderer Leute Verlangen, sondern wenn es ihn selbst gelüstete, und dann tat er es stets umsonst. Sie hatten ihn alle gerne, die ihn kannten; er war zu liebenswürdig, dieser Lump. Aber für den größten und unverbesserlichsten aller Lumpen hielten sie ihn doch.

So viel wie er hatte hierzulande noch keiner vertan. Er erbte von seinen Eltern einen großen schuldenfreien Hof. Zwei Jahre war Hans ein lustiger, lediger Bauer, hernach hatte er nicht mehr, als er auf dem Leibe trug. Er allein brachte das schöne Vermögen nicht durch. Es halfen ihm Reiche und Arme dabei. Er war viel zu gut und zu lustig für diese schlechte, traurige Welt. So glaubten wenigstens die Leute. Er selbst hielt sich just für passend in diese Welt. Er sah noch alles im verklärten Licht, als er schon ein Bettler war. Dann tat es ihm zwar leid, daß er nichts mehr zu verschenken hatte, und fremder Hunger tat ihm weit mehr weh als der eigene; aber er bereute es nie, daß er so viel verschwendete. Es war zu herrlich gewesen, dieses Verschwenden. »Und wenn ich heut eine Million hab'«, sagte er, »so wirtschaft' ich auch nicht anders damit.« Er war nämlich ein ganz leichtsinniger, fröhlicher, guter – echter Lump.

Es würde ihn manche gern mit einem liebenden Herzen, mit Haus, Hof und Geld beglückt haben, wenn ihr dabei nicht der Bettelstab so klar und deutlich vorgeschwebt hätte. Das stand fest: Diejenige, die den schönen Lumpen heiratete, war nach Jahr und Tag ein Bettelweib, und wenn sie auch zuvor ein halbes Land besaß. Das sagte ja Hans selbst. Er gab hierin den gescheiten jungen Dirnen auch ganz recht, zuweilen mit so lustig lachendem Munde, daß es mancher in das Herz schnitt. Er mochte eben keine von allen und war froh, daß sie ihn so frei laufen ließen.

Endlich geriet er doch an die Unrechte oder, besser gesagt, an die Rechte. Wie man just sagen will. Die traf ihn, als er im lustigsten Fluge war, mit ihrem ernsten Blaugeschau blitzschnell in das Herz, daß er ihr dann förmlich wie ein angeschossener Wanderfalk zu Füßen lag und vergebens die Schwingen zu rühren versuchte. Er gab die Absicht, diesem Weibe noch einmal davonzufliegen, wunderschnell auf. Sie hätte ihn wieder fliegen lassen und sagte es auch: »Flieg! Ich laste dich frei! Aber flieg gleich, ehe es mich reut.« Oft stieß sie ihn sogar rauh von sich und sagte mit weinenden Augen: »Geh! Ich will nicht die einzige sein, die dich nimmt!« Aber schon in dem nächsten Augenblicke zeigte sie sich anders. Da funkelte ihm ihr Blaugeschau übermächtig in das Herz hinein und von ihren stolzen, keuschen Lippen kamen heiße, trotzige, süße Worte: »Und ich will doch die einzige sein. Ich! Keine andere kann dich haben als ich.« Sie ward schließlich noch unbändig stolz und neidisch auf seine Liebe. Keinem Menschen hätte sie ein bißchen davon gegönnt. Ihm behagte das so gut, daß er seiner einstigen, teueren Freiheit nicht einmal mehr im Traume gedenken wollte. Aus dem wilden Wanderfalken wurde durch die Macht dieses Weibes ein zahmer, sanfter Hausvogel. Allein die Leute konnten das nicht glauben, als es bereits schöne gute Wahrheit war. Sie weissagten mit großer Bestimmtheit, daß die alte Natur Hansens bald wieder sieghaft zum Durchbruch kommen werde. Wie die blonde Resi mit dem Lumpen aus der Kirche ging, da sah sie mit einem leuchtenden Lächeln und freien stolzen Blick die vielen Gesichter der langen, gaffenden Menschengasse ab; damit sagte sie den Leuten: »Seht, wie es mich freut, daß ich es gewagt habe!« Aus verschiedenen Weibsgesichtern las sie die Reue und den Neid. »Hätte ich es doch gewagt!« dachte manche an jenem Tage, als sie sah, wie seltsam reizend es diesem Lumpen anstand, als er so fromm und untertänig neben dem sieghaften Weibe ging. Aber Resi hörte auch aus der Menge flüstern: »Schad' um sie! Schad' um ihr Häusel am Berg! In ein'm Jahr hat er's hinuntergeschwemmt.«

