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Achtes Kapitel.
Bis zum ersten November.

Schon um sechs Uhr am nächsten Morgen fuhr der Legationsrat mit den schönen Grauschimmeln nach der Cluus ab, die so mutig und fröhlich auf dem glatten Wege dahinstoben, als wüßten sie, daß sie zum ersten Male ihrer Bestimmung nachkommen und des Meiers schöne Tochter als Braut in das väterliche Haus heimholen sollten. So kurz die Zeit gewesen, die Bodo seit seiner Rückkehr von der Cluus auf dem Hofe zu Allerdissen zugebracht, so hatte er doch kaum den Augenblick erwarten können, wo er seinen Weg abermals dahin antrat, denn jede Stunde seines Lebens hatte jetzt einen besonderen Wert erhalten, und er glaubte keine Minute fortan ungenützt verstreichen lassen zu dürfen. O, wie sah jetzt die Welt rings um ihn her ganz anders aus, als an früheren Tagen! War das derselbe Himmel, dasselbe Licht da oben, waren das dieselben Häuser und Dächer, die er schon so oft betrachtet hatte? Sah das Grün der Bäume nicht merkwürdig frisch und glänzend aus? Winkten die blauen Berge aus der Ferne nicht freundlicher, lockender herüber, und der Spiegel des alten Flusses, gab er nicht viel herrlichere Bilder von Felsen, Bäumen und Wiesen zurück, denn ehemals? Wie war diese Wandlung nur so rasch möglich gewesen, und welcher Zaubrer hatte sie vollbracht? O Menschenleben, was birgst du doch für wunderbare Geheimnisse in deinem rätselhaften Schoße, welche Wonnen, welche Schätze hat doch die allgütige Vorsehung gleich goldenen Fäden in dasselbe hineinzuweben gewußt! –

Als Bodo am Fährhause anlangte, schüttelte der Fährmann fast bedenklich den Kopf. »Erst um acht Uhr abends abgeritten,« dachte er, »und nun schon morgens um halber acht wieder zu Wagen da! Himmelelement, der muß es eilig haben, so was habe ich ja nie an einem Menschen erlebt!« Dennoch begrüßte er ihn freudig und fuhr ihn schnell hinüber, denn die junge Dame von drüben, die ihm am Abend vorher das Geleit gegeben, stand auch schon jetzt wieder am jenseitigen Weserufer und winkte mit Hand und Tuch den freundlichsten Morgengruß herüber, den Fährmann zur Eile treibend, der sich nun seinerseits wieder wunderte, daß der Herr Legationsrat von Sellhausen heute gar keine Worte für ihn, sondern nur Augen und Winke für das gegenüberliegende Ufer hatte.

Aber da sollte ihm plötzlich ein neues Licht aufgehen. Als er den so eilig Reisenden drüben am Ufer abgesetzt, flog die junge Dame wie eine Windsbraut auf ihn zu und umschlang ihn mit den Armen, tausend freudige Grüße spendend. »Aha,« sagte er sich, »nun weiß ich es. Das ist ein neues Liebespaar, aber merkwürdig ist es und bleibt es, denn dergleichen hat man auf der stillen Cluus noch niemals erlebt.« Er wollte soeben sein Boot nach dem anderen Ufer zurückgehen lassen, als die junge Dame ihn plötzlich bei Namen rief und er nun zu den glücklichen jungen Leuten ans Land trat.

»Meister Fährmann,« redete ihn die junge Dame an, denn so wurde derselbe von den Bewohnern der Umgegend genannt, »hier schickt euch meine Tante, die Frau Birkenfeld, ein Goldstück, damit Ihr den Tag heute feiern könnt wie wir. So, Ihr braucht nicht zu danken, sie gibt es gern und ich freue mich, es euch selbst überreichen zu können.«

Damit legte sie ihren Arm in den ihres Begleiters und stieg langsam den grünen Abhang mit ihm hinauf; der Fährmann aber schob seinen Hut auf die andere Kopfseite, schaute den beiden Liebenden lächelnd nach und brummte leise vor sich hin: »Blitz, nu hab' ich's, so soll es wohl sein: gestern war die Verlobung! Ah, und ich habe eine Pistole dafür erhalten, daß ich den Bräutigam herübergebracht, denn ohne mich hätte er schwimmen und sich naß machen müssen. Schade, daß dergleichen nicht öfter passiert; für diesen Preis wollte ich gern jeden Tag einen Bräutigam trocken hinüber bringen.«

Die Rückfahrt nach Allerdissen wurde wenigstens um anderthalb Stunden verzögert, denn Frau Birkenfeld hatte schon um sieben Uhr den Justizrat Backhaus empfangen und mit ihm arbeitete sie nun in dem stillen Zimmer, in welchem das Porträt ihres seligen Mannes hing, in einer, wie es schien, höchst wichtigen Angelegenheit.

