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VII.

» Absolvo te a peccatis tuis – in nomine patris et filii et spiritus sancti – Amen.«

* * *

Am Nachmittage führte der Abt seinen jungen Gast in die breitschattige Lindenallee hinaus.

»Sie dürfen mich nicht mißverstehen,« sagte er nach langem Gespräch; »aber sehen Sie« – er legte ihm die Hand mit dem schweren Amethystring auf den Arm – »jetzt ist alles in Ihnen wund, und Wunden machen müde. Deshalb glauben Sie, den Frieden suchen zu müssen. In Wahrheit aber suchen Sie nur Ruhe und Heilung. Wenn das alles vernarbt ist, würden Sie der gleichmäßigen Ordnung bald überdrüssig werden. Die Jahre, die an uns Mönchen vorüberziehen, haben keine Schicksale mehr. Ein Tag folgt hier dem anderen, als wäre er nur seine Wiederholung. Für den, der durch unser Tor zur Regel eingeht, stirbt nicht allein die Vergangenheit, sondern auch die äußere Hoffnung, die weltliche Zukunft. Und das ist jungen Menschen am schwersten zu ertragen. Anfangs werden Sie in der gleichmäßigen Verteilung der Stunden und Pflichten Beruhigung finden. Dann aber wird gerade diese Diät Ihnen zum treibenden Stachel werden. Was Ihnen nottut, das können Sie auch außerhalb des Klosters finden. Jeder kann seine Wege zum Kreuzgang, sein Leben zum dienenden Gehorsam machen. Auch Sie.«

Benedikt brach im Vorübergehen einen kleinen Zweig, der seine Stirne gestreift.

»Aber ich habe mich genau geprüft,« sagte er bescheiden; »ich weiß, hier würde ich meine Bestimmung erfüllen.«

»Eben. Sehen Sie. Sie sprechen von Bestimmung; und hier gibt es keine Bestimmung mehr. Sie erwarten hier ein starkes inneres Erleben, das Sie beschwichtigt und klärt. Aber das würde bei Ihnen nicht lange währen. Nicht, daß ich Sie für unbeständig und pflichtvergessen halte. Aber Sie sind ein Mensch von empfindlichen Idealen, dem darum nicht leicht etwas dauernd genügen kann. Vier Wochen lang wird es Ihnen Freude machen, da oben im alten Büchersaal Pergamente und Texte zu vergleichen. Dann aber werden Sie den Reiz als Last empfinden und sich nach eigenen Texten sehnen. Sehen Sie, es gibt verschiedene Menschen. Sie sind nicht einer von denen, die ihre Bahn gerade im engsten Kreise am besten vollenden, und auch noch lange nicht einer jener Heiligen, die aus engstem Kreise sich zum Abgrund vertiefen oder zum Turme erheben. Aus Stimmung oder augenblicklicher Erschütterung sollte man diesen Weg nicht wählen. Sie sind noch nicht weit gekommen. Sie sind noch vor keiner Tiefe gestanden, vor keiner Wüste. Was Sie erlebt haben, messen Sie mit dem kleinen Maße früherer Erfahrungen, und darum erscheint es Ihnen ausreichend.«

»Es tritt aber doch mancher in den Orden, der noch weit weniger versucht ist als ich,« wandte Benedikt von neuem ein.

»Gut, gut. Das ist etwas anderes. Sie aber stehen weder am Anfang noch am Ende. Ihnen scheint das Kloster jetzt wie ein Ziel, weil Sie müde und staubig sind. Es wäre aber für Sie nur eine Herberge, und morgen schon würden Sie wandern wollen. Sie haben einmal gesagt: Das Kloster ist eine Mündung und kein Ursprung. Erinnern Sie sich? Sie stehen aber noch lange nicht vor Ihrer Mündung ins Meer.«

»Aber es ist viel geschehen seither. Und ich bin auch ein anderer geworden.«

»So scheint es Ihnen, weil sich in Ihrem Leben plötzlich viel zusammengedrängt hat.«

Sie hatten das Ende der Lindenallee erreicht und kehrten um. Über die weiße Kutte des Abtes liefen die hellgrünen Sonnenkreise; der Amethyst an seiner starken Herrenhand glühte in mystischem Abendfeuer auf.

»Und doch wäre es für mich das beste, in die Stille einzukehren,« gestand Benedikt.

»Rückprall nach erstem Anlauf,« tröstete der Abt; »Sie sind mit hohen Wünschen in Ihren Beruf eingetreten und fühlen sich enttäuscht. Der alte Kampf. Der innere Widerspruch. Wenn Sie aber diesen erkannt haben, so haben Sie ihn schon besiegt. Trachten Sie ein Beispiel zu geben. Seien Sie ein stilles Vorbild im Kampfe um das inwendige Kreuz. Man kann auch auf diese Weise wirken. Ihnen fehlt nur die Reife und der richtige Beruf. Man darf sich von Gegensätzen nicht auseinanderreißen lassen. Denken Sie immer: Menschen sind schließlich Menschen, mit allen ihren großen und kleinen Nöten. Es gibt zwei Strömungen in unserem Fluß, eine äußere und eine innere. Das leichte Boot wird von der oberen getragen, das schwerbeladene aber ragt mit seinem Tiefgang in den inneren Strom hinab. Und dieser hat eine andere Mündung. Mit anderen Worten, wir müssen das Gleichgewicht zwischen Wunsch und Wirklichkeit halten, wenn wir vorwärts kommen und doch nicht stranden wollen. Dieses stille Versöhnen ist schließlich die Erfüllung. Wählen Sie unbedingt den anderen Weg, von dem Sie mir gesprochen haben, den Lehrberuf. Den Beruf des heimlichen Säemanns. Für das Kloster bleibt immer noch Zeit. Mit dem Kloster aber hört die Zeit auf und der Zeiger bleibt stehen.«

»Ich weiß eben nicht, ob ich diesem Berufe gewachsen bin.«

Der Abt schüttelte nachdrücklich den stolzen, hageren Kopf.

»Das darf nicht sein! Man muß sich gewachsen fühlen! Denken Sie nur an unseren rauhen Bruder Clementius: man muß nur Vertrauen haben zu seiner Kraft, dann ist man stärker als jedes Tier. Und dann noch etwas. Sie haben da oben ein einsames Jahr verbracht. Es ist Ihnen Zeit geblieben, über sich und Ihre eigene Haltung viel nachzudenken. Das ist nicht gut, glauben Sie mir. Einsamkeit ist nach großen Erschütterungen bisweilen recht heilsam. Einsamkeit vertieft; Vereinsamung aber vergiftet. Einsamkeit kann einem jungen Menschen zur schwersten Versuchung werden. Sie müssen unter Menschen gehen, damit Sie nach außen leben, bevor Sie alles im Inneren zu klären suchen.«

»Das fürchte ich gerade. Ich möchte die Menschen am liebsten fliehen.«

»Nicht fliehen!« Der Abt wehrte mit seiner ritterlichen Hand strenge ab; der Amethyst flammte abendlich auf. »Nicht fliehen! Überwinden! Und der Kampf wird Ihnen leichter sein, wenn Sie viele ebenbürtige Menschen zu bestehen haben. Am schwersten fällt es, den mitvereinzelten Menschen zu besiegen. Dieser ist der Versucher. Schon darum sollten Sie in die Welt hinausgehen. Sich selbst vollendet man nur an anderen. Die Einsamkeit gibt dann bloß den letzten Schliff, der das innere Feuer erstrahlen läßt. Man bildet sich, indem man andere zu bilden trachtet. Sie sind ein Mensch, in dem gebundenes Schaffen nach Wirklichkeit ringt. So schaffen Sie! Bilden Sie! Versuchen Sie zu führen, so werden Sie nicht mehr irren. Diese Verantwortlichkeit gibt sichere Kraft. Das Amt des Säemanns ist eines der heiligsten unter allen Ämtern. Der Lehrer vermag in der Stille Ungeheures zu wirken. Wenn er auch die Ernte nicht mehr erlebt – es ist doch schön, am Abende auf junge Äcker hinabzusehen, in deren Furchen man Tropfen eigenen Herzbluts versenkt hat. Nehmen wir irgendein Fach! In jedem kann man Segen stiften. Kirchengeschichte, die Ihnen so nahe liegt! Ein Feld, auf dem wunderschöne Frucht sich ziehen läßt. Machen Sie heranwachsenden Geistlichen jene Helden unseres Christentums lebendig und unvergeßlich, die Ihnen selbst zu Vorbildern geworden sind! So haben Sie schon Unvergängliches geleistet. Wenn Sie auch nur drei Schülern die Größe des ersten Gregor oder die Heiligkeit Ihres Lieblings Leo oder die weitherzige Sanftmut des vierzehnten Benedikt zur inneren Erfahrung machen, so haben Sie für die Sache Christi viel getan. Echte Priester erziehen, Lehrer der Lehrer sein – man möchte noch einmal jung werden, um es selbst zu versuchen.«

Der Abt hatte sich warm gesprochen. Sein herbes, stolzes Harnischgesicht glühte von innen heraus.

»Aber sehen Sie, dort kommen Hucbald und Sebald, unzertrennlich in ihrer Feindschaft, unvereinbar in ihrer Freundschaft. Sie holen uns zum Vesperbrot … Zum Abschied müssen wir doch noch die Schätze unseres Calixt heben. Und dann wollte ich Ihnen ja noch die neue Fabrik zeigen. Vielleicht kommen Sie noch einmal?«

»Seit zwei Stunden warte ich auf dem Orgelchor!« schalt Hucbaldus; »jetzt habe ich abgesperrt, die große G-moll-Fantasie war schon auf dem Pult, und dann wollte ich Ihnen doch noch am Instrument die Dasianotierungen des alten Uchubaldus …«

» Taceas mit deinen Dasianotierungen,« unterbrach Sebaldus; »kein Mensch kann beweisen, daß die echt sind, und überhaupt, das sind alles Einbildungen und Theorien. Aber ich habe zwei Stunden in der Bibliothek gewartet, der Geroldus war schon herausgelegt, ich wollte Ihnen heute doch die Stelle nachweisen, die Professor Modermeier mit seiner unbegreiflichen Konjektur entstellt hat, Sie erinnern sich …«

» Eum muß es heißen und nicht cum,« sagte Benedikt prompt.

