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Drittes Kapitel.

Der Flüchtling.

Wenden wir unsere Betrachtung jetzt der Stubnitz zu, jenem herrlichen vielbesprochenem Walde, der sich, auf der ganzen Nordostküste Jasmunds, bis hart an den Strand reichend, anderthalb Meilen lang, eine halbe breit und von vier Stunden Umfang, erhebt und eigentlich ein Chaos von Hügeln und Schluchten bildet, durch welche viele kleine Bäche dem Meere zustreben. Hehr und dicht ist dieser Landstrich mit strotzigen Buchen bewachsen, die durch zahllose Stürme gekräftigt sind und im steten Genusse der frischen Seeluft eine Fülle und Mächtigkeit erlangt haben, wie man sie nur auf wenigen Küstenpunkten des baltischen Meeres findet. Verdichtet wird dieser Wald und an manchen Stellen fast undurchdringlich gemacht durch ein üppig wucherndes Unterholz, namentlich an seinen Rändern; sein charakteristisches Gepräge aber erhält er durch den bewunderungswürdig reichen und in allen möglichen Abstufungen von Grün schillernden Teppich, der sich unter den stämmigen, gleich Säulen eines unermeßlichen Tempels ragenden Waldbäumen ausbreitet und fast ewig beschattet wird von einem Laubdache, dessen Blätterfülle und Üppigkeit vergeblich ihresgleichen auf unserem Erdteile sucht.

Dieser Teppich, über den der Fuß des Wanderers sanft dahintritt, ohne das geringste Geräusch hören zu lassen, und der aus verschiedenen Arten der herrlichsten Moose besteht, zwischen welche hie und da prachtvolle Farnkräuter, kleine Büsche und buntfarbige Pilze eingestreut sind, bildet ein wahres Moospolster von nie gesehener Dicke und Dichtigkeit und bekleidet nicht allein den Boden und den Fuß der Baumstämme, sondern überzieht auch die großen Geröllblöcke, die reichlich durch die ganze Stubnitz verstreut sind, wodurch er ihnen das Ansehen alter überwucherter Grabhügel verleiht, was, wie Boll so schön sagt, den ersten Eindruck, den dieser stille, einsame und majestätische Wald an sich schon macht, noch wesentlich erhöht.

Um nun aber auch eine angenehme Abwechselung in diesen düsteren Schatten zu gewähren, ziehen sich frisch grünende Erlen in reichlicher Fülle in dem Innern der vielen Schluchten fort, die, wie schon erwähnt, leise murmelnde Bäche durchrieseln, zwischen denen sich ein prächtiger Blumenkranz von Vergißmeinnicht, Anemonen und Maiblümchen ausbreitet: in manchen dieser Schluchten aber wuchern das Unterholz, die mannigfaltigsten Gebüsche, das Moos, die Blumen in einer solchen Fülle, daß das Durchstreifen derselben unmöglich wird und auf diese Weise sich Schlupfwinkel erzeugen, die zu erforschen einem Fremden sehr schwer fallen dürfte.

Belebt wird diese herrliche Waldgegend durch große Herden des edelsten Hochwildes, das in ziemlicher Traulichkeit in der Nähe des Wanderers weidet; durch die Lüfte rauschen oft mit schwerem Flügelschlage riesige Seeadler, die nicht selten mit den Bewohnern des Dickichts, den Steinadlern, in Kampf geraten, und unzähliges Geflügel allerlei Art, welches einem rüstigen Jägersmann die reichlichste Beute bietet.

Eine Zugabe aber ist der Stubnitz noch zuteil geworden, die die ursprünglichen Schatten derselben noch geheimnisvoller und rätselhafter macht, und ihr damit das ernsteste und feierlichste Gepräge aufdrückt, das ein solcher Wald nur tragen kann. Wir meinen die in ihr aufgehäuften zahlreichen und oft von kolossalen Verhältnissen zeugenden geschichtlichen Denkmäler und Grabstätten, die aus einer noch unergründeten Zeit herrühren und Geheimnisse verschleiern, die bis jetzt noch kein Altertumsforscher zweifellos aufgeklärt hat. Daß sie aus slavischen Zeiten stammen, nimmt man jetzt als ausgemacht an, wozu sie aber gedient haben, was man mit ihrer Erbauung bezweckt hat, ist oft nicht zu durchschauen. So begegnen wir an den verschiedensten Stellen jenen vielgenannten Opfersteinen, an denen das Auge des romantischen Wanderers fast nie die sogenannte Blutrinne vermißt, fast noch häufiger aber den seltsamen Kegelgräbern, die oft einen außerordentlichen Umfang und eine ungewöhnliche Höhe haben, so daß man von ihren Gipfeln aus die prachtvollsten Fernsichten über die Stubnitz, das Meer und seine fernen Begrenzungen gewinnt.

