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Kindergebet

Sie verdankten ihr Glück dem alten Ortsrichter. Er sah sie an einem Winterabende auf ihrer beschwerlichen Wanderung. Und da erbarmten sie ihm. Sie mühten sie gar zu jämmerlich mit dem Bergwärtsbringen ihres Handwägelchens. Ein jedes von ihnen wollte dem anderen die Plage verringern. Der an der Deichsel ziehende zwölfjährige Edi brach ab und zu auf dem glitschigen Neuschnee in die Knie, war aber doch immer wieder schon aus, ehe die hinten anschiebende Mutter mit dem schmalen, schweißüberströmten Sorgengesichte um die große Flachsladung herum nach vorne sehen konnte. Neben der Mutter stemmte die neunjährige Zenzi an der Fracht. Der kleine Joggerl hing sich an die Rockfalte der Mutter. Man konnte ihn nicht zu den zwei Kleinsten, dem Lipperl und dem Liesei, auf das Gefährt laden, weil er in seiner dünnen Kleidung beim Sitzen erfroren wäre. Der Ortsrichter redete die arme Witwe lächelnd an: »Euer Flachshandel muß sich wohl recht verlohnen, weil Ihr Euch gar so viel um ihn plagt.« Das Weib lächelte auch, aber freilich um vieles herber als der Alte. »Das Geschäft verlangt wohl mehr Liebe, als es bezahlt«, sagte sie. »Aber wenn es uns nur jeden Abend auf ein warmes Lager hilft, sind wir froh.«

»Ich möchte mich nicht alle Tage so um meine Liegestatt plagen müssen«, gestand der Alte. Das Weib zuckte mit den Achseln. »Wir gehören halt nicht zu denen, die mit dem Leben auch gleich eine Heimat geschenkt bekamen. Auch nicht zu denen, die sich ehrlich eine verdienen könnten. Wir müssen wandern.«

»Wenn Euch mit einem Unterschlupf allein geholfen wär'«, – begann nun etwas zögernd der Alte.

»Wüßtet Ihr uns einen?« fragte das Weib erwartungsvoll.

Er nickte. »Ja, in dem Lackermannhäusel dort kann ich Euch zinsfrei halten. Einziehen könnt Ihr zu jeder Stund'.«

»Ist's wahr?« rief nun der an der Deichsel stehende Edi. »Da fahren wir gleich wieder talab anstatt zum Paßwirtshaus hinauf.« – »So kommt mit!« sagte der Mann. Der Junge machte sich gleich eifrig an das Umkehren des Gefährtes, und seine Mutter half ihm dabei.

Der Alte mußte darüber lächeln, daß sie gar so bedenkenlos umkehrten. Damit zeigten sie sich ja zum Eingehen einer ganz neuen Lebensweise bereit. Aber sie wußten wohl, was sie taten. Um ein kostenfreies Hausen konnten sie frohgemut von ihrem mühseligen Flachshandel ablassen. Soviel Brot, als ihnen das elende Wanderleben trug, meinten sie leicht überall verdienen zu können, wo sie kein Quartiergeld zahlen mußten. Sie hatten sich bisher in ihrer Not den Besitz einer Heimat als ein ganz unschätzbares, für sie nie erreichbares Glück vorgestellt. Es war nämlich das rechte Wanderblut nicht in ihnen, das lieber alle Unbill der Reise leidet, ehe es sich an einem Orte halten läßt. Ihre Vorfahren waren rechtliche Bauern gewesen, die in ihrer christlichen Güte und Ehrlichkeit um Hab und Gut kamen.