Pater Sebaldus Weinzierl erstrahlte.

»Siehst du, Hucbald! Von deinen Notierungen weiß er gar nichts, aber die berühmte Stelle hat er sich gemerkt … Nun ja, man weiß ja doch, wo die Talente und Interessen eines Menschen liegen …«

Man schritt zu viert nach der Abtei zurück, Hucbald und Sebald nach mönchischer Gepflogenheit im Krebsgang, die Hände in den weiten Ärmeln verborgen.

»Aus dem Sanktrainer Feste wird nun natürlich nichts werden?« fragte der Abt; »sind die Blattern eigentlich erloschen?«

»Ja, Gott sei Dank. Neue Fälle sind dann nicht mehr hinzugetreten.«

»Und für den Dechanten besteht gar keine Hoffnung?«

Siebenschein sah zur Seite, nach dem Kirchhofshügel hinauf, wo vorm Jahre der sterbende Pater Norbert in der Abschiedssonne gesessen.

»Leider, nein.« Er seufzte auf. »Das Sprachvermögen ist vollkommen gelähmt. Auch scheint der Herr Dechant niemand mehr zu erkennen. Man muß auf ein baldiges Ende gefaßt sein.«

Er senkte den Kopf, wie unter der Last eines Joches.

»Es wäre eine Gnade,« versetzte der Abt ruhig; »und der Doktor, was ist mit ihm? Er hat sich eigentlich doch sehr verdient gemacht.«

»O ja. So sehr, daß er jetzt unter Anklage steht. Wegen Beleidigung von Amtspersonen und anderen Dingen.«

»Er wird sich nicht viel darum bekümmern. Sie wissen, ich habe ihn immer hochgeschätzt. Ich kenne ihn nur flüchtig, aber dieser Mann hat auf mich einen seltsamen Eindruck gemacht. Ich weiß nicht, warum. Mir ist immer, als hätte ich ihn schon einmal irgendwo gesehen – nur kann ich mich auf diese Begegnung nicht besinnen.«

Sie traten ins kühlhallende Refektorium, wo Calixt den Abschiedstrunk kredenzte, purpurbraunen Franzenwein ehrwürdigen Alters.

Der Abt hob den feingeschliffenen Kelch.

»Aufs Wohl unseres hohen Gönners und Freundes, Seiner Eminenz – möge er bald wieder genesen. Es ist beinahe ein Glück, daß die Sanktrainer Feier ausgefallen ist. Der alte Herr hätte sich überanstrengt und sein Unwohlsein verheimlicht … Nun, ich hoffe von Herzen, Sie finden ihn gesund wieder!«

»Und auch Ihre Gesundheit!« lächelte Sebaldus; »vergessen Sie den Geroldus Claudus genannt Anapäst nicht über Ihren anderen gelehrten Studien. Es lebe Rom! Rom! … Könnte ich mit Ihnen gehen!« Ein seliges Lächeln verklärte seine breite, etwas abendliche Nase. »Nur einmal die Vaticana so recht durchstöbern, meine Texte mit den dortigen vergleichen, das eum meiner Urhandschrift mit dem cum der vatikanischen Kopie zusammenhalten … Diese Fußnoten! Sie Glücklicher.«

Hucbaldus hielt sein Glas behaglich gegen das Fenster.

»Ja, Sie Glücklicher! … Die Sixtinischen Messen! … Das alte Präneste und den Geist des großen Palestrina besuchen … Sei still, Sebalde, trink deinen Wein, davon verstehst du gar nichts. Du mit deinem ewigen ablativus comparationis! Du mit deinen Scholien und Eselshäuten! Eine einzige Wechselnote, eine Pause von Bach ist mehr wert als deine ganzen scriptores medii aevi.«

»Du mit deinem Kontrapunkt! … Was weißt du von den inneren Herrlichkeiten einer einzigen erleuchteten Konjektur, die einen ganzen Zeitraum aufhellt!«

Calixt zog sein altes, feines Kellergesicht zu einem listigen Schmunzeln zusammen.

»Falerner! Apulier!« flüsterte er hinter vorgehaltener Hand Siebenschein zu, laut genug, um von den beiden Streitenden verstanden zu werden; » absumet caecuba heres dignior – da sind alle Kontrapunkte und Konjekturen der ganzen Weltliteratur drin!«

»Sehen Sie!« winkte der Abt mit dem dunkelblutrot schimmernden Kelche; »die sagen's Ihnen viel bündiger und verlockender wie ich. Also auf den zukünftigen Wein, in dem sich Ihnen alle Dissonanzen und Zweifel zu Klang und Klarheit auflösen, auf Blüte, Reife und Ernte!«

Die Gläser klangen harmonisch zusammen; Benedikt spürte ein heißes, erschütterndes Aufsteigen.

Die Stunde des Abschieds war da.

»Leben Sie wohl,« sagte der Abt herzlich; »und wohin Sie auch gehen, grüßen Sie mir alle Weiser an Ihren Wegen. Ich kenne sie alle.«

»Und die Sixtina,« trug Hucbaldus auf; »ich kenne sie nicht, eheu me miserum.«

»Was Sixtina!« verbesserte Sebaldus; »die Vaticana! Und wenn Sie dort die heiligen Originale sehen, denken Sie an den alten Sebaldus Weinzierl, der sein Leben darum gegeben hätte, den Duft dieser Papyri und Pergamente nur einmal von ferne zu atmen.«

Calixt drückte Siebenschein stumm die Hand; mit der Linken aber deutete er das zum Munde geneigte Glas an, während in den zusammengekniffenen Kelleräuglein das Licht überlegenen Wissens aufflimmerte.

Benedikt wollte noch viel sagen; darum schied er unbeholfen und plötzlich. In der hallenden Tiefe der Abtei erscholl der eherne Ruf einer Glocke. Die vier Mönche verneigten sich und winkten dem Rückschauenden. Der Amethyst an der starken Hand des Abtes glühte noch einmal in herbstlicher Abendglut auf. Dann verschwanden die lichten, ehrwürdigen Gestalten in der strengen Dämmerung des Tores und gingen zu ihrer Tagzeit ein unter dem Spruch des heiligen Arsen: Qui nescit oboedire, monachus fieri non potest.

* * *

Es war ein schöner, herbstlich klarer Spätsommer. Auf den Feldern standen noch da und dort die Zelte der Hafergarben; der Buchweizen blühte; in der weingoldnen Luft schwärmten die rüstenden Schwalben.

Benedikt schritt langsam seine Straße; sein Herz war schwer.

Schon dieser Abschied hatte ihn geschmerzt; der bangere stand ihm bevor.

Es war auch dieser Himmel, diese Jahreszeit. Immer, wenn die frühen Vesperschatten lang und taukühl in die Stoppeln fielen, wenn die Schwalben sich sammelten und wie welkes Laub im Abend trieben, wenn die zweite Mahd reifte und die wehmütigen Blumen der Sommerneige an den Wegrändern blühten – immer in den süßen, erfüllten Wochen zwischen den beiden Frauentagen war ihm ums Herz, als sei dies Jahr das letzte, als habe nun jedes Wort einen besonderen, feierlichen Sinn, als liege über allem Geschehen die Weihe der verzeihenden Liebe.

Und er hatte diese Landschaft, diese Menschen, diese Härten und Gefahren liebgewonnen. Jetzt erst wußte er's, da jeder Gruß ein letztes Nehmen und Geben und Segnen war, da in seiner Stube die halbverpackten Bücherkisten ihn erwarten würden, da das schöne Harmonium schon am Bahnhof der Bestimmung harrte. Er hatte sich warmgewohnt, er fand jetzt überall den Widerhauch seines eigenen Atems, Narben seiner eigenen Schicksale und Erfahrungen, Male seiner eigenen Wunden: das Geheimnis der selbstgeschaffenen Heimat.

Gestalten zogen vorüber, Schatten, Seufzer, Entscheidungen:

Der arme Peregrin Kranich, den der Zufall einer Begegnung in die jäh abschießende Bahn hinausgeprellt hatte … Der Hartbauer, der im erstickten Aufbäumen seines Sterbens ihn mit sich hatte ins Nichts hinabreißen wollen … Der erste Tod, den er geschaut … Verena Kathrein, zart und golden in der goldenen Ostersonne, schön wie der schlummernde Frühling, ein süßes Wunder, ein Gebet … Der alte Permoser, schwer, starr und gedunsen, unbehilflich und argwöhnisch noch im Tode … Der alte Geisterer, der sich mystisch aufgelöst zu den Höhen der Stürme und Sterne … Der Dechant, vor seinen Augen hilflos, rettungslos im schwarzen Moore versinkend …

Absolvo te a peccatis tuis … Aber die Schuld lastete doch dunkel auf ihm …

Er wollte sühnen.

Benedikt setzte sich auf den Radstein der Brücke, die hier die Straße über den Wiesenbach trägt. Er träumte in den weinklaren, tränenklaren Abend hinaus. Eine feierliche weiße Wolke stand hoch über den Unzinger Bergen. In Wiese und Stoppel schliffen die frühen Grillen. Die Schwalben jagten niedrig über die schimmernden Zelte der Hafergarben hin. Irgendwo in der vesperlichen Landschaft das Rauschen des Mähestahls; irgendwo in der Flur das Aufblenden der gewendeten Pflugschar, des getreuen, heiligen Steuers, aus dessen Bahn alle Gebete aufsteigen, in dessen ewige Wege alle Wünsche niedertauen.

Und siehe, ein hoher Mann schritt still am Feldrain hin. Er segnete den Ausgang der Frucht und den Eingang des neuen Samens zur Mutter. Er segnete das Brot und den Wein, und vor seinem Nahen neigten sich die espenden Halme der Wiesen. Er kam am ruhenden Wanderer vorbei, und aus den Wundenmalen seiner gütigen Hände brach erlösend das innere Licht.

Als Benedikt aus heißen Tränen aufsah, da schmolz die Erscheinung in die untergehende Sonne hinein, und über das breite Tal streckte sich der Schatten des Friedens.

