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Fünftes Kapitel.
Bis zum dreißigsten Juli.

Die Ernte hatte in den nächsten Tagen unter sehr mißlichen Aussichten auf Sellhausen begonnen. Herr Hinz war diesmal ein untrüglicher Wetterprophet gewesen: die von ihm vorausgesagte Wandelung zum Schlimmen war wirklich eingetreten und hielt fast ununterbrochen bis zum Ende des Monats an. Zwar war die Witterung nicht unaufhörlich und gleichmäßig schlecht, aber die guten Stunden ließen sich sehr selten finden, und die Sonne kam nur spärlich und dann von heftigen Windstößen aus Westen begleitet zum Vorschein. In der übrigen Zeit stürmten Regenschauer auf Regenschauer nieder, und es war dabei so kalt geworden, daß kein Mensch Lust verspürte, ins Freie zu gehen, wenn er nicht durch eine geschäftliche Veranlassung dazu gezwungen wurde.

Herr Hinz war darüber in Verzweiflung; er brummte mit sich und der ganzen Welt über das Mißgeschick, denn gerade auf diese Ernte, als die erste seines jungen Herrn, hatte er sich über die Maßen gefreut. Daß der Legationsrat dagegen dies Mißgeschick mit seltener Ruhe und Kaltblütigkeit ertrug, schien ihm ein Rätsel zu sein, er glaubte, die ganze Welt und Herr von Sellhausen insbesondere müsse bis ins Herz davon getroffen werden, und das war doch bei letzterem gewiß nicht der Fall, wenn man aus seiner stets heiteren Miene und seinem unverändert freundlichen Gebaren gegen jedermann auf seine Empfindung schließen wollte.

Wie nun das böse kalte Wetter auf die Ernte und alle diejenigen, die zunächst damit zu schaffen hatten, übel einwirkte, so schien es auch auf die Verhältnisse im Gutshofe selbst von keinem günstigen Einfluß zu sein. Alle Bewohner des Herrenhauses waren mehr oder minder auf ihre Zimmer und die alltäglichen Beschäftigungen darin beschränkt. Die schönen Spaziergänge mit den Frauen mußten unterbleiben, der Aufenthalt im nassen und durchweichten Garten war unmöglich geworden, vor allem aber die herrlichen milden Abende, sonst so genußreich auf der obersten Terrasse, in einer grünen Laube, bei gemütlichem Hin- und Hergehen, mit Erzählen, Fragen und Antworten zugebracht, wo waren sie geblieben, wann kamen sie wieder? Ach, vielleicht niemals mehr und nur die Erinnerung bewahrte sie treu im Gedächtnis oder gar im Herzen auf, denn daß sie schön und herrlich gewesen, das leugnete sich wohl keiner, der irgend einen kleinen Anteil daran genommen hatte.

Waren nun schon diese genußreichen Abende aus Gertruds Leben gestrichen, blieb sie vor der Hand fast nur auf den Umgang mit der Tante Treuhold beschränkt, so sollten ihr noch nicht einmal die Tage die Unterhaltung früherer Zeiten gewähren, so weit dieselbe vom Legationsrat ausgegangen war. Bodo war mit Herrn Hinz jetzt fast den ganzen Tag im Freien, denn trotz des bösen Wetters hielt er es für seine Pflicht, gerade durch seine Anwesenheit den Arbeitern mit gutem Beispiel voranzugehen und sich nicht scheu vor Regen und Wind im warmen Hause zu verkriechen. Kam er dann zu den Mahlzeiten durchnäßt nach Hause, so mußte er sich rasch umkleiden und erschien nur auf kurze Zeit am Mittags- und Abendtisch bei den Frauen, die oft nur mit Minuten abgespeist wurden, wo sie früher Stunden lang den Genuß vielseitiger Unterhaltung und freier Meinungsäußerungen gehabt hatten.

Ob Bodo wohl selbst unter diesen so plötzlich in sein vorher so angenehmes Leben tretenden Verhältnissen litt? Wir wollen es nicht zu erörtern wagen, obgleich es manchem der ihn Umgebenden wohl bisweilen so scheinen mochte. Trotz seiner heiteren Miene, die er gegen jedermann an den Tag legte, schien er nicht ganz glücklich zu sein, denn ihn peinigte eine sichtbare Unruhe, die ihn von diesem zu jenem trieb und die vielleicht mit daran schuld war, daß er die Unterhaltungen im Hause vernachlässigte und sich oft im Freien zu schaffen machte, wozu häufig gar keine Notwendigkeit vorlag.

War diese Unruhe, diese seltsame Hast, mit der er alles betrieb, eine Folge seiner inneren Gemütskämpfe oder war sie vielleicht auch der Schatten, den die in der Nähe lauernden Tage, der 30. Juli und der 1. August, schon jetzt über ihn und seine Empfindungen voraus warfen? Wir wollen es nicht entscheiden, möglicherweise aber war beides der Fall. Mochte er noch so männlich gefaßt auf jederlei Vorkommnis sein, je näher die Zeit heranrückte, die sein Vater durch seinen letzten Willen so bedeutungsvoll hingestellt, um so ernstlicher richteten sich seine Gedanken darauf hin, um so eifriger überlegte er hin und her, wie er sich zu verhalten, was er zu erwarten, zu besorgen habe, denn daß etwas Unheimliches im Schoße der Zukunft drohte, das fühlte er an der Unruhe seines Herzens, an dem Mißmut seiner Seele, deren stürmisches Fluten sein starker Geist auf keine Weise mehr beherrschen und beeinflussen konnte.

Und wie gestaltete sich in diesem schwankenden Zustande, den er niemanden verraten wollte und der ihm eben deshalb so große Pein verursachte, sein Verhältnis zu Gertrud selbst, das in den vorher genauer geschilderten Tagen ein so freundliches Ansehen gewonnen hatte?

Seltsam! Je länger beide zusammen blieben und je bekannter sie miteinander wurden, um so vertraulicher, sollte man denken, hätte sich das Verhältnis zwischen ihnen gestalten müssen. Allerdings, das war auch mit merklichem Fortschritt bis zu dem Tage der Fall, wo die Grotenburgsche Familie zum Besuch auf Sellhausen eintraf. Seitdem sie aber an demselben schönen Abend bei vollem Mondschein die Nachtigall im Lindensaal schlagen gehört und die goldene Feuerschlange im Wasser sich von Berg zu Tal ringeln gesehen, schien es, als ob ihr ferneres Beisammensein durch eine gewisse Befangenheit, eine Art fremder Zurückhaltung, die freilich nur sie selbst merkten und empfanden, getrübt werden sollte.

Wenngleich nun diese Befangenheit im täglichen allgemeinen Verkehr, hauptsächlich aber im Gespräch unter vier Augen mehr auf Seiten Gertruds zu finden war, so blieb sie doch auch bei Bodo von Sellhausen nicht ganz aus. Trotz aller Mühe, die er sich gab, das alte schöne und so behaglich stimmende Verhältnis zurückzurufen, es wurde ihm selbst schwer, wieder in den ehemaligen natürlichen Ton zu fallen, das frühere sanfte Geleise gegenseitigen freundlichen Mitteilens und Ergänzens aufzufinden, und so blieb endlich wirklich eine Schranke zwischen ihnen stehen, die sogar von Tage zu Tage zu wachsen schien, bis sie zuletzt, wie das gewöhnlich geschieht, beiden Teilen unübersteiglich geworden war und allen Bemühungen, mochten sie auch aus tiefstem, reinsten Gemüte hervorgehen und das edelste Ziel erstreben, Hohn sprach.