Dem Brautpaare aber wurde die Zeit bis zur Abfahrt nicht lang; es spazierte im Garten und bei den Bienenhäusern langsam auf und ab, genoß die wonnige Gegenwart und sprang dann leicht auf die noch wonnigere Zukunft über – ein so reichhaltiges Thema, daß alle Generationen kommender Zeiten, mögen auch noch so viele aufeinander folgen, es doch niemals erschöpfen werden.

Erst gegen neun Uhr war die Arbeit zwischen der Besitzerin der Cluus und ihrem Sachwalter zustande gekommen. Dieser hatte tausend Taler empfangen, um sie nach seiner Ankunft in der Stadt sofort an die bedürftigen Armen zu verteilen, ein Geschenk, welches die großmütige Witwe aus Dankbarkeit gegen Gott gespendet, daß er sie diesen glücklichen Tag hatte erleben lassen.

»So,« sagte sie zu dem verwunderungsvoll sie anstaunenden Rechtsgelehrten, »nun kann ich getrost sterben, lieber Backhaus, denn nun erst bin ich fertig mit der schweren Aufgabe meines Lebens. Wie seltsam aber ist doch die Einrichtung, daß uns dergleichen Momente erst zuteil werden, wenn es mit unserm Lebenshauche auf die Neige geht! – Doch nun kommen Sie, ich will Sie mit dem Manne bekannt machen, den ich zu meinem Sohne und Namenserben ernannt, damit Sie auch sehen, daß wahr ist, was ich Ihnen hier im Vertrauen mitgeteilt.«

Bodo und Gertrud wurden gerufen und dem Justizrat als verlobtes Paar vorgestellt. Der gute Mann freute sich herzlich, als er die schönen jungen Leute sah, und er wunderte sich nicht mehr, daß Frau Birkenfeld so viel für sie getan. Er wechselte einige freundliche Worte mit beiden und stieg dann, mit seinen Schriften und dem Gelde beladen, den Berg hinunter, um sogleich nach der Stadt aufzubrechen und auch da in Hütten und Häuser Freude und Frohsinn zu tragen, wie er sie oben auf der Cluus zurückgelassen hatte.

Kurze Zeit darauf kam Frau Birkenfeld mit ihren Kindern nach der Weser herab, der Fährmann setzte sie über das Wasser und bald stoben des Meiers herrliche Pferde mit allen dahin, um so eilig wie möglich nach dem Meierhof zu gelangen. Unterwegs aber kam ihnen der Meier schon entgegengeritten, der die Zeit nicht erwarten konnte, seine Tochter als Braut eines ihm so lieben Freundes wiederzusehen. Als er ihnen nahe gekommen war, hielten Wagen und Reiter an und es ward eine kurze herzliche Begrüßung ausgetauscht. Frau Birkenfeld aber nickte dem Meier fast schelmisch zu und sagte:

»Na, alter Freund, endlich ist es uns einmal nach Wunsch gegangen und wir haben den Sieg davon getragen. Wie ich mir aber als Mutter vorkomme, das kann ich Ihnen nicht beschreiben, denn das ist ein Gefühl, wie es kein zweites auf der Welt gibt. Indessen, glaube ich, haben sich diese beiden hier auch über kein unangenehmes Gefühl zu beklagen, wenigstens möchte man, wenn man ihre Gesichter sieht, nicht bezweifeln, daß sie zufrieden sind.«

Bodo ergriff bei diesen Worten die Hand der alten Dame, drückte sie sanft und nickte ihr freundlich mit seinen großen dunklen Augen zu, wobei ihr zu Mute war, als ob es zwei andere Augen wären, die schon lange im ewigen Schlummer unter dem grünen Rasen ruhten. Wenn sie aber ein herber Kummer bei dieser Erinnerung ergreifen wollte, so waren die heiter lachenden blauen Augen Getruds, in denen sich der klare Morgenhimmel zu spiegeln schien, vollauf geeignet, sie wieder mitten unter die Lebenden zurückzuführen, und ihnen folgte sie gern, da sie sich mit den Ihrigen, die sie eben so glücklich gemacht, selbst glücklich und zufrieden fühlte.