Absolvo te a peccatis tuis – deine Sünden sind dir vergeben: in unserem Namen, die wir einig sind, unser Vater und wir Brüder und unser Geist der täglichen Liebe, Amen. –

Siebenschein stieg rüstig und erneut ins Unzinger Gelände hinauf. Morgen oder übermorgen traf der Kurat ein; da wollte er doch noch einiges vorbereiten.

Auf der Wölbung ihres Hügelackers schafften die Schattauer Leute in die sinkende Dämmerung hinein an der Bergung der raschelnden Haferfrucht.

Ein breiter Mann in schwarzer Tracht, die weißen Hemdärmel hochaufgekrempelt, half kräftig mit.

Als er des Wanderers ansichtig wurde, stieß er die Forke in den Grund und trat rasch an die Hügelstraße heran.

» Salve confrater. Ich habe Ihnen entgegengehen wollen, da sehe ich die Leute bei der Arbeit. Sie meinen, es könnte sich über Nacht ein Regen zusammenziehen. Da bin ich gleich hier geblieben. Ich bin der neue Pfarrer, Cassian Nigel.«

Siebenschein war betroffen.

»Aber, Herr Pfarrer, Sie haben das Haus leer gefunden, noch nichts vorbereitet. Und die alte Petronilla hat gerade heute Ausgang genommen. Ich habe Sie erst für morgen oder übermorgen erwartet. Ich bitte sehr um Entschuldigung.«

Der andere streckte ihm eine warme, feste Hand entgegen.

»Ah was, Entschuldigung. Ein Bett ist da, ein Tisch mit vier Beinen und ein Stuhl. Knien kann der Christenmensch überall. Und gevespert hab ich gleich mit den Leuten da. Was glauben Sie, in Brasilien habe ich selten so eine Aufnahme gefunden.«

»In Brasilien?«

»Ja,« sagte Cassian Nigel einfach, während er die Ärmel wieder aufrollte und in seinen schwarzen Rock fuhr; »ich war doch acht Jahre bei den Cayapó, vier Jahre in China und zweieinhalb im heiligen Land. Wollen wir gehen? Sie sind heiß, sollten nicht stehen bleiben. Gute Nacht, Leut, danke für die Bewirtung, Gott gesegne die Bergung, gelobt sei Jesus Christus.«

»In Ewigkeit, Amen, Amen,« dankten die Schattauer; »wir haben zu danken, Hochwürn.«

»Ja, ich bin etwas früher abgereist. Hab wollen einen alten Freund in Sankt Blasien drunten vorher besuchen, wir haben uns fünfzehn Jahre nicht gesehen – da haben wir uns so verändert, daß wir schnell wieder auseinandergegangen sind. So hab ich mich verfrüht. Sie waren in Heiligenzell?«

»Herr Pfarrer kennen die berühmte Abtei?«

»Nur dem Namen nach. Ich bin kein Hiesiger. Wie steht's mit der Epidemie?«

»Sie ist so gut wie erstickt.«

»Ja, ihr Europäer. Bei den Cayapó habe ich einmal die schwarzen Blattern mitgemacht. Das ist wie bei uns die Pest. Na, Gottlob. In der Pfarrkirche war ich auch schon. Die ist aber hübsch.«

»Ja, nicht wahr?« fragte Siebenschein erfreut.

»Wunderhübsch, und so sauber. Heute wird nicht mehr so gebaut.«

Benedikt atmete auf. Die bösen Pläne des alten Permoser sanken ihm nach ins Grab.

Und überhaupt, das war ein ganz anderer Mensch. Eine frische, herbe Witterung ging von ihm aus, ein Schimmer von gesundem Frohsinn, ein Fluidum guter, ehrlicher Kraft.

»Ja, das ist wieder meine erste europäische Pfarre,« sagte er. »Wie sind die Leute? Abergläubischer wie die Cayapó? Schießen vielleicht auch mit vergifteten Pfeilen? Ich habe schon so etwas gemerkt. Ich sage Ihnen, die ärgsten Heiden und Menschenfresser wohnen doch in Europa.«

»Haben Herr Pfarrer das Gepäck auf der Bahn? Hier wohnt der Tafernwirt, ich könnte es ihm gleich sagen, er hat das einzige Fuhrwerk.«

Cassian Nigel lachte vergnügt auf.

»Gepäck? Was Sie da an mir sehen, das ist meine Habe. Und die kleine homöopathische Handapotheke. Aber hierzulande kann man nichts anfangen damit. Das ist sehr unrecht. Beim gesunden Menschen fängt alles an.«

Sie traten in den Pfarrhof.

Die alte holzsteife Petronilla brachte erstaunt und mürrisch die Feierabendlampe. Ein breiter, erdfester Mann mit offenem Gesicht und strammgelocktem Blondhaar trat aus der Dämmerung ins freundliche Licht. Siebenscheins Blick blieb haften an der sauber verheilten aber auffallenden Narbe, die schräg über die starke Stirn und die Augenbrauen nach dem Ohre lief.

»Ein kleines Andenken aus Brasilien,« sagte Nigel gleichmütig; »die Cayapó skalpieren nicht, aber sie haben andere hübsche Gepflogenheiten. Hier ist es ja sehr nett, was wollen Sie? Dort stehen die Pfarrbücher? Gut. Mehr braucht's nicht. Das ist ja sehr gemütlich. Obgleich ich das europäische Curare mehr fürchte wie das brasilische. Die Herren Wilden hier verfertigen noch bessere Blasrohre und feinere Pfeile. Ja, was ich Ihnen gleich sagen muß, daß ich nicht vergesse. Eine traurige Nachricht. Seiner Eminenz geht es sehr, sehr schlecht.«

»Schon gestorben?« fragte Benedikt in erschrockener Hast.

»Noch nicht, das heißt, die Katastrophe kann inzwischen schon eingetreten sein. Ja, die Gicht. Ich fürchte, wir werden schon am nächsten Sonntage eine traurige Pflicht zu erfüllen haben. Der Herr Protonotarius läßt Sie übrigens wärmstens grüßen. Er hat sehr herzlich und anerkennend von Ihnen gesprochen. Sie haben hier einen schweren Stand gehabt? Er sagt, Sie hätten bei Bekämpfung der Seuche große Umsicht entwickelt. Das sind seine eigenen Worte.«

Siebenschein sah auf seine mageren, heißen Hände herab.

»Oh nein. Nämlich, das heißt – ich habe höchstens meine Pflicht getan. Der Herr Kaplan Gfrörer von Sanktrain war mir dabei sehr behilflich … Aber Seine Eminenz! Ist der Zustand wirklich hoffnungslos?«

Cassian Nigel nickte betrübt.

»Ich glaube nicht, daß da noch eine Besserung erwartet werden kann. Der alte Herr hat sich überanstrengt, am Feste Mariä Himmelfahrt selbst im schweren Bernardusmantel das Hochamt zelebriert, mußte vom Hochaltar weg sofort zu Bett gebracht werden – schwere Störungen der Herztätigkeit, Schlummersucht … Wir müssen stündlich auf die Nachricht gefaßt sein.«

Die alte Petronilla trug das schlichte Abendbrot auf, und Cassian Nigel begann von seinen Missionskindern zu erzählen. Dergleichen hatte die ehrbare Schaffnerin noch nicht vernommen. Sie vergaß auf das Abtragen, verharrte geöffneten Mundes im Hintergrunde und lauschte den blühenden Schilderungen dieses braunen, derbkörnigen Kuraten, der so ganz anders war als alles, was ihr an Pfarrern und Kaplänen annoch begegnet. Curare … Jaguare … Cayapó-Indianer … Lippenpflöcke … Der Botocq … Der Baitó … Der Aroé … Kürbisrasseln … Mandioka … Wurfbretter … Die Totengeister … Ararafedern … Brüllaffen … Riesenschlangen … Kochen und Braten in Erdgruben … Schwimmen auf Palmstengeln über Ströme, so breit wie von Unzing nach Heiligenzell … Bekleben die Knochen ihrer Toten mit Federn … Lassen sich zur Feier ihrer Verstorbenen mit gestachelten Kürbissen kasteien … In dieser Nacht würde sie kein Auge schließen, das wußte die Petronilla.

Die Kunde blitzte noch an diesem Abende durchs Dorf.

»Bei die Wilden is der g'wesen … Die nacketer herumlaufen am hellichten Tag … Die Menschen fressen tun … Die mit die Fitschifeil schießen tun. Ein Kratzer, hin bist, Kreuz und Amen … Und alser lebendiger bratens die Leut … Den habens schon amal überm Feuer g'habt. Schon ang'fettet und eing'staubt … Da hat er den heiligen Laurenzi ang'rufen, und aus war das Feuer.«

So ging die Rede über Cassian Nigel durch Unzing hin, und die kommende Antrittspredigt wurde erwartet wie eine lange schon fällige Festvorstellung.

* * *

Allein das erste, was Cassian Nigel seinen Pfarrkindern von der Kanzelhöhe verkünden mußte, war eine Trauerbotschaft.

»Meine lieben Christen. Ich habe euch die letzten treuen Hirtengrüße Seiner Eminenz, eures Herrn Fürsterzbischofs, zu bestellen. Seine Eminenz, der Herr Fürsterzbischof ist vorgestern nach schwerem, geduldig ertragenen Leiden sanft im Herrn entschlafen. Am selben Nachmittage noch ist über Wunsch des Sterbenden sein Testament eröffnet worden. Liebe Christen, euer Hirte hat an euch alle in väterlicher Liebe gedacht. Er hat verfügt, daß eine große Summe an die bedürftigeren Pfarreien seines Erzsprengels verteilt werde, und zwar so, daß ein Drittel zur Instandhaltung oder Wiederinstandsetzung der Pfarrkirchen, also zu eurer Entlastung, angelegt wird, daß ein Drittel der Gründung von Armen- und Waisenhäusern dient, während der letzte Teil den unbemittelten Kindern der Pfarre zu Erziehungs- und Studienzwecken zukommen soll.« Pfarrer Nigel zog ein Blatt Papier aus dem Evangelienbuche und las den geschriebenen Text vor. »Der Schluß des Testamentes enthält noch ein Vermächtnis an euch alle, eine Bitte eures getreuen Hirten und väterlichen Freundes … Meinen Diözesankindern lege ich es ans Herz: Liebe Seelen, da ich meinem Richter auch über euch werde strenge Rechenschaft ablegen müssen, betet für mich. Vergeßt nicht der Lehren meiner Hirtenbriefe und lebt nach ihnen, auf daß wir uns alle im Himmel und in Christo dereinst wiedersehen mögen. So jemals einer von euch mein Grab besuchen sollte, spreche er ein stilles Vaterunser für meine arme Seele. Gedenket, daß ihr mir bald nachfolgen werdet.«

Kein Auge blieb trocken, und selbst Herr Vizebürgermeister Poschinger erwachte von der allgemeinen Rührung.