Bis jetzt war freilich noch kein Jahr vergangen seit dieser Hochzeit, und das kleine Anwesen stand noch oben zwischen den beiden Felsengipfeln. Im Frühjahre hatte Resi den heimatlosen Burschen als Herrn eingeführt in ihr einsames Haus. Jetzt war es vor Weihnachten desselben Jahres. Zwei Flitterwochen verlebten die jungen Leute miteinander, dann mußte Hans wieder hinaus in die Welt, diesmal, um etwas zu verdienen und zum Rechten zu schauen.

Bei den Kleinhäuslern dieses Gebirges ist es nicht Brauch, daß Mann und Weib den Sommer über beisammenhocken, wenn sie beide rüstig sind. Das Weib muß Haus und Feld besorgen, und der Mann muß in die Ebene hinunter, um ein Stück Geld zu verdienen. Viele von diesen Männern sind Maurer und Zimmerleute. Die kein Handwerk erlernt haben, geben draußen Feldarbeiter, Teichgräber und Handlanger ab. So viel trägt daheim der steinige Bergacker nicht, daß eine Familie davon leben könnte. Hier läßt der liebe Gott zu viele Mäuler und zu wenig Brot wachsen. Der Volksmund sagt: »Hier kommen die Leute mit dem Wanderpack zur Welt.« Im Frühling wird ausgezogen, sobald es nur das Wetter erlaubt, und im toten Herbste wird heimgekehrt.

Dann ist nach monatelangem Darben, Sparen und Arbeiten daheim eine schöne, ruhsame Zeit. Den Winter über bleibt kein Mann draußen, er müßte denn in einem ganz außergewöhnlich einträglichen Dienste stehen oder ein Lump sein. Von den letzteren sind schon viele gar nicht wieder zu Weib und Kind heimgekommen oder einmal nach Jahr und Tag per Schub. Zu dieser Gattung wurde Hans von den Leuten schon gerechnet, als sie ihn fortziehen sahen. Aber er ging mit festen, guten Vorsätzen.

Es war wirklich erstaunlich, wie ihn dieses Weib verändert hatte. Zum Abschied sagte sie ihm: »Sie schreien alle wider dich. Nur ich hab' einen Glauben an dich. Laß mich nicht zuschanden werden mit diesem Glauben!« Dann schüttelte sie ihm unter flehenden Blicken die Hand. Er wollte sie stürmisch umfassen und küssen. Aber sie erwehrte sich und sagte: »Das tun wir dann im Winter, wenn du dich brav aufgeführt hast.« So ließ sie ihn gehen. Er weinte bei diesem Abschied zum ersten Male im Leben. Und draußen vergaß er es dann keine Stunde und keinen Augenblick, wie sein Weib an ihn glaubte. Hans tat es nun bei der Arbeit und im Sparen allen anderen Landleuten zuvor. Die konnten sich nicht genug über ihn wundern. Einige mißbilligten sogar voll Neid und Scheelsucht seinen Übereifer. Viele Briefe werden sommersüber von den Männern nicht heimgeschickt. Das Briefschreiben kostet Geld. Resi bekam auch nur einen Brief, und zwar im Herbst zu ihrem Namensfeste. Hans belobte sich in diesem Schreiben nicht etwa selbst, er schrieb nur daß er soweit gesund sei und mit einem genügenden Verdienst heimzukehren hoffe.