Als man auf dem Meierhofe anlangte, stand Fräulein Treuhold im schwarzen Seidenkleide in der Tenne bereit, die geehrten Gäste zu empfangen, nachdem sie kurz vorher vom Meier gehört, daß sich Gertrud in Gesellschaft der Frau Birkenfeld befinden würde. Als sie daher diese respektvoll begrüßt und ihrem Herrn die Hand gereicht hatte, wandte sie sich zu der Tochter des Hauses, betrachtete sie mit verwunderungsvollen Blicken und nahm die Gelegenheit wahr, ihr zuzuflüstern:

»Trude, ei, was siehst du schmuck und vergnügt aus! In solchen städtischen Kleidern habe ich dich lange nicht vor Augen gehabt, und sie stehen dir junger Kreatur ganz wundersam schön. Wahrhaftig, da muß man ja ordentlich Respekt vor dir haben! Na, Kind, das ist heut' ein besserer Tag als neulich, da du so rasch von Sellhausen fortgeholt wurdest, und es war eigentlich gut, dass es so kam, so blieb dir der Anblick meines armen Herrn und seines Kummers erspart. Ach, Trude, das war ein schwerer Schlag! Aber trägt er sein Schicksal nicht wie ein echt christlicher Mann? Wahrhaftig, er hat sich schon recht getröstet. Doch morgen geht er leider fort, und wir werden ihn sobald nicht wiedersehen. Ach, das wird mich recht tief betrüben!«

Gertrud gab sich alle Mühe, bei diesen Worten die Züge ihres Gesichts zu beherrschen; einige Male war sie nahe daran, in lautes Lachen auszubrechen, aber das Versprechen, welches sie Bodo gegeben, hielt sie davon zurück, und sie nickte nur leise mit dem Kopfe, dann und wann ein halblautes »Ja, o ja!« hervorhauchend, welches Fräulein Treuhold als eine Äußerung ihrer herzlichen Teilnahme deutete.

So traten die beiden Frauen denn zuletzt in das Innere des Hauses ein, wo Frau Birkenfeld mit Bodo und dem Meier schon Platz genommen hatten. Um nun aber der ferneren Unterhaltung in Gegenwart der Treuhold, der das Geheimnis des Tages bis jetzt nicht gelöst war, allen Zwang zu benehmen, beschloß der Legationsrat, die alte treue Seele mit in das Vertrauen zu ziehen, und zu dem Behufe gab er ihr einen Wink und trat mit ihr in ein Nebenzimmer, wohin sie ihm mit sichtbarer Spannung folgte, da sie an seinem ernsten Wesen zu bemerken glaubte, daß es sich in der Tat um etwas sehr Wichtiges handle.

»Fräulein Treuhold,« begann er seine Rede, ihr gegenüber auf einem Stuhl am Fenster Platz nehmend, »ich muß Ihnen nun endlich eine Mitteilung machen, die ich Ihnen schuldig zu sein glaube und die, was auch daraus folgen möge, hoffentlich unser altes Verhältnis nicht beeinträchtigen wird. Ja, machen Sie nur immerhin ein bedenkliches Gesicht, es ist allerdings etwas Ernstes, aber betrüben müssen Sie sich darüber nicht, so unerwartet es Ihnen auch entgegentritt.«

»Mein Gott,« rief die alte Wirtschafterin, beide Hände voller Besorgnis zusammenschlagend, »hört denn das Neue bei uns noch nicht auf? Was kann es denn nun noch geben? Sie haben mich wieder ordentlich ängstlich gemacht.«

»Nein, nein, beruhigen Sie sich, zum Ängstigen ist's nicht. Doch nun hören Sie. Sie wissen, daß mir von Herrn von Sellhausen die Bedingung gestellt wurde, die Tochter seines Schwagers zu heiraten, wenn ich das Gut Sellhausen selbst behalten wollte, und daß ich diese Bedingung ausschlug, weil ich keine Neigung für Fräulein Klotilde zu haben glaubte und mich in keine andere Verbindung mit ihrer Familie setzen wollte. Indessen –«

»O mein Gott,« rief die Treuhold mit kummervollem Gesicht, »Sie werden sich doch nicht anders besonnen haben?«

»Ja, das habe ich doch getan, meine Liebe, aber hören Sie nur. Es hat sich nämlich mit einem Mal und ganz gegen meine Erwartung noch ein anderer Weg gezeigt, um mein Gut zurückzuerhalten; man hat mir eine andere Bedingung gestellt und diese, ja, diese habe ich angenommen.«

»Wie,« rief die Treuhold erschreckend, »man hat also noch nicht genug mit Ihrer ersten Weigerung gehabt und Ihnen Fräulein Klotilde noch einmal angeboten?«

»Das nicht, aber eine andere Heirat, und die habe ich für so ersprießlich und wünschenswert erkannt, daß mein »Ja« bereits gesprochen ist.«

Die Treuhold saß stumm und starr vor ihrem Herrn, mit bebenden Gliedern und matt schlagendem Herzen. »Also er wollte und sollte sich doch verheiraten?« schwirrte es ihr vor der Seele, aber sie sah durchaus nicht klar und konnte sich den Zusammenhang des Ganzen nicht deuten.