Aber der neue Herr Pfarrer schloß das schmale Buch über dem beschriebenen Blatte und hub alsbald an über das Sonntagsevangelium Lucae zu predigen.

»Ihr habt gehört, liebe Christen, daß geschrieben steht: Welcher von den dreien scheint dir der Nächste von dem gewesen zu sein, der unter die Räuber gefallen war? Jener aber sprach: Der, welcher Barmherzigkeit an ihm getan hat. Und Jesus sprach zu ihm: Gehe hin und tue desgleichen …

»So steht geschrieben. Soll aber nicht nur geschrieben stehen, liebe Christen, soll auch fleißig getan werden, und nicht nur mit der Hand und dem Munde, sondern aus dem Herzen heraus. Euer verewigter Herr Erzbischof hat euch da ein Beispiel gegeben, das ihr niemals vergessen dürft. Gehet hin und tuet desgleichen, jeder nach seinen Gaben.«

Der neue Herr Pfarrer predigte kurz, kernig, heiter und zugleich streng. Er fand mit seinen Worten immer Tatsachen, die jeder kannte, Bedürfnisse, die jedem aus eigener Not her bekannt waren – und doch schien alles neu, fremd, und deshalb erst recht überzeugend. Er führte beschämende Beispiele Andersgläubiger und roher Heiden auf, die so manchen beflissenen Christen an mutiger Nächstenliebe weit übertroffen. Er ließ die Parabel durch alle Fragen und Lagen des Alltags hindurchlaufen. Er wendete sich nach innen und redete von den syrischen Glutwüsten, die überall im inwendigen Menschen zu finden seien, von den Raubmördern, die jedermann in sich beherberge, vom todwunden Reisenden, den jedermann an seinen Straßen schon angetroffen habe. Er verglich das furchtbare Pfeilgift der amerikanischen Wilden dem noch tödlicheren Gifte, darein mancher sogenannte Christ seine unsichtbaren Pfeile tränke. Er hob noch einmal das Vorbild des Verewigten hoch und hell empor, er nannte die Nächstenliebe das Siegel unter jedem Testamente eines echten Christen, das einzig goldwerte Vermächtnis von Geschlecht zu Geschlecht, die Schwelle, über die der Mensch erst eintrete in den Dom des echten Christentums – und als er endete und von der Kanzel herabstieg, da fühlte man dunkel, daß seine erste Predigt gleich ein greifbares Ziel genommen.

Am Nachmittage verabschiedete Benedikt sich von seinen Pfarrkindern.

Er hatte sich viele warme Worte zurechtgelegt, aber er kam nicht weiter. Er dankte und empfahl sie dem neuen Herrn Pfarrer in sichere Hut. Dann segnete er sie noch einmal vom Altare aus, an dem er so viele Wandlungen bestanden, von den inbrünstig vertieften Gottesdiensten seiner Anfänge bis zur fieberverzückten Christmette, von der ersten Dankmesse nach überstandener Krankheit bis zu den Schauern des neuen Siechtums – er segnete die Gemeine, und die Myriadenströme des Lichtes verklärten das hochheilige Astral in seinen Händen mit der Aureole schillernder Flöre.

Abschied, Abschied – jeder Schritt, jede Berührung wurde zum Abschied. Er wanderte mit Pfarrer Nigel durch die feiernde, hallend geleerte Kirche. Seine Hand streifte liebkosend die alten, schwarzgescheuerten Bänke; sein Blick grüßte den zierlich gekragten Chor und die Orgel mit dem umgoldeten Mozartprospekt. Mit letzter Kniebeuge und letztem Kreuzschlag dankte er dem schönen Barockaltar mit dem pausengelumjubelten Bildnis der heiligen Mutter Anna und den wunderlich verzerrten Gestalten der Apostelfürsten. Er sah nach den bleigefaßten Fenstern hinauf, durch die jetzt eben die feierlichen Weihrauchbahnen der Sonne vor das Presbyterium hinfielen, die ferne Tiefe des Allerheiligsten und das einsam betende Altweiblein an der Kommunionschranke mit mystischen Dämpfen umschleiernd. Er seufzte zum Beichtstuhle hinüber, in dem er einst die furchtbare Stunde der Enttäuschung überstanden – dann war auch das vorüber, die Tore hallten hinter ihm zusammen, er trat in ein neues Leben, in einen neuen Tag hinaus.

Die Pfarrbürger hatten sich vor der Kirche versammelt. Es kostete Benedikt einige Mühe, zu jedem Handschlag auch ein gutes Scheidewort zu finden. Sein Herz war vollgesogen von Wehmut; ihm war, als müsse er lauter nahen Brüdern und Schwestern auf immer Lebwohl sagen. Man umdrängte ihn mit Weissagungen baldiger Rückkehr; man wolle diese Trennung nicht ernst nehmen; der Herr Pfarrverweser gehe halt ein bissel auf Erholung … Man dachte ihn auf solche Weise zu trösten und fand sich mit der Wahrscheinlichkeit baldigen Wiedersehens ab.

Benedikt war es herzlich froh, daß Pfarrer Cassian Nigel ihn nach dem Schulhause begleitete.

Die beiden älteren Männer fanden sich sogleich in hundert Interessen. Der neue Kurat erzählte vom Obstbau Syriens, von den Reisfeldern Chinas, von der brasilischen Mandioka. Er versprach, dem Lehrer einige kostbare neue Edelobstsorten zu versorgen; er werde ihm bei Gelegenheit eine neue Art der Verschneidung zeigen; er bitte ihn, ihm bei der Anlage eines neuen Bienenhauses an die Hand zu gehen. Er besichtigte die Werkstatt des alten Herrn und zeigte sich allerlei häuslichen, nützlichen Künsten vertraut. Er teilte Kathrein sofort eine besondere unfehlbare Methode der Porzellanverkittung mit: die Bruchränder mit Eiklar bestrichen, aufeinandergelegt, das Ganze sauber gebunden, in kalter Milch zugesetzt und aufgekocht. Er lobte die weiße Rose Verena, die eben in reicher Zweitblüte stand. Er sprach von Nutzen und Erfolgen der leider und mit Unrecht in Verruf gelangten Homöopathie. Er erkundigte sich lebhaft nach dem Vorkommen gewisser Heilpflanzen und griff sogleich mit dem Geschick der Erfahrung zu, als Florian Kathrein im Vorübergehen einige zum Binden bestimmte Bogen von der Trockenleine herunterholte. Zwei alte Freunde, die sich nie gesehen, hatten sich gefunden.

Benedikt blieb mit Marianne allein.

»Sie haben also den Hansel ganz zu sich genommen?«

»Wenn er selbst hier bleiben will? Das ist noch die Frage. Man weiß nie, ob man sich einander nicht wieder entfremdet.«

»Ich erinnere an die großherzige Stiftung Seiner Eminenz.«

Marianne schüttelte den Kopf.

»Die soll nur anderen zugute kommen. Wenn ich selbst etwas übernehme, dann führe ich's auch allein zu Ende.«

»Wie sind Sie eigentlich darauf verfallen, Fräulein Marianne?« fragte Benedikt ahnungslos.

»Wie – das läßt sich wohl nicht sagen. Warum – das würden Sie vielleicht nicht verstehen … Sie reisen also schon morgen.«

»Ja, morgen, mit dem Vormittagszuge.«

»Gleich nach Rom?«

»Oh nein. Zuerst auf eine Woche oder zehn Tage nach Hause. Dann noch in die Residenz. Es gibt noch manches zu erledigen.«

»Sie freuen sich wohl schon sehr.«

»Ich weiß nicht. Nämlich … Das heißt … Das Abschiednehmen fällt schwer.«

»Sie haben es ja leicht. Sie fahren in die Erfüllung Ihrer Wünsche hinein.«

»Ja, schon. Aber eben deshalb. Man möchte jedermann teilhaben lassen und kann es nicht. Das ist ein Stachel.«

Marianne wandte sich hart und gelassen ab.

»Das gibt sich wohl recht bald. Wenn alles so leicht zu überwinden wäre … Ich hoffe, Sie lassen hie und da von sich hören.«

»Ich werde Sie alle nie vergessen, Fräulein Marianne,« versicherte Siebenschein bewegt.

»Es wird uns freuen, von Ihnen manchmal ein Lebenszeichen zu erhalten.«

Ihre Lippen zitterten, aber ihre Stimme war ohne Rührung, war kalt und unversöhnlich.

Der Knabe spielte stillvergnügt mit einem hölzernen Sandwägelchen. Marianne rief ihn zu sich und hob ihn zärtlich aufs Knie.

»Hansel, weißt du noch das Lied?«

»Welches?«

»Es ist bestimmt …«

Und das blonde, hübsche Kind mit den offen strahlenden Augen begann sogleich:

»Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat …«

Die kleine Stimme klang wehmütig durch den spätsommerlichen Garten.

Die beiden Herren kehrten von ihrem Rundgang zurück.

»Ein kleiner Sänger!« sagte Cassian Nigel freundlich.