Resi schöpfte aus diesem Briefe einen großen Verdacht. »Warum schrieb er mir nicht, wieviel er schon verdient hat?« fragte sie sich. »Warum hofft er jetzt noch etwas Gehöriges heimzubringen, jetzt, im Spätherbst, wo er von Rechts wegen schon im Besitz eines ansehnlichen Sümmchens sein müßte?« – »Er hat nichts verdient!« schrie der Argwohn in ihr. »Er ist seinen guten Vorsätzen trotz allem nicht treu geblieben und hofft in den letzten Zeiten halbwegs das einzuholen, was er den ganzen Sommer vernachlässigte. Aber der Leichtsinn wird ihn auch jetzt beherrschen«, dachte Resi. »Er wird spottwenig heimbringen oder nichts. Und gerade heuer wären zur Ordnung des kleinen Haushaltes ein paar Gulden so nötig!« Das Weib erzielte auf dem Bergacker eine schlechte Ernte. Ein Wolkenbruch trug das bißchen Ernte samt der dünnen Erdkrume fort. Die Sorgen und Plagen vieler Jahre waren plötzlich nutzlos geworden. Resi ertrug den Verlust deshalb viel leichter, weil sie zuversichtlich auf den Verdienst Hansens hoffte, bis dann jener kurze, zu allerlei Zweifeln berechtigende Brief kam. Hans hatte in Wirklichkeit die Absicht, sein Weib über sich in Neugierde zu lasten. Bei seiner Heimkehr wollte er sie dann um so schöner überraschen, wenn er die baren vierhundert Gulden auf den Tisch hinzählte, welche er jetzt in seiner Brusttasche trug.

Wie er aber mit jenem Brief sein Weib ängstigte, welches ohnedem durch das zu Hause vorgefallene Unglück sehr kleinmütig gemacht worden war, davon hatte er keine Ahnung. Resi schrieb ihrem Manne von dem Wolkenbruch nichts. Sie wollte ihm nicht die Ruhe rauben, ehe das nicht sein mußte. Das kam nun davon, daß sie füreinander so zart besorgt waren. In Resi saß der böse Verdacht fest. Sie war auch schon darüber mit sich einig, wie sie ihrem Manne entgegenkommen werde, wenn er als der alte Lump heimkehrte. Sie wollte ihm den Leichtsinn abgewöhnen auf jeden Fall. Wenn es nicht mit Gutem ging, wollte sie es anderswie versuchen. Seine Liebe zu ihr hielt sie dabei für einen Strick, welchen der lockere Geselle nicht zerreißen könnte, wenn sie ihn in noch so scharfe Zucht nahm. Er kam ihr auch viel zu lange nicht heim. Das bestärkte ihren Verdacht. Die meisten Männer aus den Tälern waren schon zurückgekehrt. Resi schämte sich, bei denen nach ihrem Manne zu fragen. Sie hätte jetzt auch nicht mehr heruntersteigen können in das Tal, seit Weg und Steg verweht waren. Auch wußte sie nicht, wie ihr Mann heraufgelangen werde. Gestern schritt sie schon daran, einen Pfad auszuschaufeln, bis über die gefährlichsten Stellen des Berghanges hinab. Sie konnte es nicht glauben, daß er sie über Weihnachten allein zu lassen vermöchte. Aber als sie sich dann bei dem Pfadbrechen immer tiefer in ihren alten Verdacht hineingrübelte, schleuderte sie plötzlich die Schaufel weit von sich und schritt mit tief gesenktem Haupte wieder bergwärts ihrer einsamen Hütte zu. Sie glaubte nun doch nicht an ihren Mann, so wie sie ihm damals gesagt hatte. Man konnte ihr das nimmer verübeln, in ihrer großen Verlassenheit und Not. Das Stück frischgebrochenen Pfades kam nun dem Manne bei dem Aufsteigen sehr zugute. Er jubelte auf, als er plötzlich auf den verhältnismäßig so bequemen Weg stieß, und vollendete dann den Rest dieses Leidensganges so leicht, wie er das nimmermehr erhoffte. Hans brauchte nicht erst an die Hüttentüre klopfen und auf das Öffnen zu warten. Sein Weib war es nicht gewohnt, sich nachts einzuschließen. So unerwartet nun auch Hans in die Stube kam, Resi wußte doch in allem seligen Schreck sofort, wie sie sich zu benehmen habe.