»Ja,« fuhr Bodo fort, der sich die Miene gab, als bemerke er ihr Staunen nicht, »ich habe mein »Ja« gesprochen, und ich wäre erfreut, wenn auch Sie mit der von mir getroffenen Wahl zufrieden wären. Wenn Sie jetzt wissen wollen, wer meine Braut ist, so brauchen Sie mir nur einen Wink zu geben, und sie soll Ihnen augenblicklich genannt werden.«

»Ja, ja doch,« rief die Treuhold mit gerungenen Händen, »ich gebe den Wink, aber halten Sie mich doch nicht länger auf der Folter!«

Bodo stand ruhig auf und schritt zur Tür, um, sobald er sie geöffnet, Gertrud herbeizurufen. Da trat diese mit lächelndem und von freudiger Aufregung gerötetem Gesicht herein und wandte sich zu ihrer alten Freundin, die sie mit höchst verlegener Miene betrachtete.

»Hier, liebe Treuhold,« sagte Bodo, Gertrud bei der Hand nehmend und sie ihr zuführend, »habe ich die Ehre, Ihnen meine Braut und künftige Gemahlin vorzustellen, und ich hoffe, daß Sie dieselbe als solche ebenso lieben werden, wie Sie es bis jetzt getan, da sie nur Ihre Nichte und die Tochter des Meiers zu Allerdissen war.«

Fräulein Treuhold war wie aus den Wolken gefallen, ihr Auge schweifte von ihrem Herrn zu Gertrud, und von dieser zu jenem hin, als ob sie in ihren Mienen lesen wolle, ob man mit ihr scherze oder ihr ein wirkliches Ereignis mitteile, an das sie niemals in ihrer Unschuld und Unbefangenheit gedacht. Aber da flog ihr Gertrud laut aufjauchzend in die Arme und rief, von herzlicher Freude überfließend: »Tante, liebe Tante, ja, es ist wahr, hier siehst du eine glückliche Braut vor dir, und nun wünsche mir Glück, daß ich von deinem lieben Herrn zu seiner Herzallerliebsten erkoren bin!«

»Aber mein Gott, Ihr Herrschaften,« rief da die gute Alte – »ich glaube wohl, daß es so ist, denn wie werdet Ihr mit so ernsten Dingen einen Scherz treiben, aber wie ist denn das möglich, wie ist es nur so über Nacht gekommen, daß kein Mensch eine Ahnung davon haben konnte?«

»Da irren Sie sich, meine Liebe,« nahm Bodo wieder das Wort; »wir beide haben schon lange eine Ahnung davon gehabt, daß es in unsern Herzen nicht ganz richtig oder vielmehr ganz richtig war, und ich muß mich um so mehr wundern, daß Sie dies so dreist behaupten, da unsere Neigung doch unter Ihren Augen entstanden und durch Sie selbst auf die natürlichste Weise von der Welt befördert ist.«

»Unter meinen Augen entstanden? Von mir selbst befördert? Ach, lieber Herr, da scherzen Sie wieder mit Ihrem alten ernsten Gesicht, nun verstehe ich es erst, aber – ich kann es doch so eigentlich nicht begreifen, wie es möglich gewesen, wie mir das entgangen, und wie Sie – o über die junge listige Welt! – hinter meinem Rücken eine solche Liebschaft haben anzetteln können!«

Die beiden jungen Leute fingen bei diesen Worten der guten Alten herzlich zu lachen an, und nun erst trat bei ihr die Freude an die Stelle des Erstaunens, und sie hörte mit allmählich wiederkehrender Ruhe an, was ihr der Legationsrat als notwendige Folge dieser Verbindung mit seiner ganzen Freundlichkeit und Milde erzählte. Nur als er sie zuletzt »Tante Treuhold« anredete, schien er ihr wieder in seinen beliebten stillen Scherz zu verfallen, denn daß sie, die arme alte Treuhold, die Tante des so klugen, so vielbewanderten und nun auch so reichen Herrn Legationsrats von Sellhausen werden sollte, konnte sie noch lange nicht begreifen, selbst als sie es schon längst in Wahrheit geworden war. –