Jedenfalls trugen die schon erwähnte schlechte Witterung und die häufige Abwesenheit Bodos hierzu das Ihrige bei; die Begegnung beider geschah immer seltener, die Kluft zwischen ihnen wurde immer bemerklicher, und wenn ein zartbesaitetes Gemüt erst merkt, daß eine früher vorhanden gewesene Brücke im Verkehr abgebrochen ist, so gewöhnt es sich allmählich an diese Trennung, sie erscheint ihm immer natürlicher und notwendiger, mag sie so unnatürlich und überflüssig sein wie sie will.

Im Hause selbst, wenn Bodo dahin zurückkehrte, waren zuletzt die sich darbietenden Unterhaltungen nie mehr ungestört zu führen, ja, es wollte ersteren bedünken, als ob sogar die Gelegenheiten dazu absichtlich hinausgeschoben würden, wenigstens war Gertrud stets irgendwo beschäftigt, wenn er zu einer ungewöhnlichen Zeit auf einige Minuten eintraf, und in den gewohnten Unterhaltungsstunden, bei Tische oder am späteren Abend, hielt die Anwesenheit der Treuhold oder des Verwalters die beiden jungen Leute von einander fern, was früher doch niemals, wenigstens in dem Grade nicht, der Fall gewesen war.

An die Stelle dieser mündlichen Unterhaltung, mochte sie sie nun entbehren und ihren Verlust bedauern oder nicht, war dafür eine andere getreten, die schriftliche, die sie auf den Wunsch der Frau Birkenfeld eifrigst fortzusetzen sich angelegen sein ließ. Die alte Frau hatte sogar einige Male selbst geschrieben und bestimmte Fragen an Gertrud gerichtet, deren gewissenhafte Beantwortung dieser nun so pflichtgemäß erschien, daß sie sie vielleicht zu genau nahm und in ihrer aufrichtigen Ergebenheit gegen die alte Freundin mehr aus sich heraus schrieb, als erwartet oder gar verlangt worden war.

Ob die eifrige Berichterstatterin sich ihres Handelns und des Grades ihres Vertrauens im ganzen Umfange bewußt war, wollen wir dahingestellt sein lassen. Vielleicht tat es ihr wohl, ein teilnehmendes weibliches Herz auf der Welt zu haben, dem sie nicht ihre Empfindungen und Anschauungen, wie sie meinte, sondern die eines andern mitteilen konnte, und glücklicherweise war ihr fast unbegrenztes Vertrauen in diesem Punkte auf eine Person gefallen, die dasselbe zu würdigen verstand und die in ihrer reichen Erfahrung und in ihrem hellsehenden Geiste Mittel genug besaß, zur geeigneten Zeit einzuschreiten, wenn das junge Mädchen, vielleicht unbewußt, über ihr Ziel hinausgehen und so des Beistandes einer kräftigen Hand bedürfen sollte. –

Etwa in der Mitte des Monats an einem verhältnismäßig günstigen Tage wurde Bodo eine unerwartete Begegnung zuteil. Er hatte an diesem Nachmittage das Bedürfnis zu einem flüchtigen und schnellen Ritt gefühlt und da er gerade nichts Wichtiges auf dem Felde zu besichtigen hatte, überließ er die vorliegenden Geschäfte dem Verwalter und jagte querfeldein, vielleicht um seinem unruhigen Blute durch die mächtige Körperbewegung ein angemessenes Gegengewicht zu bieten. Wie man sich aber oft bei solchen Gelegenheiten, die man für heilsam hält, in noch heftigere Wallung versetzt, so geschah es auch unserm Freunde diesmal; der gehoffte Genuß sollte ihm teuer zu stehen kommen und das erwünschte Ziel sollte durch diesen Ritt nicht erreicht werden.

Etwa eine halbe Meile von der Grotenburg entfernt, sah er plötzlich einen Reiter auf sich zukommen; sein scharfes Auge erkannte sehr bald, wer es war, und da er ihm nicht ausweichen mochte, um nicht etwa abermals mit einem unerwarteten Besuch beglückt zu werden, mäßigte er den Schritt seines Pferdes, was jener Reiter aber nicht tat, vielmehr in der Freude seines Herzens rascher als vorher Bodo entgegengaloppierte.

»Ha! Mein lieber teurer Vetter!« rief Baron Grotenburg schon von weitem, »dachte ich mir es doch, daß Sie es waren. Sie wollen zu uns – ja, ja, leugnen Sie es nicht und das beglückt mich ungemein und wird auch andere beglücken!«

Bodo liebte das Lügen nicht, und auch in diesem Falle gab er die ihm unterlegte Absicht nicht zu, wobei er zur größeren Bekräftigung seiner Aussage auf seine Kleidung und seine langen Stiefel wies, wie er sie auf dem Felde und bei der Arbeit zu tragen pflegte.

»Nein, nein,« rief der mit verhängnisvoller Blindheit geschlagene Baron, »Sie täuschen mich nicht. Sie wollten sich gerade in diesem Aufzuge inmitten Ihrer Tätigkeit einmal zeigen, und ich finde das ungeheuer schlau. Kommen Sie also, kommen Sie – ich wollte nur zu Haas, aber der kann warten bis morgen.«

Bodo sah, daß kein Entkommen möglich war, und so fügte er sich mit ruhigem Herzen in den Beschluß des Zufalls. Wie der Baron es ihm gesagt, so erregte sein Erscheinen auf der Grotenburg eine allgemeine Freude. Die Baronin hätte ihn beinahe vor Entzücken umarmt, trotz seines Landrocks oder gerade wegen desselben, denn sein Besuch in dieser Tracht deutete ja gerade seine herzliche Vertraulichkeit an – und selbst Fräulein Klotilde, sonst immer gleichgültig und vornehm kalt, empfing ihn mit sichtbarer Wärme und gab sich alle Mühe, dem geehrten und so selten gesehenen Gaste ein freundliches Gesicht und – ein warmes Herz zu zeigen.

Der Grund dieser allgemeinen Freude blieb Bodo vielleicht tiefer verborgen, als er dem Leser bleiben darf. Seit dem verunglückten letzten diplomatischen Versuche des Barons auf der Cluus war man auf der Grotenburg schier in Verzweiflung geraten. Die Behandlung ihres Mannes seitens »des alten Drachens« hatte die Baronin fast außer sich gebracht, sie war wieder vor Wut in Krämpfe und Ohnmachten verfallen und hatte das ganze Haus damit in die größte Bestürzung versetzt.

Dieser unglückselige Zustand hatte tagelang gedauert und erst das Erscheinen des Barons Haas hatte besänftigend auf die Kranke und ihre ganze Umgebung gewirkt, denn er hatte nicht allein die so notwendige, ziemlich bedeutende und ihm gerade zu Händen gekommene Summe Geldes verheißen, sondern auch anderweitige Hoffnungen ausgesprochen, die sich auf Bodo bezogen, den er völlig in der Hand zu haben und nach seinem Willen tanzen zu lassen sich rühmte.

Näheres freilich wollte er über diesen Punkt nicht angeben, so hart er bedrängt wurde; indessen er zeigte sich seiner Sache so gewiß, daß man in dem Zustande der Aufregung, in dem man sich befand, und worin schon die leiseste Hoffnung ein ungeheurer Gewinn zu sein scheint, ihn als einen vom Himmel gefallenen Retter pries und sich seinen Anordnungen auch fernerhin zu fügen versprach.

