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Ein starkes Herz.

1. Florenz.

Seit dem Jahre 1815 lebte in Florenz eine russische Dame mit ihrem kleinen Sohne und einer ziemlich bedeutenden, ebenfalls russischen Dienerschaft. – Von diesen Dienern war jedoch außerhalb des Hauses immer nur einer in ihrer Nähe zu sehen, und zwar immer derselbe, ein älterer Mann mit einer ungewöhnlich klugen und ausdrucksvollen Physiognomie. Sie selbst war jung und schön, machte aber offenbar keine Ansprüche darauf, für Beides zu gelten, wie ihre durchaus matronenhafte dunkle Kleidung bewies. Aus ihrem Passe hatte man erfahren, daß sie Frau von Tolstoi hieß. Weiter wußte man eigentlich nichts von ihr; denn vom russischen Geschäftsträger, dem einzigen Manne, der Zutritt in ihrem Hause hatte, war nichts zu erfahren, als daß sie eine geborene Französin sei. Ihr Umgang mit Frauen beschränkte sich beinahe ganz auf den ihrer Hausfrau, einer alten Venetianerin, die mit ihrem verwaisten Enkel – dem Kinde ihrer einzigen Tochter und eines Florentiners – ebenfalls in der größten Zurückgezogenheit lebte.

Im Anfang erregte Frau von Tolstoi Aufmerksamkeit. Wenn die schöne blasse Frau mit dem lieblichen Knaben an der Hand, der bei ihrer Ankunft in Florenz vier Jahre zählte, über die Straße ging, blieb man unwillkürlich stehen und sah dem überaus anmuthigen Paare nach. Das Haus, das sie bewohnte, war ein stattliches, wenn auch verwittertes Gebäude aus den Zeiten der Medicis, von dem die Besitzerin, Signora Theresa Pellegrini, sich nur zwei Zimmer und eine düstere große Küche vorbehalten hatte, um alles Uebrige zu vermiethen, denn sie hatte des italienischen Erbübels, des Geizes, über und über genug. Frau von Tolstoi, die wir bei ihrem Taufnamen Josephine nennen wollen, hatte die hohen, weiten Gemächer nicht nach der heutigen Mode eingerichtet, sondern bei ihrer Ankunft, wo sie nur die kahlen Wände antraf, passende alte Meubles angekauft, die man damals verachtete und die deshalb leicht zu haben waren.

In ihrem schwarzen Kleide, das helle Antlitz von dunklen Locken umhangen, die großen braunen Augen mit den langen Wimpern nur halb geöffnet, gewährte sie dann freilich, eingerahmt von ihrer alterthümlichen Wohnung, ein melancholisches, geisterhaftes Bild. Wer diese Frau einmal in diesem Hause gesehen, vergaß sie nicht wieder. Ihr Kind war ein auffallend ruhiger, sanfter Knabe; Stunden lang konnte er zu den Füßen seiner Mutter mit irgend einer Kleinigkeit geräuschlos spielend sitzen. Er liebte sie, wie nur Söhne eine Mutter lieben, leidenschaftlich, und sie liebte ihn wieder so. Der Kleine, unser Held, hieß Michael, weil er am Tage des Erzengels geboren war und sein Vater gelobt hatte, ihm den Heiligen seines Geburtstags zum Patron zu geben, denn er bedurfte leider eines besondern Schutzes.

Wir wollen unsere Erzählung an einem Winterabend des Jahres 1830 beginnen lassen, denn von Michael's Kindheit und erster Jugend läßt sich wenig berichten bei seiner und seiner Mutter einförmiger und zurückgezogener Lebensweise.

Michael war jetzt neunzehn Jahre alt; er war unleugbar, was die Welt einen wohlerzogenen jungen Mann nennt; aber eigentlich hatte seine Erziehung gar nichts getaugt, aus dem einfachen Grunde, weil einzig und allein eine Frau sie geleitet. Michael, immer in Gesellschaft seiner Mutter, war verweichlicht und verwöhnt in einem unerträglichen Grade. Seine Lehrer, die ihn nur in ihrer Gegenwart unterrichteten, hatten nur für die Ausbildung seiner Kenntnisse, aber nicht für die Entwickelung seines Charakters wirken können.

Seine Mutter war, wie schon gesagt, eine geborene Französin. Die Franzosen sind aber gewiß, trotz ihrer Tapferkeit, das frauenhafteste Volk der Erde, und die Frauen im Allgemeinen deshalb noch kleinlicher und weibischer, als die jeder andern Nation. Darum sind die Franzosen die besten Putzarbeiter und die besten Domestiken, denn dienen und gut dienen ist ja eine Haupteigenschaft der Frauen. Sonderbarerweise findet sich aber auch bei einzelnen Französinnen eine so männliche Sicherheit und ein so unabhängiger Welttakt, daß es ist, als habe das Schicksal den einzelnen Frauen vergüten wollen, was es ihnen im Allgemeinen versagt, einfache großartige Lebensansicht und Erhabensein über äußerliche Nichtigkeiten. – Frau von Tolstoi war zu solchen Charakteren nicht zu rechnen; obwol sie sich höchst einfach kleidete, so war sie doch zu sehr Französin, um es nicht geradezu als ein Unglück zu betrachten, einen Hut, den sie vorigen Winter aus Paris erhalten, jetzt noch einmal aufsetzen zu müssen. Ueber das Muster einer Stickerei konnte sie drei Tage lang großen Rath mit ihrem Sohne pflegen; der Wechsel einer Zimmereinrichtung konnte zwei Wochen lang ihren Geist in die anstrengendste Thätigkeit versetzen, und die Wahl einer Mütze für Michael war eine Haupt- und Staatsaction.

Diese kleinliche Seite ihres Charakters, wie der meisten Frauen, war aber nur ihrer nächsten Umgebung sichtbar; für den Fremden hatte Alles, was sie that, auch das Mühsamste, Durchdachteste, den Schein des liebenswürdigsten Zufalls? da ein wahrhaft guter Geschmack sie leitete. – Wie ihre einfache Kleidung immer aussah, als sei sie gedankenlos so anmuthig angelegt, und Niemand bei ihrem Anblick ahnte, daß sie jeden Morgen zwei volle Stunden zu ihrer Toilette verwandte, ebenso war es auch mit ihrem ganzen Benehmen, das, ein Ergebniß der sorgfältigsten Ueberlegung, doch für Jeden den Schein des unbekümmerten melancholischen Sichgehenlassens hatte.

Michael hatte natürlich nicht immer bei seiner Mutter sein können, ohne ihre rücksichtsvolle Verehrung für den Lappalienkram des Lebens zu theilen. Obgleich sein Herz gut und wohlwollend war, schmerzte es doch seine Eitelkeit aufs tiefste, mit dem jungen Paolo Baniero, den seine Großmutter immer so schlecht kleidete, über die Straße gehen zu müssen. Paolo Baniero war der Enkel der Hausfrau und nur um einige Monate älter als Michael, sah aber wenigstens um sechs Jahre älter aus. Ueberhaupt waren die beiden Jünglinge scharfe Contraste, äußerlich wie innerlich: Michael blond, mit feinen Gesichtszügen und vom raschen Wachsen bleich und schmächtig; Paolo dunkelhaarig, schwarzäugig, mit glühenden Wangen und einer gedrungenen kräftigen Gestalt, der es jedoch nicht an südlicher Grazie fehlte. Seine Kleidung war freilich immer schlecht gewählt und von groben Stoffen; aber in den Augen seiner schönen Landsmänninnen schadete ihm das nicht. Die Italienerinnen machen eine sorgfältige Toilette bei ihrem Liebhaber nicht zur Bedingung, und Paolo wußte deshalb in seinem neunzehnten Jahre schon mehr vom Leben, den Leidenschaften und den Frauen, als der unschuldige Michael in seinem ganzen Leben erfahren sollte. Josephine durchschaute mit weiblichem Scharfblick diese Seite Paolo's, und gerade deshalb war es ihr lieb, daß ihr Sohn sich nicht so stark von ihm angezogen fühlte, wie es bei seinem vereinsamten, farblosen Leben, dem lebhaften, leidenschaftlichen Hausgenossen gegenüber, wol begreiflich gewesen wäre.

Es war also, wie gesagt, an einem Februarabend des Jahres 1830, als Frau von Tolstoi mit ihrem Sohne, wie immer allein, in ihrem kleinen Cabinet saß, das ein Kamin nur nothdürftig erwärmte. Josephine, gegen Kälte empfindlich wie alle Französinnen, hatte sich deshalb in einen Pelzüberwurf gehüllt, der ihre elegante Gestalt ganz malerisch machte. Ihr feines, immer noch schönes Gesicht umhüllte ein schwarzes Sammethäubchen von eigenthümlichem Schnitt; sie sah darin aus wie Maria Stuart. Sie war beschäftigt, einen Brief zu schreiben, während Michael ein paar Mosaikzeichnungen aus der Alhambra copirte, um sie für seine Mutter als Stickmuster zu verwenden. Er saß weit vorgebeugt; die blonden Locken fielen ihm über das zarte, dem seiner Mutter auffallend ähnliche Gesicht, und die dichten dunkeln Wimpern warfen einen tiefen Schatten auf seine Wangen, daß sie noch schmäler und blässer aussahen als gewöhnlich. Er hatte die seltene Schönheit dunkelblauer Augen, sowie dunkler Brauen und Wimpern bei lichtem blondem Haupthaar. Auch der kleine Schnurrbart, der jetzt zur großen Freude des Besitzers zum Vorschein kam, war dunkel und versprach seinen sanften, weichen Zügen einen männlichen Anstrich zu geben. Seine Mutter hielt schon eine Weile mit Schreiben inne und blickte mit liebender Besorgniß auf ihren schlanken Sohn.

»Michael«, sagte sie endlich, »versprich mir, diesen Sommer recht fleißig die Seebäder in Livorno zu gebrauchen. Der Arzt meint, sie thun dir gut.«

»Gewiß, Mutter. Aber ich kann mich ja noch gar nicht in den Gedanken finden, daß du dieses Frühjahr wieder nach Rußland gehst. Wie werde ich mich nach deiner Zurückkunft sehnen! Mir dünkt, als seist du erst voriges Jahr fortgewesen.«

»Und doch sind es volle fünf Jahre.«

»Sage mir, Mutter, wirst du mir endlich bei deiner Rückkehr entdecken, was diese Reisen immer nach dem bestimmten Zwischenraume von fünf Jahren bedeuten?Jetzt ist es schon das dritte mal, daß du mich hier mit Iwan allein läßt.«

»Wie oft muß ich dir sagen, Michael, daß ein russisches Landesgesetz uns verbietet, langer als auf fünf Jahre aus dem Reiche entfernt zu bleiben, wenn wir nicht die Confiscation unserer Güter gewärtigen wollen.«

»Wenn es Das nur wäre, Mutter, so könntest du mich ja mitnehmen.«

»Das könnte ich, wenn ich nicht für deine zarte Gesundheit jene weite, beschwerliche Reise fürchtete; und dann, Michael – ja, ich will es dir offen sagen, ich wünsche nicht, daß du Rußland betrittst; du sollst diesem Lande und diesem Volke ewig fern und fremd bleiben, wenn du auch einen seiner Namen trägst, wenn auch von seinem Blute in deinen Adern fließt. O wohl Dem, der nie Rußlands Boden betreten!«

»Ich habe es dir ja schon oft versprochen, daß ich nie hingehen, sondern später dein Vaterland, das schöne Frankreich, als das meinige betrachten will, obgleich es unter den Russen gewiß doch auch gute und edle Menschen gibt; meinen eigenen Vater zum Beispiel.«

»Ja, der war ein Engel, Michael, wahrhaftig, ein Engel!«

»Wenn ich nur wüßte, wie er gestorben ist!« sagte der Jüngling halblaut, wie für sich, denn er wagte es nicht, diese Frage an seine Mutter zum hundertsten male vergebens zu richten. Auch jetzt antwortete sie nicht darauf, obgleich sie seine Worte wohl vernommen. Sie erhob sich rasch, trat an das dunkle Fenster und wischte dort ein paar schwere Thränen aus ihren großen Augen. Michael sah ihre Bewegungen und bereute es, die Mutter wieder schmerzlich berührt zu haben; aber das dunkle Geheimniß, das für ihn seinen Vater umhüllte, war ihm zu peinlich. Er wußte beinahe nichts von ihm als seinen Namen, und dann aus Josephinens halben Worten, daß er ein edler Mann gewesen; das war aber auch Alles. Auch aus Iwan, dem alten Diener, war nichts herauszubringen. Die übrige Dienerschaft hatte man aus der Krim kommen lassen; es waren lauter Leibeigene von einem der Güter, und sie wußten gar nichts, als daß ihre Herrschaft Tolstoi hieß.

»Mutter, wann willst du gehen?« fragte Michael endlich, um die beklommene Stille zu unterbrechen.

»Zu Anfang Mai; denn vor Ende Mai kann ich das petersburger Klima nicht vertragen. Ich würde selbst so früh nicht gehen, wenn ich nicht diesmal mich länger als gewöhnlich in Rußland aufhalten müßte. Vielleicht bringe ich mir von dort eine junge Gesellschafterin mit.«

»Wen, Mama?« fragte der Jüngling neugierig, den Bleistift aus der Hand legend.

»Ein junges Mädchen, das ich im Smolnakloster erziehen ließ, eine entfernte Verwandte deiner Familie, deren Vater gegen die Tscherkessen fiel, und die ich seit ihrem fünften Jahre in die Pension gethan. Sie war ein vielversprechendes Kind; ich habe große Hoffnungen auf sie gesetzt, die mir auch bei meiner jedesmaligen Anwesenheit in Petersburg sich zu erfüllen schienen.«

»Ist sie hübsch?«

»Sie war ein wunderschönes Kind.«

»Wie alt ist sie? Wie heißt sie?«

»Feodora; sie ist drei Jahre jünger als du; sechzehn jetzt.«

»Ja, Mama, bringe sie mit. Sie wird dich zerstreuen, dir Unterhaltung bieten während meiner Studienzeit, und wenn ich später auf Reisen gehe, dir eine angenehme Gesellschaft sein.«

»Wir wollen sehen«, sagte Josephine trocken. Sie liebte es nicht, daß Michael irgend einen Wunsch zu heftig äußerte, obgleich es ihrem Herzen «schwer wurde, ihm Etwas abzuschlagen; aber sie leitete ihn mit einer gewissen Autorität, und bisher war sie es immer gewesen, die den Anstoß selbst zu seinen Wünschen und Gedanken gegeben. Mit großer Selbstzuversicht wollte sie seinem Geschmack, seinen Gedanken, selbst seinem Geschick die Richtung geben, und bis jetzt war ihr dies auch ziemlich gelungen. Michael war ein vollkommenes Muttersöhnchen. Empfindsam, reizbar, eitel und oberflächlich in Bildung und Ansichten; denn die Liebe der Mutter, so groß sie gewesen, hatte nicht vermocht, in ihm reifen zu machen, was die Grundlage jeder edlern männlichen Existenz werden muß – den Charakter. Durch diesen ihrem Sohne eine Garantie für die Richtung seines Geschicks zu geben, daran dachte Frau von Tolstoi nicht.

*

2. Petersburg.

Wir sind im Smolnakloster, dessen blaue, reich mit goldenen Sternen besäete Kuppeln weit in die ungeheuere Stadt Peter's des Großen hineinleuchten. Wir sind im Innern unter einer Schar blühender Mädchen, der Zöglinge dieses unter dem Schutze der Kaiserin stehenden Erziehungshauses. Es ist heute der Vorabend der alljährlichen Prüfung im Winterpalaste. Alle sind in Aufregung; die fünfjährigen wie die fünfzehnjährigen Herzen schlagen im schnellsten Tempo, und bunte, fabelhafte Träume umgaukeln heute Nacht die Schlafstätten dieser Kinder. – Kinder sind sie, aber nicht mehr in dem Sinne, wie sie es sein sollten; es ist keine Freude für den Menschenfreund in diesen jugendlichen Herzen zu lesen.

Die Generalprobe war vorüber; ein großes Ballet hatte den Beschluß gemacht, und mit hochglühenden Wangen eilten die jungen Tänzerinnen auf ihre Zimmer, um sich umzukleiden, allen voran ein sehr schönes fünfzehn- bis sechzehnjähriges Mädchen, das man verschiedene male mit dem Namen Feodora angerufen. Sie schien nicht darauf zu achten; ihre wunderbaren blauen Augen glühten im natürlichen Feuer, ihre zarte elfenhafte Gestalt hob sich wie von der Luft getragen. Sie eilte in das Schlafzimmer und barg, als ihre Gespielinnen ihr nachfolgten, mit zorniger Hast ihr schönes heißes Gesicht in die Kissen ihres Lagers und blieb so kniend beinahe eine Viertelstunde liegen. Ein sanfter Schlag auf die Schulter weckte sie aus ihren Träumen. Sie fuhr hastig mit dem Kopf herum; aber der unfreundliche Ausdruck, der im ersten Augenblick ihre Züge entstellte, machte sogleich einem freundlichen Lächeln Platz, als sie die junge Mahnerin erkannte. Diese war nicht schön, blaß, schmal und kränklich; aber ein Ausdruck unendlicher Güte lag in ihren matten hellgrauen Augen und erhellte ihr ganzes Gesicht. Sie hieß Kathinka und war die Tochter des Fürsten Uwanoff.

