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II.

An diesem Tage hatte Benedikt Siebenschein es versucht, seine Arbeit wieder aufzunehmen, wo er sie gelassen: an der Schwelle, da Bruno von Toul in Demut und Treue gezögert, den Schritt zu den höchsten Thronen zu tun. Unter verdächtigen Umständen waren die deutschen Vorgänger gestorben, erst mit Jubel begrüßt vom welschen Verräterpöbel, dann verraten und vielleicht vergiftet. Und nun sollte er sich von seinem armen kleinen Bistum trennen, um in den giftbrauenden Süden hinabzuziehen, den höchsten Ehren, der gottgesetzten Macht, den schwersten Pflichten entgegen: nun sollte er die Hand an die Schleusen legen, hinter denen die Mächte der Zeit in nicht mehr zu wehrender Kraft sich spannten und bereiteten und sammelten, die Mächte der Reform, die stillen, furchtbaren Gewalten, die nun schon seit langem im Berge grollten und ihn von Jahr zu Jahr aufs neue erschütterten …

Stundenlang saß Benedikt hinter seinem kleinen Schreibtische, umgeben von der beredten Gelehrsamkeit seiner Bücher. Vergebens, der Blick suchte immer wieder das Fenster, die Seele suchte die Fernen, das Herz suchte den Frühling, der verheißend umging in den wolkigen Höhen.

Vor ihm lag das halbbedeckte letzte Blatt der Handschrift; zu seiner Rechten schichtete sich in sauberer Ordnung ein Stoß von reinlich beschriebenen Bogen, die Frucht vorwinterlichen Schaffens, jener Zeit des bußfertigen Friedens und der Wiedersammlung. Er hatte sie Wort für Wort durchgelesen; nun stand er ferner und konnte vielleicht ein Urteil wagen. Aber wie er auch wägte und wählte, er fand eigentlich nichts zu bessern. Ein heftiges Gefühl überhitzte ihn, wenn er da und dort auf Stellen stieß, die ihn selbst jetzt überraschten, die ihn ins verlassene Gleis wieder hineinzureißen versprachen. Von neuem gewann der Stoff Gewalt über ihn; wieder schoß die Sehnsucht nach Schaffen und Gestalten ein in seine Seele. Und doch war ihm auch so vieles fremd geworden, daß er den zerrissenen Faden nicht einfing; und doch war ihm vieles so nah geworden, daß ihn davor bangte, die wieder aufgenommene Spur bis an ihre Mündung zu verfolgen. Er fürchtete sich vor dem ersten neuen Worte, das er schreiben würde. Jedes schien ihm zu schwach. Keines griff eng genug in den letzten Satz ein. Ach, er war doch noch recht schwach – oder es fehlte ihm am Mute des Neulings, der über die ungesehenen Hindernisse siegreich hinwegsetzt.

Er saß und suchte und vergaß und träumte ziellos in die Landschaft hinaus. Drunten im Tale und hier oben in den Vorbergen war der Spätschnee krank geworden; er schwand von Nacht zu Nacht, der dunkle Mittagswind wühlte die Wolken vor sich her, die Welt roch nach nackter brauner Erde. Bald würden die ersten Schwalben ziehen.

Und Benedikt fühlte das Drängen der Knospen, er vernahm das unterirdische Pochen der Quellen, und seine Gedanken schwärmten wie verschlagene Schwalben im Sturm, da sie den Weg zum Heimatneste verloren haben.

Von einem zum anderen Male ermannte er sich. Er wollte arbeiten, er wollte dem schmalen Stege über die Tiefe ein festes Gelände zimmern, Schritt um Schritt vor sich her. Dann versenkte er sich wieder in die Schlußsätze des letzten Abschnitts, um nur irgend festen Boden zu einem neuen Anfange zu gewinnen. Allein es stand wie eine Wand zwischen ihm und jenen Stimmen der Vergangenheit. Gleich fuhren wieder andere Bilder an seinen Sinnen vorüber, und die Rufe der Begrabenen verhallten.

Wie er vom alten Permoser aufgenommen worden war: kühl, mißtrauisch, zurückhaltend und gleichgültig wie immer … Und die schlecht verhehlte Freude des guten Fräuleins! … Und Kathrein, trotz seiner Sorgen um das eigene Kind! … Mit der armen Verena stand es wieder schlimm. Das Übel hatte sich von neuem eingestellt, ärger als zuvor. So erzählte Marianne … Und über all dem die Geschichte vom verbrannten Kruzifixus!