Diese alten Denkmäler einer lange vergangenen Zeit, namentlich die Grabstätten, waren in den Tagen, von denen wir hier sprechen, vorzugsweise dem feindlichen Vandalismus der okkupierenden französischen Soldaten ausgesetzt; man grub mit scheuer Hast in die alte verwitterte Erde, wühlte tief in den heiligen Boden hinein, um vermutete Schätze zu finden, und da man sich stets getäuscht fand, verwüstete man oft zur Unkenntlichkeit viele Stätten, die allein der Erinnerung einer grauen Vorzeit gewidmet sein sollten. Manche von ihnen jedoch wagte selbst der tollkühne Sinn der Franzosen nicht anzurühren, sie waren und blieben ihnen unheimlich, weil sich an sie die bald vernommene Sage von Spuk und Gespenstern knüpfte, mit denen sie in Berührung zu geraten eine unüberwindliche Scheu zeigten, und so verschonten sie oft aus Furcht, was sie aus Habsucht gern verstümmelt hätten.

Mögen diese allgemeinen Umrisse dem Leser, der die Stubnitz noch nicht gesehen hat, genügen und kehren wir jetzt zu unserer unterbrochenen Erzählung zurück.

Einer der am häufigsten besuchten Punkte in dem eben bezeichneten Walde ist der Hertha- oder schwarze See mit seiner mild romantischen Umgebung in der Nähe von Stubbenkammer. Wer hat nicht schon von diesem berühmten Herthasee gehört, in dessen Nähe der Herthadienst gefeiert wurde, dem von übermütigen Priestern alljährlich Menschenopfer dargebracht worden sein sollen? In Wahrheit, der Ort selbst ist ganz dazu angetan, ein gewisses Mysterium in grauer Vorzeit voraussetzen zu lassen, und wer empfänglichen Geistes für übernatürliche Begebnisse ist, wer weichen Herzens den Schauern der Natur unterliegt, der kann sich beim Anblick dieses stillen einsamen Wasserspiegels, den der Schatten hundertjähriger Bäume und der hohe graue Burgwall noch mehr verdunkeln, in düsterer Nachtzeit wohl dem Gedanken hingeben, daß hier schauerliche Dinge geschehen, daß unschuldige Menschen in die unergründete Tiefe versenkt seien, und der heidnische Götzendienst hier seine gräßlichen Orgien gefeiert habe.

Still, feierlich, fast traurig still dehnt sich dieser düstere Wasserspiegel in seiner weiten ovalen Rundung aus, gespenstische Schatten wirft der Buchenwald, der bis hoch zum Gipfel des nahegelegenen Burgwalles hinansteigt, darüber hin, und geisterhafte Lichter strahlen durch die Zweige der noch wenig belaubten Bäume, als wir beim Vollmondschein, den zerrissene Flugwolken umgeben, in der elften Nachtstunde, etwa den Rand des Sees betreten.

Das Gewitter des Abends, welches wir vorher beschrieben, ist lange vorübergerauscht, der Sturm hat sich ausgetobt, und nur ein leiser Wind streicht noch von Zeit zu Zeit seufzend durch die Waldung und läßt das Schilf, das die Ufer des Sees fast rings umgibt, jenes flüsternde Geräusch ausstoßen, das so oft mit den Stimmen abgeschiedener Geister verglichen worden ist. Außer diesen Tönen stört die tiefe Einsamkeit nur noch bisweilen das rauhe Gekreisch eines wilden flüchtigen Entenschwarms oder das dumpfe Geheul einer auf Raub ausgehenden Waldeule, oder endlich das Fallen einzelner Tropfen, die sich auf den Blättern angesammelt haben und allmählich zur Erde sinken, das quellende Moos befeuchten und jenen süßen Duft erzeugen, den wir so gern atmen, wenn ein Gewitterregen die lange Dürre eines warmen Frühlings mit der ersehnten Feuchtigkeit erfrischt.