»Was hast du, Feodora?« sagte sie mit sanfter Stimme, »warum vergräbst du seit einer Viertelstunde dein liebes glühendes Gesicht in die heißen Kissen? Ich stehe die ganze Zeit über hier und warte auf dich. Nun hat es mir aber zu lange gedauert; komm mit mir zum Nachtessen.«

»Du weißt ja, was mich peinigt«, sagte Feodora sich langsam erhebend: »die furchtbare Angst, den ersten Preis nicht zu erhalten. Wenn morgen Abend um diese Zeit die goldene Chiffre der Kaiserin nicht an meiner Brust steckt, so bin ich des Todes! Du wirst sehen, Kathinka, ich überlebe es nicht!«

»Feodora, Feodora! Wie ist es möglich, diese Auszeichnung so heftig zu begehren, da du weißt, wie wenig Aussicht für dich dazu vorhanden ist! Freilich sind deine Stundenzeugnisse die besten, du tanzest am schönsten, deine Stimme ist die reinste, glockenhellste, aber – aber du gehörst nicht zu den Familien, die man zu begünstigen und zu verbinden wünscht; deine Auszeichnung würde unserer Vorsteherin, auf deren Empfehlung bei der Kaiserin es doch hauptsächlich ankommt, nichts einbringen, als höchstens ein höfliches Briefchen von deiner Pflegemutter aus Florenz, während andere –«

»Ich weiß, was du sagen willst. Ich bin nichts im Vergleich mit euch, und wenn ich auch zehn mal den ersten Preis verdiene, so wird er mir nie zu Theil werden, weil ich nicht die Tochter eines Fürsten oder die Nichte einer Hofdame bin. Und doch verlangt jede Fiber meines Herzens danach, und doch sterbe ich, wenn ich ihn diesmal nicht erhalte – das letzte mal, wo ich seiner Vertheilung beiwohne; denn Frau von Tolstoi hat mir geschrieben, sie werde mich wahrscheinlich im Laufe der nächsten Monate von hier entfernen.«

»Denkst du noch daran, Feodora, daß ich dich schon längst gebeten, dann künftig bei mir zu wohnen? Frau von Tolstoi wird dir gewiß die Erlaubniß gewähren, wenigstens für einige Monate.«

»Bei dir leben, Kathinka? Und in welcher Eigenschaft?«

»In welcher andern, als in der meiner Freundin!«

»Nein, Kathinka«, sagte Feodora, indem sie stolz und kalt mit dem Kopfe schüttelte, »nein, das würde sich nicht schicken. Hier bin ich deine Freundin; in deinem Hause würde ich nur deine Gesellschafterin, deine erste Dienerin sein. Die Welt wenigstens, wenn auch du nicht, würde mich als solche behandeln, und das würde ich nicht ertragen, das fühle ich.«

Eben wollte Kathinka Etwas in ihrer sanften Weise erwidern, als eine Unterlehrerin eintrat und die beiden Zurückgebliebenen zum Essen holte, welches auf gedeckten Tischen durch eine Maschinerie aus dem Parquetboden des Speisesaals in die Höhe stieg und dessen Ueberreste dann ebenso geheimnißvoll und geräuschlos wieder verschwanden. Die Zöglinge hörten eben nur das leise Klirren der Schüsseln, wenn die Soldaten, die alle Tage compagnieweise zum Kochen und Aufspülen commandirt wurden, ihr Werk verrichteten. Russische Soldaten sind zu Vielerlei zu gebrauchen; sie sind gelehrig, und wenn sie es nicht sind, so fehlt es nicht an Mitteln, sie dazu zu machen.

Am folgenden Tage standen die geschmückten Zöglinge des Smolnaklosters in einem der Säle des Winterpalastes; tief im Hintergrunde Feodora, mit todtbleichen Wangen. Ihre dunkeln glänzenden Haare lagen glatt gescheitelt um ihren schönen Kopf; ihre düstern Blicke waren an den Boden geheftet, als die kaiserliche Familie, im glänzendsten Schmuck, wie immer, durch die geöffneten Flügelthüren eintrat. Die Kaiserin, umgeben von ihren blühenden Kindern, war, trotz ihrer Kränklichkeit, eine blendende Erscheinung, denn wer wie sie die Kunst der Toilette versteht, bei dem lassen Leiden und Schmerzen wenig sichtbare Spuren zurück.

Nachdem der Hof Platz genommen, machte ein Klavierconcert zu zwölf Händen auf drei Flügeln den Anfang. Sechs junge Mädchen, wovon drei noch auffallend zarte Kinder waren, nahmen Platz an den Instrumenten. Neben ihnen standen ihre Blattumwenderinnen, wozu man die drei schönsten Zöglinge ausgesucht. Am vordersten Flügel stand Feodora. Die Kaiserin, betroffen von ihrer großen Schönheit, fragte die Vorsteherin nach dem Namen ihres Vaters. Als er ihr genannt worden, sagte sie wie enttäuscht:

»Mir nicht bekannt.«

Das Klavierconcert war beendet; Alle traten zurück; nur Feodora und eine Klavierspielerin blieben im Vordergrund. Die erstere nahm ein Notenblatt und nach einer tiefen, langsamen Verbeugung begann sie die große Arie Rossini's: »Una voce poco fà.« Dieses unglückliche gemarterte Steckenpferd aller Anfängerinnen war offenbar auch für Feodora zu schwer; denn der Componist hat es gewiß nur für eine vollendete Sängerin geschrieben; aber ihre volle Glockenstimme, ihre reine Intonation ließen den Mangel an Gewandtheit, an dramatischer Färbung, an Virtuosenfertigkeit bei den Zuhörern vergessen. Alle starrten bewundernd und verwundert die schöne Sängerin an, deren Wangen sich in musikalischer Begeisterung oder im überwältigenden Ehrgeiz flammend entzündet hatten.

Nachdem noch mehre unbedeutende Stimmen sich hören lassen, kam ein Tanz, ein großes Ballet, an die Reihe. Zu unzähligen Figuren verschlangen sich die zarten Gestalten der Tänzerinnen, bis Alles sich in einen großen Kreis, anzuschauen wie ein mächtiger Blumenkranz, auflöste. Eine in blaue Gaze verschleierte sylphenhafte Gestalt trat mitten hinein. Der Schleier senkte sich langsam vom Antlitz; es war wieder Feodora, die beste Tänzerin im Smolnakloster.

Auffallend langsam und weich bewegte sich ihr schöner elastischer Körper. Jetzt spielte die Musik ein schnelleres Tempo. Rasch hob sie die Blicke und eilte vorwärts, wie von der Luft getragen, auf die Kaiserin zu. Dicht vor ihr ließ sie sich auf ein Knie nieder, und indem sie die Arme über die Brust kreuzte, wußte sie in ihre Haltung, in den Ausdruck ihrer Züge eine so unvergleichliche Demuth und Verehrung zu legen, daß die Kaiserin, diese in beiden Punkten gewiß verwöhnteste Frau der Welt, ihre Huldigung in so hohem Grade empfand, wie es wol Feodora selbst nicht gehofft. Die letztere erhob sich rasch und nun begann der eigentliche Tanz. Feodora glich darin einer Blume, die vom Winde hin und her geschaukelt wird, und zwar der schönsten Blume, bewegt vom lindesten, leisesten Zephyr. Sie entwickelte im höchsten Grade die seltene Grazie, die ihr die Natur verliehen.

Nachdem auch der Tanz beendigt war und die Kaiserin sich längere Zeit mit der Vorsteherin unterhalten hatte, wurde Feodora zu jener gerufen, und die Fürstin heftete unter freundlichen Worten ihre goldene Namenschiffre, den ersten Preis, auf die Brust der ehrgeizigen Waise. Den zweiten Preis, die Chiffre in Silber, erhielt Kathinka.

Bei der heutigen Prüfung hatten nicht Rücksichten, nicht Gnade, nicht Intriguen, nur die Schönheit und Grazie allein, den Sieg davongetragen. Das Verdienst – ja, wo das zu finden gewesen sein möchte, würden wir selbst in großer Verlegenheit sein, zu sagen. Wo ist das Verdienst überhaupt bei einer Anstalt, wo Alles nur auf äußern Glanz berechnet ist?

Am nächsten Morgen wurde Feodora zur Vorsteherin gerufen. Frau von Tolstoi saß neben ihr auf dem Sopha. Sie stand auf und schloß mit mütterlicher Liebe die überraschte Feodora in ihre Arme, die sie mit herzlichen Worten um ihre Talente und ihres Fleißes willen belobte, wovon ja die gestern erhaltene Auszeichnung der beste Beweis sei. Dann nahm Frau von Tolstoi das junge Mädchen mit in ihren Gasthof.

»Feodora«, sagte sie dort zu ihr, nachdem sie die Thüre ihres Zimmers verriegelt und verschlossen, »endlich ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich dir Begebenheiten, die dein und mein Leben betreffen, mittheilen kann. Du wirst nun bald dein sechzehntes Jahr erreicht haben, und so lange mußte ich die Enthüllungen verschieben, die dir erklären werden, weshalb ich von deiner frühesten Jugend solch warmen Antheil an dir genommen, obgleich du nur eine entfernte Verwandte meines Mannes bist. Die Vorsteherin des Smolnaklosters sagt mir, du seist für dein Alter ungewöhnlich besonnen und verständig; ich werde dir also ohne Rückhalt meine Lebensgeschichte mittheilen, was durchaus nothwendig ist, um dich über deine eigene Zukunft aufzuklären, worüber du ganz frei und selbständig entscheiden sollst. Vergiß ja nicht, daß Das, was ich für dich gethan, dich durchaus nicht verpflichtet, einen dir nicht genehmen Weg zu betreten. Du bist und bleibst immer deine eigene Herrin.«

Feodora sah sie mit einem großen Blicke an, neigte ein wenig das Haupt, entgegnete aber nichts, obgleich die größte Spannung auf ihren schönen Zügen zu lesen war.

»Ich bin eine Französin, wie du weißt«, begann Frau von Tolstoi, »die Tochter eines Regierungsbeamten in Marseille. Als ich siebzehn Jahre alt war, starb mein Vater; ich war die älteste von vier Geschwistern, und wir besaßen nur ein höchst unbedeutendes Vermögen, weshalb ich mich entschloß, Gouvernante zu werden. Ein russischer Agent in Marseille versprach mir eine solche Stelle in Rußland mit dreihundert Dukaten Gehalt. Da ich in keinem andern Lande auf eine so hohe Gage hoffen konnte, und um jeden Preis meine Geschwister unterstützen wollte, nahm ich den Antrag an und reiste ab. Ich wußte nichts als den Namen der Familie, in welche ich eintreten sollte, und der nun mein Name geworden ist.

Die Familie Tolstoi bewohnte ein Landgut, einige Werste näher als Moskau. Es war später Abend, als ich dort ankam, und man führte mich zu einer ältlichen Dame. Nachdem ich mich ihr genannt, eröffnete sie mir mit feierlich ernster Miene, daß es ihre Enkel, ein Knabe und ein Mädchen seien, wegen deren Erziehung man mich berufen.

›Sie haben eine doppelte Verantwortung‹, sagte sie mit strenger Betonung, ›da die Kinder mutterlos sind. Meine Schwiegertochter ist vor einem halben Jahre gestorben und mein Sohn kann sich wenig um die Erziehung seiner Kinder kümmern. Die Sorge dafür ist uns Beiden ausschließlich überlassen.‹

Ich freute mich nicht über diese Gemeinschaft, denn die alte Dame sah äußerst herb und stolz aus, und ich schien ihr vom ersten Augenblick an durchaus nicht zu gefallen; wahrscheinlich war ich ihr zu jung.

Die Kinder, die ich erst am andern Morgen zu sehen bekam, waren zwei kränkliche, verwöhnte Geschöpfe, deren zarte Herzen ich aber an mich zu fesseln hoffte. Bei der Mittagstafel sah ich den Herrn des Hauses. Er hatte noch das Ansehen eines achtzehnjährigen Jünglings, obgleich er schon sechsundzwanzig Jahre zählte. Er sagte nur ein paar freundliche Empfangsworte zu mir; aber so oft ich aufblickte, waren seine Augen auf mich gerichtet.

Du bist zu jung, Feodora, um eine ausführliche Beschreibung Dessen, was nun erfolgte, zu verstehen; es genügt daher, wenn ich dir sage, daß ich in Herrn von Tolstoi einen höchst ausgezeichneten Menschen kennen lernte. Seine Mutter, die bei seiner Geburt starb (Frau von Tolstoi war die zweite Frau seines verstorbenen Vaters), war eine Deutsche gewesen, und deutsch war sein ganzer Charakter, sowie auch sein Aeußeres keine Spur von Russenthum zeigte. Du kannst dir deshalb denken, daß, als er mir nach einigen Monaten seine Hand anbot, ich sie mit Freuden annahm. – Seine Mutter wurde wüthend, als er sie von seinem Entschlusse benachrichtigte, und dies erschreckte mich bei einer genauen Kenntniß seines Charakters um so mehr, da er mit den guten Eigenschaften der Deutschen, Ehrenhaftigkeit, Treue, Ernst und Gutmüthigkeit, auch Etwas von ihrer schwachen Seite, Mangel an Energie und Entschlossenheit verband. Statt zu handeln, wollte er abwarten, zusehen, an sich kommen lassen. Er würde auch wahrscheinlich unter diesen Umständen nie zu einem entscheidenden Schritt gekommen sein, wenn seine Mutter nicht durch die Heftigkeit ihres Benehmens eine Uebereilung begangen hätte, die zu meinen Gunsten ausschlug.

Sie reiste heimlich eines Morgens mit den Kindern ab, nachdem sie Beide unter einem Vorwande zu sich beschieden. Sie glaubte, ihr Sohn werde ihren Umgang und die Kinder nicht missen können. Sie hatte nie geliebt und wußte nicht, daß einem jungen Manne die Geliebte Alles ersetzen und vergessen machen kann. Tolstoi bestimmte nun den Hochzeitstag, aber von dem Augenblicke an, wo er mir diesen genannt, war er befangen und verstimmt. Ich bemerkte, daß er mir Etwas mittheilen wollte, wozu er aber nie den Muth fand. Endlich am Vorabend unserer Trauung kam er in höchster Beklommenheit zu mir. Er nahm zitternd meine Hand und erklärte, mir eine Mittheilung machen zu müssen. Was ich nun hören mußte, erschütterte mich im höchsten Grade. – Ich erfuhr von meinem Verlobten, daß seit langer Zeit alle männlichen Mitglieder seiner Familie um das dreißigste Jahr wahnsinnig geworden. Ihm selbst sei also nur noch eine Frist von drei Jahren gegeben; wolle ich diese mit ihm theilen und im vierten Jahre denken, er sei gestorben, so werde er im Glück der Gegenwart die schreckliche Zukunft vergessen.

Ich hielt ihm natürlich mein Wort, denn ich liebte ihn mehr als mich, und durch das ihn bedrohende Unglück war er mir nur noch theurer geworden; aber ich war von nun an keinen Augenblick mehr glücklich, ja nur ruhig. Die entsetzliche Zukunft meines Mannes schwebte Tag und Nacht mir grausenerregend vor. Daß er dieser Zukunft nicht entgehen werde, sah ich nur zu gut an seinem täglich zunehmenden Trübsinn. Die körperliche Anlage zum Wahnsinn war kaum nothwendig, schon der Gedanke daran reichte bei der Weichheit seines Charakters, bei seiner brütenden Phantasie hin, ihn in ewige Nacht zu stürzen. Was ich litt, läßt sich nicht beschreiben. Als ich nach Verlauf von zwei Jahren einen Knaben gebar, ließ mich mein Mann mit den theuersten Eiden ihm schwören, dieses Kind, ehe noch seine Fassungskraft entwickelt sei, aus Rußland bringen zu wollen und ihm sorgfältig und auf ewig das gräßliche Familiengeheimniß zu verbergen. Dann bat er mich noch, ihn selbst, wenn sich sein grausames Schicksal erfüllt habe, alle fünf Jahre, solange er lebe, zu besuchen, ›damit nicht alle guten Geister auf ewig von mir weichen‹, sagte er mit Thränen in den Augen.