Das Lackermannhäusel, welches nun der Richter den Armen überlasten wollte, war ihnen wohl bekannt. Es stand unten zwischen zwei felsigen Ausläufern des mächtigen Bergleibes auf einem kleinen Schotterfelde. Einen viel einfacheren Bau konnte es wohl nicht mehr geben. Um eine Wand und einen Dachflügel zu ersparen, hatte man die kleine hölzerne Heimstätte an den senkrechten Abfall eines hohen Steinblockes gezimmert. Das morsche Holzwerk hatte sich, wie man sah, schon einmal völlig von seiner festen Steinlehne trennen wollen und war mit zwei einfachen Pflöcken wieder fest darangespreizt worden. Seit vier Jahren hatte niemand in dem Lackermannhäusel gewohnt. Es gehörte dem ehemaligen Gemeindehirten des kleinen Bergdorfes. Der hatte sein Geschäft und seine Heimat nie recht geachtet und geliebt. Er war ein besserer Musikant als Hirte gewesen. Mit seiner Trompete zog er dann auf einen ihm mehr zusagenden, lustigeren Broterwerb aus und war seitdem nicht wiedergekommen. Vor dem Scheiden hätte er gerne die Hütte verkauft. Aber die wollte niemandem recht passen. So vertraute er sie der Obhut des Ortsrichters an und ging. Der Richter fand für die armselige Behausung Mietsparteien. Den lächerlich kleinen Zins sandte er dem Musikanten in die Welt nach. Aber dann kam einmal die Miete wieder durch die Post zurück. Der Hausherr war dann nirgends mehr zu erfragen. Das Haus aber war im Laufe der Zeit kein angenehmerer Aufenthalt geworden, und der Richter fand jetzt keine Mieter mehr dafür. So ließ er es denn leer stehen bis jetzt.

Der Witwe und ihren fünf Kindern gefiel es nun hier wundergut. Sie verstanden es, sich in der Hütte mit geringen Mitteln prächtig wohl zu machen. Das neue Glück gab ihnen neuen Lebensgeist. Der Richter stellte ihnen ein beständiges Hierbleiben in Aussicht und schenkte ihnen damit ein von ihnen nie gekanntes Gefühl der Sicherheit und Ruhe. Sie taten alles, um sich diese Zufluchtsstätte zu erhalten. Bei ihrem guten, festen Willen wurde ihnen der Brotverdienst im Tale leicht. Sie konnten ihrer zwei in den Taglohn gehen. Bei den Bauern gab es in den Scheunen und Spinnstuben den Winter über genug zu tun, und Edi war zu den beim Dreschen nötigen kleinen Hilfsarbeiten sowie zum Garnspulen und Federnschleißen geschickt genug. Zenzi gab daheim auf die drei Kleinen acht. Man konnte sich auf sie verlassen. Sie hatte beinahe den Verstand einer Erwachsenen. Jeden Abend gab es dann glückliche Heimkehr und das wohlige Gefühl des Geborgenseins. Sie fanden nun das Glück, eine Heimat zu besitzen, kaum kleiner, als sie es sich früher vorgestellt hatten. Das neue Leben brachte ihnen sogar manchen Reiz, von dem sie früher nicht träumten.

Heute hatte Zenzi für die zwei Verdiener eine Überraschung. Eine gutherzige Nachbarin hatte einen mannslangen Sack wunderschöner Erdäpfel in die Hütte geschickt. Und Zenzi briet nun so viele der Früchte am Herdfeuer, als die Familie zum Abendessen brauchen konnte. Wenn die Mutter und Edi kamen, brauchte nur ein Topf Milch an das Feuer gerückt zu werden, und das Nachtmahl war fettig.

Aber da kam nun vor den beiden ein anderer, ein alter Mann, der unter dem Arme eine in Fetzen gewickelte Trompete trug. Der hatte anstandslos in die Hütte gekonnt. Zenzi pflegte die Türe nicht zu versperren. Das war hier bei den Armen nicht der Brauch. Der Alte sah nun zunächst recht verwundert in den Stubenraum. Er hatte die Türe leise geöffnet. Die am Herde stehende Zenzi hörte gar nichts. Lipperl und Liesei, die zwei Kleinsten, saßen einander gegenüber und spielten mit plumpen Holzfiguren, die ihnen Edi geschnitzt hatte.

Der Ankömmling sah dem Spiele ganz ruhig eine Weile zu.

Joggerl hatte eben aus kleinen Reisigästchen eine Hütte gebaut: ein dichtes, tiefabhängendes Dach über einigen Holzwürfeln. Unter dem Dache stellte ein Würfel den Stubenherd vor. Eine vielfach beschädigte kleine Glaskugel, die er noch von der Wanderzeit her besaß, hatte Joggerl auf seinen Herd gelegt, weil er sah, daß der von dem wirklichen Herde herfallende rote Schein in dem Scherben ein seltsames zaubervolles Feuer erzeugte.