Er hatte sie zu sehr gequält mit dem langen Ausbleiben und mit der zweifelhaften Auskunft über seine Tätigkeit in der Fremde. Ehe sie nicht wußte, was er mitbrachte, kein Umarmen, kein freundliches Wort, welches er vielleicht gar nicht verdiente. Und wenn er auch noch so viel heimbrachte, was sie übrigens gar nicht glaubte, so meinte sie doch schmollen zu müssen. »Er hat mich auf jeden Fall viel zu viel um ihn leiden lassen«, dachte sie. »Das muß ihm jetzt vergolten werden.« Sie hatte das heiße, leidenschaftliche Verlangen, daß er sich völlig demütigen solle bei seiner Rechtfertigung. Ehe sie ihm verzieh, wollte sie ganz mit Genugtuung erfüllt sein. So hielt sie es.

Danach wußte sie sich meisterhaft zu benehmen. Bei seinem Anblick kam mächtiges Erbarmen in ihr Herz. Sein Äußeres sprach nur zu deutlich von den überstandenen Wegmühen. Aber Resi wurde auch mit dem Verleugnen dieses Mitleids fertig. Sie stand ihm kerzengerade gegenüber und sah ihm strenge, forschend in das Gesicht. Er entdeckte mit Schrecken nicht die mindeste Liebe und Zärtlichkeit in ihren Zügen, so sehr vermochte sie sich zu verstellen. Welchen Empfang hatte er hingegen erwartet! Wie sollte sie ihm von Rechts wegen an die Brust fliegen! »Wie sollte sie sich bei dem Glück, mich (auch ohne Geld) wiederzusehen und zu haben, auf alles vergessen, selbst auf die Frage, ob ich etwas oder nichts mitbrachte! Wie sollte sie gerührt sein, daß ich jetzt mit Todesverachtung diesen so ungeheuer gefährlichen Weg wagte, nur um ihr und mir früher das Wiedersehen zu verschaffen! Sie sieht, wie mich diese Bergfahrt hergenommen hat, und ermangelt, sich sogleich mit aller Zärtlichkeit um mich zu bemühen.« Das waren so seine ersten Gedanken und dabei wuchs sein Befremden, seine bittere Enttäuschung mächtig. Aber er breitete trotzdem seine Arme aus und sprach das erste Wort, weil sie es nicht tat.

»Resi! Um Gottes willen! Sind wir es denn beide, oder sind wir es nicht?«

»Ich bin's wohl«, sagte sie ernst und fest. Dann lachte sie plötzlich gar herbe auf und setzte hinzu: »Du wirst's auch sein. Der alte Lump wirst du wieder sein. Gelt?« Seiner Umarmung aber wich sie weit aus.

Er staunte sie an mit einem vorwurfsvollen Gesicht und fand keine Erwiderung auf die Begrüßungsrede. Vergebens fragte er sich während einer Weile, wie Resi wohl dazu komme, ihm derart zu begegnen. Jedenfalls meinte er sich tief gekränkt und beleidigt fühlen zu müssen. Und er beschloß, sich auch sofort entsprechend zu benehmen. Dabei gelangte der arme Mann immer mehr in den Bann eines unbeschreiblichen Schreckens. Er las aus den kalten Blicken Resis nichts anderes, als daß sie ihn nicht mehr liebe. Eine furchtbarere Entdeckung hätte dieser Mensch in seinem Leben nimmer machen können. Sie hat es sich während des langen Alleinseins erst recht überlegt, was sie tat, indem sie so einen Lumpen heiratete, so schloß er sofort. Und jetzt hält sie mit ihrer »Reu« keinen Augenblick hinterm Berge.

Sie hat die Zeit über an der Abtötung ihrer Liebe für mich gearbeitet. Und das Unglaubliche ist ihr gelungen, ich lese es aus ihren Augen, aus der schrecklichen Veränderung ihres ganzen Wesens, daß es ihr gelungen ist. Er litt Unbeschreibliches. Er meinte, diese Empfindungen müßten sogleich seinen Tod herbeiführen, gegen welchen er vorhin so heldenhaft kämpfte.