Im Laufe dieses Tages überlas Bodo, wenn auch nur flüchtig, die dem Meier von seinem Adoptivvater zur Aufbewahrung übergebenen Papiere und fand darin die Bestätigung alles dessen vor, was er am vergangenen Tag auf der Cluus von Frau Birkenfeld vernommen hatte. Gegen Abend aber geleiteten der Meier und Bodo die nach der Cluus zurückkehrenden Frauen dahin, denn es war beschlossen worden, daß Gertrud bei Tante Grete, und der Legationsrat auf dem Meierhofe solle wohnen bleiben, bis die Entscheidung über seinen künftigen Wohnsitz bestimmt erfolgt sein werde, was vor dem ersten November dieses Jahres nicht zu erwarten war. Daß aber Gertrud auf der Cluus wohne, so lange sie Braut sei, hatte Frau Birkenfeld sich von dem Vater derselben auszubedingen gewußt, und sie hatte dafür so gute Gründe angegeben, daß der Meier alsbald seine Einwilligung zugesagt. Zuerst wollte sie Gertrud bei sich behalten, um über ihre Ausstattung alltäglich Verabredungen und Vorbereitungen treffen zu können, Bodo käme ja doch alle Tage zu seiner Braut, und dann hätte sie beide um sich; wohnte Gertrud dagegen auf dem Meierhofe und Bodo bei ihr, so würde er mehr bei seiner Braut als bei ihr sein, und das wollte sie nicht, sie liebe die Gesellschaft guter Menschen und habe lange genug in Einsamkeit gelebt, um den Verkehr mit jenen schätzen zu lernen. »Vor allen Dingen aber, Kinder,« sagte sie zu Bodo und Gertrud, »seid Ihr bei mir viel ungestörter, als bei deinem Vater, Trude, wo so viele Leute jeden Eurer Blicke bewachen. Denkt Euch mal meinen schönen Garten und die herrliche Aussicht über das Wesertal! Und nun seid Ihr beide, ein modernes Adam- und Evapaar, in dem kleinen Paradiese allein – ist das nicht schön, nicht prächtig, nicht allem übrigen bei weitem vorzuziehen?«

Gertrud blickte still freundlich vor sich nieder, ohne ein lautes »Ja« hören zu lassen, obwohl sie es gewiß zehnmal im stillen sprach; Bodo aber sagte mit seiner alten Ehrlichkeit und Offenheit:

»Ja, Sie haben recht. Bei Ihnen werden wir immer am glücklichsten sein, wie Sie unser Glück ja auch mit Ihrer Hand gegründet haben.«

»Ja, ja,« entgegnete die Alte, »das mag wohl zum teil so sein, aber darin haben der Herr Legationsrat doch nicht recht, daß er noch immer zu mir wie zu einer fremden Person spricht. Also nichts mehr von »Sie« und »Ihnen«, ich will ganz Mutter sein von Euch beiden, und nun laß du mich, mein guter Sohn, auch dein freundliches »du« hören – ist mir doch stets dabei zu Mute, als ob es ein anderer spräche, den ich doch einmal nicht vergessen kann.«

Bodo schloß sie nach diesen Worten herzlich in seine Arme, und so war auch dieser Punkt zwischen ihnen erledigt, der der alten liebebedürftigen Frau schon lange schwer auf dem Herzen gelegen hatte.

An einem der nächsten Tage sprach sie auch ganz unerwartet vor allen Übrigen den Entschluß aus, im bevorstehenden Winter nicht ihre gewöhnliche Reise nach dem Süden anzutreten. »Für diesmal tue ich es nicht,« sagte sie, »weil es mir jetzt hier so gut gefällt, zumal ich alle meine Bequemlichkeiten und Euch obendrein zu meinen Gesellschaftern habe. Dann aber bin ich auch nicht zu entbehren, bis der erste November vorüber ist, bis wohin wir noch mancherlei zu verabreden haben werden. So lange die Witterung gut bleibt, fahren wir alle Tage spazieren, bald dahin, bald dorthin, und ist das Wetter schlecht, so kommt Ihr alle zu mir; in Eurer Mitte bangt mir selbst vor dem Winter im Norden nicht. Ich werde mein Treibhaus zum Wohnen einrichten lassen und dann haben wir den Frühling und Sommer im Hause, da wollen wir es uns denn auch recht behaglich machen.«

So geschah es denn auch. Die alte Frau war fast ebenso häufig beim Meier, wie dieser mit Bodo bei ihr und seiner Tochter, und in solchem glücklichen Beisammensein verging ihnen schnell die Zeit bis zum ersten November, der abermals eine wichtige Entscheidung über die Zukunft der beiden jungen Leute bringen sollte, deren Vermählung auf den achten November, den siebenundsiebzigsten Geburtstag der Frau Birkenfeld, festgesetzt war.