»Das ist unsere Hütte«, erklärte er den andachtsvoll zuhörenden zwei Kleinen. »Das ist der Herd und das Feuer. Und da sind wir. Seht ihr? Da kommen wir aus der kalten, finsteren Nacht, die da herum ist, ich, die Mutter und du und du und Edi, Zenzi, wir alle. Wir haben soviel gefroren und es war soviel garstig in der Finsternis. Ihr wißt ja noch, wie garstig es war. Und da ist der Richter, der uns führte, bis wir hierherkamen in das schöne, warme, lichte Haus. ›Da könnt ihr nun bleiben und da habt ihr eine Heimat, bis der Musikant kommt. Aber der wird wohl nimmer kommen‹, so hat der Richter gesagt. Wißt ihr es noch?«

Ja, die beiden wußten es noch.

»Er kommt nimmer«, sagte das Liesei. Und fast leidenschaftlich setzte es hinzu: »Darf nimmer kommen!«

Und der kleine Lipperl ballte grimmig die Faust. »Darf nimmer!«

»So müßt ihr nicht sagen«, vermahnte nun Zenzi vom Herde her. »Beten müßt ihr, daß er nimmer kommt.«

Sie waren einverstanden. »Ja«, sagten sie nun. »Beten, beten!«

»Also«, sagte Joggerl, »da sitzen wir nun alle um den Herd und beten, daß wir nicht mehr in die kalte Finsternis müssen und nicht alle Tage wandern.« Und das kleine Liesei begann nun zu beten: »Lieber Himmelvater, laß den Musikanten nimmer kommen, laß ihn weit fort bleiben, immer – immer!« – »Tot laß ihn sein«, ergänzte Joggerl, »tot, wie der Richter gemeint hat.«

»Oder glücklich«, sagte Zenzi vom Herde her. »Das ist besser. Entweder glücklich in der weiten Welt, so glücklich, daß er an die Heimat nicht mehr denkt, die wir um so viel nötiger brauchen als er – entweder glücklich oder tot.«

»Ja«, sagten die Kleinen. »Amen.«

Und der alte Mann an der Türe wiederholte nun mit leiser, weich bewegter Stimme das letzte Wort: »Amen.«

Dann schloß er die Türe.

Die Kinder hatten das Wort gehört.

Sie blickten in den dunkelnden Raum, aus dem es gekommen war. Aber sie sahen den Sprecher nicht mehr. Sie fürchteten sich nun einen Augenblick und waren ganz still. Der Zenzi lief ein Schauer über den Leib, so warm es ihr auch am Herde war. Aber sie legte das Ereignis nach ihrem guten, frommen Sinne zurecht. »Amen, hat einer gesagt«, sprach nach einer Weile Joggerl, ängstlich nach der Türe hinsehend.

»Einer, den wir nicht sehen«, sagte Zenzi. »Das ist eine Stimme vom Himmel gewesen.« Sie glaubte an das, was sie sagte. Dann ging sie beherzt zu der Türe und riß sie auf. Sie sah niemanden vor der Hütte.

Der alte Musikant war eben um die Felsenecke gegangen. Er wollte ihnen die Hütte lassen, weil sie so darum beteten. Er hätte jetzt an seinem Lebensabende in der über ihn gekommenen großen Armut die Heimat wieder gebraucht. Aber er sah, daß sie von anderen besser gebraucht wurde. Und da ging er wieder. Er war todmüde nach der Hütte gekommen und ging nun doch wieder in den Schnee hinaus. Es war ihm unmöglich, die armen Kinder die Schrecken seines Kommens erleben zu lassen. Lieber setzte er sich auf der Berghalde in den Schnee und wartete auf den Tod, weil ihm das Glück nicht gekommen war, das ihm die Kleinen gönnten.

Bald nach seinem Gehen kamen die Mutter und Edi heim. Sie schenkten der Erzählung der Kinder keinen rechten Glauben. Aber am Morgen fanden sie den Musikanten weit oben auf der Berghalde. Gott hatte das Bitten der Kinder erhört. Der Musikant war glücklich.


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