Ich habe mein Versprechen gehalten; seit seinem vierten Jahre ist mein Kind in Florenz und ahnt nichts von dem Unglück seines Vaters; es hält ihn für todt. Ich aber reise alle fünf Jahre zu meinem unglücklichen geliebten Manne.«

»Und wie trennten Sie sich?« fragte Feodora.

»Das war fürchterlich«, erwiderte Frau von Tolstoi; »fürchterlicher für mich, als ihn jetzt zu sehen, wo doch sein Geist in tiefer rettungsloser Nacht liegt, während er bei unserer Trennung noch bei voller Besinnung war. Er hatte alle seine Angelegenheiten geordnet, als gehe er dem leiblichen Tode entgegen. Er hatte sein ganzes Besitzthum in vier gleiche Theile getheilt; zwei für die Kinder erster Ehe, zwei für Michael und mich. Wir Beiden sollten unser Vermögen in Banknoten von einem Wechsler in Berlin ausbezahlt erhalten, während es seinen ältern Kindern in Gütern zugetheilt war. Für sich selbst behielt er nur eine kleine Rente, hinreichend, um ihn in einem Irrenhause, das er selbst bestimmte, zu versorgen. Er drang nun in mich, abzureisen, weil er den herannahenden Wahnsinn fühlte. Ich konnte mich nicht entschließen, ihn zu verlassen; aber nun zeigte er sich mir gegenüber zum ersten mal als Herr und verlangte gebieterisch meine Entfernung. Wahrscheinlich wollte er nicht, daß ich bei dem schrecklichen Uebergange, den er voraussah, gegenwärtig sein sollte, während mein Besuch einige Jahre später ihm im Gegentheil ein tröstlicher Gedanke war. Er schrieb selbst an den Arzt des Irrenhauses in Moskau, dem er sich anvertrauen wollte. Jemanden zu sehen, der sein eigenes Leichenbegängniß anordnet, kann keinen so schauerlichen Eindruck machen, wie mein über alle Begriffe beklagenswerther Gemahl in diesem Augenblicke. Als ich, selbst seinem Zorne trotzend, ihn immer noch nicht verlassen wollte, reiste er selbst in der Nacht nach Moskau ab. Wir waren damals drei und ein halbes Jahr verheirathet. Ich mußte bald nach ihm Rußland verlassen, denn ohne Tolstoi's Schutz vermochte ich den feindlichen Planen seiner Familie nicht zu widerstehen, die, an der Spitze seine Stiefmutter, gegen mich mit den ernstlichsten Verfolgungen auftrat.

Als ich sammt meinem Sohne nach Berlin und zu dem mir bezeichneten Wechsler kam, erfuhr ich, daß eine Frau von Tolstoi auch hier Schwierigkeiten bereitet. Sie hatte durch einen Agenten meine eheliche Verbindung mit ihrem Sohne in Abrede gestellt, und mich als eine gemeine Betrügerin bezeichnet. Aber Tolstoi, der trotz seines Unglücks all die Verfolgungen vorausgesehen, hatte mit bewunderungswürdiger Vorsicht Allem vorgebeugt. Er hatte mir einen Trauschein und einen Taufschein seines Sohnes eingehändigt, sowie auch den Bankier vor den Machinationen seiner Verwandten gewarnt. Dieser zahlte mir deshalb ohne Widerrede die festgesetzten Summen aus und unterstützte mich noch außerdem durch Empfehlungsbriefe nach Florenz, wohin ich mich nach meines Gatten Wunsch begab, der an Alles für mich gedacht, ja mir sogar die Dienerschaft ausgesucht hatte, die mich begleiten sollte. Seinem treuesten Diener Iwan band er sein Kind, meinen Michael, auf die Seele, und jener schwur, ihn nie zu verlassen; seiner treuen, erprobten Sorge ist auch eben mein höchstes Gut mit Zuversicht anvertraut.

Während des letzten Jahres, das ich vereint mit meinem unglücklichen Gatten zubrachte, wurdest du als eine älternlose Waise in unser Haus gebracht. Tolstoi, obgleich nur dein entfernter Vetter, beschloß, da alle übrigen Verwandten nichts für dich thun wollten, wie ein Vater für dich zu sorgen, und ließ dich ins Smolnakloster bringen. Ich habe in Florenz oft an dich gedacht, Feodora, und auf deine kindliche Liebe, die du mir stets ausgesprochen, einen Plan, vielleicht einen voreiligen Plan, gebaut.

Du kannst dir denken, daß der einzige Zweck meines Lebens das Glück Michael's und die Erhaltung seiner gesunden Vernunft ist. Er darf nicht in die Fußstapfen seiner Vorfahren treten, ja, er darf nie ihr Schicksal ahnen. Sein Glück kann am ersten, am festesten begründet werden durch eine frühe Heirath, die seinem Herzen entspricht, das ja noch unverdorben ist, wie das einer Jungfrau. Seine Gattin muß deshalb auch ein ganz reines Geschöpf sein, jung und unverdorben wie er selbst. Sie muß ihn mit der zärtlichsten Liebe umgeben, ihren Willen dem seinigen unterordnen und in ihm das Bewußtsein einer gesicherten, ruhigen, männlichen Existenz wecken, damit er, wenn er in jenes verhängnißvolle Alter tritt, eine durch Glück und Ruhe gestählte Natur sei, kräftig genug, um eine körperliche Krankheitsanlage zu überwinden. – So glaube ich nach langer reiflicher Ueberlegung meinen Sohn am sichersten in geistiger Kraft zu erhalten; glücklich und ahnungslos kann er vielleicht jene böse Zeit überstehen; ich hoffe und glaube, meinen Plan gelingen zu sehen.«

Frau von Tolstoi schwieg. Gespannt sah ihr Feodora in das Gesicht und ihre Züge nahmen einen Ausdruck erwartungsvoller Hast an, der ihrer Schönheit nicht vortheilhaft war. Endlich sagte sie mit leiser, aber doch sicherer Stimme:

»Haben Sie schon eine Gemahlin für Ihren Sohn gewählt?«

»Ja, dich, Feodora – willst du?«

Feodora gab keine Antwort. Sie fühlte schon in diesem ersten Augenblicke, daß ihre Abhängigkeit von Josephinen nicht mehr bestand. In einem Nu übersah das frühreife Mädchen alle Vortheile ihrer neuen Lage. Sie wußte, daß sie der Frau von Tolstoi nicht mehr als Empfangende, sondern als Gewährende gegenüber stand.

»Feodora, so sprich doch, willst du meinem Michael, dessen junges Herz dir gewiß bald gehören wird, dich vermählen, und ihn und mich glücklich machen, und in diesem Gefühle es selbst sein?«

»Lassen Sie mir Zeit, theure Mutter; heute Nachmittag bringe ich Ihnen meine Antwort; denn jetzt bin ich von Dem, was Sie mir gesagt, ganz verwirrt.«

Sie verbeugte sich langsam, ohne, wie gewöhnlich, beim Abschied die Hand ihrer Wohlthäterin zu küssen. Josephine war zu sehr Französin, um das nicht zu bemerken, aber sie schrieb es einer leicht erklärlichen Gemüthsbewegung zu. Und dennoch ließ Feodora's Benehmen bei ihr eine Bangigkeit zurück, die sie nicht bewältigen konnte. Feodora hatte sich ganz anders benommen, als sie erwartet; Josephine war deshalb verwundert und erschrocken, jedoch ohne das junge Mädchen zu durchschauen, für deren ehrgeizigen, überlegten Charakter sie keinen Schlüssel hatte. Sie ahnte nicht, daß die Waise vom ersten Augenblick an, wo sie Frau von Tolstoi's Wünsche errieth, fest entschlossen gewesen, Michael's Gemahlin zu werden, und daß nur die Absicht, ihrem Jawort einen höhern Werth zu verleihen, sie veranlaßt hatte, den Ausspruch aufzuschieben. Es gibt Menschen, die keine Macht auch nur einen Augenblick in Händen halten, ohne sie im vollsten Umfange zu benutzen, und Feodora gehörte zu diesen, trotz ihrer zarten Jugend und ihrer Unkenntniß der Welt und der Gesellschaft.

*

3. Das Irrenhaus.

In einem der ältesten Stadttheile Moskaus, der den Kreml umgibt und Kitaigorod genannt wird, und zwar in einer seiner engsten Straßen, liegt ein hohes hölzernes Haus, das beim Brande von 1812 verschont geblieben. Es soll, nachdem die Polen im Jahre 1668 die Stadt zum zweiten male erobert und verbrannt, erbaut worden sein; denn die Zeitrechnung der Einwohner Moskaus zählt nur nach Bränden. Seit 1383, wo die Mongolen sie gänzlich zerstörten, bis 1812 wurde der reichen Hauptstadt vom Schicksale nur immer so lange Ruhe gegönnt, bis sie wieder in voller Blüte sich entfaltet hatte, um dann desto empfindlicher durch eine zermalmende Katastrophe gebeugt zu werden. Wer wird ihr nächster Feind und Zerstörer sein? Wer wird einen Schlag noch wagen, gegen die Hauptstadt des Reichs, bei dessen Nennung schon die kleinen Kinder mit dem Kopfe unter die Decke fahren und von langen Bärten und Knutenhieben träumen, und das die großen Kinder sich wie ein ungeheures Spinnennetz vorstellen, in dessen Mitte die ewig aufmerksame Räuberin sitzt, um jede in ihren Bereich gekommene Fliege zu fangen und zu tödten? Wahrlich, der beste Bundesgenosse Rußlands ist die Furcht, die es einflößt.

Doch zurück nach Moskau, trotz aller Furcht. In dem genannten alten Hause hatte der deutsche Arzt, dem sich Herr von Tolstoi anvertraut, eine Irrenanstalt eingerichtet. Fünfzig einzelne Zimmer bargen die Unglücklichen vor der Welt, die sie als ihre Feinde behandelte. An das Haus grenzte ein kleiner Garten, in dem sich einige male des Tages die Irren trafen. Eine von ihnen war der entschiedene Liebling Aller. Es war eine junge Liefländerin, die auf dem Lande als Gesellschafterin einer Fürstin die Bekanntschaft eines russischen Großen gemacht, der sie um ihre Liebe betrogen. Als sie dann lange keine Nachricht vom Geliebten erhalten, reiste sie nach Petersburg, wo er sich aufhielt. Sie sah ihn dort über die Straße fahren mit einer reichen vornehmen Braut. Diese ganz gewöhnliche Begebenheit, auf die ein älternloses armes Mädchen immerhin gefaßt sein sollte, wenn sie ihr Herz einem Vornehmern, Reichern schenkt, vermochte die sonst so vernünftige Anna nicht zu begreifen. Sie grübelte darüber fortwährend nach und verlor zuletzt den Verstand darüber; aber ihre Anmuth, ihre rührende Kindlichkeit verlor sie nicht. Nur hatten ihre schönen blauen Augen nicht mehr den hellen Glanz, ihre zarten Wangen nicht mehr die frische Farbe. Wenn sie im ummauerten Garten des Irrenhauses saß, strömten unaufhörlich kleine finnische Lieder von ihren Lippen. Die melancholischen Worte und Melodien dieser Lieder paßten vollkommen zu Anna's schönem trauernden Gesicht.

Josephine Tolstoi war kaum in Moskau aus ihrem Reisewagen gestiegen, als sie sich in einen andern Wagen warf, um zu Doctor Murrhard zu fahren. Mit freundlicher Miene empfing der Arzt die zitternde Frau.

»Wie geht es?« mehr vermochte ihre bebende Zunge nicht zu stammeln.

»Gut, wie ich Ihnen zuletzt schrieb. Wenn auch nicht genesen, ist er doch besser als früher, und das will viel sagen.«

»Nach achtzehn Jahren wenig«, versetzte Josephine mit einem tiefen Seufzer.«

»Herr von Tolstoi ist im Garten; wollen Sie nicht zu ihm gehen?«

Der Arzt bot ihr den Arm, und die arme Frau bedurfte auch einer Stütze zu diesem Gange. An der Thüre blieben sie stehen und betrachteten eine Gruppe, die sich ihnen näherte. Ein noch jugendlich aussehender Mann von auffallend einnehmenden Gesichtszügen führte an der Hand ein zartes jungfräuliches Wesen, das ganz in Weiß gekleidet war. Sein edles Gesicht stach auffallend gegen die Physiognomien aller übrigen Männer ab, denn ihm fehlte, was Alle charakterisirte, der russische Typus. Josephine hatte ihn auf den ersten Blick erkannt; es war ihr Gemahl.

Er bemerkte jetzt den Doctor und ging freundlich auf ihn zu. Als seine Stimme bei der einfachen russischen Begrüßung hörbar ward, brach seine Frau in helles Weinen aus.

»Wer ist diese Frau?« fragte er teilnehmend.

»Es ist die Ihre.«

»Die meine? Also gehört sie mir? Dann Annuschka –« er wandte sich an seine Begleiterin – »dann schenke ich sie dir. Sie wird dann glücklich sein; ich habe alle meine Seelen weggegeben, mehr als zehntausend; ich begreife nicht, wo diese noch herkommt. Ja, sogar meine eigene Seele habe ich verschenkt; du kennst die traurige Geschichte, Annuschka. Diese da aber gebe ich dir, dir allein, da wird sie froh und glücklich werden, die arme Seele.«

Anna sah ihn mild lächelnd an. Sie neigte sich zu Josephinen und wollte ihre Hand ergreifen, diese aber riß sich laut schluchzend los und enteilte dem Garten und dem Hause. Die Irren aber umringten alle die Liefländerin, die auf ihr Bitten mit ihrer sanften zwitschernden Nachtigallenstimme eines ihrer schönsten Liedchen sang, und Alexander Tolstoi saß zu ihren Füßen und sah beseligt in das Antlitz, das der Stern seiner öden, trostlosen Nacht geworden und sie mit mildem, wenn auch verschleiertem Glanze erhellte.

Der Arzt schrieb am andern Tage an Josephinen:

»Glauben Sie mir, Ihr Gemahl ist jetzt glücklich, vielleicht glücklicher, als wir Alle. Er lebt ein friedliches, traumartiges Dasein, vereint mit einem Wesen, dessen reine, geisterhafte Zuneigung ihm ebenso gehört, wie ihr die seine. Wenn ich die Beiden Tag um Tag, Hand in Hand, freundlich lächelnd den Garten durchschreiten sehe, in ehrerbietiger Entfernung gefolgt von den übrigen unreinen Geistern, von denen sie geehrt werden, wie ihr König und ihre Königin, so ist es mir oft, als seien sie schon selige Geister, deren Seelen uns Andern vorausgeeilt, indem sie alle Pein der Welt sammt der Erinnerung weit hinter sich zurückgelassen, keine andere Empfindung mehr kennend, als in engelhafter Zuneigung Eins im Andern zu leben. – Trösten Sie sich, er ist gewiß glücklich, und was erstreben wir denn mehr für unsere Lieben?«

Josephine aber tröstete sich nicht. Sie hatte einen neuen Schmerz, den bittersten, kennen gelernt, sie war eifersüchtig, eifersüchtig auf eine Wahnsinnige!

»Wäre ich bei ihm geblieben«, jammerte sie, »trotz allen seinen Befehlen und Warnungen, so hätte er mich, nur mich allein geliebt!«

An ihren Sohn, der sonst ihre ganze Seele ausfüllte, dachte die unglückliche Frau in diesem Augenblick nicht. Der Anblick ihres Gemahls, der wie in neuerwachter Jugendschöne vor ihr gestanden, hatte die einzige Leidenschaft ihres einsamen Lebens wieder in voller Stärke wach gerufen. In der nächsten Nacht aber reiste sie zurück nach Petersburg, um Feodora mitzunehmen, die sie im Hause Kathinka's zurückgelassen. Von ihrer Gesellschaft hoffte sie Zerstreuung, von ihrer Liebe Trost, von ihrer Aufopferung Glück für ihr einziges Kind und sich. Sie glaubte, Feodora sei wie sie. Wehe ihr, daß sie das glaubte!

*

4. Plane und Vorkehrungen.

Es ist ein alter Satz, daß die Menschen nichts mehr lieben, als ihre eigenen Plane und ihre eigenen Kinder, selbst die größten Egoisten haben dafür ein Herz, wie viel mehr eine Frau, die im Stande ist, sich selber über Fremdes ganz zu vergessen und aus den Augen zu verlieren. Auch Josephine wurde durch ihre Projecte von den schmerzlichen Erinnerungen an ihren Gemahl abgezogen. Sobald sie Feodora sah, stand auch Michael und die Sorge um seine Zukunft wieder fest in ihren Gedanken, und unverrückbar hielt sie nun ihre Plane vor Augen. Sie hoffte, ja sie erwartete davon mit Zuversicht die Rettung ihres Kindes von einem gräßlichen Geschicke.