*

Während nun auf der einsamen Cluus, wie auf dem belebten Meierhofe zu Allerdissen die zärtlichste Eintracht, das reinste menschliche Glück und eine bis dahin noch von keinem der Bewohner derselben empfundene Zufriedenheit und Behaglichkeit herrschte, sah es bei den Gegnern derselben auf der Grotenburg, dem Kolkhof und Schloß Kranenberg nicht so gemütlich und vergnüglich aus. An den beiden letzteren Orten freilich war das Ungewitter noch am glimpflichsten vorübergezogen und hatte bei weitem weniger Unheil als auf der ersteren angerichtet. Um so schmerzlicher aber wurde dasselbe empfunden, als zugleich zwischen den einzelnen Mitgliedern der drei Familien eine gewisse Erkaltung der bisher so innigen brüderlichen Liebe eingetreten war, die von dem Augenblick der Kündigung des großen Kapitals an ihren Anfang nahm und in demselben Maße an Tiefe und Umfang wuchs, als die Einsicht sich mehr und mehr Bahn brach, daß das Gut Sellhausen für den Baron Grotenburg für ewige Zeiten so gut wie verloren sei.

Die Kranenberger Herrschaften sowohl wie Baron Haas hatten sich nämlich ganz im stillen das kleine Glück idyllisch ausgemalt, welches sie persönlich beträfe, wenn der Verkauf von Sellhausen eine Wahrheit würde, denn beide Familien zogen in diesem Fall einen Vorteil, den sie unter andern Umständen gewiß nicht so leicht hätten erreichen können. Ein Dritteil des Restes vom Verkaufspreise fiel nach dem Kodizill des Testators einem jeden von ihnen zu, und das war ein ganz hübscher Zuwachs für so zerrüttete Finanzen, wie sie im Laufe der Zeiten sich durch eigene Verschuldung der Beteiligten herausgestellt hatten. Wenn man nun auf der Grotenburg den lieben Schwägern auch diesen Zuwachs schon mißgönnte und mit einem gewissen Neid auf die so unerhört und ganz gegen ihr Verdienst Begünstigten blickte, so glaubte man noch viel mehr Ursache zu haben, sich über das eigene furchtbare Mißgeschick halb tot zu grämen oder vielmehr zu ärgern, denn Gram und Ärger waren hier so innig miteinander gemischt, daß es hätte schwer werden sollen, zwischen beiden irgend eine erkennbare Grenze zu ziehen.

Da saßen nun die beiden trostlosen Ehegatten mit der gleichgültig dareinschauenden Tochter zusammen und waren über ihr Unglück, über die Menschen, die es heraufbeschworen, und schließlich gegeneinander so erbost, wie es böse und leidenschaftliche Gemüter auf Erden nur sein können. Die traurige Antwort, welche die Baronin von der Cluus mit zurückgebracht, hatte wie ein Erdbeben alle ihre Hoffnungen auf eine glückliche sorgenfreie Zukunft von Grund aus vernichtet; der alte gehässige Drache auf der Cluus, das Scheusal in Menschengestalt, wie man den grünen Pelz jetzt betitelte, der zweideutige Freund im Grabe, der alte Narr Sellhausen, der seinen Adel so wenig verdiente und zuletzt der Meier, dieser gemeine Bauer – alle dreie hatten gemeinschaftlich an dem Ruin ihrer Familie gearbeitet, ihnen war es gelungen, ihr satanisches Werk in Ausführung zu bringen. Damit aber des Unheils noch nicht genug, grinsten sie nun auch die lieben Brüder auf Kranenberg und dem Kolkhof mit höhnischer Schadenfreude an, und sie, die edlen Grotenburgs, die so gerechte Ansprüche auf alles Gut der Welt hatten, sie sollten das alles mit Gleichmut ertragen, sie sollten nicht aus der Haut fahren vor Neid, Wut und Groll? Nein, das wäre eine weder menschliche, noch mögliche Duldsamkeit gewesen, und was nicht menschlich und möglich ist, das kann ja niemand leisten, wie alle Welt weiß.

Hatte sich nun die Baronin ausgetobt, ihren Mann gescholten, daß er ein ebenso erbärmlicher diplomatischer Firlefanz wie ein schwachköpfiger Haushalter sei, und ihre Tochter, daß sie mit ihren reichen Gaben nicht verstanden habe, einen so sentimentalen Schwärmer, wie der Legationsrat wäre, zu fesseln, so begann der Baron seinen Sturmmarsch zu blasen. Vor allen schimpfte er auf den betrügerischen Halunken Sellhausen, auf die mangelhaften Gesetze, auf die bestechlichen Advokaten und zuletzt, sein steter Refrain, warf er seiner Frau vor, daß sie ihre Tante nicht an der rechten Stelle zu fassen gewußt und sich so ihr Recht eigentlich vergeben habe. Ward nun aber auch der Baron von vielem Schimpfen müde, so erschien Fräulein Tochter, klagte die erbärmliche Welt im ganzen und einzelnen an und bedauerte, nicht wie ihre Tante Kranenberg katholisch zu sein, um in ein Kloster gehen und ihren namenlosen Weltschmerz hinter kalten öden Mauern ausbeten zu können.