»Etwas muß man haben, wofür man sorgt,« erklärte der Lehrer; »man lebt doch nur in den anderen, als Kind in den Alten, als Alter in den Kindern. Die Mariann ist seine Mutter, ich bin sein Großpapa und Hansel heißt er. Mir ist's gar nicht eingefallen, der Mariann hab ich einmal von ihm erzählt, da komm ich eines Abends von Heiligenzell nach Hause und sie sagt mir, wir sollen das Büberl zu uns nehmen. Recht hat sie gehabt. Ein heranwachsender Mensch ist besser wie ein Kanarienvogel, und da erlebt man am Abende noch einmal einen Morgen.«

Cassian Nigel nickte dem alten Herrn freundschaftlich zu. Er hatte den blonden Hansel schon neben sich auf der Bank, und nach drei Minuten wußte der hochaufhorchende Kleine bereits, daß die lange Narbe über Stirn und Braue des neuen Onkels mit dem strammgelockten, graudurchflockten Haar vom Wurfbrett eines Wilden herrühre, daß die Chinesen nur Reis und diesen mit zwei hölzernen Stricknadeln äßen, und daß die Herren Araber mit Flinten schössen, dreimal so lang wie der kleine Hansel.

Endlich kam die schwere Stunde.

»Wieder einer weniger, den man gern gehabt hat,« sagte Kathrein vorwurfsvoll; »sehen werden wir uns nicht mehr, aber vielleicht finden.«

Er schüttelte Benedikt herzhaft die Hand und rückte an seiner Brille.

»Behalten Sie den alten Florian lieb, das ist alles. Erinnern Sie sich an unsere Sonaten? An den ersten Nachmittag, wie Sie sich vorm Jäten gefürchtet haben? Jetzt haben Sie ja mutig gejätet, alle Welt spricht von Ihrem Anteil an den Sanktrainer Geschichten. Erinnern Sie sich noch an unser Trio? An die Fremde, wie hat sie geheißen, die Sartorius? An den spanischen Wein? An unseren Weihnachtsabend? Sehen Sie, das bleibt uns beiden. Da können wir uns nicht verlieren.«

Siebenschein schluckte. Heißer Dank stieg in ihm auf: nun durfte er doch diesem Manne ehrlichen Gewissens die Hand drücken.

Er wandte sich noch an Marianne.

»Leben Sie wohl, Herr Doktor, und glückliche Reise.«

»Ich danke, Fräulein Marianne.«

Das war alles.

Sie zog den Kleinen schnell an sich und hob ihn auf den Arm – als Vorwand, als Schutz.

Benedikt suchte noch einmal ihre Augen. Da trat sie ins Haus zurück. Aus der vollen Linde sank in zögernden Kreisen ein erstes brokatgoldnes Blatt. Die Schwalben spielten in der weinklaren Luft. Die fernen Berge glühten in sanftem Amethystschmelz. Vom Pfarrturm schlug ernst die sechste Stunde. Die frühen Herbstschatten schauerten lang über das erfüllte Tal. Aus den Wäldern wehte die Taukühle herab. Alles war vorüber.

* * *

Noch ein Abschied.

Die Mali drehte den schmalen Reif mit dem speckigen Türkis am runden Finger.

»Ich weiß gar net, für was der hochwürdige Herr Doktor sich so bedanken tut. Da is nix zu danken, wüßt net was.«

»Viel, sehr viel, Mali. Ich kann's nie ganz abtragen.«

»Abtragen, no schöner. Abtragen tut man baufällige Häuser.«

»Sie haben mir einmal ein Bild gezeigt, Mali. Und dazu eine Geschichte erzählt.«

Die Mali lächelte zu ihrem Ring herunter.

»Da muß höchstens ich mich bedanken, daß der hochwürdige Herr Doktor so gut war und mich hat anhören wollen. Was so ein Weibsbild zusammredet, wann der Tag lang is, net?«

Aber sie spähte von unten zu Benedikt empor, wie sie es immer getan. In ihren wasserblauen Augen spiegelte sich flüchtig ein Schein, ein geheimes Verständnis.

»Ja, ja,« seufzte sie; »bei eim Guglhupf hat's ang'fangt, der hochwürdige Herr Doktor erinnert sich vielleicht, und bei eim Guglhupf hat's wieder aufg'hört. Dadrum, der hochwürdige Herr Doktor entschuldigt schon, dadrum hab ich dem hochwürdigen Herrn Doktor noch g'schwind ein Guglhupf backen, für die Reis, unterwegs tut der Mensch doch gern essen, und damit der hochwürdige Herr Doktor sich solang wenigstens an die alte Mali erinnert, als was der Guglhupf dauern tut. Deswegen hab i'hn ein bissel größer g'macht, der Herr Doktor sieht, wie ich bin. Schlecht, net? Und die alte Mali soll dem Herrn Doktor net schwerer im Magen liegen als so an leichter Guglhupf, gelt … Und der Herr Doktor wird jetzt diese Kata, na, wie heißt man's g'schwind, diese Katakom, alsdann, ich kann mir das net merken, ich bin net so g'scheit wie der Herr Doktor, wo sollt ich's herhaben, net, wann net der Herr Doktor wär g'wesen, der mir die schönen Bücher zum Lesen geben hat von der Fadiola und dem anderen, wie hat der noch g'heißen, is ja alles eins … Alsdann das wird der Herr Doktor jetzt alles sehen, die Katabomben und das Koliseum, jeses, wie das interessant sein muß, da wird der Herr Doktor noch g'scheiter werden, als er so schon is.«

»Hoffentlich, Fräulein Mali, hoffentlich!« lachte Siebenschein; »es wär an der Zeit.«

»Ah ja, Zeit.« Fräulein Huber vollführte ihre wegwerfende Handbewegung. »Zum so G'scheitwerden is no immer Zeit g'nug. Nur g'scheit sein muß man beim Dummsein. Der Herr Doktor entschuldigt schon. Gelt, die alte Mali, allweil redts so was daher. Na, da wünsch ich dem Herrn Doktor halt recht, recht, recht viel Glück und ein langes Leben, und wenn der Herr Doktor ein Hundertstel so oft an mich denken wird wie ich an ihn, dann is die alte Mali schon zufrieden.«

Sie hielt sich tapfer und schüttelte Siebenschein dauerhaft die Hand, während es an ihren Mundwinkeln bitterlich zuckte.

Als er gegangen war, starrte sie noch lange die Türe an, die hinter ihm sich geschlossen. Dann aber riß sie plötzlich die Schürze vors Gesicht und sank im nächsten Stuhle aufgelöst zusammen.

Der Spätsommer war geschieden, die Herbstdämmerung stand kühl vor den Fenstern. –

Und noch ein Abschied.

An seinem letzten Morgen stattete Benedikt erst seiner Pfarrkirche, dann dem Gottesacker einen frühen Besuch ab. Der blanke Tau lag auf den Gräsern, die Frauentagsblumen atmeten keusche Kühle, aus den feuchtschillernden Hügeln wehte die Frische der unentweihten, stillen Stunde. Der feine Schleier des Vorherbstes hing im Rasen; leise qualmte die braune Erde. Der Pfarrturm fällte einen langen matten Schatten über die Friedhofsmauer hinweg. Im blaßdunstenden Sonnenschein schwankte ein Trauermantel über die Gräber hin. Jenseits des Tales brannten die Hochaltäre der Bergkathedralen in den feierlichen Feuern ihrer Morgenopfer.

Benedikt sprach an Permosers Grab ein stilles Gebet. Er hatte sich von Fräulein Huber einen hübschen, schlichten Kranz winden lassen, den legte er zu Füßen des Hügels nieder, welchen der sparsame Hermagor Pichler mit einem wohlfeilen und geschmacklosen Male gekrönt.

Dann trat er an Verenas Grab. Hier walteten liebevolle Hände, hier blühten zarte Blumen, hier ruhte der unsterbliche Frühling unter der unsterblichen Erde. Für diese Stätte hatte er den Pfarrgarten seiner schönsten Spätrosen beraubt. Behutsam barg er den losen Strauß in der frischen Taukühle des Rasens. Dann zog er den Hut und verschränkte die benetzten Hände zur Andacht. Das Gebet des heiligen Bonaventura kam ihm in den Sinn. Quell des ewigen Lebens, Quell des ewigen Lichtes!

Da vernahm er einen leichten, leisen Schritt. Er wandte sich herum.

»Marianne!«

»Benedikt!«

»Marianne!«

»Benedikt – verzeihen Sie!«

Er wußte nichts als immer wieder nur ihren Namen: »Marianne.«

Sie nahm seine Hand.

»Benedikt, verzeihen Sie. Ich war ungerecht. Ich danke Ihnen.«

»Marianne.«

Sie hielten einander fest. Sie zitterten. Vor Angst. Vor Seligkeit.

Einmal in dieser Ewigkeit war es, als müßten sie sich ineinander auflösen. Eine Welle glühte durch sie hin, ein übermächtiges Schicksal, der Atem Gottes.

Da schlang Marianne ihre Arme um seinen Nacken und gab ihm ihren Mund.

»Lebwohl, Benedikt, lebwohl. Ich danke dir.«

Sie küßten sich. Aus den Gräbern dampfte der erwärmte Weihrauch der Frühe.

»So, Benedikt. Nun geh. Geh! Geh, Benedikt.«

Sie wehrte ihn von sich ab.

Er schrie verwundet auf.

»Marianne!«

»Geh, Benedikt. Geh! Vergiß!«

Er ging. Zögernd, berauscht, verschmachtet. Das Friedhofstor klirrte ins Schloß. Aus dem Geäst der Kirchhofslinde rauschte der gelöste Tau. Weingelbe Blätter sanken. Die ganze Landschaft funkelte von den Tränen ihrer Augen, bis hinaus in die blau verklingenden, sehnsüchtigen Fernen.

* * *

Ein südlicher Herbstabend verglomm hinter den Heiligtümern der Welt.

Der ungeheure Grabturm Hadrians stand bronzeschwer und feuergesäumt vor dem glühenden Abgrund. Über seiner Stirn schwebte der besänftigte Würgengel im flammigen Glast.

Gebietend, ungebrochen, in erhabener Majestät strahlte Altar und Siegel der Welt, die Kuppel der Kuppeln, die Wölbung der Wölbungen, der Dom aller Dome: der Thron Gottes, die Krone der Papstkirche zu Sankt Peter.

Aus den Gärten des Janiculus wehte der bittere Lagunenwind herüber. Zwischen den schwarzen feierlichen Lebensbäumen flackte der Goldbrand der versinkenden Sonne. Die Stämme zerschmolzen in der durchscheinenden Lohe.