Josephine hatte gehofft, daß während der Reise nach Florenz das enge Zusammensein im Innern eines Wagens ein vertrautes Verhältniß zwischen ihr und Feodora, wie zwischen Mutter und Tochter, von selbst herbeiführen werde. Dies geschah aber nicht; das junge Mädchen blieb verschlossen, ja selbst ihre natürliche Lebhaftigkeit kam während der ganzen Reise nicht zum Vorschein, sodaß Josephine, die von ihrem muntern freundlichen Benehmen gehört, ganz irre an ihr wurde. Und doch legte sie zuletzt diese Zurückhaltung ganz zu Gunsten Feodora's aus; sie glaubte, der Gedanke an ihre künftige Bestimmung, die erste Ahnung einer nahenden Liebe, das Bangen vor einer großen Verantwortung, die man in ihre Hände gelegt, mache sie so ernst und beklommen.

Je näher die Frauen Florenz kamen, desto mittheilender und feuriger wurde Josephine, desto einsilbiger Feodora. Es war an einem warmen schönen Septemberabend und bereits ganz dunkel, als Frau von Tolstoi's schwerer Reisewagen vor ihre alterthümliche Wohnung rollte. An der Hausthür stand Iwan, in jeder Hand ein Licht, und hinter ihm wie verklärt vom grellen Scheine Michael, zitternd vor Erwartung und Freude. In einem Nu war die Mutter aus dem Wagen, der Sohn aus dem Hause. Laut jubelnd umschlossen sie sich, und Keines wollte das Andere zuerst lassen. – Feodora blieb, eine aufmerksame Zuschauerin, still im Wagen sitzen. Endlich erinnerte sich Josephine an sie.

»Iwan, hilf dem Fräulein aussteigen. Michael, ich habe Jemand mitgebracht, meine Pflegetochter Feodora!«

Michael schob den Diener auf die Seite und reichte, die blauen Augen so weit als möglich neugierig öffnend, die Hand in den Wagen. Zwei zierliche Finger legten sich zwischen die seinen, dann erschien am Schlag ein Köpfchen, bedeckt und verhüllt mit einem Hut und einem doppelten grünen Schleier. Leichtfüßig folgte die ganze Gestalt nach und war im Hause verschwunden, ehe Michael nur das Mindeste von ihren Zügen gesehen. Er sah ihr verwundert nach, während seine Mutter ihren Arm auf den seinen legte, nachdem sie Iwan befohlen, dem Fräulein ihr Zimmer anzuweisen.

Frau von Tolstoi hatte ihre Ankunft für heute angekündigt, und Michael, der das Rollen ihres Wagens kannte, war es deshalb auch möglich gewesen, sie unten zu empfangen. Als die Mutter jetzt Hut und Mantel ablegte, bemerkte er wohl, daß sie blässer und schmaler geworden; aber er sagte nichts, denn sie sah ja froh und glücklich aus. Er kniete auf ein Kissen zu ihren Füßen, er legte seinen blonden Kopf in ihren Schoos, und sagte mit dem Ton, den nur Josephine kannte:

»O, meine Mutter!«

Jeder Mensch, ich meine damit, jeder tiefere und höhere Mensch, hat einen Ton in seinem Organ, den wieder nur ein Mensch auf Erden von ihm hört. Das ist aber nicht immer der Mensch, den er am meisten liebt; es ist zuweilen der, von dem er sich am meisten geliebt fühlt und in diesem Gefühle ein seliges Genügen empfindet. Wehe dem Menschen, der diesen Ton nie anzuschlagen gewagt, der zu Grabe geht, ohne die Brust gefunden zu haben, deren verwandter Ton ihn der seinigen entlockt. Er entströmt nicht der Leidenschaft, nicht der glühendsten, nur der innigsten, vertrauendsten Liebe, und wohl dem Menschen, der ihn in seiner Jugend der Mutter gegenüber erklingen lassen; er kennt ihn und verhüllt ihn ruhig für das übrige Leben, sicher, daß er dort drüben wieder sein Echo findet.

Josephine hätte Feodora ganz vergessen; aber Michael dachte bald wieder an sie. Seine jugendliche Neugierde war gespannt auf die neue Hausgenossin. Da trat sie ein, so schön, wie selbst Josephine sich nicht erinnerte, sie je gesehen zu haben. Ihre unvergleichliche Schönheit wurde durch die Einfachheit ihrer Tracht nur gehoben. Ihre weiße glänzende Stirn über den dichtbewimperten prachtvollen Augen schien schweigend ein Diadem zu fodern. Josephine winkte ihr, sich neben sie zu setzen; aber Michael stand, ohne sich zu rühren, und verwandte kein Auge von dem Mädchen, das ihm erschien wie die Verkörperung alles Schönen und Hohen und Ausgezeichneten, was je bis jetzt in seiner kindischen, noch so kleinen Seele in halber Ahnung gedämmert. Seine erst halb ausgebildete Seele gehörte Feodora von diesem Augenblick an ganz und ungetheilt; er war von diesem Abend an ein Spielwerk in ihrer Hand.

Michael's Mutter war nicht erfreut, daß ihre Plane in diesem Grade in Erfüllung gegangen. Als sie ihn stumm und stier sich gegenüber sah, dumm und unbeholfen unter der Last der neuen Empfindung, und daneben den strahlenden, lächelnden, selbstbewußten Ausdruck in den Zügen der Russin wahrnahm, zog das Gefühl schmerzlicher Demüthigung durch ihr Mutterherz. »Wenn sie seine Frau ist, wird Alles gut sein«, sagte sie sich am Ende zum Trost. An Trost, an Entschuldigungsgründen und an guten Rathschlägen ist ja jeder Menschensinn so reich.

In den ersten Tagen blieb sich Michael, Feodoren gegenüber, gleich, das heißt, stumm, befangen und linkisch. Sie hatte den Wunsch ausgesprochen, einige berühmte Gemälde zu sehen; Michael drang in seine Mutter, sie hinführen zu dürfen; Josephine willigte gern ein und begleitete die beiden jungen Leute am folgenden Tage in den Palast Pitti. Feodora schlug Michael's angebotenen Arm aus, und ging ernst und tief verschleiert an Frau von Tolstoi's Seite über die Straße. Im Saale, wo die großen Meisterwerke zu sehen waren, schlug sie ihren Schleier zurück. Eine ziemliche Menschenmenge füllte den Saal, und wer sie sah, blieb erstaunt, mit dem Ausdruck der ungeheucheltsten Bewunderung stehen. Die Italiener sind ein feuriges, demonstratives Volk, und Feodoren blieb der Eindruck, den sie auf alle diese Menschen hervorbrachte, natürlich kein Geheimniß. Vor Allen drängte sich ein junger Mann auffallend in ihre Nähe; er verschlang sie beinahe mit den Augen, und legte seine Bewunderung überhaupt auf eine ziemlich unanständige Weise an den Tag. Michael maß ihn mit finstern Blicken, aber er hatte nur Augen für die schöne Fremde. Endlich stieß ihn Michael an; er fuhr rasch und zornlodernd herum.

»Ei, Michael, sind Sie es? Sehen Sie das schöne Mädchen! Haben Sie je etwas schöneres gesehen? Wer sie wol sein mag?«

»Sie ist die Pflegetochter meiner Mutter«, versetzte Michael mit einem schneidend kalten, hochmüthigen Ton, und wandte sich von seinem Jugendgespielen, als kenne er ihn nicht. – Paolo, denn der war es, schoß ihm einen giftigen Blick nach.

Feodora wandte sich an Michael und fragte im leichtesten, gleichgültigsten Tone:

»Wer ist der junge Mensch?«

»Der Enkel unserer Hausfrau«, antwortete Michael gezwungen lächelnd; denn es verdroß ihn, daß Feodora nach dem Namen des Zudringlichen gefragt, ja, daß sie ihm nur die Ehre erzeigt hatte, ihn zu bemerken.

Josephine, die durch ihre Reise ganz aus ihrem gewöhnlichen Gedankenkreis gerissen worden, kehrte jetzt allmälig wieder in ihre beschränkte Anschauungsweise zurück. Feodora mit passenden Kleidern auszustatten, ihr einige kleine Kunstgriffe französischer Toilettenkunst zu zeigen, sie in die Geheimnisse ihres Hauswesens einzuweihen, nahm ihre ganze Thätigkeit in Anspruch. Sie bestrebte sich aufs äußerste, schon in den ersten Tagen eine gute Hausfrau aus ihr zu machen, die für das leibliche Wohl Michael's aufs beste sorge; daß sie die junge Russin einzig und allein um der geistigen Wohlfahrt ihres Sohnes willen hierher berufen, hatte sie nach Frauenart für jetzt ganz aus den Augen verloren.

Feodora fand sich über Erwarten gut in die Wünsche ihrer künftigen Schwiegermutter; sie war voll Anlagen und besaß eine außerordentliche Fertigkeit selbst in allen rein mechanischen Verrichtungen. Wenn ihr auch die beste weibliche Eigenschaft, Gründlichkeit und Ordnungsliebe, eigentlich abging, so wurde das dem oberflächlichen Beobachter nicht sichtbar, denn äußerlich sah Alles, was sie geschaffen, vortrefflich aus. Josephine freilich war bald darüber im Klaren, daß bei Feodoren der Schönheitssinn und Geschmack, über den sie sich anfangs so gefreut, die Ordnungsliebe und die Pünktlichkeit leider unendlich überwog; aber sie entschuldigte das mit dem Mangel einer sorgfältigen Leitung und hoffte Alles von ihrem eigenen guten Beispiel.

Michael selbst begann nach einigen Tagen sich der schönen Feodora gegenüber mehr zu fassen. Er organisirte in seinem jungen Kopf einen förmlichen Schlacht- und Angriffsplan auf ihr Herz, das er um jeden Preis erobern wollte, wozu ihm auch seine Mutter, vielleicht unvorsichtig erweise, bereits die beste Aussicht gegeben; denn sie konnte ihren Sohn nicht niedergeschlagen und traurig sehen, und eröffnete ihm deshalb, daß Feodora auf ihre Frage erklärt habe, Michael gefalle ihr besser als irgend ein anderer junger Mann.

Das hatte das junge Mädchen freilich gesagt, aber erstens wollte es nicht viel bedeuten, weil Feodora noch wenig junge Männer gesehen, und zweitens ist ein Lob des einzigen Sohnes, der Mutter desselben gegenüber, nie sehr glaubwürdig; und hätte Michael erst gar den kalten Ton der Russin dabei gehört, so hätte ihr Lob vollends allen Werth in seinen Augen verloren. Von den längst feststehenden Planen seiner Mutter wußte er natürlich nichts, und hatte ihr deshalb kindlich und schüchtern, ob sie sie billigen werde, seine Liebe zu Feodora mitgetheilt.

War Michael schon früher sorgfältig in seinem Anzuge gewesen, so wurde er jetzt, um seiner Schönen zu gefallen, ganz und gar ein Stutzer. Dann schrieb er Noten für sie ab, componirte ihr Lieder, machte Verse auf sie, accompagnirte ihren Gesang, sah sie stundenlang an, ohne ein anderes Lebenszeichen von sich zu geben, als zuweilen einen tiefen Seufzer, erröthete jedes mal, wenn sie seinen Namen nannte, setzte immer seinen Stuhl drei Schritte von dem ihrigen, kurz, er war das Musterbild eines verliebten unschuldigen zwanzigjährigen Jünglings. Wäre Feodora dreißig Jahre alt gewesen, so hätte sie wol den Reiz dieser Liebe, ihre Reinheit zu schätzen gewußt.

Paolo, ihr junger Hausgenosse, verfuhr bei seinen Huldigungen, die er seit ihrem ersten Zusammentreffen im Bildersaale bei keiner Gelegenheit darzubringen versäumte, auf durchaus verschiedene Weise. Er warf ihr glühende Blicke zu, er preßte bei ihrem Anblick die Hände aufs Herz; ja schon einige male hatte er, wenn sie auf der Treppe an ihm vorüberstreifte, gewagt, ganz heimlich, aber von ihr dennoch wohl bemerkt, einen Zipfel ihres Gewandes zu erfassen und einen heißen Kuß darauf zu pressen. Machte er aber bei Frau von Tolstoi einen Besuch, was er sich nur sehr selten erlaubte, so benahm er sich mit der größten Zurückhaltung, und die verhaltene Glut seiner Leidenschaft konnte nur dem feinen klugen Auge eines Mädchens wie Feodora und dem eifersüchtigen Instinct eines Verliebten wie Michael nicht entgehen. Dieser hätte Paolo gar zu gerne die Thür gewiesen; aber leider gab ihm derselbe gar keine offene Veranlassung dazu, und nur in giftigen Stachelreden, die den höflichen Sinn seiner Mutter verletzten und ihm immer Verweise zuzogen, konnte er seinem jetzigen Hasse gegen den ehemaligen Jugendfreund Luft machen. Paolo benahm sich dabei äußerst liebenswürdig; er behandelte Michael wie ein eigensinniges Kind, dem man nachgibt, und fiel dadurch in den Ton einer männlichen Ueberlegenheit, der den jungen Tolstoi nur noch mehr gegen ihn reizte.

Feodora war in ihrem äußern Benehmen gegen beide Jünglinge durchaus gleich. Der schärfste Beobachter konnte keinen Unterschied bemerken. Ihre schönen kalten Augen ruhten auf Keinem lange; ihr tiefes Organ hatte immer denselben Klang, ihre stolzen Geberden waren immer gleich langsam, sie mochte sich nun zu Paolo oder zu Michael wenden, und was sie Beiden sagte, daran konnte Keiner große Freude haben: ein paar gleichgültige Worte, ein paar allgemeine Bemerkungen. Aber gegen Frau von Tolstoi, auf die sie großen Einfluß übte, ja, die sie eigentlich beherrschte, war sie freundlich und mittheilend geworden. Sie wußte mit bewundernswerthem Takt immer die Saiten anzuschlagen, die für Josephine ein anklingendes Interesse hatten.

So vergingen Wochen und Monde. Feodora beherrschte das ganze Haus, wurde von Allen geliebt und angebetet, ohne jedoch in ihrem Benehmen den Wünschen irgend Eines zu genügen. Josephine hatte hundert Dinge an ihr auszusetzen, aber sie vermochte nicht, sie zu tadeln, denn sie liebte sie. Michael fand sie freilich fleckenlos, und wenn sie auch eine »Heilige ohne Gnade« war, dennoch betete er sie an. Für Paolo war sie die erste der Frauen, denn sie widerstand von allen am längsten seinem ungestümen Werben, und gerade deshalb liebte er sie.

Es war gerade Michael's Geburtstag; er wurde zwanzig Jahre alt. Die Liebe seiner Mutter hatte einen ganzen Tisch mit Geschenken für ihn gefüllt. Sein Auge suchte vergebens darunter nach einer Gabe, die aus Feodora's Händen kommen konnte. Sie stand gleichgültig in einer Fensternische.

»Ich hätte Ihnen gern auch eine Kleinigkeit gearbeitet«, sagte sie, »aber neben die reichen Geschenke Ihrer Mutter konnte ich meine bescheidene Freundschaftsgabe nicht legen.«

»O Feodora, reden Sie nicht so! Sie wissen recht gut, wie sehr mich die kleinste Kleinigkeit aus Ihrer Hand gefreut haben würde.«

»Wenn das wahr ist«, sagte sie lächelnd, nahm eine Winterrose von ihrer Brust und warf sie auf den Tisch mitten unter die Sachen. Michael griff rasch danach.

»Von wem haben Sie die Blume? Sie ist jetzt selten.«

»Von Paolo. Er schickt mir jeden Morgen einen Strauß. Noch nie habe ich eine Blume angesteckt; aber heute, Ihrem Geburtstage zu Ehren, wollte ich doch geschmückt kommen, und da ich keine andere hatte –«

Michael hatte die Rose beim Namen Paolo's unwillkürlich fallen lassen. Er sah Feodora halb gekränkt, halb erfreut an.

»Darf ich Ihnen in Zukunft Blumen schicken?«

»Gewiß.«

»Werden Sie dann aber Paolo's Blumen zurückweisen?«

»Zurückweisen? und warum?«

Michael ging auf sie zu. Sein Gesicht flammte, sein ganzer Körper zitterte. Er fiel auf beide Knie vor ihr nieder, umfaßte mit den Armen ihre Füße und schluchzte laut.