Aber jene Bäuerin hatte das furchtbare Opfer wirklich gerettet. So sagten wenigstens einige wenige. Sehr wenige; denn die meisten hatten sich vom Schänder und Lästerer in hellem Zorne abgewendet. Selbst die, denen seine Kunst früher willkommen gewesen; selbst die Geheilten und Beschenkten. Wie würde das enden?

Und nun wuchs auch der Schatten des Wunders wieder herauf.

Überall sprach man von der Stigmatisierten.

Man sprach eigentlich von nichts anderem, als von ihr und vom Heilandsbrenner.

Sie solle tagelang in krankem Schlafe liegen, erzählten die einen, und andere berichteten, daß sie seit dem Aschermittwoch keine Speise zu sich genommen.

Ja, an Freitagnachmittagen, so wollte man wissen, überfalle ein heiliger Krampf das Mädchen, daß der blutige Schweiß an ihrer Stirne herunterperle und sie ganz übertaut sei von den Schauern einer verzückten Angst.

Und noch mehr: einige flüsterten unter dem Siegel der Verschwiegenheit herum, daß es mit Schlaf und Fasten und Blutschweiß allein noch nicht sein Bewenden habe. Die Kranke, so beschrieben sie es, verfalle an jenen Freitagen in eine unheimliche Starre, und dann geschehe das eigentliche Wunder an ihrem jungen Körper.

Sie strecke sich lang wie im Todeskampfe, die Augen geschlossen, auf der Stirne schwere Tropfen von der Farbe dunkler Rosen, als habe eine unsichtbare Dornenkrone ihre Haut tausendfältig durchbohrt – und nun beginne sie zu schweben, zusehends mehr von einem Freitage auf den anderen.

Zuerst erhob sich ihr schmaler Leib nur handbreit von den Laken weg, vom Haupte bis zu den Füßen herunter, so daß man darunter das Linnen glattstreichen konnte, ohne den Körper auch nur flüchtig zu berühren …

Die nächsten Male aber schien es, als ziehe eine ungeheure Kraft das Mädchen zu sich empor …

Sie spreitete die Arme und bot ihre blassen Hände dem Griffe eines Geistes, der über ihrem Lager stand und sie zu sich heraufhob …

Am stärksten gesteigert hatte sich das an den beiden letzten Freitagen.

Da war es soweit gekommen, daß die ganze Gestalt von den Füßen her sich langsam aufrichtete und immer mehr streckte, bis sie schließlich über der Bettkante schwebte wie eine Seele vor der Himmelfahrt …

Als seien ihre Füße irgendwo festgenagelt und als werde der balkenstarre Leib gleichsam an einem Kreuze erhöht, so sah es aus – nach der Schilderung jener Leute, die es von Augenzeugen hatten.

Die abgezehrten jungen Arme reckten sich von den schmächtigen Schultern schrägauf in den Raum, wie wenn sie, selbst angeheftet, die ganze Last des hangenden Körpers trügen.

Dann, nach bangen Minuten, öffnete das Mädchen die Lippen. Man sah nichts, aber man vernahm deutlich, wie der Mund in tiefen, lechzenden Zügen trank.

Alle Anwesenden, so hieß es, hatten den Eindruck, als sei ein Kelch von gütiger Geisterhand der Verzückten dargereicht worden.

Sogar den Schimmer eines goldenen Gefäßes hatten etliche wahrgenommen.

Nach Empfängnis dieser himmlischen Labung sank das Mädchen mit einem schweren Seufzer zurück und blieb in erstarrtem Schlafe liegen, so daß nicht einmal der leiseste Atem ihre Brust belebte und selbst das zarteste Flaumfederchen vor ihrem Munde tot, der klarste Spiegel ungetrübt blieb …

So erzählte man talauf, talab, jeder wußte mehr als der andere, jeder fügte einen neuen Zug hinzu, keiner zweifelte an dem erschütternden Ereignis.