Auf der Mittagsburg der Erde, dem Kapitol, stand ein junger Priester, heiß durchschauert von der erschütternden Gegenwart des hundertfach Erlebten.

Rom. Rom! Rom! …

Rom, das Schicksal der Menschheit. Rom, die Fuge, in der alle Stimmen des Geschehens zu brausendem Tedeum zusammenströmen. Rom, aller Dinge Beginn und Ziel, Frage und Erlösung. Rom, die Seele der Nationen. Rom, die Sonne der Völker. Rom, das heilige, dritte Reich, das Leben der kommenden Ewigkeit.

Der Protonotarius hatte die Wahrheit gesagt.

»Gehen Sie nach Rom, peramate, gehen Sie, lernen Sie, leben Sie. Die Güte Ihres verstorbenen Gönners befreit Sie ja von allen Sorgen. Sie wissen, er hat Rom immer schon für Sie bereitgehalten. Rom ist die Hauptsache, verstehen Sie. Rom ist der Stil der Welt. Rom ist das Buch aller Bücher. Rom ist das große Epos und Evangelium, das jeder hellere Mensch gelesen, gebetet haben soll. Mit allem anderen mag jeder in sich fertig werden wie er will, in Rom aber müssen und werden wir einig sein. Wir tragen Rom und Rom trägt uns. Rom ist unser aller Heimat. Die Menschheit wird sich immer wieder von Rom aus neu ordnen. Nicht vom Quirinal aus, sondern von irgendeinem Vatikan. Sehr gut, daß der Herr Abt Ihnen die Aufnahme unter seine Gaudentios und Odilones versagt hat. Sie hätten es nicht vertragen, mit sich eingesperrt zu sein, jetzt nachdem Sie mit sich selbst zusammen frei gewesen waren. Sie hätten viele schöne Tintenfässer nach einem gewissen Herrn in der Ecke geworfen und die Wände der hochwürdigen Väter greulich beschmutzt. In Rom besteht diese Gefahr nicht. Dort ist eine solche Fülle von Engeln und Teufeln daheim, daß man den Versucher nicht spürt. Der Versucher kommt nur in die stille Zelle. Also ich wünsche Ihnen alles Glück zu Ihrer dritten Ecbasis, Benedicte. Vollenden Sie Ihren Leo an Ort und Stelle, und dann wollen wir weiter sehen. Ich habe immer gemeint, Sie seien so ein Bruder Rafael, ein Fra Angelico fürs Kloster, so eine Art männlicher Sancta Caecilia, und Sie haben das Gegenteil geglaubt. Jetzt kommen wir in der Mitte zusammen. Die Wissenschaft ist ein Kloster, aber eines mit vielen Exposituren und Pfarrstellen. Ich denke, jetzt haben Sie Ihren Beruf gefunden. Item, ich habe Ihnen nichts mehr zu wünschen, maßen Rom an sich alles erfüllt und vollendet. Ich sehe schon, daß man nach sechshundert Jahren, wenn der obskure Chrysostomus Menzelius längst verschollen ist, die erlauchte Autorität Benedicti cuiusdam Septemlampadii noch immer mit Ehrfurcht und Staunen zitieren wird. Ita sit. Valeas, peramate, Amen.«

Und nun war er in Rom, in der Stadt der Idee, in der Stadt des Weltmittags und der ewigen Wirklichkeit; nun stand er vor Santa Maria in Aracoeli auf geheiligtem Boden, vor dem Opfertische des Himmels, und hinter den großen Altären der Menschheit verbrannte ein südlicher Herbsttag. –

Er hatte an diesem Nachmittage S. Paolo vor den Mauern besucht, und die so oft in schlichter Nachbildung gesehene Galerie der dreifach gekrönten Häupter war ihm im Anschauen der ungeheuren Musive zu neuem Erlebnis geworden.

Erlebnis: hier war alles Verwirklichung und Erfüllung.

Das eigene innerliche Werden wurde hier im Werden der europäischen Seele zu lebendigem Ereignis.

Hier sättigten sich alle Vorstellungen mit erfahrener Wahrheit, Wärme und Tiefe.

Alle erblindeten Schätze erwachten in dieser Gegenwart zu verjüngtem Glanze.

Hundert Quellen und Schlösser sprangen im erschütternden Wiedererkennen geahnter Bilder, und durch tausend Tore strömte in überwältigender Fülle das Licht herein, das alle Geheimnisse, Wunder und Durchsichten einer längst ersehnten inneren Heimat bis in die letzten Fernen hinaus erhellte.

Schauer und Schatten ungeheurer Gestalten fallen über alle Wege; die stillen Zeugen unverwischbaren Geschehens, Monumente der stolzesten und unvergeßlichsten Entscheidungen ragen von allen Seiten bestimmend in den Gesichtskreis herein; lauter Themen einer ungeheuren Fuge, lauter eherne Stimmen, die aus den Abgründen der Vergangenheit in den Chor der Menschheit hineinschwellen, in diesen Chor, der die widersprechendsten Kontrapunkte und Gegenbewegungen zu rauschender Harmonie vereint: – lauter Schwellen vor neuen Pforten, Ziel und Wende, Kronen, Kränze und Wundenmale.

Was schon wie fernes Gerücht in den Ahnungen des Kindes lebt, der Widerhall aus unlotbaren, tausendfältig vorerlebten Tiefen; was im Werden und Lernen sich bildet, aus unerschöpflichen Brunnen von Geschlecht zu Geschlecht in neue Gefäße strömt, um wieder nach unten in andere Becken abzuträufen, eine Fontäne der Wiederkehr – hier erst wird das Wasser in Wein verwandelt, der Wein in pulsendes Blut, das Gedächtnis in dauernde Gewißheit.

Mühsam begriffene Sprache hebt von selbst marmorn zu klingen an. Namen verdichten sich zur Gestalt. Gräber öffnen sich und Unverstorbene schreiten groß über die hallende Bühne ihrer fortwirkenden Tat. Rom hat keine Toten. Rom ist die Stadt der Unsterblichen. Rom ist der Himmel.

Und immer wieder, von Tag zu Tag, dies jubelnde, erlösende Wiederfinden einer inwendigen Heimat, diese stündliche Rückkehr zu den Sagen der Kindheit, zu den Heldenliedern der Jugend, dieses Erleben aller Träume und Ausruhen im ewig thronenden Pol: Rom!

Rom, die Hauptstadt der Jahrtausende.

Rom, die Mutter aller Dinge.

Rom, das Bewußtsein der Welt.

Irgendwo im dunklen Erinnern erfahrene Landschaften begrünen sich mit frischen Gärten; verschollenes Empfinden erwacht unter neuem Reiz; aus ehrwürdigem Schutt steigen die Tempel der Laren und Penaten der Menschheit empor, und die beschworenen Geister und Gleichnisse beleben sich an dieser Stätte zu handelnder, aufregender Gegenwart.

Die Niederlassung eines wilden, harten Hirtenvolkes: die Stadt der milden Hirten der Menschheit. Die Festung sagenhafter Halbgottkönige: das Asyl der Seelen, Kreuzung und Ende aller Straßen. Die Hochburg der republikanischen Freiheit: die Zitadelle des Gottesstaates. Die Stadt der Kaiser; die Stadt der Päpste. Die Pfalz und die Kathedrale der Welt: Palatin und Vatikan. Das Herz, das Dogma, das Herzdogma der Humanität. Der Hafen Europas. Die Kaiserin des Mittagmeeres, aus dessen alten Mutterlaugen alle Salze der Befruchtung sich abgeschieden und niedergeschlagen haben. Die Mutter an der wogenden Wiege des Menschentums. Rom, immer wieder Rom: – Rom, der Dom, Rom, das Kapitol, Rom, der tarpejische Fels, Rom, der Tempel, Rom, die Arena, Rom, das Palatium, Rom, das goldene Haus, Rom, das Kolosseum, Rom, aller Litaneien und Seligpreisungen Inbegriff, die Liturgie, das hohe Lied, das Epos der Völker.

Namen, Vorbilder, Inbegriffe und bleibende Verkörperungen ohne Ende!

Das sagenbrauende Tal der Egeria; die uralte Narbe der Servianischen Mauer; die mythenumwitterten Gestalten der großen Befreier und Erweiterer.

Ein wildes Hirtendorf wird im Kampf zur Festung. In rauchgeschwärzten Rundhütten hausen einfache Helden. Kampf und Friede greifen um sich, zündend, fortpflanzend, ein tiefes natürliches Werden.

Der Dorfstaat erhartet zur Stadt. Schutzsuchende und Besiegte völkern sich an. Die Stadt weitet sich zum Land, bis sie auf reizbare Nachbarn stößt.

Hier erklirrte die eherne Schreckenswage unterm Schwerte des roten Brennus. Allia, Cremera, Maleventum, Beneventum: lauter Marksteine des Geschehens.

Hier ragte die ergreifende Gestalt des blinden Appius Claudius über ein wachsendes Geschlecht empor. Sieg oder Untergang!

In rücksichtsloser Tapferkeit erhob sich der rohe Staat von Zusammenbruch zu Zusammenbruch. Ein trotziges Raubnest, notdürftig und kunstlos geflochten, kunstvoll und auf Ewigkeiten geltend beherrscht. Ein Horst, dessen Adler in maßlos wachsender Kühnheit in den hellenischen Untergang hinaus streifen.

Dort Verklärung und durchsichtige Wärme des Abends; hier der herbe, junge Morgen.

Dort der kranke Reichtum der Erfüllung; hier die waghalsige, weitspähende Armut der Anfänge, die unbarmherzigen Fälschungen und Vertragsbrüche der Notwehr.

Kynoskephalai, Magnesia, Pydna, Korinth: Entscheidungen ohnegleichen. In das mannbare Rom schmilzt das erkaltende Hellas ein. Die Kunst geht in die Ordnung ein; der Mensch der Antike in den Staat des Altertums. Der Geist ergibt sich der Tat, um sie zu beseelen, zu verfeinern, zu zersetzen, zu vernichten.

Der Fall der Byrsa: die Entscheidung über den Mutterhafen der Völker, das Mittelmeer.