»Seien Sie vernünftig, Michael, und antworten Sie mir lieber auf meine Frage: Warum soll ich Paolo's Blumen zurückweisen?«

»Weil ich sterbe! Ja, Feodora, ich sterbe, wenn Sie nicht Mitleid mit mir haben.«

»Mitleid? Weshalb?«

»Weil ich Sie liebe!«

Er sagte das kaum hörbar, und er konnte es überhaupt nur sagen, weil er sein glühendes Gesicht in Feodora's Gewand verbarg. Es war auch gut, daß er sie in diesem Augenblick nicht sah, denn ihr kaltes schönes Gesicht würde ihn erschreckt haben. Aber sie sagte mit freundlicher Stimme:

»Wenn Sie mich lieben, Michael, so ist das kein Unglück, denn auch ich bin Ihnen von Herzen gut.«

Er erhob sein Haupt, er sah zu ihr auf. Mit einem leichten Lächeln sah sie zu ihm nieder. Michael fragte:

»Darf ich das der Mutter sagen? Wollen Sie es ihr wiederholen?«

Mehr brachte er nicht heraus. Seine jungfräuliche Seele erbebte wie die eines unschuldigen liebenden Mädchens vor dem Worte Ehe. Es war gut, daß er eine Mutter hatte; denn er würde, trotz aller Aufmunterung in seinem Leben keinen Heirathsantrag herausgebracht haben.

Für Josephinen war es eine große Freude, ihre beiden Kinder verloben zu können. Die Frauen, denen doch unwidersprechlich selbst in der allerglücklichsten Ehe die schwerern Pflichten, die härtern Prüfungen zu theil werden, haben unendlich mehr Freude, eine Heirath zu stiften, als die Männer. Noch an demselben Tage benachrichtigte Frau von Tolstoi Paolo's Großmutter von der geschlossenen Verbindung, und am folgenden Morgen kam die alte Frau herauf, um zu klagen, daß ihr Enkel spurlos verschwunden. Er war fort; Niemand wußte wohin, selbst Feodora nicht, die am Abend ihres Verlobungstags noch einen Brief von ihm erhalten, dessen glühende Worte wie siedendes Blei in ihre Träume fielen, sodaß sie am ersten Morgen, der sie als Braut begrüßte, bleich aus ihrem Zimmer trat, und in Michael's Augen Thränen der Angst und Sorge lockte. Ihr vorgeschütztes Unwohlsein beruhigte ihn nicht. Die Augen der Liebe sind scharf, wenn es Schmerzen der Geliebten gilt, – außerdem sind sie freilich blind.

Das Einzige, was Michael an seiner Braut auszusetzen hatte, war, daß sie sich zu einer andern Religion als er selbst bekannte. Sie war griechisch-katholisch; und er war nach dem Willen seines Vaters in der Religion seiner Mutter, der protestantischen, erzogen. Josephine hatte sich seine religiöse Ausbildung sehr angelegen sein lassen, denn sie war, wie die meisten französischen Protestanten, eifrig und treu in ihrem Glauben. Sie stammte aus einer alten Hugenottenfamilie, die nach Aufhebung des Edicts von Nantes ausgewandert war. Erst ihr Vater war unter Napoleon in das Land seiner Ahnen zurückgekehrt, die, einst reiche und mächtige Vasallen, um ihres Glaubens willen Alles eingebüßt hatten. – Da in Florenz sich eben kein protestantischer Geistlicher befand, so sollte der Pfarrer der englischen Gemeinde den Bund der jungen Leute segnen; dies sollte aber nach Josephinens Bestimmung erst in einem Jahre geschehen. Merkwürdigerweise war Michael mit diesem Aufschub zufriedener als Feodora, die aber ihren Verdruß möglichst zu unterdrücken suchte. Michael war selig, sie nur seine Braut nennen zu dürfen.

*

5. Die Vermählten.

Es war drei Jahre später, als an einem der Eingänge des Theaters San-Carlo in Neapel zwei junge Männer standen, um die aus den Wagen steigenden Damen zu bewundern und zu bekritteln. Sie sahen eben beide einer Frau nach, die, auf den Arm eines jugendlichen blonden Mannes sich stützend, langsam die Stufen der Theatertreppe erstieg.

»Sie ist unstreitig das schönste Weib hier«, sagte der Eine mit enthusiastischer Betonung.

»Wer ist sie?« fragte der Andere.

»Es ist eine russische Fürstin; sie heißt Tolstoi.«

Es ist eine bekannte Sache, daß alle Russen und Polen im Auslande für Fürsten und alle Engländer für Lords und Ladies gelten. So auch hier; die Fürstin war Niemand anderes als unsere Feodora, die jetzt Frau von Tolstoi hieß.

»War das ihr Mann?« fragte wieder der Eine der Eleganten.

»Das ist doch gewiß gleichgültig«, rief der Andere, »denn ihr Mann ist nichts, als ihr erster Diener, vielleicht auch ihr letzter, das heißt derjenige, von dem sie gnädig Cavalierdienste annimmt, wenn sonst Niemand da ist.«

Dem war leider wirklich so. Michael war seit seiner Verheirathung zu einer völligen Null herabgesunken. Der herrschende Wille seiner Frau, in die er sterblich verliebt war, während sie in ihm immer nur das Werkzeug gesehen, das ihr eine angenehme gesellschaftliche Stellung geben mußte, dieser herrschende Wille hatte ihn zur gänzlichen Willenlosigkeit herabzuschrauben gewußt. Michael selbst aber ahnte nicht seine Erniedrigung, denn er liebte seine Frau so sehr, daß diese Liebe wie ein dichter Schleier ihm alle eigenwilligen Launen, ihre Eroberungsplane, ihr nach und nach ins Großartige sich ausbildendes egoistisches Treiben verhüllte. Sie dachte nur noch daran, sich zu amüsiren, und Michael war selig, wenn er sie recht vergnügt, recht triumphirend sah, ohne gewahr zu werden, wie die Räder ihres Triumphwagens, der von allen eleganten Männern der Gesellschaft gezogen wurde, über seine eigene männliche Ehre dahinrollten.

Josephine, der dieses Verhältniß den größten Kummer machte, die aber dennoch zu klug war, um ihrem Sohne die Augen darüber zu öffnen – vielleicht sah sie auch ein, daß es vergebliche Mühe wäre – Josephine war dem jungen Paare nicht nach Neapel gefolgt. Sie war allein und traurig in Florenz geblieben, denn sie haßte jetzt ihre Schwiegertochter. Feodora hatte zwar im strengen Sinne des Worts ihrem Manne noch nicht die Treue gebrochen, sie hatte noch keinen Liebhaber, aber viele Anbeter, und jeder dieser Anbeter hoffte ihr Liebhaber zu werden. Die Liebe, die sie Keinem ausgesprochen, ließ sie Jeden hoffen. So war es seit ihrem ersten Auftreten in der Gesellschaft, wo Michael sie auf ihren Wunsch eingeführt. Ihre auffallende Schönheit hatte ihr alle Herzen dienstbar gemacht, und sie hatte nur zu gut diese Dienstbarkeit zu benutzen gewußt. Aber Michael betete sie an und war nicht eifersüchtig.

Kaum war Feodora in ihre Loge getreten, als sich aus allen andern so viele junge Männer hineindrängten, als der enge Raum nur fassen konnte. Lachend und stolz wie eine Königin saß die schöne Frau unter ihren Verehrern. Ein Rubinschmuck mit Perlen glänzte in ihrem reichen Haar, und ein weißer Sammet, an der Brust von einer Rubinbroche gehalten, legte sich in schweren Falten um ihre prächtige Figur. In der hintersten Ecke stand Michael, die Blondenmantille seiner Frau auf dem Arm. Seine schönen, nun völlig ausgebildeten Züge trugen das Gepräge tiefer Melancholie, und doch fühlte er sich als glücklicher Mensch; es mußte wol sein besseres Selbst, seine eigene Seele sein, die, ihm unbewußt, in tiefe Trauer um seine unwürdige Stellung versenkt, aus seinen schönen blauen Augen sah. Niemand grüßte ihn, Niemand sprach mit ihm; er bemerkte es nicht; die Abhängigkeit, in der ihn seine Mutter trotz ihrer Liebe immer gehalten, ihre immerwährende Gegenwart hatte jede freie Entwickelung des Charakters in ihm zurückgedrängt. Man hatte gar nie daran gedacht, ihn je sich selbst zu überlassen. Er wußte gar nicht, daß er einen Willen hatte, daß er ein selbständiger Mensch war.

Ein alter östreichischer General, der eben noch in die Loge kam und den sie kaum recht fassen konnte, trat Michael auf den Fuß. Er entschuldigte sich; Tolstoi verbeugte sich höflich, aber ohne etwas zu erwidern; er dachte eben daran, ob er seine Frau mit einem himmelblauen oder mit einem Rosaatlaskleid zu einem bevorstehenden Feste beschenken solle. Der alte Mann, welcher glaubte, Tolstoi sei beleidigt, sagte in seiner Gutmüthigkeit freundlich:

»Nun, wie gefällt Ihnen unser neuer Bariton?«

»Ich habe ihn noch nicht gesehen, Herr General.«

»Lieber Tolstoi«, rief der Andere lachend, »eben singt er ja.«

»So, das ist er? Gesehen habe ich ihn aber doch nicht; denn hier aus dieser Ecke, meinem gewöhnlichen Platz, sieht man nichts von der Bühne. Uebrigens hat die Stimme für mich einen unangenehmen Klang.«

Er hatte ziemlich laut gesprochen. Feodora warf ihr schönes Haupt herum und sah ihn zornig an. Er blickte, verwundert über diesen Ausdruck ihres Gesichts nach ihr hin; da sagte sie mit scharfer Stimme:

»Dieser Sänger hat das schönste Organ, das ich in meinem Leben gehört.«

Lächelnd wandte sich Michael zu seinem alten Bekannten:

»Da hören Sie, Herr General, wie die Damen immer eine von der unserigen verschiedene Meinung haben.«

»Sagen Sie nicht der unserigen, Herr von Tolstoi; denn Sie sind der einzige Mann, dem der neue Sänger nicht gefällt.«

Michael sagte nichts mehr, aber er hörte fort und fort auf den Sänger, der eine lange Arie zu singen hatte, und der sanfte Ausdruck seines Gesichts wurde immer mismuthiger und verstimmter. Als der Act zu Ende war, hing er die Mantille seiner Frau um ihre Schultern und verließ die Loge. Sie bemerkte nichts von dem Allen, denn sie saß weit vorgebeugt, in tiefe Gedanken verloren.

Feodora war mit einem male eine leidenschaftliche Theaterbesucherin. Sie versäumte an keinem Abend die Oper, und überhaupt war eine seltsame Veränderung mit ihr vorgegangen. Sie war jetzt oft zerstreut; sie hatte nicht immer für ihre Verehrer dasselbe huldvolle Lächeln wie früher, und bisweilen fuhr sie auf wie aus einem Traume, wenn Jemand mit ihr sprach. Aber auch Michael war seit jenem Abend, wo er im Zwischenacte die Loge verlassen, ebenso seltsam verändert. Er war nicht mehr der lächelnde, gefällige Freund aller Freunde seiner Frau. Er trug zwar noch immer ihre Mantille und ihren Fächer; aber sie mußte ihn jedes mal erinnern, ihr Beides zu reichen, wenn sie fortging. Er lächelte nicht mehr, wenn sie sprach, ernst und beklommen lehnte er in seiner Logenecke, und sein ungewöhnlich bleiches Gesicht konnte oft einen erschreckenden Ausdruck annehmen. Seine Frau bemerkte davon nichts, denn sie war, wie schon gesagt, selbst befangen und zerstreut.

Eines Abends nach der Oper empfing Feodora in ihrer Wohnung noch die Besuche einiger Herren. Die einzige große Lampe brannte ziemlich düster, sodaß die Sprechenden Michael's Gegenwart, der im Hintergrunde des Salons auf einem Divan ruhte, gar nicht bemerkt hatten. Es war unter ihnen von Ahnungen die Rede; Feodora wollte nicht daran glauben.

»Ich glaube fest daran«, sagte Tolstoi plötzlich, indem er unter die Gesellschaft trat, »und fodere hiermit Sie Alle auf, mir zu bezeugen, wenn es Zeit sein wird, daß ich jetzt hier diesen Abend geäußert: ich ahne, daß mir nächstens ein ungeheures Unglück widerfahren wird. Das lebendige Vorgefühl davon lebt in meiner Seele; fest und unwidersprechlich trage ich es seit Wochen mit mir herum.«

Einen kurzen erschrockenen Blick warf Feodora auf ihren Mann; ihr schönes Gesicht wurde bleich, aber sie sagte lachend:

»Welche Einbildung! Wie kann man nach dem Genuß einer so schönen Oper, wie ›Der Barbier‹, so traurige Einfälle haben!«

»Ja wohl«, sagte ein junger Mann spöttisch, »und besonders nach einem solchen Barbier, wie ihn unser herrlicher Enrico gibt; es gibt keinen Zweiten, wie ihn!«

»Er hat eine unangenehme Stimme!« versetzte Michael im gleichgültigen Tone; doch sein Auge ruhte bohrend auf dem Gesichte seiner Frau. Sie sagte nichts; ein leises Zucken um ihren kleinen Mund war ihre ganze Erwiderung, während die Andern sich in der Vertheidigung des beliebten Sängers Enrico und seiner schönen Stimme erschöpften.

Es gab jetzt Momente, wo Michael mit krankhafter Sehnsucht die Gegenwart seiner Mutter herbeiwünschte, und dennoch lieber gestorben wäre, als sie selber herbeigerufen hätte. Liebende Herzen wollen gern alle Prüfungen allein durchkämpfen, und doch sind gerade liebende Herzen gewöhnlich nicht mit starken, selbständigen Charakteren gepaart. Michael wußte, daß er jetzt einer solchen Prüfung entgegenging, aber er konnte keine klaren Gedanken fassen; chaotisch schwebten die Ereignisse der letzten Tage vor seinen aufgeregten Sinnen. Nur Dessen war er sich bewußt, daß er seine Frau aufs sorgfältigste beobachten mußte. Obgleich Feodora zu befangen war, um diese geschärfte Beobachtung zu bemerken, so fühlte sie sie doch, und sie war ihr lästig, wie einem Schlafenden die summende Fliege.

Eines Morgens sagte sie zu ihm, als eben ein Bedienter eine Meldung wegen eines kranken Pferdes gemacht:

»Michael, warum reitest du gar nicht mehr?«

»Du hörst es ja, mein Reitpferd ist krank.«

»Aber du fährst auch nicht mehr. Eben fällt mir ein, daß du seit Wochen das Haus nicht verlassen, als um mich auf den Corso oder in die Oper zu begleiten.«

»Gehst du heute in die Oper, Feodora?«

»Gewiß, aber nur in den ersten Theil. Später habe ich der Frau des französischen Gesandten versprochen, zu ihr zu kommen, um mit ihr ein Duett zu probiren, das morgen Abend gesungen werden soll. Du bist aber wol so gut, bis zu Ende zu bleiben, und mir zu sagen, wie die neue Debütantin ist, die erst im dritten Act auftreten wird.«

So unbefangen diese Worte gesprochen wurden, so entging doch dem aufmerksamen Michael nicht, daß seine Antwort mit einer gewissen Hast erwartet wurde. Nach einer Pause versetzte er:

»Wenn du es wünschest, will ich bleiben. Soll ich dich aber nicht erst im Wagen zur Gesandtin begleiten? Es ist ja in der Nähe; bis zum Aufgehen des Vorhangs bin ich dann längst zurück.«

»Wie lächerlich!« rief die schöne Frau, indem ihr Fuß kaum merklich den Teppich stampfte. »Bin ich denn noch eine Pensionärin, die man an der Thüre absetzt und in Empfang nimmt? Ich brauche in meinem Wagen keinen Schutz, dafür ist meine Dienerschaft da.«

Sie erhob sich und verließ stolz und grollend das Zimmer. Michael sah ihr betroffen nach. – »Was sinnt sie für heute Abend? Warum will sie allein wegfahren und mich bis zuletzt in der Oper lassen? Enrico singt doch heute Abend? Was kann sie wollen?«

Es war Theaterzeit. Michael kam in das Zimmer seiner Frau, um sie abzuholen. Sie ging mit hastigen Schritten auf und ab.

»Hast du auch deinen Mantel, Michael? Es ist jetzt Abends sehr kühl, und du weißt, wie das Fieber hier herrscht.«

Tolstoi war gerührt von dieser Aufmerksamkeit seiner Frau. Er hatte den Mantel nicht, aber er befahl dem Bedienten, ihn zu holen. Dieser Mantel war ein Geschenk Feodorens und machte ihrer Prachtliebe und ihrem Geschmack Ehre. Er war von ganz lichtgrauem, beinahe weißem Tuch mit Carmoisinsammet gefüttert, mit einem Kragen von derselben Farbe. Als ihn der Bediente seinem Herrn umhing, sagte Feodora kurz:

»Nun ist's gut, nun laß uns gehen.«

Im Theater nahm das Ehepaar seine gewöhnlichen Plätze ein, die Loge füllte sich wie immer, und der Lieblingsbariton Enrico sang wie immer. Nach dem ersten Act erhob sich Feodora rasch, winkte ihrem Manne zu, indem sie rief:

»Also du bleibst, um mir zu rapportiren!« und war aus der Loge verschwunden.