Sonst ist alles still, grabesstill, ringsum, und diese Stille harmoniert mit dem halben Dämmerlichte, welches der bald hinter Wolken sich verbergende, bald glänzend daraus hervortretende Mond mit zauberartiger Wirkung über die Nachtszene gießt.

Wir treten von dem südlichen Ende des Burgwalles an das bewaldete Ufer des Sees und bahnen uns einen Weg durch das elastische Moos, durch Schilf und Binsengestrüpp, welches ihn damals fast vollständig einschloß: endlich erreichen wir das Ufer und sehen mit feierlichem Ernste den glitzernden Mondstrahl sich im Wasser spiegeln, der seine flammende Lichtgarbe über die ganze Breite des Sees wirft und die grünen Blätter der Wasserpflanzen versilbert, die sich auf seiner dunklen Fläche wiegen.

Wir leihen einen Augenblick unser Ohr den vorher angedeuteten Stimmen der Natur, versetzen uns im Geiste ein Jahrtausend zurück und durchfliegen die verschiedenen Zeitepochen, die auch dieser See ungewandelt an sich hat vorüber streichen sehen. Da heben wir unser Ohr und lauschen nach dem jenseitigen höheren Waldufer hinüber. Wir hören das Brechen und Knacken einiger vertrockneter Zweige und glauben einen Menschen drüben aus den Bäumen hervor an das Ufer treten zu sehen. Aber in letzterer Annahme haben wir uns getäuscht, es ist kein Mensch, vielmehr ein Hirsch, den frevelnde, gewalttätige Fremdlinge an diesem Nachmittage in der nördlichen Stubnitz gejagt haben, und der zu seiner und unserer Freude glücklich entkommen ist. Langsam, vorsichtig tritt das große Tier des Waldes an den Rand des Wassers – wir erkennen es im klaren Mondlichte genau – blickt sich scheu rings um und beugt dann seinen schönen Kopf mit der stolz getragenen Bürde in die Flut, um seinen brennenden Durst zu löschen und dann, bis an die Brust in das Wasser watend, die heiße Wunde zu kühlen, welche die feindliche Kugel in eine seiner Flanken gerissen hat. Sein Durst muß qualvoll, lechzend, fieberhaft sein, denn er trinkt lange und wiederholt, kehrt dann endlich an das Ufer zurück und schaut sich forschend nach allen Richtungen der Waldtiefen um, als wäre er ungewiß, welchen Weg er einschlagen solle, um sicher zu seinem Nachtlager, seiner Hirschkuh und seinen Jungen zu gelangen.

Da hebt er plötzlich die Nüstern empor, horcht nach der östlichen Seite des Wassers hinüber und wirft dann den Kopf zurück und entflieht in das dunkle Walddickicht. Sein scharfes Ohr hat einen Menschentritt vernommen, den auch wir endlich hören, aber bald steht er wieder im Laufe still, blickt noch einmal sehnsüchtig nach dem Wasser zurück und kommt dann langsam in die Nähe desselben, um nochmals seinen sich wieder einstellenden Durst zu löschen.

Doch wir wenden uns jetzt zu dem nahenden Menschen. Wo kommt er in so tiefer Nacht her? Was will er in dieser Waldeinsamkeit? Wen sucht er, was beginnt er?

Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir uns mit ihm genauer beschäftigen, ihm eine Strecke entgegengehen und zu diesem Zwecke die Höhen der nahen Stubbenkammer ersteigen.