Im gesicherten Großstaat brauen die gefangenen Kräfte.

In der Not immer wieder aufgeschobene und verletzte Verträge drängen nach Erfüllung. Vorbildliche Kämpfe erschüttern das Reich von Gewinn zu Gewinn. Die einfachen alten Bande werden im Gären gesprengt; zu schwer ist die Macht geworden, als daß die alten Pfeiler sie trügen. Sieger und Erretter des Vaterlandes wenden die Schwerter widereinander. Da donnert das erste schwere Gewitter aus Nord hinein. Schatten des Todes lagern über Rom. Ein wilder Held aus dem Volke zertrümmert den ersten Ansturm der Völkerwoge. Ein eisenkalter Sulla überwindet ihn.

Ein neues Rom baut sich auf den sieben Hügeln um. Der schwarze Herdsaal der Helden erhellt sich zur hellenischen Säulenhalle. Der enge Himmel der Heimat weitet sich zum grenzenlosen Himmel der Welt. Über immer breiteren Fundamenten wuchten in schrecklichen Kämpfen die beherrschenden Gipfel empor.

Hier fiel der Schatten des Riesen Marius über den Tiber. Hier hielt der stählerne Sulla seine Schwergerichte. Hier hallte die Stimme Ciceros. Hier zog Pompejus in prahlenden Triumphen durch die Straßen, und ihm folgte das geschlagene Asien. Hier ritt der Weltenbezwinger Caesar über blutgetränktes Pflaster, und ihm folgte das Gespenst des Pompejus. Hier kehrte Cäsar Oktavianus Augustus nach furchtbaren Siegen ein, und ihm vorauf schritten die Genien des Friedens.

Am Vorgebirge von Aktium teilte sich die Ewigkeit in Vergangenheit und Zukunft.

Und all das ist hier geschehen, ist von hier aus geschehen, ist hier beschlossen, entschieden, unterzeichnet worden: hier in der Mittagsstadt des Mittagsmeeres, hier, im Mittelpunkte der Welt: Rom!

Aus unvergänglichen Kriegen wuchs die unvergängliche Macht herauf. Der unergründliche Mann, nach dem alle Kaiser sich nennen, hat in behutsamer Schonung alle Gewalten gebunden und gesichert. In seinem Herzen münden alle Adern der Menschheit.

Dort steht er auf einmal im schlichten Portikus seines Hauses, der Pfalz des Erdkreises, nach der alle Paläste ihren stolzen Namen und Widerhall haben. Ein kleingewachsener, immer noch rüstiger Greis mit lebhaften, würdigen Bewegungen. Wenn er seinen Arm ausstreckt, so ist's, als wolle er seinen Meeren ihre Driften, den Stürmen ihre Wege und Zwecke vorschreiben. Mit freundlichem Wink grüßt er die germanischen Wachen. Ein neues Volk wächst mit Eichenwurzeln in den alten Schuttgrund hinein. Eine neue Menschheit wird in Kriegen und Diensten der Welt herangezähmt.

Von den eroberten Küsten der Weltmeere sieht Rom über die Ewigkeit hin. Eine einzige vollendete Macht umspannt das Herz der Welt; auf seinem Sporn Italia bewacht Rom den blauen Hafen der Nationen. Hier ist alles Erfüllung und Wärme; jenseits der Grenzen ist noch Kälte und Chaos.

Cäsar Oktavianus ist jetzt mehr denn vierzig Jahre lang der erste Mann der Welt.

Aber er sehnt längst der Komödie Ende herbei.

Wie wird sein finsterer Stiefsohn, dieser unergründliche Sohn einer abgründigen Frau – wie wird Tiberius das Erbe verwalten?

Im Norden wohnt ein winterliches Jägervolk, furchtbar in Treue und Kraft. Wie, wenn diese unverbrauchten Geschlechter den Geist Roms erfassen, sich ordnen und einigen!

Das Herz des alten Prinzeps ist voll Bitternis. Die er liebte, sind alle tot, in Verbannung begraben oder ins Grab verbannt. Ihm graut vor den schwefelblauen Flammen, die jetzt brauenden Abend aus dem faulbrandigen Boden des Marsfeldes, des Campus ignifer, brechen. Er war seit jeher unheilkündend, dieser Atem der Unterirdischen.

Cäsar Augustus ahnt den großen Stern nicht, der jenseits der aufschattenden Mauern auf dem Caelius über den Albaner Bergen flammt.

Er weiß nicht, daß die Stunde des Reiches nahe ist.

Dort, in der syrischen Öde bereitet sich das Schicksal der Menschheit.

Dort trägt ein Kaiser über allen Kaisern das unsichtbare Diadem: der inwendige Cäsar Augustus, unendlich viel mächtiger als die Sieger von Pharsalus und Aktium.

Dort, am Rande der Wüste, im blumigen Tale von Nazara, im Morgenschatten des Tabor, bereitet sich das Geheimnis der Welt.

Ein einfacher Mann kommt aus dem Volke herauf, eine andere Menschheit entspringt aus dem Willen dieses Mannes.

Fern vom Hall des Völkergeschehens vollzieht sich in diesem einen die Entscheidung.

Die Schwäche wird zur Gewalt, die alles löset und bindet; Demut wird zum Siege; Sieg zur Niederlage; der Berg der Jahrtausende bricht ein und breitet sich zum Tale; der Abgrund türmt sich zum Gipfel; Lust und Macht wenden sich nach innen; alle alte Wirklichkeit verblaßt zum Schein, inwendiger Schein aber entflammt zur Wahrheit.

Und ihm folgen, die da innerlich sind: die Blinden, die Lahmen, die Armen, die Hoffenden, sie alle, die vom inwendigen Brote speisen bei inwendigem Licht.

Und er lehrt seinen Brüdern und wird verlacht; er predigt den Ungläubigen und findet Glauben; er geht nach dem Hause seines Vaters, um sein Schicksal zu erfüllen, und stirbt, die Myrrhenbitternis der Einsamkeit auf den Lippen.

Aber aus den Rosen der Wundenmale ist der Same in offene Herzen gefallen, und da am Morgen jenes fünfzehnten Nisan die Sonne über den jachen Salzfelsen des Toten Meeres aufgeht, fällt sie den ungeheuren Schatten eines Kreuzgalgens über die ganze Erde. –

Geschlechter versinken.

Trajan ist der Herr der Welt. Aus der mannbaren Kraft der Provinzen bringt er dem alternden Rom neue Kraft. Unter ihm und seinen drei erlauchten Nachfolgern kreisen die römischen Adler zu höchstem Fluge auf. Unter ihm und Hadrian vollendet sich die Stadt zum Marmorsaal. In ihm vollendet sich das Imperium.

Aber der Weizen Gottes keimt. Ignatius von Antiochien läßt sich von den Zähnen wilder Bestien zum Brote des Herrn mahlen. Plinius schreibt aus Bithynien, die Christen, die sogenannten Christen sollten gemaßregelt werden. In den Gemächern sehnsüchtiger Matronen sind schon jetzt die Geheimnisse des ausgeglühten Orients genehm. Die aufregenden Kulte und mystischen Schauder des Mithras und der Isis, Religionen der Auferstehung und Verjüngung, stillen das marternde Verlangen nach dem Wunder, das tiefverdorbene, verfeinerte, verwöhnte Seelen wieder suchen. Die nackte, feierliche Menschlichkeit der alten Väter und Mütter ist nichts als Vermächtnis und Schönheit. Man flieht in die Tiefen der Verzückung und kehrt aufsteigend zurück zu zarterer Befriedigung. In den Tälern des Volkes geht unruhig der Frühling um. Eine Sekte mehr, was fragt Rom danach? Rom herrscht und fühlt sich ewig. Si fractus illabatur orbis: Rom überdauert die Welt.

Da Trajanus scheidet, steht der Orient in Flammen. Hinter seinen letzten Siegen bricht Blut und Brand über das Reich herein. –

Ein Jahrhundert klingt ab. Septimius Severus ist Kaiser, ein Syrier. Der Orient hat gesiegt. Der Orient rächt sich. Der gewaltige Cäsar ist ein wiedererstandener Hannibal. Er bringt mit sich Frauen an den Hof, die alle Geheimnisse des Ostens in ihren Herzen bewahren. Die schönen, klugen Syrierinnen erschließen sich und in sich Rom der Mystik. Aber schon bangt Rom vor diesen heimlichen, ungreifbaren Feinden. Diese innerlichen Menschen, diese Lebensverächter sind todgefährlich. Da und dort rottet sich Pöbel und verlangt von den Statthaltern das wohlfeile Opfer einer Hinrichtung. Innere Kämpfe durchwühlen die zarte Gemeine. Die späte, überfeinerte Gedankenkunst der letzten Hellenen spielt in den einfachen Glauben der Väter hinein und zerspaltet das Geheimnis in tausend Fragen, jede Frage in tausend Worte. Aus Mysterien steigen neue Nebel herauf und verhüllen die Gestalt des Menschensohnes.

Da drunten schritt der finsterfeurige Tertullian durch die Straßen der tausendsprachigen Völkerstadt. Er tauchte ins Christentum hinein, leuchtete wie ein Meteor, zeigte sich zerrissen wie ein Zyniker, trachtete nach der Gewalt des Papstes – und verlosch in Ketzerei, er, der glühende Weiberhasser, betrogen von zwei kranken Frauenzimmern.

Mammäa, deren Schoß den mildesten aller Kaiser getragen, empfängt Briefe des weisen Origenes. Ihr Sohn Alexander stellt in seinem Lararium zwischen dem Bilde des Erzvaters Abraham und jenem des unsterblichen Orpheus das Bildnis des Gekreuzigten auf.

Durch hundert offene Wunden schießt das Blut fremder Völker in das sterbende Rom ein.

Das tausendjährige Rom!

Da drunten schmolzen die Nationen zum Magma des riesigen Kraters zusammen. Da unten wogten Meere von Blut. Da unten gebar sich unter gräßlichen Krämpfen eine neue Zeit. In Rom, das die Mutter der Zeiten ist: die Ewigkeit. –

Ein Jahrhundert später herrscht der Illyrier Diokletian. Die Syrier folgten auf die Spanier, den Syriern folgten die Illyrier und Syrmier. Die Provinzen stürzen mit Kaisern und Schwertern über Rom zusammen. Und draußen spült die Völkerflut Quader um Quader aus den Wällen des Cäsar, des Trajan, des Hadrian.