»Gebet acht,« sagte er, bevor er an diesem Tage nach Hause fuhr, »ich kenne meinen Mann und ich stehe für den Riß. Es ist ein ganz seltsamer Ka – - Kasum. Der Legationsrat ist ein schlauer und feiner Kerl, aber ich bin doch noch etwas schlauer und feiner, denn ich durchschaue ihn vom Kopf bis zu den Fußzehen. Er macht sich rar, um interessant und neu zu bleiben – und das ist ihm trefflich gelungen. Er spricht kein Wort über sein Vorhaben, seinen Entschluß, wenn aber der Tag kommt, wo er sprechen muß, ist er da und legt sich Euch zu Füßen. Wahrhaftig, das ist auch das Klügste, was der Mensch tun kann, und er ist klug genug, seinen besten Vorteil wahrzunehmen. Es kommt also nur darauf an, daß man zur rechten Zeit mit einem Hebel bei der Hand ist, um ihm die große Last vom Herzen zu wälzen. Diesen Hebel nun halte ich bereit – im rechten Augenblick ist er da und ich – ich, Kinderchen, ganz allein spiele den Trumpf aus, der uns allen die Partie gewinnen macht! Haha! Und nun gute Nacht, Brüderchen, gute Nacht, schöne Schwägerin! Behaltet den Kopf oben – und das Geld kannst du dir morgen holen. Ich wollte zwar Champagner, Johannisberger und Burgunder kaufen, aber damit hat es noch bis nach dem ersten August Zeit – haha! so lange reicht der Vorrat noch. Doch halt – noch eins! Ihr müßt,« flüsterte er, »der Klotilde etwas den Kopf zurecht setzen. Sie ist mir gegen den steifen Freier zu steif – versteht Ihr? Sie muß sich ein bißchen gehen lassen – den Zügel nicht zu straff anziehen, ehe er fest umgelegt ist – nachher geht es schon eher. Na, das wollt ich noch sagen und nun – Gott befohlen! Vorm Dreißigsten seht Ihr mich nicht wieder – dann aber mit Trumpfen gefüllt – bis an den Hals. Ade!«

Baron Haas hatte also wie ein glückbringender Zauberer auf die Bewohner der Grotenburg eingewirkt und auch Fräulein Klotilde hatte infolge eines ernsten mütterlichen Rates die Zügel des edlen Rosses gelockert, um ihm nicht, noch bevor sie in den Sattel gestiegen, als eine zu strenge Herrin zu erscheinen. Diesem Umstande allein hatte also Bodo den ihm auf der Grotenburg zuteil werdenden freundlichen Empfang auch von dieser Seite her zu verdanken.

Als er an diesem Abend ungewöhnlich spät nach Hause kam, erzählte er den beiden Frauen, was ihm begegnet, auch daß Fräulein Klotilde sehr gütig gegen ihn gewesen sei.

Gertrud schwieg nach Anhörung dieses unerwarteten Berichts, die Treuhold aber, deren Stimmung, je näher der erste August heranrückte, um so gereizter und bitterer wurde, weil sie sich vor innerer Angst kaum zu lassen wußte, sagte mit einem bedeutsamen Blick auf die still vor sich hin sehende Gertrud: »Na, das ist ja natürlich, Herr Legationsrat. Warum soll sie nicht gütig gegen Sie sein?«

»Wieso?« fragte Bodo, das heute so ernste Auge verwundert auf das alte Fräulein richtend.

»Nun, mein Gott, hängt denn von Ihnen nicht ihr ganzes ferneres Schicksal ab?«

»Ihr ferneres Schicksal? Ich verstehe Sie gar nicht.«

»Wie Sie so fragen und sich so erstaunt stellen können! Nun freilich. Und da sie hofft und erwartet, daß sich das Schicksal zum Guten wenden werde, so ist sie freundlich und gütig gegen Sie. Es wäre auch noch besser, wenn sie einen Mann, wie Sie sind, und einen so reichen Besitz, wie Sie in der Tasche haben, mit Grobheiten kirren wollte!«

»Fräulein Treuhold!« entgegnete Bodo erstaunt, »ich weiß nicht, wie Sie mir heute vorkommen. Sie sind ja förmlich bissig! Wer hat Ihnen denn was zuleide getan?«

Die alte Dame brach plötzlich in Tränen aus und verließ das Zimmer. Bodo stand noch immer erstaunt vor Gertrud und sah sie fragend an, ohne imstande zu sein, ein Wort an sie zu richten, da auch ihre Miene ihm wie ein verschlossenes Buch vorkam. Endlich aber wurde ihm die lange Pause peinlich und indem er sich dem lieben Mädchen näherte, sagte er freundlich:

»Ich bitte Sie, Fräulein Gertrud, sprechen Sie wenigstens zu mir. Hat auch Ihnen jemand etwas getan, frage ich noch einmal?«

Gertrud schüttelte sanft den Kopf. »Ach nein,« sagte sie, »getan hat uns niemand etwas, aber ich will es Ihnen erklären, warum Tante Treuhold in dieser Stimmung ist. Mein Vater war hier und, ob nun im Ernst oder Scherz, ich weiß es nicht, da er bei guter Laune war, neckte er die Tante mit ihrer neuen Gebieterin auf der Grotenburg, die nun bald hier befehlen werde, und das hat sie ihm übel genommen. Weiter ist es nichts.«

Bodo lächelte. »Ihr Vater war also hier,« fuhr er, von dem vorigen Gegenstande, wie es schien mit Freuden abbrechend fort, »das tut mir leid. Er kommt jetzt so selten.«

»Er hat viel zu tun, so wie Sie, Herr Legationsrat.«

»O, viel mehr als ich, Fräulein; seine Felder sind doppelt so groß wie die von Sellhausen und seine Wirtschaft desgleichen.« –

Ähnliche kleine Auftritte kamen in der letzten Zeit häufiger vor und Bodo ertrug sie mit ruhigem Gleichmut, da er sich wohl den Zustand der alten Dame erklären konnte, die zwanzig Jahre als fast unumschränkte Gebieterin auf Sellhausen gewaltet hatte und es nun nicht ertragen konnte, sich plötzlich verdrängt und eine Dame, wie Fräulein Klotilde war, an ihre Stelle treten zu sehen.

Was den Meier anbetrifft, so war Bodo in den letzten vierzehn Tagen seltener als sonst mit ihm zusammen getroffen, und das war sehr natürlich. Jeder hatte vollauf bei sich zu tun und die Besuche stockten überall in dieser Zeit. Dennoch war er zweimal auf Sellhausen gewesen, hatte aber jedesmal Bodo verfehlt, weshalb denn dieser am nächsten Tage nach jenem Abend nach Allerdissen ritt und dem Freunde eine Stunde auf dem Felde, wo er ihn fand, Gesellschaft leistete. Ein längeres und ernsthaftes Gespräch hatte hier nicht stattfinden können, der Meier aber hatte dem Legationsrat eine wahrhaft herzliche Miene gezeigt und dieser glaubte in seinen Augen gelesen zu haben, daß er unter allen Umständen, komme was da wolle, einen Freund an ihm besitze, auf den er sich verlassen könne, und mit diesem wohltätigen Eindruck war er wieder heimgekehrt, um seine Arbeiten wie früher fortzusetzen, seine Pflicht als Landwirt zu erfüllen und – mit Geduld den Verlauf der Tage abzuwarten, die unaufhaltsam ihren Gang nahmen und endlich – o wie vielen! – teils zur Hoffnung, teils zur Besorgnis oder gar zur Qual, dem Ziele nahe gekommen waren, das, eingestanden oder nicht, wie ein verhängnisvoller Alp auf allen Seelen der dabei Beteiligten drückte.

*

Der 30. Juli war also vor der Tür und man zählte schon den 29. Das Wetter hatte sich seit dem Abend vorher wieder zum besseren gewandt, und die Sonne schien nachholen zu wollen, was sie so lange versäumt, denn sie sandte mit ihren goldenen Strahlen eine Wärme hernieder, wie man sie lange nicht empfunden und vergebens herbeigewünscht hatte.