Man trug der Schwandtnerin, die durch die heilige Krankheit ihres Kindes in Nöte geriet, da sie nun ganz allein das Gärtchen bestellen und die täglichen Sorgen des Hauses tragen mußte, an Frucht und Hilfe jeder Art, Brot, Eiern, Wein, Mehl, Speck und Geflügel zu, was immer vom eigenen Haushalte sich abkargen ließ und darüber hinaus. Denn die Schwandtnerin war die Mutter einer von Gott Gezeichneten, und wer diesem Hause spendete, der schenkte sich selbst einen wenn noch so geringen Nachlaß eigener Sünden. Die Schwandtnerin versprach jedem, daß sie ihn in ihr kräftiges Gebet einschließen und der Fürbitte ihrer von Gott begnadeten Tochter besonders empfehlen werde.

Was war Wahrheit an all diesen Berichten, und wo sollte das enden? … Nein, er wollte nicht einen Gedanken daran verlieren. Es ging ihn nichts an, mochte der Dechant zusehen.

Nun hatte er in gedankenloser Sorgfalt schon alle Großbuchstaben der eingetrockneten Schrift auf dem letzten Blatte nachgezogen, daß sie frisch schimmerte wie mitten im vollsten Flusse. Indes auch diese Täuschung half nicht über die Kluft hinweg. Immer noch schwebte die Feder ratlos über dem blanken Teile der Seite, und der erlösende Einsatz wollte sich nicht finden.

Die Leute sprachen viel: von nichts anderem als von der Heiligen und vom Heiden war die Rede. Wenn er noch ein Heide wäre, dann könnte man's ihm am Ende verzeihen. Aber das war ein Mensch, der sich einen Christen nannte und schlimmer war als der ärgste Jude oder Türke! … Der sich auf den lieben Gott und den Heiland berief, der da mit dem Munde behauptete, der Herr Jesus sei in ihm selber, und mit der Faust gleichzeitig das Zeichen der Gnade niederriß, das Bild des Erlösers vom Kreuze brach und über die Flamme hielt wie ein gleichgültiges Stück Holz, daß es seinen Weg erhelle! … Selbst ein so trägflüssiger, friedlicher Mensch wie der Stegmüller ging in hellen Flammen auf. Vor das Gericht hätten sie ihn gebracht, natürlich, und der Peter habe Zeugenschaft ablegen müssen. Der habe es ihm fein eingetränkt, der Peter! … Der Peter habe haarklein erzählt, wie alles gewesen, und daß er den Herrn Doktor ernstlich vor dieser Schandtat gewarnt, und daß es auch gar nicht notwendig gewesen sei, man hätte ganz wohl zur Leonardikapelle zurückgehen und dort einige starke Fichtenzweige zur Notfackel zusammendrehen können – und wie die gebrannt hätten, noch weit besser als das Heilandsbild! … Das habe er ja dem Herrn Doktor auch vorgeschlagen, aber der Herr Doktor habe in seiner blinden Wut nicht auf ihn gehört und sei immer wieder wie ein Rasender gegen das Mal angesprungen, mit Schultern und Knien, bis endlich der morsche Pfahl barst und das Kreuz lang in den Schnee schlug … Dann sei es freilich zu spät gewesen … Und schließlich habe er, der Peter, es auch mit der Angst bekommen … Ganz so habe der Doktor in seinem geifernden Zorn ausgesehen, als ob er ihn, den Peter, nächstens in die Schlucht stürzen wolle … So habe er, Peter, zähneklappernd vor Furcht und Grauen, dem schrecklichen Beginnen zugesehen, unfähig sich auch nur zu rühren … Ja, hätte er dergleichen geahnt, so wäre er schön daheimgeblieben und friedlich in die Mette gegangen wie jeder gute Christ … Da habe der Überacher schon recht gehabt … Und da hätte der Überacher eingesetzt mit seiner Aussage und Klage: wie der Doktor ihn angeschrien und fast vergewaltigt … Aber der Doktor habe zu all dem bloß die breiten Achseln gezuckt und höhnisch gelacht: Droben eine Erstgebärende, liegt schon sechsunddreißig Stunden in Wehen; der Schnee bis da herauf; kein anderer Doktor zu haben; keine Laterne; kein williger Mensch außer dem da; die Nacht stockfinster; für mich hab ich es ja nicht getan … So habe der Doktor immer wieder geredet, und da seien die Richter völlig irr geworden … Und dann hätten sie ihn doch zu einer Geldstrafe verurteilt … Da sei aber der Doktor dagegen aufgestanden … Und nun ziehe die Sache sich eben weiter … Auf die Gerichte käme es ja auch gar nicht an … Das Gericht würden sie schon selber halten, die Bauern … Es gehe ja jetzt schon kein Mensch mehr zum Doktor … Lieber umstehen als wie von dem sich den Teufel in den Leib hineinkurieren lassen … Und wenn ihm das noch nicht genug sei, es gebe schon noch andere Gerichte, darauf sie, die Bauern, sich seit altersher verstünden … Wenn Hunger und Verachtung ihm nicht genug sei, vielleicht würden Flegel und Sensen es richten … Nur dem Herrn Dechanten habe er es zu danken, daß sie bisher noch nicht nach gutem Väterbrauch ihre Anklage vorgetragen und ihr Urteil vollzogen, bei brennendem Strohwisch und rotem Widerschein im grauen Mähestahl … Ja, und ein neues Kreuz habe er ihnen angeboten! … Er und ein neues Kreuz! … Ein Kreuz, das er stiftete! … Da habe sich der Anrain als erster dagegen gesperrt … Und wenn die Schand schon um seiner Frau willen geschehen sei, so werde er das neue Kreuz aufstellen, und kein anderer! … Und einen Hunderter werde er draufgehen lassen, und mehr! … Dem wären aber die Unzinger entgegengetreten, denn das Stoderkreuz habe gerade im obersten Zipfel ihrer Gemeinde gestanden; die Höllbachschlucht einerseits, der Weg zur Leonardikapelle anderseits, das seien bekanntermaßen die Grenzen gegen Sterzen und Sanktrain. Aber auch die Sanktrainer beanspruchten für sich Ehre und Recht der Wiederherstellung; sei schon die Sünd von ihrer Gemeinde aus über diese Täler gekommen, leider Gottes, nach so viel Gutem, was ihr Heiliger und ihre liebe Frau dieser Landschaft erwiesen an Wohltat und Heilung, so wollten sie auch den Ruhm der Sühne haben. Insbesondere der Schmölzhofer, der Rottenbacher und der Überacher hätten sich zusammengetan und den Ehrgeiz des Anrain von Ober-Sterzen sowohl wie der Unzinger Nachbarn beschwichtigt. Aber damit auch diese nicht ganz leer ausgingen, so sei vereinbart worden, daß die Unzinger, nun die Stätte einmal in ihrer Gemeinde belegen, das Holz zum neuen Heilandsmal liefern, der Anrain aber wie seine Hoferben oder sonstigen Rechtsnachfolger das Öl zu einer ewigen Lampe vor dem neuen Christusbilde bestreiten und das Lichtlein selbst instandhalten sollten. Dagegen würden die Sanktrainer für die übrigen Kosten aufkommen und einem tüchtigen Bildschnitzer, dem Marterl-Lukas, den Auftrag erteilen; denn Gott sei Dank, sie hätten's ja! … Also seien auf einem großen Bauernting zu Lichtmeß alle Pflichten und Leistungen festgesetzt und gegenseitig abgegrenzt worden – wie der Stegmüller in breitester Ausführlichkeit erzählte.