In Decius und Valerian sind die letzten Römer gestorben.

Der Illyrier entfesselt nach langer Duldung den letzten Sturm. Der Staat muß stark sein; ein gefährdetes Gemeinwesen darf keine Besitzverächter, keine Lebensfeinde dulden. Besitz und Lebenswille sind des Bürgers Mark.

Die Zeit der Katakomben. Jetzt dienen die unterirdischen Grabstädte als Zuflucht. Man erzählt in Rom, die Christen lebten in Kloaken. Sie beteten zum Bilde des Esels. Sie hätten unter den heiligen Marmorforen ganze Städte von Stollen und Schachten ausgeschaufelt, ein zweites, inwendig finsteres Rom.

Angstvolle Nächte in den dumpfen Gassen der Toten. Der Erzpriester vereint sich mit den Seinen zur bangen Agape. Unter Valerian ist Sixtus hier ergriffen und hingerichtet worden. In den geheimnisvollen Schauern der Eucharistie gehen die Todesbereiten zur großen Verwandlung ein. Der zarte Nacken der Jungfrau Agnes empfängt den Todesstreich, Sankt Pankrazius verblutet unter den Tatzenhieben numidischer Löwen, Sebastian genest von zwölf tiefen Pfeilschüssen und wird mit einer Keule erschlagen. Jungfrauen, Matronen, Kinder, starke Männer, wankende Greise, sie alle ertragen lächelnd die grauenvollsten Foltern, Streiche mit essiggetränkten Ruten, den Rost, die Scherbenlager, die Schwefelfedern, die Pechbäder, wallendes Blei über geschundene Körper … Sie lächeln, und die Flammen werden zu schmeichelnden Rosen, sie segnen, und die gespornten Räder zerbrechen unter den Henkerfäusten … Pro Christo!. … Ihnen ist alles inwendig geworden, das auswendige Reich vermag nichts über sie.

All das ist hier entschieden worden, in der heiligen Stadt der Wundenmale.

Unfaßbar, die Fülle der hohen Erscheinungen!

Rom verwittert. Über das Gespenst des Senates und die abwelkenden Kaiser wachsen die Priesterkaiser von Erben zu Erben empor.

Der Älteste der bangen Gemeine wurde zum Führer eines Heerzuges. In schweren Kämpfen um die Christologie türmt sich das alte Rom über die Schwesterkirchen empor. Der neue Wille hat die große Stadt umgekehrt und begraben; in den Katakomben fristen jetzt die alten verbitterten Heiden ein schemenhaftes Leben, die Gräberstädte haben sich aufgetan und ihre Heere über die Foren ergossen.

Uferlose Ströme feuerblonder Völker jagten einander durch die hallenden Straßen der Ewigkeit. Eine Woge treibt die andere fort. Dort sprach die letzte Vestalin ihren furchtbaren Fluch; hier ritt der sonnige Ostgote mit den blauglühenden Augen an versinkenden Tempeln vorüber. Hier alterte der letzte große Heide, Cassiodor, der dann in der Stille eines Klosters zu Grabe geht.

In den Theatern horsten die Geier; in den eulendurchschrienen Hallen der palatinischen Prunkstadt haust ein finsterer griechischer Exarch. In Wahrheit aber waltet der heilige Vater des trostlos verheerten Erbes der Cäsaren.

Wieder ist der Pontifex maximus der erste Mann in der Tiberstadt.

Die Stadt des Papstes, Rom! Die Stadt jener von Dunkelheit und Gerücht umfinsterten Päpste, das arme, hohle Rom der unheimlichen Jahrhunderte zwischen den beiden Reichen! Ein von Schmerz und Armut verinnerlichtes Volk, die Nachfahren des stolzen SPQR … Mönche, Büßer, verzückt und von düsterem, schwelendem Feuer! … Klagende Säulen, die einsam zum heißen Himmel aufstöhnen … Dämmernde Basiliken, in denen erstarrte Heilige aus schwarzem Gold feierlich und drohend auf eine Gemeinschaft von Heiligen, Mystagogen, Mördern und Asketen herunterschauen …

Die römischen Nächte sind voll Gefahr und Brandgeruch.

Keine Züge rosenumkränzter Evoefackeln mehr … Da und dort das dumpfe Zellenlicht eines Mönches, der in barbarischem Latein die Ereignisse seiner Zeit nach dem Hörensagen aufzeichnet … Oder eine gespenstige Prozession von Tiefvermummten, von Toten … Rom ist ein Abgrund. Über verzweifelt aufklaffenden Hallen rauschen die Geister. In den schwarzen Stellen der Lebensbäume unterm wolkenumschauerten Mond seufzen die Laren. Die Wölfe heulen, die Käuze fliegen schwer und lautlos von Tempel zu Tempel, vom Kapitol zum Palatin, über das Tal der Egeria, über die Runde des Zirkus. Und der Brodem der Pest steht wie Schwefeldampf bläulich über den vergrasten Straßen …

Aber in den Ruinen wächst die Idee. Die Idee des Gottesstaates.

Bald nach dem unheimlichen Sergius beginnen die großen Träger des Namens Gregor tief in die Menschheit des neu sich festigenden Europa hinein die Fundamente ihrer apostolischen Rechte zu mauern: eine uneinnehmbare Akropolis, von Block zu Block mit Verträgen aus inwendigem Erz gezwingt, von Schicht zu Schicht mit Gluten der Hölle und dem Blute des Erlösers zusammengeschmolzen.

Noch ist die junge Menschheit zu roh und verwildert, als daß der Geist ohne weltliches Rüstzeug seine Sendung zu erfüllen vermöchte.

Aus dem Senfkörnlein erstand der Weltenbaum; die Völker haben einen neuen Gipfel über sich gesetzt; Rom hat sich zum zweiten Reiche verjüngt.

Und eines Tages holt der Vater die versunkene Krone aus dem Grunde der Vergangenheit herauf: den kaiserlichen Reif, den Cäsar Augustus geschmiedet, das heilige Diadem Europas, das Symbol der Sonne und der Macht.

Und nimmt die in die gesalbte Hand Petri, in die Hand, der gegeben ist, auf Erden für den Himmel zu binden und zu lösen …

Tauft sie und ihr Rom und in Rom die Herrschaft im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes …

Und erlöst in der mystischen Stunde der Menschwerdung Gottes die schmachtende Welt zu einem erneuten Kaisertum von Gottes an Petrus auf alle Ewigkeit vertrauten Gnaden …

Die erschütterndste Wende im Werden des Abendlandes: das heimlich wiedergeborene Rom steigt abermals als Thron und Mittelpunkt der Welt herauf. Auf Rom gipfeln sich die neuen, harten Herrenvölker Europas zu; im Herzen Rom münden alle Adern des Germanentums zu pulsender Sammlung ihrer Lebensströme zusammen.

Und all das ist hier geschehen: hier in dieser Landschaft, hier in diesem Raum, hier, zu Füßen dieser Warte.

Hier feierten August, Drusus, Titus, Trajan, Severus, Aurelian, Constantin ihre aufsteigenden Triumphe. Hier ritt der feuerblonde Amelung siegesleuchtend durch die hallenden Straßen. Hier schlug der Hengst Belisars Funken aus heiligem Schicksalsstein. Hier erwuchs das Senfkorn Christi zur Weltesche. Hier schritt Karl der Franke die Stufen zur Kronkathedrale hinan. Hier schmiedet Nikolaus den erzenen Weltrichterstuhl der Civitas Dei über alle Fürsten der Erde empor. Hier befestigt Otto der Sachse das römische Griffkreuz am deutschen Schwertstahl. Hier verblutet ein junger Kaiser an Wunden der Inbrunst, zerrissen zwischen Weltimperium und Himmelreich, zerfleischt von den Geistern des Vater- und Mutterlandes, der erste Deutsche zweier Welten … Hier verknoten sich alle Taue, hier schneiden sich alle Straßen am goldenen Meilenzeiger, hier steigt von Papst zu Papst die Idee, die Kirche, der Apostolat, das inwendige Imperium in schwindelndem Übertürmen zu den Donnern und Sternen der Ewigkeit hinan …

* * *

Unabsehbare Tiefen, unerschöpfliche Fülle, unermeßlicher Abgrund des Lebens und des Lichtes: Rom!

Rom, das Gnomon, das von Gottes Sonne her seinen Stundenschatten über die Welt fällt!

Rom, der Logos, Rom, der Demiurgos, Rom, der unsterbliche Paraklet!

Rom, die Eucharistie, Rom, der Kelch, Rom, der thronende Dom, Rom, die Erfüllung, Rom, der geheiligte Name, Rom, das unvergängliche Brot, Rom, das Reich, Rom, die Kraft, Rom, die Herrlichkeit, Rom, das hallende Amen.

Rom, in keiner Litanei zu preisen; Rom, in keinem Worte zu begreifen; Rom, in keiner Verzückung zu ahnen: – Rom, aller Dinge Gefäß, Maß, Hoffnung und Wiederkehr.

* * *

Der junge Priester erschauerte in der Glut seiner Gesichte. Wie ungeheure Flammen schoß der Name brausend aus dem Goldbrande des Abends: Rom, Rom, Rom!

Der junge Priester erschauderte: eine inwendige Stimme sprach plötzlich das stille, reine Wort: Nazareth.

Der junge Priester bekreuzte sich in dankbarer Demut. Er wußte seine Straße; ein anderer vor ihm war desselbigen Weges gegangen. Er wußte, daß die ungelösten Widersprüche das Kreuz waren, das in ihm die ganze Menschheit nach den Höhen des dritten Jahrtausends trug. Nach dem Berge des Lebens, nach dem Pfingsten des guten Willens, zum großen Passah, da aller Leib und Blut zu Brot und Wein der Brüderlichkeit sich verwandelt:

Credo in unum Deum … Et in vitam venturi saeculi …

Amen.

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