Nicht so angenehm und freundlich sah es an diesem Morgen im Hause von Sellhausen aus.

Was den Hausherrn selbst betrifft, so war er am Abend zuvor mit dem größten Teil der Ernte zustande gekommen und durfte sich einiger Ruhetage erfreuen, die er nach so bewegter Zeit gebrauchen konnte, um sich zu sammeln und auf die Ereignisse vorzubereiten, die ihm in wenigen Tagen unzweifelhaft bevorstanden. Mochte er so gefaßt und in sein Schicksal ergeben sein, wie er wollte, ein wichtiges Ereignis sieht immer ganz anders aus – ähnlich einem gewaltigen Berge, der von ferne in milden blauen Umrissen erscheint, in der Nähe aber oft wild zerklüftet ist – wenn man dicht davor steht und mit seinen offenen Sinnen fast schon hineinragt, als wenn man es noch von nebelhafter Ferne still umschleiert sieht. Das sagte er sich selbst, als jetzt nur noch wenige Stunden ihn von dem ersten August trennten, dem er nun schon fast seit dreiviertel Jahren mit verschiedenen Empfindungen entgegengesehen. Unbekümmert um das, was ihm bevorstand, war er ruhig und still seinen Pflichten nachgegangen, hatte er nicht rechts, nicht links geblickt und war einzig und allein bemüht gewesen, sein Inneres in Ordnung zu bringen, worin er seit längerer Zeit ein Ebben und Fluten wahrgenommen, das jetzt eigentlich, seiner Meinung nach, nicht darin sein sollte.

Am Morgen des genannten Tages nun war er nach einem nochmaligen Ritt über die Felder nach Hause zurückgekehrt und hatte sich ruhig auf seinem Zimmer niedergelassen, um einige Briefe zu schreiben, woran er in der letzten Zeit gar nicht hatte denken können. Während er nun auf diese Weise beschäftigt war, ging es im unteren Stockwerke viel unruhiger her, denn am frühen Morgen schon war eine Nachricht daselbst eingetroffen, die das Letzte getan, um Fräulein Treuholds Fassung ganz und gar über den Haufen zu werfen. Hatte sie in den letzten Wochen schon in geheimer Spannung, in Angst und Bangen zugebracht und, seltsam genug, nicht einmal an Gertrud einen erheblichen Trost gefunden, da diese eigentümlich zerstreut und mit sich selbst übermäßig beschäftigt war, so sollte dieser Morgen den Höhepunkt ihrer Unruhe und Qual bezeichnen, da nun außer der Besorgnis vor der bevorstehenden Testamentseröffnung noch eine andere Mitteilung zu ihr gelangt war, die den 30. Juli betraf.

Herr Hinz war nämlich mit dem Pächter von Grotenburg, der mit dem Baron in naher Beziehung stand und in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnte, zufällig zusammengetroffen und hatte von diesem, seinem alten Freunde, die für ihn unglaubliche Nachricht vernommen, daß am 30. Juli die Verlobung Fräulein Klotildens mit dem Legationsrat von Sellhausen gefeiert werden solle. Der Pächter wollte davon wie von einer ausgemachten Sache sprechen gehört haben und war ganz erstaunt, in dem Verwalter von Sellhausen einen in dieses offenkundige Geheimnis noch Uneingeweihten zu finden.

Mit dieser Nachricht war Herr Hinz am Morgen nach Hause gekommen und hatte sich sogleich zu Fräulein Treuhold begeben, um, noch ganz ergriffen von Staunen und Bewunderung, der alten Dame die Neuigkeit zu überbringen. Da war denn in dem treuen Gemüte des guten Fräuleins ein gewaltiger Sturm ausgebrochen, zahllose Tränen waren geflossen und Gertrud war natürlich die erste gewesen, der sich das übervolle Herz der Tante geöffnet hatte.

Aber da war diese wieder gänzlich an dem sonst so warm teilnehmenden Herzen des jungen Mädchens irre geworden, denn Gertrud hatte sie nach ihrer geheimnisvollen Mitteilung mit großen Augen starr und kalt angesehen, kein Wort erwidert und still ihr Zimmer aufgesucht, um, wie sie schon vorher gesagt, an Tante Grete zu schreiben, was Fräulein Treuhold als eine Pflicht zu betrachten gelernt hatte, die weder aufgeschoben noch beeinträchtigt werden durfte.

In diesem wenig beneidenswerten Zustande nun befanden sich die Bewohner von Sellhausen, als die Ruhe des einen von neuem auf unerwartete Weise gestört werden und die Angst und Besorgnis der anderen frische Nahrung empfangen sollte, denn, wie vom Winde des Unheils herbeigeweht, fuhr um zehn Uhr höchst eilig ein Wagen in den Hof, in dem niemand anders als der Baron Grotenburg selber saß.

»Ist der Herr Legationsrat zu Hause?« fragte der Baron hastig die ihm entgegeneilende Rieke.

»Ja, Herr Baron, er sitzt auf seinem Zimmer und arbeitet.«

»Gut, führe mich zu ihm, ich habe ihn notwendig zu sprechen.«

Nach einem schmunzelnden Blick auf das schöne Haus, den in sauberster Ordnung prangenden Hof, was er alles schon für sein halbes Eigentum betrachtete, folgte er nun der voranschreitenden Magd und trat, sobald er gemeldet, bei Bodo ein, der ganz erstaunt von seinem Stuhle aufstand und dem unerwarteten Gaste mit unruhig schlagendem Herzen entgegenging.

Das Gesicht des Barons deutete durch den Glanz seiner Augen und die erhöhte Farbe seiner Wangen auf eine fieberische Unruhe, die, fast jedem erkennbar, sein ganzes Wesen verzehrte. Zu Hause an nichts, an niemandem einen Halt findend, hatte er die Zeit nicht erwarten können, dem Manne noch einmal gegenüber zu stehen, von dessen nächster Entscheidung soviel abhing, und so war er gekommen, auch teilweise aus Furcht, der 30. Juli könne in Sellhausen vergessen werden, um seinen Freund an die frühere Zusage zu erinnern und vielleicht, durch irgend ein Wort, eine Bemerkung getröstet, nach seinem unruhigen Hause zurückzukehren und gute Botschaft heimzubringen.

Fein gekleidet wie immer und in Benehmen und Zügen die glatteste Herzlichkeit an den Tag legend, die aber wider sein Wissen einen schmeichlerischen Beigeschmack trug, dem Bodo von Natur aus im höchsten Grade abgeneigt war, trat er bei diesem ein, streckte ihm in vertraulichster Weise die Hände entgegen und rief:

»Mein lieber Vetter, ich freue mich unendlich, Sie zu Hause zu finden. Ah, jetzt schon wieder am Schreibtisch und doch sehe ich an Ihren Stiefeln, daß Sie bereits auf dem Felde tätig gewesen sind! Na, das sind wir ja alle, und es ist ja auch die rechte Zeit dazu!«

Bodo warf nur einen Blick auf die feinen lackierten Stiefeln des Barons und lächelte. »Auf dem Felde sind Sie mit dem Schuhwerk da wohl nicht gewesen?« sagte er, seinem Gaste einen Platz auf dem Sofa anweisend.