Wer hat nicht schon die herrliche Stubbenkammer auf Rügen gesehen oder wenigstens davon gehört und eine der vielen Beschreibungen gelesen, die, sie mögen so richtig und klar sein, wie sie wollen, doch niemals die Natur in ihrer wunderbaren Majestät, Größe und Schönheit erreichen, so daß man, wenn man nach Abbildungen und Schilderungen der trefflichsten Art auf den Eindruck des Ganzen vollständig vorbereitet zu sein glaubt, doch beim ersten Anblick der Wirklichkeit vor Erstaunen und Bewunderung den Athem stocken fühlt und sich bekennen muß, daß es Orte auf der Welt gibt, welche die Phantasie des Menschen weder erdenken, noch der geübteste Pinsel eines Malers in allen ihren Einzelheiten vollständig wiedergeben kann.

Auch wir beabsichtigen keineswegs, hier eine umfassende Beschreibung der Stubbenkammer und ihrer Umgebungen zu liefern, ja wir müssen voraussetzen, daß der Leser einigermaßen mit der erwähnten Örtlichkeit wenigstens aus Beschreibungen oder Abbildungen bekannt ist, denn die Begebenheiten, die wir zu schildern haben, sind an sich reichhaltig genug, und wir können uns der örtlichen Schönheiten, in deren Umkreis sie sich begaben, wohl als Staffage bedienen, aber nicht sie in allen ihren Einzelheiten den Augen des Lesers vorführen.

Folge uns also der gütige Leser auf die ziemlich geräumige Platte, die sich, wenn man den Standpunkt mit dem Gesicht nach der See gewendet einnimmt, zur Linken des Königsstuhls ausbreitet und zu der Zeit, von der wir hier handeln, noch nicht mit dem freundlichen Gasthause ausgestattet war, welches jetzt diesen herrlichen Punkt ziert oder wenigstens für den bequemeren Reisenden genießbarer macht.

Links von diesem Plateau, welches herrliche Buchen teilweise beschatten, bestreicht unser Auge die große Schlucht über den beiden Kreidepfeilern, gerade vor uns liegt das weit geöffnete Meer, welches jetzt, nachdem der Sturm ausgetobt hat, und das Gewitter vorübergezogen ist, leise wallend, als wolle es sich zum Schlummer vorbereiten, sein murmelndes Gebrause nur in gedämpfteren Tönen zur Höhe sendet, und rechts erhebt sich der spitz geschnittene Fels, den man Königsstuhl nennt, mit seiner einsamen Buche in die Lüfte, jener jetzt noch einzigen sichtbaren Buche, welche die Franzosen verschont haben, als sie die übrigen Gefährten derselben mit ihrer entweihenden Hand ausrotteten.

Auf dem Rasenplatze vor dem Königstuhl nun, einem freien, ebenen, unregelmäßig viereckigen Raume, hatten die Franzosen eine hölzerne Baracke errichtet, die ihnen zum Wachthause diente, und dazu den umstehenden Wald abgehauen. In diesem Wachthause war ein Küstenposten stationiert, der seine Schildwachen an den Ausgängen der beiden Schluchten und an den zunächst liegenden Wegen, die in den tiefer sich absenkenden Wald führten, aufgestellt hatte.

Vor der Schlucht, die zur Linken des Königsstuhls weit gähnend geöffnet ist, und vor der Mündung des gefahrvollen mit Geröllen besäeten Weges, den die weggetretenen Stufen vom Meere herauf fast unzugänglich machen, geht ein kleiner Franzose, das Gewehr lose im Arme haltend, leise pfeifend auf und ab, wenig erbaut von der romantischen Öde des Orts, denn er hat sich seit längerer Zeit satt daran gesehen und denkt vielleicht an seine ferne Heimat und seinen großen Kaiser, der ihn auf diesen abgelegenen Erdenfleck mit unwiderstehlichem Herrscherwort beordert hat. Bisweilen steht er still und wirft einen Blick auf das tief vor und unter ihm wallende Meer, welches das Mondlicht mit seinen zitternden Strahlen erleuchtet, bald schaut er auf die Höhe des Königsstuhls hinauf, wo ein anderer Posten in ähnlicher Lage den Wind aus erster Hand empfängt.