»Na, und hab ich's net g'sagt, damals, daß man's net weiß, was man halten soll von dem? … Und da hat der Herr Kooprater g'sagt, aufs G'red von die alten Weiber, hat der Hochwürn g'sagt, da soll man nix drauf geben … Na hab i halt 's Mäu g'halten, weil i mir do dacht hab, ein g'studierter Herr und Geistler no obendrein, der kennt si schon aus, da hast du Bauerntrottel 's Mäu zu halten, hab i mir dacht, und das meinige dazu … Na, und wie hat si dös jetzten ausg'wachsen? … Grad damals war dös, der Herr Kooprater wird si leicht erinnern, wie mir bei der Leich von dem Schreiber drunten g'wesen sein, und wie i dann unterm Heimfahren dem Herrn Kooprater die G'schicht erzählt hab von mei'm Prozeß mit'm Tafern, na, jetzten sein mir ja die besten Freund, der Tafern und i, jeden Sonntag trink i dorten meine paar Krügeln, dös verwachst si am End, grad dazumal ham mir davon g'redt, dorten bin i stehn blieben wo i den Prozeß in der ersten Instanz verloren hab …«

So schloß der Stegmüller seinen wortreichen und eindringlichen Bericht, bereit, sofort in die Geschichte seines berühmten Rechtshandels hinüberzuleiten.