Gespannt blieb Michael in der leeren Loge sitzen, als der Vorhang wieder aufflog und der Impressario erschien, der mit unendlichem Bedauern dem Publicum verkündete, daß wegen plötzlichen Unwohlseins des Signor Enrico der zweite Bariton Signor Bassano seine Partie übernehmen müsse.

Wie von einem elektrischen Schlage getroffen fuhr Michael in die Höhe; seinen Mantel zurücklassend, eilte er im leichten Frack durch die langen Corridors bis vor eine kleine Thür. Es war der Eingang für das Opernpersonal. Eine schlechte Lampe erleuchtete den kleinen Gang. Michael lehnte in der düstersten Ecke, als die Thüre sich knarrend öffnete und eine Gestalt heraustrat, die er mit Schrecken für seine eigene hielt. Derselbe helle graue, mit rothem Sammet gefütterte und ausgeschlagene Mantel, dasselbe lange blonde Haar; nur saß der dünne Claquehut tiefer in der Stirn, als ihn Michael zu setzen pflegte. Die Züge konnte er nicht erkennen, da die Gestalt den einen Arm mit dem Mantel vor das Gesicht hielt.

Der Mann im Mantel wandte sich dem Ausgange zu; Michael in einiger Entfernung halb bewußtlos hinter ihm her. Die Gestalt ging mit raschen Schritten nach der Seite des Meeres; Michael folgte ihr immer bis zum Strande. Dort sah er einen Wagen halten, und sobald der Mann im Mantel am Ausgang der Straße sichtbar wurde, öffnete sich der Schlag, eine Dame sprang daraus und rief voraneilend dem folgenden Lakaien zu:

»Es ist gut, fahrt nach Hause; Herr von Tolstoi wird mich zu Fuß begleiten.«

Michael stand im Schatten des letzten Hauses in der Straße, die nach dem Meere auslief. Er erkannte Alles deutlich: Es war sein Wagen, es war seine Frau. Sie hing sich jetzt an den Arm seines Ebenbildes; der Lakai stieg zum Kutscher auf den Bock und der Wagen fuhr langsam im Mondschein in die Stadt zurück.

Michael lehnte noch immer an der Wand des Hauses; so lange sein Auge die beiden am Ufer Dahinwandelnden genau unterscheiden konnte, blieb er stehen; als aber ihre Umrisse seinen Augen undeutlicher zu werden begannen, folgte er ihnen in bedeutender Entfernung. Sie gingen immer langsamer; jetzt blieb die Dame stehen und streckte den Arm wie abwehrend von sich; ihr Begleiter hob beide Hände wie flehend zu ihr auf; der Mondschein beleuchtete die Gruppe scharf, sodaß Michael keine ihrer Bewegungen entging.

Nicht weit vom Strande stand eine kleine Fischerhütte, die einzige in der Gegend; ein mattes Licht schimmerte aus dem schmalen Fenster. Dahin geleitete der Mann im grauen Mantel seine Begleiterin, die sich sichtbar ängstlich in ihren schottischen Plaid wickelte. Die weiße Feder ihres Hutes flatterte heftig im Nachtwind. Sie mußten sich bücken, um in die niedere Thüre der Hütte zu treten. Michael war nun rasch ihnen nachgeeilt; als er eben die Thür erreichte, öffnete sie sich wieder und ein Knabe trat heraus. Beim Anblick Michael's wollte er ins Innere zurückeilen; aber dieser hielt ihn fest, und ihm ein paar Goldstücke in die Hand drückend, bedeutete er ihn, sich ruhig zu verhalten. Erschreckt von Tolstoi's von Zorn entstelltem Antlitz setzte sich das Kind mit gesenktem Haupte auf die Schwelle. Michael aber trat an das Fenster, das ein karger Vorhang schlecht verhüllte, und blickte mit brennenden Augen in das Innere des Hauses. Es war ein elender Aufenthalt; das einzige Zimmer enthielt nichts als einen niedern Schemel und in der Ecke ein Schränkchen mit einem Marienbild und einem Weihwasserkesselchen. Offenbar wohnte hier Niemand. Auf dem niedern Schemel saß Feodora mit todtblassen Zügen; vor ihr kniete ein schöner Mann mit dunklem Haar und Bart, neben ihm lag der Hut, der Mantel und die blonde Perrücke. Tolstoi konnte nur sein scharfgeschnittenes Profil sehen, aber er erkannte ihn wohl, es war der Sänger Enrico, ehemals Paolo Baniero genannt. Er hatte ihn am Abend seines ersten Auftretens an der Stimme erkannt und sich dann beim Hinausgehen im Foyer von seiner Persönlichkeit überzeugt. Seitdem ahnte ihm, was ihm bevorstand.

Er hörte jetzt Enrico-Paolo sagen:

»O, Feodora, wie dank' ich Ihnen, daß es mir endlich vergönnt ist, mündlich und ungestört Ihnen mein Herz, meine Seele zu zeigen, Ihnen zu sagen, wie Alles, Alles seit drei Jahren nur Ihnen, Ihnen allein gehört?«

Feodora's Antwort vermochte Michael nicht abzuwarten; er stieß mit dem Fuß die Thüre auf und stand mitten im Zimmer vor den Beiden, die sich nicht rührten.

Ohne den Sänger eines Blicks zu würdigen, bedeutete er durch eine Geberde seine Frau, die ihn wie eine Leiche anstierte, ihm zu folgen. Sie hatte nicht die Kraft, aufzustehen, obgleich sie es verschiedene male versuchte. Michael wandte sich nach der Thüre und rief dem Knaben zu, der Dame zu helfen und sie zu führen. Hoch aufgerichtet, stolzen Schrittes, das Bild eines zürnenden Gottes, schritt Michael vor den Beiden her. Der Sänger war in der Hütte zurückgeblieben; es hatte etwas in Michael's Wesen gelegen, was dem trotzigsten Gemüthe Ehrfurcht einflößen mußte, der Stolz beleidigter Ehre und die tiefste Verachtung der Schuldigen. Michael war plötzlich ein Anderer geworden. Sein ungeheures Unglück – denn er war an seinem Besten und Heiligsten, an seiner Ehre und seiner Liebe gekränkt worden – hatte wie durch einen Zauberschlag seine Männlichkeit geweckt. Er war in einer Minute stolz, selbständig und entschlossen geworden. Weil er an Niemand mehr eine Stütze fand, hatte er sie in sich selbst gefunden.

Den ersten Lastträger, der ihm begegnete, schickte Michael nach einem Fiaker, ließ dann Feodora mit dem Knaben einsteigen und ging selbst rasch zu Fuße nach seinem Hôtel. – Als er das Zimmer seiner Frau betrat, lag sie schon, in Thränen aufgelöst, auf dem Divan. Er selbst stellte sich ihr gegenüber und lehnte den Arm auf den Sockel einer Statue der Venus, deren alabasterne Gestalt, leicht hingebeugt über sein schönes ernstes Gesicht, ihn um Mitleid für die Schuldige anzuflehen schien. Sein Gesicht war wie Eis, keine Regung war darauf zu entdecken; nicht Zorn, nicht Rache, aber auch kein Mitleid, keine Versöhnung. – Es war eine lange, lange Pause. Keines sprach, nicht die Schuldige, nicht der Richter; denn als Richter erschien jetzt Michael seiner Frau, die aber nur in ihrem Schuldbewußtsein die Ursache der plötzlichen Ehrfurcht vor ihrem Manne suchte.

Endlich sagte Michael langsam und mit kalter Betonung:

»Ich bitte Sie, mir anzuzeigen, wohin Sie sich jetzt begeben wollen, damit ich Anstalten treffen kann, daß Ihre Sachen Ihnen nachgesandt werden. Sodann werden Sie die Güte haben, mir irgend einen Namen anzugeben, unter welchem sich meine Geschäftsleute künftig an Sie wenden können, denn meinen Namen werden Sie von heute an ablegen, um sich nie und nimmer und bei keiner Gelegenheit dessen mehr zu bedienen.«

Feodora sprang auf und ging auf Michael zu, der ihr Nahen mit einer unbeschreiblichen Verachtung im Blick erwartete.

»O Michael«, rief sie, »strafe mich nicht so hart! Ich bin nicht so strafbar, wie du glaubst – es war nur die Verirrung eines Augenblicks! Du kannst mich noch, unbeschadet deiner Ehre, an deiner Seite öffentlich erscheinen lassen!«

»Beantworte meine beiden Fragen. Ich gebe dir Zeit bis morgen früh; dann aber muß ich die Antwort haben, weil du morgen vor Abend dieses Haus verlässest.«

Er wandte sich, um zu gehen. In tödtlicher Angst fiel die stolze Feodora vor dem Manne, den sie so gering geachtet, auf die Knie. Bei seiner Strenge, seinem männlichen stolzen Benehmen erwachte in ihr ein Gefühl für den Mann, das sie bisher nicht gekannt. Er erschien ihr nun mit einem male liebenswürdig und seine Liebe wünschens- und begehrenswerth. Es war ihr, als müsse sie sterben, wenn er sie verlasse; sie mußte um jeden Preis seine Verzeihung erlangen. Laut weinend erfaßte sie sein Kleid und beschwor ihn, ihr zu vergeben. Erst versuchte er sie leise abzuschütteln; als sie aber nicht losließ, stieß er sie rasch von sich. Aber sich aufs neue an ihn klammernd rief sie heftig:

»Was habe ich denn so Entsetzliches verbrochen, daß du mich verstoßen willst, wie eine Ehrlose?«

»Weil du es bist!« rief Michael mit plötzlich hervorbrechendem gewaltigem Zorn.

Mit flammenden Augen sprang nun Feodora auf ihre Füße und sagte höhnisch:

»Du kannst thun, was du willst! Ob wir sieben Jahre später oder früher geschieden werden, kann mir gleichgültig sein; doch verlange ich deinen mir gebührenden Familiennamen zu behalten, wenn es auch wenig Ehre bringt, den Namen einer solchen Familie zu tragen.«

»Was soll das heißen?« fragte Tolstoi, indem er ihr einen Schritt näher trat.

»Das soll heißen, daß Sie in sieben Jahren, wie Ihr Vater, wie seit Menschengedenken alle Tolstois Ihrer Linie, wahnsinnig sein werden. Keiner Ihrer Verwandten hat ja noch mit gesunder Vernunft das dreißigste Jahr angetreten.«

Michael erwiderte nichts, aber er hatte deutlich jede Silbe seiner bittersten Feindin vernommen. Mit erstarrendem Herzblut wog er jedes ihrer Worte, und daß sie wahr gesprochen, wurde ihm immer klarer; denn mit grausamer Schnelligkeit fielen ihm hundert Umstände aus seinem Kinderleben ein, die nur zu deutlich bewiesen, daß ein unheilvolles Geheimniß in seiner Familie walte.

Es war nicht nur der Zorn, es war Berechnung, was Feodora diese unverantwortliche Indiscretion begehen ließ. Erst als sie mit dem Fischerknaben allein im Wagen gesessen, war es ihr möglich gewesen, ihre schlimme Lage ihrem Gatten gegenüber zu überschauen. Aus seinem feierlichen Ernst, aus seiner plötzlichen Entschlossenheit hatte sie wohl entnommen, daß er sich nicht mit einer Strafrede begnügen werde, und die Möglichkeit, er könne sie verstoßen, schwebte ihr dunkel vor Augen. Für diesen Fall wußte sie ihm gar nichts entgegenzustellen; und da verfiel sie auf den abscheulichen Gedanken, ihn durch die Entdeckung seines ihm bevorstehenden Unglücks vom Gedanken an die gerechte Vergeltung für ihre Untreue abzuziehen. Sie glaubte, ein Mann, der dem Wahnsinn ins Auge sehe, könne kein strenger Richter mehr sein. Kaum jedoch hatte sie das schreckliche Geheimniß enthüllt und ausgesprochen, als tiefe Reue sie ergriff; denn der Mann, der vor ihr stand und dessen Seelenruhe sie heute auf jede Weise zu vernichten gestrebt, begann wieder mit einem male ihr theuer zu werden. Seine Strenge, seine edle männliche Gelassenheit hatten ihr eitles, flatterhaftes, hochmüthiges Herz erfaßt und zur Bewunderung gezwungen, und wo eine Frau wie Feodora bewundert, ist sie von der Liebe nicht mehr weit entfernt.

Sie wollte von neuem Michael's Hand ergreifen; aber sie heftig und wie vom Grauen ergriffen von sich schüttelnd, verließ er mit schnellen Schritten das Gemach, um sich in seinem Zimmer einzuschließen. Dort schrieb er an seine Mutter:

»Durch Feodora's unseligen Mund habe ich das Geheimniß erfahren, das Geheimniß unserer Familie, das du, arme gute Mutter, mir so lange und aufopfernd verborgen. Ich verlasse morgen früh Neapel, aber zu dir kann ich nicht kommen. Ich will eine Seereise machen, vielleicht daß das unendliche Meer mir mein Unglück klein und unbedeutend erscheinen läßt. Deine Briefe für mich schicke nach Rouen an unsern Consul; dorthin werde ich früh oder spät kommen und dir von dort aus Nachricht geben, sobald ich dir Besseres zu sagen weiß. – Noch eine Bitte. Bestelle doch auch einen Rechtsgelehrten, der meine Scheidung mit Feodora betreibt, Sie hat mir die Treue gebrochen, meine Ehre befleckt und kann ihre Schuld nicht leugnen, deren ich sie überführt habe. Die Bestimmungen über ein ihr zu zahlendes Jahrgehalt magst du mit ihr treffen, aber meinen Namen muß sie ablegen; – wir dürfen mit dieser Frau keine Gemeinschaft mehr haben. Du aber, theure, werthe Mutter, behalte dein Kind lieb, dessen Eins und Alles auf Erden du bist.«

Am andern Morgen verließ Michael Neapel auf einer kleinen Corvette. Iwan, sein treuer Diener, durfte ihn nicht begleiten, er mußte der Mutter vorstehenden Brief überbringen. Das Fahrzeug, welches Tolstoi bestieg, hieß l'Espérance und war nach Rouen bestimmt. Wenn ihn auch die Hoffnung trug, er trug keine mehr in sich, als er am nebligen Herbstmorgen müde und erschöpft seine heiße Stirn an den feuchten Hauptmast lehnte und mit tiefem Schmerz nach Neapels Häuserreihen zurücksah, nach Neapel, wo ihm Alles untergegangen, die Liebe, der Glaube und die Hoffnung. Aber die Espérance bauschte ihre Segel, und das Fahrzeug schoß mit muthiger Kraft in die graue Luft hinaus.

*

6. Am Meer.

Eine halbe Stunde westlich von Rouen liegen am Meeresufer ein paar Fischerhäuschen. Eines davon, welches einzeln steht, hat ein bei weitem besseres Ansehen, als die andern. Antoine, der Fischer der es bewohnt, ist ein Bretagner; seine Hausfrau ist aus Dünkirchen. Bei den beiden alten Leuten wohnte seit einigen Monaten ein fremder junger Mann, den die Bewohner der übrigen Hütten für wahnsinnig hielten, weil er nie eine ihrer Anreden beantwortete und in stundenlangem Hinbrüten, ohne irgend eine Beschäftigung, auf dem Sand am Meere saß. Sie nannten ihn unter sich nur »le fou«. Seinen eigentlichen Namen wußte Niemand, selbst nicht Madeleine, seine Hausfrau, mit der er doch zuweilen ein Wort wechselte. Das Französische sprach er geläufig, obgleich man seiner Aussprache einen fremden Accent anhörte.

Madeleine war ein Original. Auf dem Leuchtthurme zu Dünkirchen geboren und bis in ihr dreißigstes Jahr beinahe immerwährend darauf lebend, hatte sie ihrem Vater, dem Gardien, statt eines männlichen Gehülfen gedient. Sie hatte mit eigener Hand mehren Ertrinkenden das Leben gerettet und besaß drei oder vier Rettungsmedaillen.

Einmal sah sie zu, wie ihr Miethsherr in tiefer Zerstreuung das Herannahen der Flut nicht bemerkte und sich plötzlich auf einem Steine mitten im Meere befand, von wo ihn der Alte auf ihr Geheiß noch zu rechter Zeit mit seiner Barke abholte. Sie schalt ihn tüchtig wegen seiner Gedankenlosigkeit, und als er sie schmerzlich lächelnd anhörte, setzte sie hinzu:

»Quoique, quand je suis là, moi, il n'y ait pas de danger. Le bonnet à bas, le jupon à bas, et me violà en costume pour sauver tout le monde!«

Diese Worte begleitete die lebhafte Französin mit den entsprechenden Geberden. Sie riß sich die Haube vom Kopf, sie band ihren Rock los und stand nun wirklich vor dem verwunderten jungen Mann da, mit ihrem ergrauenden, alten schönen Kopf, mit ihrer schwarzwollenen Jacke und ihren weiten Pantalons aus rothem Fries, die bis ans Knie reichten, und zu ihren blauen Strümpfen mit den zierlichen Füßen gar nicht übel standen.