Man war diesen Abend sehr aufmerksam bezüglich der Vorgänge auf dem Meere und am Strande gewesen und hatte die Verfolgung des dänischen Schiffes sehr wohl bemerkt und den unbekannten Flüchtling das Ufer gewinnen sehen. Auch hatte man sich bemüht, ihn zu ergreifen oder ihm wenigstens die Wege, die auf die Höhe führten, zu versperren, allein alle Bemühungen zu diesem Zwecke waren vergeblich gewesen, und das war nicht zu verwundern, denn der Verstecke in den zerklüfteten Felsen, der unzugänglichen Schlupfwinkel in den auf den Abhängen wuchernden Gebüschen waren zu viele, und der Flüchtling war ohne Zweifel ein Mann, der nichts von allem, was seine Flucht begünstigen und sichern konnte, außer Acht ließ.

Seit einer Stunde schon hatte man die unnütze und gefährliche Verfolgung aufgegeben und sich auf den folgenden Tag vertröstet, um sie mit besserem Erfolge fortzusetzen. Nur die Ausgänge der Schluchten und die Wege, die auf die Höhe führten, behielt man im Auge, denn es war vorauszusehen, daß nur auf einem der beiden Zugänge der Flüchtling, wenn er überhaupt die Höhe erreichen wollte, die Erklimmung bewerkstelligen würde.

Um elf Uhr waren die Posten abgelöst worden, und einem älteren vorsichtigen Grenadier war ein jüngerer und etwas leichtfertiger Voltigeur gefolgt, dem die kühle Nachtwache noch unbehaglicher war, als seinem Vorgänger. Indessen schritt er auf seiner Platte über den Rasen hin und her, sein Seitengewehr ließ ein weithin vernehmbares Klirren ertönen, wenn es beim Gehen an die Patronentasche schlug, und von Zeit zu Zeit näherte er sich dem Eingange der Schlucht, wo er stets einige Minuten stehen blieb, um in den mächtigen, mit altem Laub- und Strauchwerk angefüllten Kessel hinabzublicken, den man ihm gerade als den Ort bezeichnet hatte, auf den er in bezug des Flüchtlings sein Hauptaugenmerk zu richten habe.

Er mochte etwa eine Viertelstunde auf diesem Posten gestanden haben, als er Miene machte, seinem Gefährten auf dem höheren Punkte des Königsstuhls einen Besuch abzustatten, der ihn durch ein leises Pfeifen wiederholt dazu aufforderte. Aber ein geringes Geräusch, welches sich eben in der Tiefe des Kessels hören ließ, als lösten sich bröckelnde Steine von den Kreideklippen und stürzten hinab, führte ihn auf seinen Posten zurück, wo er indessen alles in der vorigen lautlosen Stille verharrend fand.

Plötzlich aber schreckte ihn aus seinem Hinstarren in den düsteren Abgrund ein Zuruf seines Gefährten auf, der, als er sich ihm vorsichtig näherte, fragte, ob er einen Stein auf die Klippe geworfen habe.

»Non, Monsieur,« entgegnete er, »ich habe keinen Stein geworfen – wie kommst Du zu dieser Frage?«

»Weil soeben ein Stein zu meinen Füßen niedergefallen ist. Voilà, da ist er, ich habe ihn aufgehoben.«

Dabei hielt er einen von dem Standpunkte der ersten Schildwache aus unerkennbaren Gegenstand in die Höhe, als wolle er ihn seinem Kameraden zeigen: dieser aber, dem es verboten war, dem Gefährten auf dem Königsstuhle ohne Not auf Sprechweite nahezutreten, hielt sich in angemessener Entfernung und schwieg, da er nichts zu sagen wußte.

Bald darauf kehrte er noch einmal zu seiner Schlucht zurück, und als er auch jetzt alles in gehöriger Ordnung fand, wollte er sich eben wieder umwenden, als ein neuer Zuruf und das deutliche »Qui vive?« seines Kameraden ihn schnell in dessen Nähe zurückberief.

»Was gibt's?« fragte er laut hinauf, und da hörte er zu seinem Erstaunen, wie jener die feste Überzeugung habe, daß irgend jemand in seiner Nähe versteckt sein müsse, denn schon wieder sei ein noch größerer Stein zu seinen Füßen niedergefallen.

Jetzt hielt es der junge Voltigeur für seine Pflicht, sich dem Gefährten auf der Höhe völlig zu nähern, um ihm bei möglicher Gefahr zur Seite zu stehen.