»Das ist sehr traurig,« hatte Siebenschein gesagt; »ich bin nicht dabei gewesen, Stegmüller, und ich kann nicht urteilen. Ich denke mir nur eines: unser Herr Heiland Jesus Christus hat für uns alle, zur Erlösung von unseren Sünden, sein Blut und sein Leben hingegeben. Und so denke ich mir, daß er selbst nichts dagegen haben wird, wenn sein hölzernes Bild in höchster Not zum Gelingen eines guten Werkes beiträgt.«

»Wär aber leicht ohne dem gangen aa,« beharrte der Stegmüller; »wo d' Leut sagen, daß der Doktor so nimmer notwendig war, der Herr Kooprater entschuldigt schon. Wos Kind schon auf dem Weg war, wos dös gar nimmer braucht hätt, das Bild vom Herrn Jesus anzünden. Wär leicht ohne den Doktor abgangen aa, wo er grad schon in die Mitten kommen is, sagen d' Leut, der Herr Kooprater entschuldigt schon.«

»Das konnte aber der Doktor nicht wissen,« verteidigte Benedikt; »wie sollte er das wissen? Ihr habt mir doch selbst erzählt, daß er vom Anrain dringend gerufen worden ist. Und er selbst hat vor Gericht ausgesagt, daß ärztliche Hilfe unbedingt notwendig war. Hat ihm da jemand widersprochen?«

Der Stegmüller zuckte die Achseln.

»Dös grad net. Na ja, was Gewisses erfährst ja net. Aner redt so, der andre so. War ja kaner dabei, net.«

Auch dieser Mann, sonst einer von den Einsichtigen, war nicht zu überzeugen.

Wie würde das enden? … Wo war die Wahrheit? … Was entschied? … Was war Gerechtigkeit? … Summum jus summa injuria! … Fiat justitia, pereat mundus! …

Das religiöse Gewissen des Volkes, auf dessen Festen irdische Macht in ihrer ganzen Breite ruht – oder das Recht des Einzelnen, der mit seinem Glauben und Müssen hoch überm Volke steht: was wog schwerer in den Schalen der letzten Wahrheit?

Eine ungeheure schwarze Wolkenwand stieg vor Benedikts beunruhigtem Blicke auf; ein ganzes Gewitter voll drohender, großer Fragen, von keinem Blitze durchleuchtet, das Land vor sich her verfinsternd, von geheimen Schluchten zerklüftet bis auf den Grund.

Und Benedikt schrak zurück und wendete sich in seiner Angst mit neuem Entschlusse seiner kleinen Aufgabe zu, daß sie ihn verstecke und er in ihr untergehe: wie ein Kind in der warmen Dunkelheit seines Bettes sich vor der Nacht verbirgt und vor den Spiegelbildern seiner ersten Zweifel und Ahnungen …

Er hatte ja dem Bischofe versprochen, die Schrift binnen Ablauf des Jahres, womöglich noch in diesem Frühling zu vollenden und dann ihm vorzulegen, ob sie ihm selbst genügte oder nicht. »Eine schöne Genesungsarbeit, Benediktule,« hatte der Fürst gesagt; »dabei können Sie sich noch nacherholen, und überdies wird diese Fleißaufgabe Sie von manchen anderen Gedanken fernhalten …« Er selbst hatte sich auf die Erfüllung seines Versprechens gefreut, in den letzten Wochen der Genesung alles innerlich vorbereitet und kaum den Tag erwartet, da er den neuen Beginn an das alte Ende fügen würde. Tausend schöne, festgeprägte Sätze hatte er in seinem Herzen gegossen und geschmiedet und aufbewahrt, daß sie ihm bereitstünden, sobald die ersehnte Stunde des Wiedersehens schlug. Nun stand die Rüstkammer leer, nichts genügte ihm, gegen jedes Wort erhoben sich hundertfältige Bedenken. Er fürchtete nicht zu erschöpfen, wo es auf scharf herausprägende Gründlichkeit ankam; er glaubte sich versplittern zu müssen, wo die Darstellung von selbst auf die Höhe einer Umschau über die Lage und alle hier zusammenfließenden Strömungen hinanführte. In dieser Stunde wuchs der Stoff, dem er sich anfänglich ebenbürtig gewähnt, riesenhaft über ihn hinaus. Ein ganzes Heer von Zweifeln drang auf ihn ein. Der Druck gestauter Fülle wehrte dem Aufziehen der Schleusen; das ohnmächtige Suchen und Wiederverwerfen und blinde Tasten schwächte den ohnedies gesunkenen Mut. Denn an ihre eigentliche Aufgabe, in ihr schweres und gefährliches Gebiet trat die Schrift erst an dieser Stelle ein, an dieser Schwelle, die zu übertreten Benedikt aus Gewissenhaftigkeit und Übermaß der Wünsche nicht wagte. Doch, jetzt wollte er es zwingen. Was lag schließlich daran, wenn die ganze Arbeit mißglückte? Diese Unruhe der Unbefriedigung mußte bewältigt werden. Benedikt setzte sich von neuem zurecht und nahm die letzten Blätter zur Hand.