»Auf dem Felde – nein, lieber Freund; meine Tätigkeit ist freilich eine andere als die Ihre gewesen, aber doch ebenso wichtig. Doch lassen Sie mich gleich auf den Hauptpunkt meines Kommens eingehen, denn ich möchte gern bald wieder bei meiner Frau sein, der ich gar nicht gesagt, wohin ich meine Schritte richtete.«

»Sprechen Sie,« erwiderte Bodo mit seiner ruhigsten Miene, »was führt Sie hierher?«

»Ah, ja, freilich! Sie haben am Ende kein so gutes Gedächtnis, wie andere arme Sterbliche, da Sie stets in Ihre Arbeiten vertieft sind –«

»Mein Gedächtnis ist gut, aber frischen Sie es nur auf, das kann nichts schaden.«

»Nun denn – wir haben heute den 29. Juli!« sagte der Baron mit weit aufgerissenen Augen, um damit wie mit zwei Pfeilen in Bodos Inneres zu dringen.

»Ja, da haben Sie recht,« erwiderte dieser, »und morgen ist der 30. Juli.«

»Da haben Sie auch recht, und Sie wissen doch, was Sie uns allen versprochen haben?«

»Gewiß weiß ich das, und ich werde mein Wort halten.«

»Herrlich prächtig, fürwahr! Sie sind mein Mann. Na, aber wissen Sie was? Die paar Abendstunden verlaufen so rasch, und es sind so viele Leute da – kommen Sie also schon vor Tisch und bleiben Sie dann den ganzen Tag bei uns.«

Bodo besann sich nur einen Augenblick. »Nein, Herr Baron,« sagte er kurz und fest, »das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich habe morgen den ganzen Vormittag zu schreiben und am Nachmittag vielleicht auch noch ein paar Stunden.«

»O, schreiben! Lumperei! Das ist keine wichtige Arbeit, die können Sie jeden andern Tag auch verrichten.«

»Unter Umständen ist es keine Lumperei, Herr Baron, und jeder Tag hat bei mir seine eigene Arbeit. Diese aber muß morgen zu Ende gebracht werden, die nächsten Tage werden mir ohnehin genug Unruhe ins Haus bringen.«

Es war dem dies Sprechenden dabei gewiß nicht lächerlich zu Mute und doch mußte er unwillkürlich lächeln, als er des Barons aufhorchende Miene wahrnahm. Der ganze Mann war Ohr und es schien, als ob er, nachdem Bodo ausgesprochen, noch etwas zu hören verlange, was dieser bisher nicht gesagt. Dies Lächeln Bodos aber schloß dem armen Baron, der nur an sich und seinen Vorteil dachte, gegen alles übrige aber blind und taub war, ein ganzes Paradies von Glück, Wonne und Hoffnung auf und indem er sich dabei einer furchtbaren Täuschung hingab, hielt er den Augenblick für günstig, noch einmal durch eine direktere Anspielung sein Heil zu versuchen und um eine Hoffnung reicher nach Hause zu gehen.

»Sie haben recht,« sagte er mit süßlicher Miene, »die nächsten Tage werden uns allen Unruhe genug bringen, aber gewiß doch nur eine recht freudige, lange erwartete, ersehnte Unruhe. Ah, Sie glauben gar nicht, wie tief ein Vater fühlt, wenn es sich um das Glück seines Kindes handelt.«

Bodo blickte vor sich nieder und antwortete nicht auf diese Anspielung, die er kaum, da sie zu handgreiflich war, speziell auf sich gemünzt hielt.

»Ich habe nur einen Wunsch noch,« fuhr der Baron, durch dies Schweigen kühner gemacht, fort, »und der betrifft so gut Sie wie mich und alle die Meinigen.«

»Sprechen Sie ihn aus,« sagte Bodo gleichgültig und unmerklich seine glatte Stirn runzelnd, da er jetzt ahnte, was kam.

Der Baron merkte den aufsteigenden Unwillen seines lieben Vetters nicht und fuhr fort: »Ich muß immer und immer wieder in diesen Tagen an Ihren guten Vater denken. Wenn doch sein Wunsch, mit dem sein ganzer Segen gepaart ist, recht, recht bald in Beziehung auf Sie, auf uns in Erfüllung gehen wollte!«

Es entstand eine unheimliche Pause, die namentlich dem Baron schwer aufs Herz fiel. Von seinen inneren drängenden Gefühlen, der Ungeduld und der Besorgnis gefoltert, beschloß er aber noch weiter zu gehen, trotzdem er auf Bodos kaltem und entschiedenem Gesicht schon die Grenze hätte lesen können, bis zu welcher er diesem entschlossenen Manne gegenüber gehen durfte.

»Wenn Sie,« fuhr er unruhig hin und herrückend fort, » vor dem ersten August mit mir einig werden könnten – verstehen Sie mich nicht falsch – ich meine es wahrhaft gut mit Ihnen – so wäre das Testament, welches an jenem Tage eröffnet werden soll, umsonst geschrieben. Es dürfte ungelesen beseitigt werden und – und –«

»Um Entschuldigung, Herr Baron,« warf Bodo mit entschiedenem Wesen dazwischen, »darin bin ich nicht ganz Ihrer Meinung. Das Testament meines Vaters darf nicht umsonst geschrieben sein –«

»Aber doch – es gibt ein Mittel, dasselbe zu umgehen!« unterbrach ihn der Baron fast ungestüm.

»Lassen Sie mich gefälligst ausreden, Herr Baron – wenigstens was mich betrifft, so bin ich etwas neugierig auf seinen Inhalt geworden und möchte denselben in jedem Fall kennen lernen.«

»In jedem Fall?« rief der Baron verwundert. »Das ist ja nicht möglich! O nein doch – ein einziger Fall macht es ja unnötig, sogar unzulässig, seinen Inhalt näher kennen zu lernen.«

»Ich weiß, ich weiß!« sagte Bodo, den Kopf langsam auf und nieder bewegend und wie in Zerstreuung vor sich hinstarrend, da er dies Gespräch unter jeder Bedingung abzubrechen wünschte. »Aber wissen Sie was, Herr Baron,« fuhr er plötzlich mit energischer Geberde fort, »lassen Sie uns hierüber nicht mehr reden, wir verständigen uns jetzt darüber nicht – wir wollen lieber abwarten, was die Zeit bringt, die kurz vor der Tür steht. Ich habe schon neulich Ihrem Herrn Schwager, dem Baron Haas, meine Meinung über diesen Punkt gesagt, als er eine Anspielung darauf versuchte, und der wird mich hoffentlich begriffen haben.«

Bei diesen Worten schaute der Baron verwundert und halb entzückt auf. »Ah,« flüsterte ihm eine geheime Stimme zu, »er hat mit Haas darüber gesprochen! Darum auch! Das ist es, was Haas so sicher macht. Still! nun habe ich genug. – Mein lieber Herr Vetter,« sagte er dann laut, sich rasch von seinem Sitze erhebend, »ich verstehe Sie vollkommen und will nicht unbescheiden sein. Jeder Mensch hat seine Weise zu handeln, also auch Sie. Warten wir daher, wie Sie sagen, die Zeit ab. Sie kommen morgen also so früh wie möglich?«

»Punkt vier Uhr reite ich hier ab – früher habe ich keinen Augenblick für mich.«

»So bin ich auch damit zufrieden. Ich will Sie nicht länger stören – wir haben uns verständigt. Leben Sie wohl!«

Er schüttelte Bodo mächtig die Hand, und dieser begleitete ihn bis vor die Tür, wo des Barons Wagen noch stand, in den er sogleich stieg und hastig und vollkommen befriedigt von dannen fuhr.