Diesen Augenblick aber schien der listige Steinwerfer, der sich in der tiefer liegenden Schlucht unter den Gebüschen versteckt hielt, nur erwartet zu haben; er sprang so geräuschlos, wie er konnte, aber ebenso rasch aus den Büschen hervor, erreichte mit einigen kühnen Sätzen die Höhe und kam keuchenden Athems auf derselben an, als die beiden Posten ihre nähere Umgebung aufmerksam und vorsichtig zu durchsuchen begannen.

Keiner von ihnen hatte das kühne Vorrücken des Unbekannten wahrgenommen oder nur für möglich gehalten, und ihre Köpfe waren eben zur Seite gerichtet, um das Dickicht des nahen Waldes zu untersuchen, als er, in vollem Laufe der entgegengesetzten Seite der Stubnitz zueilend, die Richtung nach dem Herthasee hin einschlug und in dem Schatten der Waldung verschwand.

In wenigen Minuten langte er an dem See selbst an, und als er eine Weile rückwärts und nach allen Seiten gelauscht, ließ er sich im dunklen Schatten einer bis zum Boden mit Zweigen bewachsenen Steinbuche auf einen moosbedeckten Felsblock nieder, um seiner vom schnellen Laufe atemlosen Brust die nötige Ruhe zu gönnen.

Bevor wir uns jedoch in die Betrachtung versenken, die das Herz des Flüchtlings in diesem Augenblick tief bewegen, scheint es uns geraten, einen Blick auf das Äußere desselben zu werfen und, so weit es das schwache Nachtlicht erlaubt, seine Gestalt und seine Züge zu mustern.

Er war ein großer, kräftig gebauter Mann von breiten Schultern und ungewöhnlich stark entwickeltem Muskelbau, der, trotzdem er auf der Flucht begriffen war, seine Verfolger nahe wußte und also nicht ohne Besorgnis sein konnte, seinen ausdrucksvollen Kopf mit sichtbarem Stolze hoch erhoben trug. Alle seine kühnen Bewegungen, seine gelenken Schritte, seine elastische Sprungfertigkeit bewiesen, daß er in frischester Jugendblüte stand. Sein Kopf war mit dunklen Haaren bedeckt, und von der unteren Hälfte seiner Wangen, die von Gesundheit und Kraft strotzten, fiel ein Bart von fast noch tieferer Farbe herab, der unter dem Kinn in einen spitzen Knebelbart sich verlor, während seine Oberlippe von jedem Haarwuchse frei war. Mehr können wir bei der jetzigen Beleuchtung von seinen Zügen nicht wahrnehmen und es bleibt nur von seiner Kleidung zu sagen übrig, daß sie ohne Zweifel die eines Seemannes war, da sie aus einer blau tuchenen Jacke und Hose bestand, die sich in feste Wasserstiefel senkte, und einem weiten darüber geworfenen Regenrock von zottigem Zeuge, dem ähnlich, den wir den Strandvogt beim ausbrechenden Sturme anziehen sahen. Sein Haar, das etwas lang und wellenartig gekräuselt in dichter Fülle bis auf die Schulter herabfiel, bedeckte ein leichter Seemannshut von glänzend lackiertem Leder, der mittelst eines Riemens unter dem Kinn fest an den Kopf gefügt war.

In der rechten Hand trug er einen mit starkem Eisen beschlagenen Stock, auf dessen Knopf er jetzt seine Hände gelegt und darauf das Kinn gestützt hatte, um bei seiner Betrachtung sich so viel wie möglich zu ruhen; da er ermüdet zu sein schien; unter der Seemannsjacke aber, fügen wir hinzu, obwohl wir augenblicklich nichts davon wahrnehmen, war ein mit Seide reich gesteppter lederner Gürtel, wie ihn die Seeleute so häufig tragen, fest um seinen Leib geschnallt, und darin steckten zwei schöne Pistolen von englischer Arbeit, und in einer ledernen Scheide ein dolchartiges Messer, wie man es im Seekampf beim Entern gebraucht.