So war Heulen und Zähneklappern in der Grotenburg überall, und zwischendurch, um den Bewohnern derselben keinen Augenblick Ruhe zu lassen, kamen die Gläubiger aus allen Weltgegenden an, forderten und preßten nach Möglichkeit – und unverschämte Briefe, die mit Klagen drohten, wenn nicht bald die Bezahlung längst eingegangener Rechnungen erfolgen sollte.

Auf Schloß Sellhausen hatte die Baronin keinen Fuß wieder gesetzt; es ekelte sie seit dem Augenblicke an, wo es ihr klar ward, daß man es ihr wieder entreißen würde, und auch der Baron war nur selten auf dem Hofe gewesen, um seinem Verwalter Instruktionen zu erteilen, wie er alles und jedes, was zu verkaufen wäre, unter der Hand losschlagen solle, um nur so viel baren Gewinn wie möglich aus dem schon halb verlorenen Besitz zu ziehen. Denn daß es ihm wirklich verloren gehen werde, gehen müsse, das hatte der edle Baron nur zu gut erkannt, nachdem er auch noch seinen dritten Bittgang zum Landesfürsten vergeblich zurückgelegt hatte.

Der leutselige Fürst hatte ihn zwar gnädig wie immer empfangen und ruhig die Auseinandersetzung seiner traurigen Lage angehört. Das aber war auch beinahe alles, was er bei ihm errungen hatte. Denn mochte es nun sein, daß der Fürst von dem Gemunkel in der Runde gehört: Baron Grotenburg habe sich nicht auf ganz edelmännische Weise das Gut Sellhausen zu verschaffen gewußt, oder kannte er den edlen Vetter seit langer Zeit als einen unverbesserlichen Verschwender, genug, er hatte auf seine Bitte die Achseln gezuckt und mit freundlicher Miene auf Gott und die Zukunft vertröstet und dann hinzugefügt:

»Achtzigtausend Taler, lieber Baron, machen eine hübsche runde Summe aus. Hätte ich sie übrig, Sie sollten sie gleich haben, aber ich besitze sie nicht, könnte sie vielmehr selbst gebrauchen, wenn sie mir einer schenkte, und Sie wissen ja, in heutigen Zeiten muß man seine Kapitalien zusammenhalten, denn wer weiß, was morgen geschieht. Leben Sie also wohl, grüßen Sie Ihre Frau Gemahlin und Ihre schöne Tochter und versichern Sie beide meiner größten Hochachtung und meines tiefsten Mitgefühls für ihre schlimme Lage.«

Damit war der Baron entlassen und drei Stunden später wie ein Verzweifelter nach Hause gekommen. Von nun an blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit seiner hochgeachteten Gemahlin und seiner »schönen« Tochter in das ihm bevorstehende Geschick zu ergeben, und das tat er mit den beneidenswerten Gefühlen, die der Verbrecher hat, der seinen Kopf in die Schlinge des Henkers steckt, weil er sieht, daß es kein Ausweichen mehr aus der fatalen Lage gibt.

Daß Bodo von Sellhausen nicht der eheliche Sohn des verstorbenen Gutsbesitzers gleichen Namens gewesen, wie das Gerücht plötzlich behauptete, welches nur von den drei Baronen ausgegangen sein konnte und die hiermit ihr Gelöbnis gebrochen hatten, glaubte fast kein Mensch, denn es lagen nur sehr wenige Gründe zu einer solchen Annahme vor und viel eher glaubte man, daß nur Baron Grotenburg sich dieses Auskunftsmittels bediene, um der Welt Sand in die Augen zu streuen und das seltsame Testament des wunderlichen Freundes begreiflicher erscheinen zu lassen.

So nahm denn die Angelegenheit auf dem Gute Sellhausen ihren natürlichen Gang bis zum Tage des Ablaufs der Kündigungsfrist, und manche reiche Leute, die das schöne Gut gern besessen hätten, richteten ihre Aufmerksamkeit mit ganzer Seele auf die Subhastation, die nach Vorschrift des Gesetzes in allen Blättern angekündigt ward, nachdem der Baron Grotenburg dem Justizrat Backhaus schon vor der Zeit erklärt hatte, er sei außer Stande, die 80 000 Taler zu dem bestimmten Termine zu zahlen. Freilich schreckte viele Käufer die zugleich verkündigte und in den eigentümlichen Testamentsbestimmungen begründete Mitteilung ab, daß 100 000 Taler bar angezahlt werden müßten, eine bei dergleichen Ankäufen so außergewöhnlich hohe Summe, daß nur wenige Menschen vorhanden waren, die nun noch die Erfüllung ihres lebhaften Wunsches vor Augen sahen.