Bodo sah dem Abfahrenden mit keinem Blicke nach, sondern trat unmittelbar darauf in das Frühstückszimmer und nahm an dem Tisch seinen Platz ein, nachdem er Fräulein Treuhold und Gertrud einen freundlichen guten Morgen geboten. Beide bemerkten aber doch auf der Stelle, daß er verstimmt war und mit seltener Hast und nur sehr wenig aß. Keine von ihnen sprach über den kurzen Besuch des Barons ein Wort, und Bodo selbst schien ihn bereits vergessen zu haben. Man wechselte nur wenige Worte miteinander, sprach über das günstige Wetter, und nachdem Bodo dann einen raschen Blick über das ruhige, klare Gesicht Gertruds und über die angstvolle Miene der Treuhold geworfen, nahm er seinen Hut und empfahl sich.

In ähnlicher Weise verlief das Mittagessen, das nur durch des Verwalters Anwesenheit und dessen Mitteilungen über verschiedene Wirtschaftsangelegenheiten etwas belebter wurde. Bald nach Tische aber hörten die Frauen den Legationsrat wieder von seinem Zimmer herunterkommen, und bevor er nach dem Hofe ging, trat er bei der Treuhold ein, und da er Gertrud bei derselben fand, sagte er freundlich:

»Ich gehe nach Allerdissen, Fräulein, und habe mit Ihrem Vater zu sprechen. Wünschen Sie mir vielleicht einen Auftrag an ihn zu geben?«

Gertrud schaute mit ihrem sinnigen Lächeln zu ihm auf, denn es lag eine überaus herzliche Milde in der Stimme des Redenden. »Nein, Herr von Sellhausen,« sagte sie, »grüßen Sie ihn nur und er soll sich nicht so unablässig quälen.«

»So leben Sie wohl. Adieu, Fräulein Treuhold. Wenn ich wiederkomme, bitte ich mir ein recht freundliches Gesicht von Ihnen aus. Das ist jetzt eine Seltenheit!«

Gleich darauf schritt er in den Hof hinab und trat seinen Weg nach dem Meierhofe zu Fuß an.

Er fand den Meier zu Hause und ward, wie immer, ungemein herzlich von dem braven Mann empfangen. Sie sprachen in ihrer stundenlangen Unterhaltung fast nur von der Ernte und den dahin gehörigen Dingen, und der eine wie der andere von ihnen verriet nicht die geringste Neigung, das Gespräch auf ein anderes Gebiet überzuführen. Der Meier war ruhig wie gewöhnlich, beobachtete jedoch die Miene seines jungen Freundes mit der gespanntesten Aufmerksamkeit, was diesem entging, da er etwas zerstreut und innerlich viel zu lebhaft beschäftigt war. Als Bodo aber um sechs Uhr wieder seinen Rückzug anzutreten Miene machte, sagte der Meier mit fester Betonung und scharf aufblickendem Auge: »Also Sie wollen schon wieder fort? Gut. Das war ein kurzer Besuch. Hoffentlich haben wir bald mehr Zeit für einander und die Arbeit wird ja auch wohl einmal ein Ende nehmen. So leben Sie wohl. Am ersten August sehen wir uns zum ersten Mal wieder, denke ich.«

»Erst am ersten August?« fragte Bodo verwundert. Ach ja, morgen muß ich nach der Grotenburg, es ist ja wahr. Aber übermorgen ist ja auch noch ein Tag, lieber Freund, wollen wir dann zusammen kommen und noch ein letztes ernstes Wort miteinander reden?«

Der Meier sann einen Augenblick nach, schüttelte dann leise den Kopf und erwiderte: »Übermorgen? Nein, Herr von Sellhausen, das wird leider nicht gehen. Am Morgen muß ich auf mein Feld und nach Tische habe ich unsrer alten Freundin auf der Cluus meinen Besuch zugesagt. Auch mit der habe ich Wichtiges zu reden.«

»So, so,« sagte Bodo nachdenklich. »Das ist etwas anderes. Davon darf ich Sie nicht abhalten. Na, dann also am ersten August! Wollen wir zusammen nach der Stadt fahren?«

»Auch das muß ich leider ablehnen,« sagte der Meier in beinahe schmerzlicher Weise. »Nein, nein, es geht nicht. Ich muß früh nach der Stadt, schon vor sieben Uhr, und so zeitig werden Sie nicht mit wollen, was sollten Sie auch so früh auf dem Gericht?«

»Da haben Sie recht. Ich treffe keine Minute früher ein als ich muß. Damit ich es nicht vergäße, hat mir der Justizrat Möller gestern noch eine Vorladung gesandt – Punkt elf Uhr beginnt – der Tanz.«

»Ja, der Tanz!« wiederholte der Meier, trübselig lächelnd. »Nun, guten Mut, mein Freund. Sie werden bis dahin wohl schon Ihre Entscheidung getroffen haben – wie?«

»O ja!« erwiderte Bodo mit ausdrucksvollem Nicken des Kopfes. »Die wird bis dahin fertig sein. – Sind Sie etwa neugierig darauf?«

»Nicht im geringsten!«

»So wollen wir es beide in Ruhe abwarten. Wenn alle dabei Beteiligten mit so ergebenem und geduldigem Herzen erscheinen können wie ich, werden wir eine recht friedliche Gesellschaft abgeben. Nun aber Gott befohlen – also am ersten August erst auf Wiedersehen! Grüßen Sie Frau Birkenfeld von mir, ich konnte sie in den letzten Wochen nicht besuchen.«

»Das wird sie sich selbst gesagt haben, sie ist klüger als wir alle – bitte um Entschuldigung – Sie ausgenommen!«

»O, o!« lächelte Bodo und beide reichten sich die Hand, schüttelten sie herzlich und trennten sich voneinander.

*

Als Bodo, durch die Unterhaltung mit dem biederen Meier auf eigentümliche Weise erfrischt, – eine Wirkung, die derselbe stets auf ihn übte, – nach Hause zurückgekehrt war, ging es gegen sieben Uhr abends. Die Sonnenstrahlen fielen schon schräg herab, vergoldeten aber noch mit ihrem vollen Glanze den Wald, den Fluß und das ganze Tal mit seinen felsigen Begrenzungen und sanft ruhenden Fluren. Es war ein lieblicher Abend wieder seit langer Zeit, der Himmel war in seiner ganzen Ausdehnung blau und wolkenlos, kein erkältender Luftzug bewegte die milde und stille Luft und das kleine befiederte Völkchen der Lüfte, das so lange geschwiegen und getrauert, hüpfte und tanzte wieder munter zwitschernd von Zweig zu Zweig.

Ein solcher Abend pflegt versöhnend und mildernd auf jedes menschliche Gemüt einzuwirken und auf Bodo tat er dies stets, da er ein warmer Freund der Natur und ein eifriger Verehrer aller ihrer wunderbaren Geheimnisse war. Was er in den letzten Wochen vom Morgen bis Abend in seinem Herzen getragen, was seinen Geist erregt, sein Gemüt beunruhigt hatte – es schien sich allmählich, wie von einer lindernden Hand niedergedrückt, in ihm zu besänftigen und nach dem langen Kampf und Streit mit sich selber senkte sich in seine Brust der Vorbote eines nahenden Friedens, einer innig ersehnten Ruhe herab.

Als er in dieser Stimmung auf den großen Hof seines Gutes trat, erfaßte es ihn plötzlich wie mit einer geheimen inneren Gewalt, die sich seines Willens bemächtigte, und widerstandslos, ohne rechts und links zu blicken, ohne auf irgend etwas um sich her zu achten, richtete er seine Schritte nach dem Garten, den er so lange nicht betreten.