»Je suis toujours préparée ainsi!« sagte sie stolz, »et je vous assure qu'il en existent qui en étaient bien contents.«

Es war das erste mal, daß ein Lächeln über das blasse Gesicht des jungen Mannes glitt. Es war der arme Michael, der in trostloser Trauer die Zeit dahin lebte, der dem Wahnsinn unrettbar entgegen zu gehen meinte, und deshalb auch entgegenging. – Er war in Rouen gelandet und hatte dort einen Brief von seiner Mutter erwartet; sie war ja noch sein Letztes, und er liebte sie mehr, als er selber wußte. Aus Josephinens Brief ging hervor, daß sie in Verzweiflung war; sie beschwor ihren Sohn, zu ihr zurückzukehren, oder ihr zu erlauben zu ihm zu kommen. Damit Letzteres nicht geschehe, hatte Michael die Stadt verlassen und das Fischerhaus, das er auf einem frühern Spaziergang kennen gelernt, bezogen, ohne irgend Jemand in Rouen davon zu benachrichtigen.

So viel Kraft und Festigkeit er seiner Frau gegenüber entwickelt, so hoffnungslos war er bei dem Gedanken an das Schicksal, welches ihm bevorstand. Er war in völlige Apathie versunken; und zu begreifen war es wohl, denn in Dem, was ihn bedrohte, lag freilich des Schrecklichen genug, um den stärksten Charakter zu entnerven. Sechs Jahre konnte er freilich noch hoffen, bei gesunden Sinnen zu bleiben; aber kann man sich so kurzer Zeit freuen, oder sie in Thätigkeit benutzen, wenn sie ein solches Ende nimmt? Michael konnte es nicht; er konnte sie nur verträumen und vertrauern.

Es war ein stürmischer Abend an der See, eine von den Stunden, wo das Meer am traurigsten und trostlosesten, aber auch am großartigsten und ergreifendsten ist. Himmel und Wasser waren dunkelgrau; nur die Stelle am Horizont, wo die Sonne unterging, schimmerte wie ein rother Carneol durch die dichten Wolkenschichten. In gleichmäßigem Geräusch schlugen die Wellen träg und müde an die Dünen, von denen der weiße Schaum langsam ins Meer zurückfloß, um dann, wieder zu einer andern Welle gebildet, an sie hinauf zu springen. Kein Laut unterbrach das Rauschen des Meeres. Michael lag auf den Dünen, denn es war hohe Flut, und sah mit gedankenloser Neugier den immer neuen Formen zu, die das Wasser annahm. Bald hatte die Welle die Gestalt einer geschweiften Muschel, bald die eines Busches; zuletzt kamen sie ihm alle vor wie höhnische Frauengesichter, umrauscht von gepuderten langen Lockenperrücken, und merkwürdigerweise trugen alle diese Nixen die Züge Feodora's.

Ein Seufzer hob seine Brust, es war kein Seufzer der Sehnsucht, sondern einer der bittern Hoffnungslosigkeit, als eine schwere Hand sich auf seine Schulter legte. Er fuhr herum – hinter ihm stand Iwan. Ein zorniger Groll war das erste Gefühl, das sich des Unglücklichen beim Anblick seines alten treuen Dieners bemächtigte.

»Also auch bis hierher verfolgt ihr mich?«

»Wo sollte ich denn sonst bleiben, lieber Herr?«

»Nun, bei meiner Mutter. Die hättest du nicht verlassen sollen. Wie geht es ihr?«

Iwan heftete statt aller Antwort einen unbeschreiblich traurigen Blick auf seinen jungen Herrn, der ihn in immer steigender Angst, des Schlimmsten gewärtig und es doch nicht zu fassen vermögend, anstarrte.

»Das ertrage ich nicht!« rief er zuletzt; »sprich, wo ist meine Mutter?«

»Wo ihr am wohlsten ist!«

Michael verhüllte sein Gesicht, und auch wir wenden uns ab von einer Scene unendlicher Trauer. Es vergingen viele, viele Tage, wo nur Iwan's Einfluß den jungen Tolstoi vermochte, die Bedingungen des Lebens zu erfüllen. Madeleine leistete ihm freilich dabei gute Hülfe; ihre rüstige Thätigkeit, ihr entschlossener heiterer Sinn, und vor allem ihre gutmüthige Bereitwilligkeit mußten wohlthätig auf ein in Erstarrung versunkenes Gemüth wirken. Glücklicherweise hatte Iwan in seiner Jugend mit der den Russen eigenthümlichen Sprachgeläufigkeit französisch gelernt, was ihm nun in seinen Berathungen mit der Schifferfrau über Tolstoi's Wohl vortrefflich zu statten kam. Der alte Mann war ein wahres Kleinod für Michael, der ihn jedoch in diesem Augenblick nicht zu schätzen wußte. Sein Vater hatte von diesem treuen Diener immer gesagt, er habe einen russischen Kopf, ein deutsches Herz und englische Fäuste; denn er besaß eine herculische Kraft, und hatte auf einer Reise seinem Herrn dadurch das Leben gerettet, daß er ihn allein ohne Waffen gegen drei betrunkene Polen vertheidigte, die in ihm einen Erbfeind ihres Landes hatten erschlagen wollen.

Iwan wirkte vor allem dahin, daß sein Herr nie allein war, und er brachte ihn deshalb unter tausend Vorwänden in das Zimmer Madeleinens, die ihn schon durch ihre Erscheinung aufmunterte. – Trotz seiner Armuth war das kleine Zimmer heimlich. Die Decke hatte keinen Schmuck, ihre braunen Balken lagen bloß, aber die reinen getünchten Wände waren mit unzähligen Bildern bedeckt. Napoleon und die Heiligen, Josephine, Murat und eine Menge Giftmischerinnen und Mörder waren in genialer Laune durcheinander gehängt; in der Mitte der Hauptwand aber hingen, als erste Zierde und Stolz des Hauses, unter Glas und Rahmen, umgeben von einem Kranze, den die andern Fischer ihnen geschenkt, die Rettungsmedaillen Antoine's und seiner heldenmüthigen Frau. In einer Nische stand, verhüllt von einem reinen gewürfelten Vorhang, das unermeßliche Bett der beiden Leute, in einer Ecke ein Betpult, mit Weihwasser und dem Bild der Mutter Gottes darüber.

Eines Tags fragte Michael die Fischerin, ob sie keine Kinder habe.

»Doch, doch!« war die Antwort. »Zwei Söhne – freilich die sind gestorben als kleine Buben; aber eine Tochter haben wir noch, und das ist unser Stolz und unser Glück. Seht ihren letzten Brief.«

Sie zog ein ganz zerknittertes Papier aus dem Busen. Michael, dem sie es dicht vor die Augen hielt, sah, daß es mit einer feinen zierlichen Handschrift bedeckt war.

»Seht, das ist ihr letzter Brief. Alle Monate schreibt sie mir so einen, und den trage ich dann bei mir, bis wieder einer kommt. So habe ich doch immer etwas von meinem Kinde bei mir.«

Michaels Augen standen voll Thränen; er dachte an die Liebe seiner eigenen todten Mutter, und die Fischerin war plötzlich seinem Herzen weit näher gerückt.

»Wie alt ist Eure Tochter?«

»Zweiundzwanzig Jahre, und so geschickt! Es gibt gar keine Kunst, die sie nicht versteht.«

»Wie kommt es denn, daß Euer einziges Kind nicht bei Euch ist?«

»Wie das kommt? Ja, seht, das ist freilich traurig, aber es war nicht zu ändern. Ich war die Amme der jungen Gräfin Liancour. Die Aeltern wohnten in Rouen und ließen mir das Kind bis zum zehnten Jahre, weil es bei dem Aufenthalt in der Stadt immer gleich krank wurde. Die Kleine liebte meine Tochter, ihre Milchschwester, mehr als ihre eigenen Verwandten, und als sie in ihrem elften Jahre mit ihren Aeltern Schloß Liancour, zwanzig Meilen von Rouen, bezog, mußte Fanny jeden Sommer ein paar Monate bei ihr zubringen, wo sie auch jedes mal Unterricht mit ihr erhielt und immer ganz gelehrt und aufgeputzt wie eine Prinzessin zu mir zurück kam. Im Staat sah sie nicht übel aus, obgleich sie nie schön war; car c'est une brune, comme moi«, setzte sie lachend hinzu.

»Nun aber, um meine Geschichte fertig zu erzählen: Gräfin Emilie verheirathete sich an einen jungen Herrn du Mesnil. Sie war sehr glücklich, aber in ihrem ersten Wochenbette starb sie. Sie war immer ein zartes Geschöpf gewesen, und nur meine Liebe und Sorge und unsere gute Seeluft hatten ihr als Kind das Leben erhalten. Als die Baronin den Tod herankommen fühlte, dictirte sie ihrem Geistlichen einen Brief an ihre Milchschwester, meine Tochter, worin sie diese beschwor, auf ihr Schloß zu kommen und ihr Kind zu pflegen, bis es groß genug sei, um in eine Pension einzutreten. – Unter den Brief hatte der Baron geschrieben, daß die arme junge Mutter wirklich noch denselben Abend gestorben sei und daß er meine Tochter bestimmt erwarte. Da ließ ich sie denn gehen, meine einzige Freude; ich konnte nicht anders, um der Todten willen, die ja auch mein Kind war. Nun, noch ein paar Jahre – seit drei Jahren ist sie schon dort – und sie kommt wieder, und dann lasse ich sie nicht mehr von mir bis zu meinem Tode.«

»Wenn sie sich aber verheirathet?«

»Sie wird sich nicht verheirathen. Sie will nicht und ich will's auch nicht.«

»Aber warum nicht?« fragte Michael, der mit immer mehr Theilnahme der Alten zuhörte; »Ihr seid ja doch selbst glücklich und habt einen braven Mann.«

»Das ist ein bloßer Zufall; es hätte mir auch recht schlecht gehen können. Ich war, wie ich Euch gesagt, im älterlichen Hause schon dreißig Jahre alt geworden und wollte nicht heirathen. Ich war ein Schiffer, ein Fischer, ein Leuchtthurmwärter, aber keine Frau, et il ne me convenait non plus, ce métier de femme! – Da bekam ich eine Stiefmutter, und Ihr wißt, was das heißt. Ich hatte seit Jahren alle Freier zurückgewiesen; jetzt war ich entschlossen, den Ersten Besten zu nehmen, und oft rief ich im Zorn: ›et s'il vient un chien avec un chapeau sur la tête, je l'épouse!‹ Dafür hat es nun der Himmel gnädig mit mir gemeint. Antoine hatte zwar keinen Pfennig, aber er war ein braver Mann, und hat mir nie ein unfreundliches Wort gesagt.«

Da Michael in seiner ersten Jugend viele Freude am Malen gefunden, so holte Iwan jetzt aus der Stadt alles Geräthe herbei, das dazu nöthig war, und legte es seinem Herrn vor die Augen, und wirklich machte Michael bald Gebrauch davon. Er malte nur Seestücke; eines davon war besonders bemerkenswerth und machte auf den Beschauer einen unheimlichen Eindruck. Eine stürmische See, kein Ufer, im Vordergrunde nur eine zackige Felsenklippe, die dem nahenden Fahrzeug unfehlbaren Untergang bringen mußte. Mitten in den aufgeregten schäumenden Wellen war eine kleine Barke, darin ein einziger Mann im russischen Nationalhemd, dessen Haare auch nach der Sitte jenes Volks geschnitten waren. Aber seine Physiognomie war nicht russisch; ein ovales Gesicht, sanfte regelmäßige Züge, lange mandelförmige Augen. Es wäre ein Porträt Michael's gewesen, wenn der Mann nicht dunkle Haare gehabt. Der Mann kniete im Kahn, beide Arme zum Himmel erhoben, offenbar in sein Schicksal ergeben. Dieses Schicksal kam unabwendbar in Gestalt einer ungeheuern Welle ihm entgegen, die ihn an die Klippe hinter ihm werfen mußte, um ihn und sein Schiff zu zerschellen. Es war wie das Schwert des Damokles für den Beschauer; im nächsten Augenblick konnte nur Tod und Vernichtung eintreten. Doppelt schauerlich wurde das Bild dadurch, daß die todbringende gigantische Welle einer weißen Menschengestalt glich, einem Gespenst mit ausgestreckten Armen. Dies fiel freilich erst bei näherer Betrachtung auf, denn die Formen ließen sich nur in den Schaumbildungen erkennen. – Ein dunkelgrauer, fast schwarzer Himmel ruhte schwer und erdrückend auf dem Ganzen. Iwan brach in Thränen aus, als er es sah, und Madeleine sagte:

»Wenn man das Bild immer vor Augen hätte, könnte man verrückt werden.«

Iwan wollte es entfernen, aber Michael litt es nicht und sagte:

»So sieht es in meinem Innern aus. Warum soll ich nicht außer mir diesen Anblick leicht ertragen?«

So wurde diese Beschäftigung, indem er nur düstere Bilder entwarf, mehr eine Quelle der Aufregung und innerer Anstrengungen für ihn, als eine Zerstreuung und Ableitung, wie Iwan gehofft.

Da wurde die bisher so rüstige Madeleine leidend, sie bekam heftige Gichtschmerzen, und fing an zu bereuen, daß sie ihr ganzes Leben lang sich immer zuviel zugemuthet. – Eines Abends ließ sie Michael zu sich bitten.

»Es geht so nicht länger, Herr«, sagte sie. »Das Hauswesen kommt mir ganz in Unordnung, Fanny muß herbei, ich bin doch ihre Mutter. Schreibt ihr das, lieber Herr, in meinem Namen; denn Antoine's Schreibkunst kann ich so Vieles und Wichtiges nicht anvertrauen; kein Heiliger verstünde den Galimathias, den der zu Stande brächte. Für die gewöhnliche Correspondenz reicht seine Kunst schon aus; Fanny ist dann schon klug genug, zu errathen, was er ihr sagen will.«

Antoine, der in der Ecke saß, lächelte gutmüthig bei diesem Lob seiner Kalligraphie, und dachte nicht daran, sich zu vertheidigen. Michael aber ging hinauf und holte Papier und Feder, und ließ sich dann von Madeleine in ihrer eigenthümlichen Redeweise Wort für Wort den Brief an ihre Tochter dictiren. Als er fertig war, siegelte er mit seinem eigenen Siegelringe, denn ein anderes Petschaft war nicht im Hause zu finden, da ein Sousstück bisher diesen Posten zur vollkommenen Zufriedenheit für beide Eheleute ausgefüllt hatte.

Eines Mittags saß Tolstoi in seinem Zimmer vor einem Gericht Fische, das Antoine mit viel Aufwand von Geschicklichkeit und gutem Willen bereitet, als ein ungewöhnliches Geräusch ihn aus seinen Träumen aufriß und ans Fenster lockte. Vor der Thüre hielt ein eleganter Reisewagen. Antoine öffnete den Schlag mit dem tiefsten Respect und konnte sich gar nicht zurecht finden, als die junge Dame, die ausstieg, sich mit einem lauten Freuderuf in seine Arme stürzte. Ihr folgte ein Dienstmädchen, die ein dreijähriges Kind auf dem Arme trug.

»Und nun zur Mutter!« rief Fanny. Sie verschwand mit Antoine in das Haus.

Auf Michael hatte sie den angenehmsten Eindruck gemacht, obgleich sie nicht aussah wie die Frauen, die er von Jugend auf als Schönheiten bewundert. – Sie hatte einen sehr dunkeln Teint, ein kleines feines Näschen und einen Mund mit weit vorspringender Oberlippe, was ihrem Profil etwas Kindliches gab. Wunderschön waren ihre Augen, nicht blos in Form und Farbe, sondern auch im Ausdruck. Sie hatte die Gewohnheit, sie langsam zu schließen und wieder zu öffnen, worüber man sich jedesmal freute; denn wenn die langen Wimpern sich hoben, wurde einem wohl ums Herz. Ihre Gestalt entbehrte der Fülle; aber sie war groß und schlank und zierlich in ihren Bewegungen. – Dies Alles hatte freilich Michael in dem einen Augenblicke nicht so genau bemerken können; wir geben nur gleich das Resultat seiner spätern Beobachtungen, um unsere Freundin würdig in diese Erzählung einzuführen.

Nach einer Stunde ließ Madeleine Herrn von Tolstoi zu sich bitten: sie müsse ihm ihre Tochter vorstellen. Der mütterliche Stolz wollte sein einziges Kleinod bewundern lassen.