Wieviel bester wäre doch der Tod draußen in der Wildnis für mich gewesen! dachte er. Warum konnte ich nicht mit dem schönen Wahne sterben, daß sie mich liebt? Wie grausam ist mein Geschick, daß es mich um diesen Herzenstod heraufsteigen ließ! Endlich fragte er, während zwei funkelnde Tränen über seine erdfahl gewordenen Wangen schlichen: »Du liebst den Lumpen nicht mehr? Du hast dich während der Zeit anders besonnen? Es war also doch nicht die erste Liebe die deine?«

Jetzt bekam Resi doch annähernd einen Begriff davon, wie furchtbar sie ihn quälte. Weil sie ihn so sehr um den Verlust ihrer Liebe zittern sah, fühlte sie auch gleich die erwünschte Genugtuung. Sie sagte ihm aber mit demselben kalten Gesicht wie früher, nur in etwas milderem Tone:

»Laß sehen, was du verdient hast draußen!«

»Um das kann sie jetzt fragen«, dachte er voll Bitternis. Dann antwortete er: »Du zeigst es mir ja, was ich verdient hab'!«

»Umrede nicht meine Frag'!« sagte sie. »Zeig deinen Verdienst!«

»Und was dann?« fragte er.

»Dann?« wiederholte sie und überlegte. Wenn er ihr einen halbwegs hinreichenden Betrag vorweisen konnte, dann beschloß sie ihr Wesen sofort zu ändern, ihren Mann um den Hals zu nehmen und ganz zu verzeihen. Das Gefühl der Genugtuung hatte sie, und setzt stellte sich auch schon übermächtig das Bedürfnis ein, dem lieben Mann alle versagte Zärtlichkeit einzubringen; falls er aber mit leeren Säcken heimkam, wollte sie das Verzeihen noch hinausschieben, trotz des letztbesagten Bedürfnisses. Nach längerem Nachdenken fragte Resi: »Nun? Wo ist der Verdienst? Weise auf damit!«

»Das ist dein ganzes Begehren?« fragte er wieder in dem vorigen bitteren Tone.

»Ja«, entgegnete sie. »Das ist das erste, was ich wissen will.«

Hans war nun viel zu stolz, um ihr sein Geld vorzuzählen. Es kam ihm viel zu kleinlich, zu lächerlich vor, sich in diesen Augenblick zum Herzeigen der vierhundert Gulden herbeizulassen. »Kannst du mich für Geld wieder lieben lernen, wenn du das schon einmal verlernt hast?« fragte er.

Und sie antwortete: »Du bringst nichts mit. Ich weiß es. Du redest zu lange herum.«

»Wenn ich nichts mitbringe«, sagte er, »so hast du mir auch nichts vorzuwerfen. Du hast mir ja auch nichts entgegengebracht von deiner Lieb'.«

»Du bringst also nichts, Hans?«

»Nein!« log er, um zu erfahren, wie sie sich darnach gebärden werde.

»Gut«, sagte sie. »Da kannst du wieder gehen. Und bis du etwas verdient hast, komm wieder.« Sie meinte das gar nicht so ernst. Aber sie wußte nicht passender zu reden zu dem Lumpen.

Er nahm jedoch ihre Worte für bitterschweren Ernst auf. »Gut«, sagte er mit ersterbender Stimme. »Ich gehe, Resi, komm' aber nimmer. Den Lumpen bist du los.«

Er ging schnell hinaus. Sie zögerte lange, ehe sie daran schritt, ihn zurückzurufen. Seine letzten Worte versetzten sie wohl ziemlich stark in Angst. Aber sie konnte nicht glauben, daß er bei seiner Erschöpfung den Weg zu Tal antreten werde. Sie horchte gespannt, ob er nicht wieder in die Hütte zurückkehre, auf welche er sich, wie Resi meinte, doch schließlich angewiesen sehen mußte in der unwegsamen, winterlichen Einöde.

Aber es regte sich nichts. Endlich trug Resi dieses Warten nicht mehr, es kamen ihr dabei zu schreckliche Gedanken. Sie ging hinaus. Was ihre Augen nun auch den Geliebten suchten, sie fanden ihn nicht mehr.

Am anderen Morgen nach der schrecklichsten Nacht ihres Lebens fand sie ihn. Er lag in einer Schlucht des rechtsseitigen Felsengipfels starr und tot. Die vierhundert Gulden fand sie auch in seiner Brusttasche.

Es half ihr nichts mehr, daß sie sich die Haare vom Haupte und die Kleider vom Leibe riß, daß sie sich den Kopf an den Wänden wund schlug und vielhundertmal über des Geliebten Leichnam hinfiel mit heiserem Kreischen: »Verzeihe! Verzeihe!«


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