Das erste aber, was er erblickte, als er auf die oberste Terrasse hinaus trat, war Gertrud, die auf einer Bank im Schatten einer schönen Linde saß und in einem Buche las, das er ihr selbst einst empfohlen hatte. Als er das liebe Mädchen von ferne gewahrte, beschleunigte er seine Schritte und rief schon von weitem:

»Ah, Fräulein Gertrud, daß ich Sie hier finden würde, hat mir eine innere Stimme verraten. Guten Abend, guten Abend! O sehen Sie die goldene Beleuchtung der Felsen da drüben – wie spiegeln sich die grünen Bäume so natürlich und frisch im Wasser ab! Wie schön und herrlich ist das nach so langer Regenzeit, die, ach! auch noch manches andere Ungemach herbeigeführt hat!«

»Es wird auch wieder vorübergehen, Herr von Sellhausen,« erwiderte Gertrud sanft, nachdem sie ihn freundlich begrüßt hatte und auf ihrer Bank zur Seite gerückt war, um ihm Platz zu machen. »Haben Sie meinen Vater getroffen?« fuhr sie dann gleich zu fragen fort.

»Ja, ich traf ihn.« Und Bodo erzählte, daß er sich wohl befinde und daß sie bis zum ersten August voneinander Abschied genommen hätten, da er übermorgen den Nachmittag auf der Cluus zubringen werde.

»Das weiß ich schon,« erwiderte Gertrud. »Die Tante hat heute geschrieben und läßt Sie bestens grüßen und Ihnen auch für morgen recht viel Vergnügen wünschen.«

Bodo schwieg. Ein kalter Hauch, in diesen unschuldigen Worten heimlich verborgen, war über sein warmes Herz gefahren, das sich soeben kaum den Strahlen einer gütigen Lebenssonne geöffnet hatte. Da er die Pause ziemlich lang ausdehnte, um sich allmählich wieder zu sammeln, fuhr Gertrud ungestört in ihrem letzten Gedankengange fort:

»Sie werden morgen schönes Wetter zu dem Freudenfeste auf der Grotenburg haben.«

»Ach ja, das äußere Wetter scheint gut zu werden – zu diesem Freudentag! Wenn nur das innere auch so wäre! Aber was dem einen im Leben eine Freude, ist dem andern eine Qual. O, wenn dieser Tag erst vorüber wäre! Bei Gott, wenn ich dem letzten Wunsche meines Vaters nicht bis zur äußersten Schranke der Möglichkeit folgen zu müssen geglaubt hätte, ich wäre mit diesen Menschen nie in Berührung geraten, aus eigenem Antriebe gewiß nicht, und nun sind sie mir gar so nahe gerückt! Mein Vater kann mit meinem kindlichen Gehorsam zufrieden sein, denke ich!«

Gertrud ließ bei diesen mit sanfter und leiser Stimme gesprochenen Worten einen fast wehmütigen Blick rasch auf den vor sich hinschauenden Mann an ihrer Seite fallen, aber ebenso schnell zuckte sie wieder davon fort, um nicht etwa seinem Auge zu begegnen, dessen Schärfe und durchdringende Kraft, wenn es aufmerksam war, sie kannte. »Er hat ja nur mit seinem Wunsche Ihr Bestes bezweckt!« sagte sie sanft und gleichsam um ihm Trost zuzusprechen, wonach seine bekümmerte Miene Verlangen zu tragen schien.

»Mein Bestes?« fragte er mit inniger Betonung und ohne alle Bitterkeit. »Ach, Fräulein Gertrud, die Eltern sind töricht, die da glauben, was nach ihrer Meinung das Beste sei, müsse es auch nach der Meinung ihrer Kinder sein, und doch hat auch hierin nur der Lebende recht. Nein, nein,« fuhr er lebhaft fort, »gemeint mag er es mit mir ganz gut haben, aber getan hat er übel, und nun muß ich dafür büßen. Doch lassen wir das! Heute ist noch nicht morgen und morgen erst werde ich den Kelch trinken gehen, den man mir wider Willen an die Lippen gesetzt.«

Gertrud wiederholte vorsichtig ihren früheren Seitenblick, der diesmal wie zur Prüfung abgesandt war, denn sie sah nicht ganz klar in dem, was Bodo aussprach, wie auch er sich vielleicht in diesem Augenblick nicht ganz klar ausdrückte, da er mehr auf seine eigenen Empfindungen als auf die eines andern achtete. »Wie sich im Leben manchmal alles Gute und Schlimme aufeinander häuft!« fuhr er gleich darauf fort. »Das Sprichwort: Glück und Unglück kommen nie allein! bewahrheitet sich oft. Da haben wir den morgenden Tag und zwei Tage später einen andern – beide können auf so nahe Vergesellschaftung stolz sein. Das ist noch ein zweiter Kelch, der bis auf die Neige geleert werden muß.«

»Setzen Sie sie beide rasch nacheinander an die Lippen,« sagte Gertrud mutig, »und schlürfen Sie wie ein durstiger Trinker das Unvermeidliche flugs hinab. Es geht oft nicht anders. Vielleicht schmeckt der Inhalt Ihnen süßer als Sie denken.«

»Meinen Sie?« fragte Bodo, sich zu ihr wendend und sie mit freundlichem Lächeln aufmerksamer betrachtend. »Fast sollte ich es auch denken, wenn Sie so ermutigend zu mir sprechen. Sie machen mir ordentlich Lust, die beiden Becher zu leeren.«

»Leeren Sie sie getrost. Auch wenn der Trank bitter schmeckt, trägt er vielleicht Genuß und Stärkung in seiner Nachwirkung.«

»Das denke ich auch. Es sieht manches anfangs schlimm aus, und nachher wird es um so besser. Das habe ich oft genug erlebt und hoffe auch jetzt ein wenig für mich. – Sie müssen nämlich wissen,« fuhr er vertraulicher fort, was Gertrud indessen ganz anders deutete, da sie alles, was sie in diesem Augenblick vernahm, ganz allein auf die Grotenburger Verhältnisse bezog, »daß ich seit kurzer, seit sehr kurzer Zeit eine große Hoffnung hege, daß alles sich besser gestalten wird, als es jetzt aussieht.«

»Das glaube ich wohl!« sagte Gertrud leise, den Kopf senkend und einen tiefen Seufzer so weit standhaft unterdrückend, daß er nur ihren Busen schwellen machte.

»Eine Hoffnung,« fuhr Bodo lebhafter fort, »die mich den eklen Schwindel der gegenwärtigen Tage schon halb vergessen macht und die Erinnerung daran ganz verlöschen wird, wenn sie sich erfüllen sollte.«

»Warum soll sie das nicht?« fragte Gertrud, auf unschuldigste Weise in einen ihr unverständlichen Gedankengang geratend.

»Meinen Sie?« fuhr Bodo lebhaft auf. »Wird sie, kann sie sich erfüllen?«

In diesem Augenblick raschelte etwas hinter ihnen. Die kurze glückliche Stunde war abgelaufen. Der erbarmungslos fortrauschende Zeiger der Zeit war aber dahingeschlüpft, ohne das Hauptschlagewerk berührt zu haben, und so erscholl kein Klang, kein Sang, der versöhnend den Zwiespalt der beiden Menschenherzen geschlichtet hätte. Dafür war der Irrtum in ihnen geblieben, und so saß Bodo mit überschwellender Brust, Gertrud mit überschwerem Herzen auf der Bank, als Fräulein Treuhold zu ihnen trat und mit ihrem Abendgruß den Wecker übertönte, der soeben zum lauten Schlage ausheben wollte.