Die Zahl der Kauflustigen aber sollte noch mehr verringert werden, als sich plötzlich das Gerücht verbreitete, der enterbte Sohn des Verstorbenen werde wahrscheinlich in Person als Bewerber um das väterliche Gut auftreten und keine Summe würde ihm zu hoch sein, um dasselbe wieder an sich zu bringen. Ob der schlaue Rechtsanwalt, der sein Ratgeber und Beistand war, dieses Kunststück ins Werk gesetzt, steht dahin, genug, das Gerücht war da, und es wirkte, was es wirken mußte und vielleicht auch wirken sollte.

So kam es denn, daß am ersten November, nachdem zwei Tage vorher die Kündigungsfrist abgelaufen, sich nur sehr wenige Käufer auf Sellhausen eingefunden hatten. Baron Grotenburg war nicht persönlich erschienen, sondern hatte seinen gerichtlichen Beistand geschickt, um seine Rechte wahrnehmen zu lassen. Diese Handlungsweise war dem Meier zu Allerdissen ganz lieb, denn er hatte sich in Person eingefunden, um auch einer der Bietenden zu sein, und auf diese Weise besser den Gang des Geschäfts im Auge behalten zu können. Außer dem Meier fanden sich nur noch zwei Gutsbesitzer, einige Güterhändler und ein Unbekannter ein, von welchem letzteren man behauptete, daß er der geheime Abgesandte der beiden ebenfalls abwesenden Schwäger auf dem Kolkhof und Kranenberg sei, um auch ihrerseits den Handel überwachen zu lassen. Der Hauptbieter aber war der Justizrat Backhaus, der offen für seinen Klienten, den Legationsrat von Sellhausen, in die Schranken trat und sein Geschäft mit einer so siegesgewissen Miene begann, daß die fremden Kauflustigen von vornherein zurückgeschreckt wurden und die Hoffnung auf einen günstigen Erfolg ihrer Wünsche verloren.

Die gerichtliche Handlung selbst nahm fast den ganzen Tag in Anspruch. Nachdem man das Gut, Haus und Hof nach allen Seiten und in allen Teilen besichtigt, den früher so reichen Viehbestand und das vorhandene Inventarium unbedeutend – daß dies so war, dafür hatte höchst unklugerweise Baron Grotenburg durch seine unzeitigen Verkäufe gesorgt – die Utensilien mangelhaft, die Vorräte bis auf das letzte Korn erschöpft gefunden und entdeckt hatte, daß es noch eine größere Summe erfordern würde, um alles wieder in den gehörigen Gang zu bringen, begann endlich die Subhastation selbst. Mit 100 000 Talern fing man an und gelangte sehr bald auf 150 000. Hier trat eine kleine Stockung ein, als der Meier zu Allerdissen erklärte, daß er für seine Person füglich nicht weiter bieten könne, da das Gut in seinem jetzigen Zustande damit vollauf bezahlt sei. Diese Erklärung wirkte mächtig, denn der Meier galt allgemein für einen ebenso redlichen als sachkundigen Mann, und so kam es, daß Justizrat Backhaus das schöne Gut endlich für 160 000 Taler erwarb, womit es zu einem beispiellos billigen Preise losgeschlagen war.

Nach Abzug der 80 000 Taler Schulden, die gar nicht ausgezahlt wurden, und der an Bodo von Sellhausen testamentarisch verfallenden 20 000 Taler blieben also dem Verkäufer noch 60 000 Taler übrig, und da er diese mit seinen Schwägern zu teilen hatte, betrug sein ganzer Verdienst dabei die Summe von 20 000 Talern, eine Summe, die seiner Gemahlin und ihm selbst so erbärmlich vorkam, daß er nahe daran war, sich seine ergrauten Haare auszureißen, als ihm sein Advokat die Mitteilung davon nach der Grotenburg brachte. Indessen war die Sache nicht zu ändern, und glücklicherweise saßen die Haare noch zu fest und wurden nicht in alle Winde zerstreut, wie der gnädige Herr in seiner ersten maßlosen Wut gedroht hatte. Das aber war das Ende seines kurzen Besitztraumes von Sellhausen, das war der Schluß seiner herzlichen Freundschaft mit dem albernen Schwager, dem er zum Adel verholfen, und das war »der erste Schritt in sein Grab«, sagte er abends zu seiner Gemahlin, die ihm beinahe das Gesicht zerkratzt hätte, als er ihr nach Abfertigung »des verfluchten Advokaten« erzählte, was für eine ungeheure Erbschaft sie nun endlich doch gemacht hätten.


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