»So mußte sich Heinrich, auch wenn er nicht sogleich an Bruno von Toul dachte, dazu entschließen, unter den lothringischen Bischöfen einen Mann ausfindig zu machen, der reine Absichten mit Furchtlosigkeit und äußerstem Opferwillen verband. Alle diese Bedingungen wiesen auf Bruno von Egisheim, und so traf es sich gut, daß der Kaiser eben damals zu seinem Zuge nach Frankreich rüstete. Auf diese Weise konnten zwei Fragen gleichzeitig gelöst werden.

»Die Entscheidung fiel allerdings erst einige Monate später, als der Kaiser, nach geschlossenem Treubunde mit dem Könige von Frankreich, zu Worms Hof hielt. Das war im Dezember 1048. Wenn nun Bruno von Toul der ihm auferlegten Würde aufs nachdrücklichste widerstrebte, so tat er das sicherlich nicht aus Menschenfurcht oder aus selbstischen Bedenken, sondern aus Liebe zu seinem selbsterwählten und so lange Zeit hindurch treulich verwalteten Bistum und aus echter, aufrichtiger Demut. Indes der Kaiser ließ seine Bedenken nicht gelten, und so kehrte Bruno gegen Weihnachten noch einmal nach seinem Toul zurück, um von der zweiten Heimat Abschied zu nehmen. Gleich nach den Feiertagen brach er dann gegen Rom auf, nach der heiligen, ewigen Stadt der Städte, die er schon so oft als schlichter Osterpilger besucht, ohne jemals daran zu denken, daß er dereinst berufen sein könnte, von den sieben Hügeln aus das Weltreich der Christenheit zu beherrschen.«

So weit reichte die Handschrift.

Benedikt ließ die Blätter wieder sinken, entmutigt und ermüdet.

Die Geschichte des Papstes Leo IX. hatte er schreiben wollen, die Geschichte des Bischofs von Toul war ihm allenfalls gelungen.

Nun erst begannen die Hindernisse, die zu bewältigen er nicht mehr die Kraft fühlte. Mit dem Kampfe gegen die Priesterehe, die Simonie und den allgemeinen Verfall der geistlichen Sitte hatte der schwäbische Papst seinen Pontifikat hingebracht.

Die Priesterehe! … Benedikt erschrak, da er daran dachte, daß er mit dieser Frage würde in Berührung treten müssen. Und nun gar zu dieser Zeit, da das Gespenst des Modernismus wie der Schatten einer gewitterschweren Wolke über der Geistlichkeit lag! …

Und gerade um diese Frage hatte in den letzten Wochen sein Denken gekreist, wie der Schmetterling um die im heißen Glase eingesperrte Flamme. Weshalb diese bittere und gefährliche Last? … Wozu dies grausame Verbot, da es doch das Leben des Priesters von innen her vergiftet und an tödliche Abgründe herandrängt und den ganzen Mann zu seinem Berufe verdirbt? … Denn das meinte er nun mit voller Deutlichkeit zu erkennen, daß unter diesem Drucke die zersetzende Säure sich bereite, von der kaum einer wieder genest, dem sie sich bis an den Nerv herangefressen.

Von dieser Wunde aus verbreitete sich die Seuche über den ganzen Körper.

Das war das künstliche Riff, an dem fast jeder Schiffbruch erlitt und zu dauerndem Schaden kam, sei es, daß er auf der Stelle unterging, sei es, daß er durch den Anprall in einen gefährlichen Kurs zwischen immer bedrohlichere Klippen, in saugende Wirbel und verführerische Driften oder hinaus in die vernichtenden Stürme verschlagen wurde.