»Es soll nicht sein, noch nicht!« sprach eine tiefe Stimme in Bodos Herzen, und er war der Mann, der sich in sein Schicksal zu finden wußte. »Guten Abend, Fräulein Treuhold,« sagte er, seinen Hut leicht lüftend. »Ah, Sie wollen sich nach mir umsehen, das ist recht. Da bin ich wieder – und Sie, machen Sie jetzt ein freundlicheres Gesicht?«

»Ach Gott,« seufzte das alte Fräulein, sich auf Gertruds Stelle setzend, die leise und unhörbar von ihrem Platze aufgestanden und in das Haus zurückgeschritten war, »ach Gott, Herr von Sellhausen, wo sollen die freundlichen Gesichter denn herkommen, wenn das Herz so traurig ist?«

»Ist Ihr Herz denn so traurig?« fragte Bodo, sie genauer betrachtend. Aber da sah er freilich ein ganz anderes Gesicht, als er in früheren Tagen zu sehen gewohnt, denn der tiefste Seelenschmerz schien sich auf das sonst so glatte und wohlgenährte Antlitz niedergelassen und früher unsichtbare Furchen und Falten hervorgezaubert zu haben. Ebenso war das alte treue Auge trübe und schwamm in einem feuchten Schimmer, durch den es wie durch einen Schleier voll tiefster Wehmut zu dem lieben Herrn aufschaute, der, sobald er diesen mit Mühe verhaltenen Ausbruch eines ihm nur halb klaren Schmerzes gewahrte, näher an die treue Person heranrückte, ihre Hand ergriff und mit freundlicher Stimme, die noch nie ihren Eindruck auf seine Zuhörerin verfehlt, sagte:

»Ja, ich sehe es, Sie sind traurig, liebe Freundin, aber das sollten Sie nicht sein, ich bin es ja auch nicht mehr.«

Auf Fräulein Treuhold übten diese letzten Worte keine ermutigende Wirkung aus; auch sie hörte, wie Gertrud vorher in ähnlicher Unterhaltung, etwas ganz anderes aus denselben heraus, als sie ausdrücken sollten. »Ach,« erwiderte sie, den warmen Händedruck des Legationsrats matt zurückgebend, »ach ja, Sie sind es nicht mehr, aber das kann doch kein Trost für mich sein?«

»Warum nicht? Sagen Sie mir, was Sie drückt, und sprechen Sie sich einmal die Seele rein, vielleicht sind auch Sie dann nicht mehr traurig.«

»Ach du lieber Gott, Herr von Sellhausen, die Seele soll ich mir reinsprechen? Na, da müßte ich lange reden, und dazu ist auch nun keine Zeit mehr vorhanden. O, wir haben so lange nicht abends gemütlich miteinander geplaudert! Wissen Sie noch, wie das früher war, wenn Sie abends nach Hause kamen und bei mir in der Stube saßen, während es draußen tobte und stürmte?«

»Das wird auch alles wiederkommen, Liebe.«

»Nein, nein, ich glaube es nicht, das ist nicht mehr möglich. Die schrecklichen Tage sind vor der Tür und bedrücken mich so, daß ich kaum atmen kann.«

»Die schrecklichen Tage?« fragte Bodo. »Warum denn das? Ich sehe nur einen, und der ist freilich nicht angenehm, aber er wird sich überstehen lassen. Gertrud hat mir einen guten Rat gegeben, und den werde ich befolgen. Ich trinke den vorgehaltenen Kelch rasch aus, und dann ist es mit dem bitteren Geschmack bald vorbei.«

»Ach Gott, Sie scherzen wohl noch gar? Aber mir ist heute gar nicht scherzhaft zu Mute. Mag es ein schrecklicher Tag oder mögen es zwei sein – auch einer ist genug, und von ihm fließt das Unheil auf alle übrigen hin. Nein, nein, lieber, guter Herr, mag es kommen, wie es will, so oder so, für mich gibt es keine Freude mehr auf Erden, und die Tage sind da, von denen man sagen muß: sie gefallen mir nicht.«

»Liebe Treuhold,« entgegnete Bodo sehr ernst. »Sie sehen alles zu schwarz. Lassen Sie kommen, was will, es wird sich schon hineinleben lassen, und Sie, mag die Vorsehung bringen, was sie will, bleiben bei mir, hier oder da, und niemand anders als Sie sollen mir meine künftige Wirtschaft führen, mag sie groß oder klein sein.«

Das alte Fräulein atmete tief auf. Was war das? Hatte er nur gescherzt? Nein, danach klang seine ernste Stimme nicht, und sein Auge blickte zu ruhig vor sich hin. Er sprach von einer kleinen Wirtschaft – sollte es möglich sein, was sie sich dachte?

»Herr von Sellhausen,« rief sie plötzlich und faßte seine Hand fester – »machen Sie jetzt gleich mit einem Male dem Elend ein Ende – sagen Sie mir, was ich zu erwarten habe – eine bestimmte Voraussicht, mag sie einen hellen oder dunklen Himmel zeigen, ist immer einer unbestimmten vorzuziehen, und Sie können mir noch ein paar böse Nächte damit ersparen, die mir ohnehin schon wochenlang böse genug vergehen.«

Bodo blickte von ihrem flehenden Gesicht fort, in einer Art, daß die Treuhold augenblicklich erkannte, sie habe ihn vergeblich gebeten. »Nein, Liebe,« antwortete er gleich darauf in entschiedener Weise, »Sie verlangen da zu viel von mir. Ich kann Ihnen weiter nichts sagen als: haben Sie Geduld!«

»O Gott, das sagt ja Gertrud auch, aber das ist kein Trost, Herr!« rief die Treuhold, fast in Tränen ausbrechend.

»Sehen Sie wohl,« fuhr Bodo lebhafter bei dieser Anführung fort, »es ist doch ein Trost, und nehmen Sie sich ein Beispiel daran. Des Meiers Tochter ist ein kluges, verständiges Weib, trotzdem sie so jung ist, und sie weiß sich in die Umstände zu schicken. Also haben Sie Geduld, wiederhole ich, weiter kann ich Ihnen jetzt nichts sagen. Wir haben noch beinahe vierzig Stunden bis zu dem Augenblick, wo ich zu sprechen gezwungen bin, und wer weiß, was bis dahin noch geschieht!«

»Wie? Sind Sie denn noch nicht entschlossen, wohin Sie sich neigen werden? Ich denke, das ist schon alles abgemacht?«

»Ja, freilich, es ist alles abgemacht, darin haben Sie recht.«

»Also wirklich? O mein Gott!«

»Aber was wollen Sie denn – seien Sie doch froh, daß ich mich entschieden habe –«

»Um Gotteswillen, wie kann ich denn das? Ihre Entscheidung ist ja furchtbar für mich!«

»Furchtbar für Sie? Nun, da verstehe ich Sie nicht. Da sehen Sie, daß alles Reden nichts hilft – noch einmal also, haben Sie Geduld – doch still – ich glaube, da kommt Gertrud zurück, sie soll nicht hören, was wir verhandeln.« –

Wie vorher die Treuhold Bodo und Gertrud in einem zur Erklärung neigenden Gespräche unterbrochen hatte, so unterbrach jetzt Gertrud Bodo und die Treuhold in einer ähnlichen entscheidenden Unterhaltung. Aber es sollte einmal so sein, den drei Leuten war es nicht bestimmt, sich vor dem einmal festgesetzten Zeitpunkt zu verständigen, und so nahmen sie es auch endlich auf. In ihrer Aufregung und Spannung, die bei jedem von ihnen vielleicht einen anderen Gegenstand und eine andere Person betraf, verharrten sie noch diesen Abend, die Nacht und den ganzen folgenden Tag, und erst in der Nacht, die auf diesen Tag folgte, sollte sich bei zweien von ihnen das Dunkel lichten, aber auf eine Weise, die keines von allen dreien erwartet hatte und hatte erwarten können.


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