Als er eine Weile schweigend seinen Platz behauptet und nach allen Seiten hin gehorcht hatte, hob er plötzlich den Kopf in die Höhe, denn sein scharfes Ohr vernahm in nicht weiter Entfernung einen Tritt, der vorsichtig und leise über den Moosteppich schlüpfte und dabei wahrscheinlich einen trocknen Zweig zerbrochen hatte. Schon wollte er wieder aufspringen und dem dichteren Walde zueilen, als er in geringer Entfernung jenen Hirsch aus dem Gebüsche treten sah, dessen wir schon vorher Erwähnung getan haben und der sich vor diesem Manne, den er doch ebensowenig kannte wie den frevelnden Jäger, der ihn am Nachmittag gejagt, nicht zu fürchten schien.

»Ach,« sagte der wieder ruhig sitzende Fremde, »der erste Landsmann, dem ich begegne, ist ein königlicher Hirsch – ah, jetzt hat er mich gewittert – er hebt den stattlichen Köpf in die Höhe und schaut mich mit seinem glühenden Auge an – ich glaube gar das Schnuppern seiner Nüstern zu hören – da, da, er fürchtet sich und stiebt davon in den Wald, in den auch ich mich bald begeben werde – fort ist er! Ach, vielleicht ist er auch ein Flüchtling, wie ich, den eine Meute gieriger Franzosen verfolgt und wund gehetzt hat – ha! aber auch ihn haben sie nicht erwischt!«

Er lächelte, schwieg und überflog dann mit funkelndem Auge die prachtvolle Nachtszene, in deren Mitte er sich versetzt sah, indem der Wiederschein des Mondes zum letzten Mal über den See glitt, bevor er Abschied nahm von diesem Erdenfleck, um seine Bahn weiter zu verfolgen und auch andere Zonen mit seinem nächtlichen Lichte zu erfreuen. Und als ob die Nachtvögel die tiefere Beschattung des Waldes, die dadurch plötzlich auf dem düsteren See und seinen Umgebungen lagerte, erwartet hätten, um zur vollen Ruhe einzugehen, so verstummten ihre Stimmen allmählich und die ganze Natur lag von nun an im vollkommensten, feierlichen Schweigen da.

»Wie süß diese Ruhe, wie labend dieses nächtliche Dunkel ist!« fing der Flüchtling wieder leise zu sprechen an, »so, gerade so liebe ich meine schöne Heimat, meinen schwarzen See, meinen traulichen Wald. Ah, da bin ich also wieder in eure Mitte gelangt, ihr riesigen Stämme, und ich begrüße dich wieder, du leise lispelndes Schilf am Saume dieses anmutig sich schlängelnden Ufers. O wie habe ich mich so lange nach allem diesem gesehnt! Wie oft habe ich an jedes einzelne, was ich hier vor mir sehe, gedacht in wilden Kampfesstunden, wo alles von Pulverdampf geschwärzt und blutbefleckt war, worauf meine brennenden Augen fielen! Und nun, da ich wieder da bin, treffe ich auch hier den räuberischen Franken, der sich nicht entblödet, mit seinem Ruhmesgeschrei die Ruhe auch dieser meiner kleinen Heimat zu entweihen und die blühende Schönheit der Natur mit seiner Gewalttat zu schänden, die je länger, je lauter zum Himmel aufschreit und endlich zu den Ohren des ewigen Gottes dringen muß, der unsern heißen Bitten bald Gewährung senden wird. Erhöre, erhöre es, Gott, wir flehen dich ja alle darum an, die hier auf deutscher Erde wohnen, und laß es uns endlich gelingen, das Joch abzuschütteln, das sich übermütig auf unsere Nacken gelegt hat und uns zu Boden drückt, die wir nicht zu Sklaven dieser Fremdlinge geboren, sind! – Ha! Mir wird immer wohler, je länger ich in dieses nächtliche Schweigen, in diese dunkle Wasserfläche blicke; mir däucht, als tauchte aus seiner Tiefe ein Lichtstrahl auf, der mich blendet mit seinem Glanze – ja, ja, einst wird es hell werden um unsere Augen und auch um unsere Herzen: nur eine allgemeine Ermannung, du großes, geknechtetes Vaterland, und wir werden ja sehen, wo diese Franzosen mit ihrem Despoten bleiben, der sich der größte unter den gegenwärtigen lebenden Menschen dünkt und doch nur groß ist in seiner Selbstsucht, Habgier und Herrschlust. – Doch still davon, hier hilft das Klagen nichts, und es ist jetzt nicht die Zeit dazu. Ich habe meinen Fuß glücklich auf das Ufer meiner Insel gesetzt und es gilt jetzt nur, mich einige Tage verborgen zu halten, bis man mich nicht mehr suchen wird. Und das wird mir ja wohl gelingen; mich kennt hier niemand als meine Freunde und von denen wird mich keiner verraten; vor meinen Nachstellern mich aber zu verbergen, wird eine leichte Mühe sein, der ich hier jeden Schlupfwinkel kenne und tausend Orte weiß, wo mich niemand finden kann. So will ich mich denn erheben und meinen Weg, der noch lang ist, weiter fortsetzen. Lebe wohl, alter See, lebt wohl, meine Bäume und ihr traulichen Schatten! Wenn ich wieder zu euch zurückkehre, wird ein Freund mir zur Seite wandeln, den ihr auch schon kennt und der sich gleich mir sehnt, in eurem Schatten von den Mühen und Sorgen der Welt auszuruhen. Lebet wohl!«