»Da ist sie nun!« rief sie mit glänzenden Augen Michael aus ihrem Bette entgegen; »da ist sie nun, und Eurem schönen Briefe danke ich es, daß sie so bald gekommen ist. Siehst du, Fanny, das ist der Herr, dessen Handschrift du so schön findest.«

Fanny wurde dunkelroth, aber sie sagte mit leiser, wohlklingender Stimme:

»Ich danke Ihnen, mein Herr, daß Sie so gütig waren, meiner armen Mutter den Brief zu schreiben.«

»Er hat es gern gethan, Fanny, gewiß sehr gern«, fiel Madeleine ein. »Aber denkt, lieber Herr, der Baron hat sein Kind meiner Tochter mitgegeben, und in seinem eigenen Reisewagen hat er sie hierherführen lassen, das ist doch eine große Ehre, nicht wahr? Mais je n'en deviendrai pas fière. Je suis une femme raisonnable.«

Michael sprach mit dem kleinen Mesnil; es war ein reizender Junge, voll Feuer und Leben, der dem neuen Bekannten entgegen kam, wie einem alten Freund. Iwan versprach sich von dem Knaben viel für die Aufheiterung seines Herrn, und zum ersten mal hegte er einen schlimmen Wunsch für Madeleine: Er betete, daß sie nicht so bald hergestellt würde, damit Fanny recht lange mit dem Knaben hier verweilen müsse.

Das ganze Hauswesen, so klein es war und blieb, bekam nun einen andern Zuschnitt. Michael aß jetzt auf seines Dieners dringendes Bitten nicht mehr allein, sondern mit Antoine, Fanny und dem Kleinen. Iwan wartete bei Tische mit demselben Eifer auf, als hätte er die zwanzig Schüsseln der ehemaligen Tolstoi'schen Tafel zu besorgen; Michael fing an, wieder etwas mehr Sinn für seine Umgebung zu bekommen, und Fanny suchte auf echt weibliche Weise diese Umgebung so angenehm als möglich zu machen. Seinem Zimmer wußte sie fast jede Woche eine kleine Bequemlichkeit, einen kleinen Luxus hinzuzufügen.

Michael's Schwermuth hatte Fanny gerührt. Vom Tolstoi'schen Familienunglück, dem Wahnsinnigwerden im dreißigsten Jahre, wußte sie freilich nichts, denn davon sprach Iwan um keinen Preis; aber daß Michaels Gattin, die er auf den Händen getragen, ihm treulos geworden, daß seine Mutter gestorben und er nun ganz einsam und verlassen auf der Welt stehe, das hatte er ihr mitgetheilt, um ihre Theilnahme zu wecken, von der er viel Gutes für seinen Herrn hoffte. Und das war ihm auch vollkommen gelungen. Fanny empfand das tiefste, innigste Mitleid mit dem blassen blonden Manne, der zwar kaum ein Wort mit ihr sprach, aber sie immer mit milder Freundlichkeit begrüßte, wenn sie ihm begegnete. Mit ihrem Pflegling aber gab er sich viel ab. Er führte den Knaben überall mit sich herum, sodaß dieser bald große Liebe zu ihm faßte und ihn nicht mehr verlassen wollte. Ein kleiner Umstand bewies, welche große Herrschaft das Kind über Tolstoi erlangt hatte. Das Bild, wovon wir früher gesprochen und das für Michael ein Bild seines eigenen Schicksals war, hing noch immer über seinem Bette. Vor diesem Bilde fürchtete sich das Kind. Einst als Tolstoi nach dem Essen den Kleinen mit sich in sein Zimmer nehmen wollte, sagte er:

»Ja, wenn du das häßliche Bild wegthun willst.«

Fanny sah mit ihren wunderbaren Augen Michael bittend an:

»Darf ich ein anderes hinhängen?« denn auch ihr graute vor dem Gemälde. Tolstoi nickte mit dem Kopfe; man konnte Fanny's Augen nichts abschlagen. Sie flog aus dem Zimmer. Als Michael mit dem Kinde herauf kam, hing über dem Bette ein schöner Christus, ein Kupferstich nach Ary Scheffer. Es ist der Heiland auf seinem Throne, der jetzigen Welt gegenüber, die er tröstend aufrichtet. Mehre Nationen haben Einen aus ihrer Mitte geschickt, und für Alle ist das Gnadenblut des Heilandes eine Quelle des Trostes und der Verheißung; den Sklaven und den Gefangenen zu seinen Füßen fallen durch die Berührung seiner heiligen Hände die Ketten ab. Den schönen Kupferstich hatte Herr du Mesnil der treuen Pflegerin seines Kindes geschenkt, und sie hatte ihn mitgebracht, um ihn im Zimmer ihrer Mutter aufzuhängen; aber sie sah bald ein, daß er unter die Bilder dort nicht paßte, und die jetzige Gelegenheit, eines Menschen Herz damit zu erfreuen, konnte sie nicht vorübergehen lassen.

Sie war überhaupt eine der Frauen, die nur auf der Welt zu sein scheinen, Andere zu erfreuen, zu trösten, zu pflegen und zu heilen. Sie sprach selten und lachte noch seltener; aber eine milde Freundlichkeit wich nie aus ihrem Gesichte. Was sie sagte, war nie etwas Merkwürdiges oder Pikantes, oder gar Naives, aber es war immer etwas Passendes, etwas Verständiges oder Wohlthuendes. An den niedern Stand, in dem sie geboren, konnte bei ihrem Anblick Niemand denken; denn ohne elegant in ihrem Aeußern zu sein, war sie so durchaus anständig und würdevoll, so echt edel weiblich, daß sie eben immer nur den Eindruck einer Edeln machen konnte. Der Adel war ihrem Herzen und ihrer Seele angeboren, und das ist ja der echte Adel, von dem alle andern nur gemachte Nachbildungen sind. Der Umgang mit ihrer verstorbenen Milchschwester hatte natürlich auf die Bildung ihres Geistes wohlthätig gewirkt, und obgleich Fanny unter solchen, die wir gebildete Damen nennen, keinen Platz gefunden hätte, so wußte sie doch unendlich mehr als unsere Mütter in ihrer Jugend, und wir sind doch stolz, uns die Kinder solcher Frauen nennen zu dürfen.

Auf Michael's Seele machte Fanny's Christusbild wirklich bedeutenden Eindruck. Er stand lange davor mit gefaltenen Händen und betete leise und innig; es war das erste Gebet, das ohne bittere Klage aus seinem Herzen zum Himmel aufstieg.

*

7. Das starke Herz.

Es war wieder ein Abend an der See, aber nicht einer wie der, den wir beschrieben, kein trauriger, düsterer. Die Sonne ging unter in voller Majestät, nur leichte Wölkchen hingen am Abendhimmel, und das Meer war tiefblau, wie ein schönes Menschenauge. Auch heute saß Michael wieder am Ufer, doch auch er war nicht trostlos wie früher, obgleich tiefe Schwermuth sein schönes Gesicht beschattete. Er war auch nicht allein; er saß zu den Füßen Fanny's und blickte auf zu ihren Augen, und sog sich Trost und Heilung daraus, denn er liebte sie nun von ganzer Seele. Und wie wäre es auch anders möglich gewesen? Er sah den ganzen Tag das liebenswürdigste, sanfteste Geschöpf vor sich, stets beschäftigt, für Andere zu sorgen und zu wirken; wie hätte er da nicht lieben sollen mit seinem liebebedürftigen kranken Herzen?

Er hatte ihr soeben von seiner Liebe gesagt, aber zugleich auch von dem gräßlichen Schicksal, das ihn in seinem dreißigsten Jahre erwarte. Der schöne stille Abend hatte seine Zunge in Lust und Leid gelöst, er hatte sein armes Herz ganz ausgeschüttet. Fanny hielt seine Hand und sagte mit ihrer lieblichen, sanften Stimme:

»Daß ich Sie liebe, haben Sie längst gefühlt, vielleicht früher, als ich es selbst fühlte, sonst hätten Sie nicht so zu mir sprechen können, wie Sie eben sprachen. Gewußt habe ich es selbst nicht eher, als jetzt, und so erfahren wir es eben zu gleicher Zeit. Das Unglück Ihrer Vorfahren und Ihres Vaters ist herzergreifend; aber grämen Sie sich nicht zu sehr deshalb, Sie selbst wird der Himmel verschonen, dafür bürgt mir eine innere Stimme.«

»Was ist das für eine Stimme, Fanny?«

»Diese Stimme ist die meines Herzens, und das ist eine feste und sichere Stimme, Tolstoi, auf die kann ich mich verlassen. Mein Geist vermag Vieles nicht zu fassen, denn ich bin ein schwaches, einfältiges Mädchen; aber dafür offenbart mir der Himmel, was ich wissen soll, durch das Gefühl, und so kommt es oft, daß Das, was kluge Menschen um mich herum vermöge ihrer Urteilskraft voraussehen, ich vermöge meines Gefühls ahne. Meine Ahnungen gehen wunderbar in Erfüllung, verlassen Sie sich darauf.«

Sie sprach die Wahrheit. Liebende weiche Herzen sind selten mit starken, entschlossenen Charakteren verbunden. Fanny machte eine seltene Ausnahme. Sie hatte ein weiches, sympathetisches Herz und den kräftigsten Charakter. Das gab ihren Gefühlen die Kraft, selbst auf theilnahmlose fremde Menschen zu wirken. Wenn sie von einer Empfindung durchdrungen war und sie äußerte, so wurde, wer ihr zuhörte, wenigstens für den Augenblick mit davon ergriffen; denn im warmen, lebendigen Gefühl, das sich wahr und lebhaft äußert, liegt eine große sympathetische Kraft, und der Redner, der fühlt, was er vorträgt, ist im Voraus seines Sieges gewiß. Und dies allein hat Reformatoren möglich gemacht; denn durch die Ueberzeugung des Geistes auf den Geist wirken in Angelegenheiten, die keine Thatsachen sind, wird immer ein Resultat hervorbringen, wie das des Thurmbaues zu Babel.

Michael sah überrascht in die strahlenden Augen seiner Fanny; denn daß sie sein war für alle Zeit, dessen war er sich jetzt schon klar bewußt; und eine wunderbare Kraft floß aus ihrem starken, warmen Herzen in sein zagendes, getäuschtes über. Aber er wagte noch nicht, dieser Seligkeit sich hinzugeben, er war ja ein dem Unglück Geweihter! Und dennoch ging nach und nach eine merkwürdige Veränderung mit ihm vor. Fanny, die wohl empfand, daß die Unthätigkeit, in welcher Michael lebte, bei seinen schwarzen Zukunftsträumen das Nachteiligste sei, da selbst ihre Liebe diese noch nicht bannen konnte, bewog ihn, da sie jetzt daran denken mußte, in das Haus Herrn du Mesnil's zurückzukehren, später in Rouen seine Wohnung aufzuschlagen und sich mit wissenschaftlichen Arbeiten zu beschäftigen.

Sie fragte ihn einmal:

»Was willst du denn in der Zukunft treiben, Geliebter? und wo willst du leben?«

»Als wenn es eine Zukunft für mich gäbe!« sagte Michael düster.

»Mir zu Liebe denke dir, es gäbe eine«, versetzte Fanny, indem sie ihre Hand auf seine Schulter legte, und so fest und zuversichtlich ihn ansah, daß er nach einer Weile sagte:

»Dann würde ich mir von dem ziemlich bedeutenden Vermögen, welches meine gute Mutter für mich in Florenz deponirt hat, ein Gut hier in Frankreich kaufen und dort leben mit dir, für dich!«

Zum ersten male seit ihrem Liebesverhältniß mit Michael erröthete Fanny über Etwas, das er sagte. Er sah es und fragte:

»Du wirst roth? Hast du nie daran gedacht, daß ich, wenn der Himmel wirklich ein Gnadenwunder an mir thut, wie du doch zu glauben scheinst, dich dann nicht mehr von mir lasse?«

»Doch, doch, ich habe daran gedacht«, sagte Fanny in ihrer aufrichtigen Weise, »aber –« –

»Du denkst doch nicht an Feodora? Von ihr bin ich getrennt. Iwan hat mir alle Documente mitgebracht, ich habe sie aber noch nicht angesehen; damals hatte meine Freiheit noch nicht den Werth für mich, den sie jetzt hat.«

Bald darauf ging Michael nach Rouen und von da zu einem berühmten Landwirth in der Umgegend, bei dem er sich eifrig mit landwirthschaftlichen Studien beschäftigte; denn Fanny richtete fortwährend seine Augen auf eine glückliche Zukunft, an die sie fest glaubte. Sie selbst kehrte, da Madeleine wieder rüstig umherging, zu Herrn du Mesnil zurück. Die Zeit bis zum Ende der Unglücksperiode sollten sie noch getrennt bleiben, da Fanny sich durchaus weigerte, ihm früher ihre Hand zu reichen.

»Ich wäre glücklich, könnte ich es thun«, sagte sie zu ihm, als er so dringend bat, »denn ich liebe dich, wie du mich. Wie gern verwandelte ich die fünf langen Jahre der Trennung von dir in fünf Jahre der Vereinigung! Aber es kommt mir sündhaft vor, auf des Himmels Gnade zu rechnen, und wer sie demüthig erwartet, kann sich nicht in Lust und Freude vermählen. Der Himmel fodert nicht Buße, aber er fodert Entsagung und Geduld. Das höchste Glück muß verdient werden, gewonnen wird es nicht. So ist mir, und lasse mich in dieser meiner höchsten Angelegenheit nach meiner Ueberzeugung handeln; man hat mich ihr bis jetzt immer folgen lassen, wo es doch nur Geringeres betraf.«

Michael wurde nun ein ganz anderer Mensch. Was das Unglück bei ihm begonnen, vollendete die Liebe; er wurde ein edler fester Charakter. Obgleich ihn keinen Augenblick die düstere Vorstellung seines ihm drohenden Unglücks verließ, so gewöhnte er sich doch, ihm fest und sicher ins Auge zu blicken. Er arbeitete und lernte; er wirkte und schaffte. Ein schönes Gut in der Normandie, das er sich nach zwei Jahren gekauft, gewährte ihm die beste Gelegenheit, seine Kräfte anzuwenden. Seine Gesundheit stählte sich, und die Lichtblicke seines Lebens, die kurzen Zusammenkünfte mit Fanny, gaben ihm Muth und Ausdauer.

Einst, als er bei ihr war, erhielt er ganz unerwartet einen Brief von Feodora aus einem russischen Kloster an der asiatischen Grenze. Sie hatte die mannichfachsten Schicksale erlebt. Geliebt, um verlassen zu werden, und wieder geliebt, um wieder verlassen zu werden – das war ihre Geschichte. Sie machte Tolstoi die bittersten Vorwürfe, daß er ihre Reue nicht angenommen; denn der Augenblick, wo er zuletzt vor ihr gestanden, sei der einzige gewesen, wo sie für einen Mann wahre, tiefe Neigung empfunden.

»Sie hätten da Alles aus mir machen können, ich war wie weiches Wachs in Ihrer Hand; aber Sie warfen meine Seele von sich und Dämonen hoben sie auf.«

So schrieb sie. Der Entschluß, in ein Kloster zu gehen, schien bei ihr durch ein äußeres Unglück, durch den Verlust ihrer Schönheit, herbeigeführt. Auf einer Reise durch Deutschland war sie auf einer schlechten Landstraße umgeworfen worden und hatte dabei ein Auge verloren. Die Veranlassung des Briefes war, daß sie die Pension, die ihr Michael ausgesetzt, in seine Hände zurücklegte, da sie jetzt nichts mehr bedürfe.

Fanny las den Brief, den ihr Michael gab, ruhig zu Ende.

»Gerade so habe ich sie mir gedacht. Aber sie ist des tiefsten Mitleids werth, denn sie ist ohne Trost.«

Tolstoi war nicht ohne Trost, denn sie war bei ihm mit ihrem liebenden starken Herzen. Sie war noch nicht seine Frau, aber sie war ihm unendlich mehr, sie war sein Engel, sein Schutzgeist.

Michael's Geburtstag, sein einunddreißigster, kam herbei. – Fanny ging mit ihm zur Kirche, um mit ihm Gott zu danken; seine Knie wankten, sein Herz schlug hörbar. Wie eine Heilige stützte sie ihn geistig und körperlich. Am Abend umklammerte er ihre Knie; sein blaues Auge blickte klar und selig zu ihr auf.

»Aber nun sei mein, heute noch!«

»Morgen«, sagte sie mild.

Es war das letzte mal, daß sie ihm widersprach. Am andern Tage wurden sie getraut, und von nun an lebte sie nur, um seine Wünsche zu erfüllen. – Es war im Jahre 1841, als Michael sein dreißigstes Jahr erreichte, und nun, da wir vier Jahre mehr erlebt, ist er noch einer der vernünftigsten, heitersten Männer; und neben ihm steht eine Frau, die drei mal des Tages sich in ihrem reinen Innern die glücklichste nennt.


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