Mit diesen Worten erhob er sich und betrat einen kleinen Fußpfad, der südwärts mitten durch das dickste Gestrüpp der Stubnitz führte, und elastischen Schrittes bewegte er sich durch die stille Nacht dahin, die in dem dichten Waldrevier nur wenig von dem Lichte des Mondes und der silbernen Sterne erleuchtet war.

Wenn der einsame Wanderer in gerader Richtung seinen Weg hätte fortsetzen können, so würde er bei seinem schnellen Gange eine gute Stunde gebraucht haben, um an den Ort zu gelangen, den er erstrebte; da er aber den geraden Weg nicht einschlagen konnte, entweder weil es keinen solchen gab, oder weil er aus Vorsicht die dichtestverschlungenen Pfade wählen mußte, so gebrauchte er etwa die doppelte Zeit dazu. Dieser Weg aber führte ihn durch unzählige Schluchten, in denen jene schon mehrfach erwähnten Bächlein flossen, über Höhen und Tiefen durch ein wahres Labyrinth von Bäumen, Sträuchern, moosbewachsenen Steinen, Gräbern und Lichtungen, so daß nur ein der Gegend vollkommen kundiger Eingeborener ohne Irrtum die vorgesetzte Richtung festhalten konnte. So war er ohne ein einziges Mal auszuruhen, etwa um ein Uhr nachts in den Wald westwärts von Sassnitz gelangt, und gerade als er in einen breiteren Weg einlenkte, glaubte er in der tonlosen Stille der Nacht die alte Uhr auf dem Turme in Sagard die erste Stunde des Morgens schlagen zu hören. Schnell dann den wohlbekannten Weg verfolgend, schritt er dem freien Bergvorsprung entgegen, auf welchem das Haus des Strandvogts lag, und als er es endlich auf seiner lichteren Höhe an der See liegen sah, erbebte sein Herz vor Freude, denn nun erst, konnte er sich sagen, hatte er seine engere Heimat wohlbehalten erreicht.

Als er aber dem Garten nahe gekommen war und die Stakettür leise geöffnet hatte, schaute er sich zuerst vorsichtig um. Alles um ihn her jedoch war still, keine Spur verriet die Anwesenheit eines Fremden, in althergebrachter Ordnung verharrte der Garten, das Haus – und in dem Stalle, der seitwärts vom Gemüsegarten lag, hörte er die Kühe an den Ketten rasseln.

Freudig bewegt, schritt er nun um das kleine Haus herum; mit klopfendem Herzen schaute er in eins der Fenster, das nie ein Laden verschloß – da, ja, – es war Licht darin, trotz der weit vorgerückten Nachtzeit – hatte er erkannt, gefunden, was er suchte, und ohne noch eine Minute länger zu säumen, pochte er mit der Hand dreimal hintereinander, ans Fenster, um den dahinter Sitzenden und noch Wachenden ein Zeichen seiner Ankunft zu geben.


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