Mit einem kleinen Leck der priesterlichen Ehre begann es; dann kam das Gewissen, das nur den Starken über Flut erhält, den Schwachen aber hinabtaucht und ertränkt.

Dann kam die Schuld, die nur wenige in tiefpflügendem Kurs dahintreibt, die nur wenigen zum segelfüllenden Heimatwinde wird, die Schuld, die den meisten schwer wie Blei wuchtet, daß ihre Fracht überschießt und sie selbst ins Uferlose sich verlieren.

Wie die Schrift, die man mit heiliger Freude und strenger Absicht voll begonnen – hat sich erst ein verunstaltender Fehler eingemakelt, so ist doch schon das Ganze verdorben, man grämt sich nicht mehr des neuen Fehlers und eilt mit schwindenden Bedenken dem Ende zu.

Eine Schuld wird mit der nächsten bezahlt, eine übertäubt die andere, schließlich winkt die Zuflucht zu anderen, tröstenden Genüssen, und im Nebel von Furcht und Vorsatz jagt das Opfer dem Verderben entgegen.

Er selbst – war er damals nicht sogar schon vom Dämon des Weines gefangen worden? Da fühlte er sich ganz leicht und erlöst, und alles schwand unter ihm … Und hatte er nicht von Sturz zu Sturz die Fäuste zu wildem Gebete geballt und Umkehr gelobt und mit allen Sinnen nach neuer Sünde gelechzt? … Ja, nun lag das hinter ihm, so weit, als seien Jahre darüber verstrichen … Und doch empfand er noch heute, zu dieser Stunde, die rasende Angst, die ihn von Genuß zu Genuß gepeitscht, die ihn, den verzagenden Schwimmer, wie eine Brandung immer wieder gegen das harte Ufer schmetterte und mit der nächsten Woge zurück in die betäubende Tiefe zog … Und dennoch hatte er den Strand, die rettende Bucht, den Leuchtturm niemals aus dem Gesicht verloren, nicht einen Abend, nicht einen jener verruchten Augenblicke lang, jener gesegneten Augenblicke, um derentwillen so viel gewagt und verloren wird, weil Zucht des Schreckens nicht entbehren kann und nicht Heilige das Gesetz bestimmen, sondern das große Volk der Sünder … Immer hatte der Flammenblick des großen uralten Turmes auf dem Uferbord seine Strahlengarben über ihn hinweggeschossen, ihn gesucht und gefunden und schrecklich erleuchtet in seiner ringenden Not, daß er geblendet zurückfuhr und der kommenden dunklen Welle zum Opfer wurde … Wie viele aber, die das felsensteile Ufer und seine Brandung scheuen und lieber in den offenen Tod hinaussteuern, um die winkende Insel nur nicht mehr vor dem Gesichte zu haben, die schroffe schwankende Insel mit ihrer Rettung auf Leben und Tod … Und wie hell, wie freundlich, wie ruhig und menschlich konnte das Leben des Priesters sein, gab man ihm den Herd, dessen es bedurfte, den sanften und reinigenden Frieden des Hauses, seine Erfüllung und das gute Gewissen dazu!

Damals war es noch nicht so gewesen. Nicht allein die Priester, auch die Bischöfe hatten unbedenklich in der Ehe gelebt, den harten Zuchtmeistern von Cluny ein Greuel, den strengeren Päpsten allzeit ein schweres Ärgernis.

Aber das war eine andere Zeit; grausame Abtötung stand dicht neben entsetzlicher Verwilderung, Heilige und Wüstlinge bevölkerten das dämmernde Abendland, mit der Duldung war schrecklicher Mißbrauch getrieben, der Priesterstand und die Hirtenwürde waren geschändet, besudelt, grauenvoll verstümmelt worden.

Nein, Leo konnte nicht anders, es gab keine Mitte, mit dem Stumpfe mußte das Unkraut ausgereutet, aus wuchernder Wildnis steinige Wüste gemacht werden, da auf dem jungen rohen Boden der werdenden Völker jede Saat gleich in geiles Kraut schoß und zarte Gartenkrume erst nach jahrtausendelanger Verwitterung sich bilden konnte … Leo der Heilige konnte nicht anders; was er tat und beschloß, war unfehlbar wie nur je ein Akt der Kathedra, und wenn er fast nur Spreu fand statt Weizen, so war das nicht seine Schuld.

Aber der ihm siebenhundert Jahre später auf dem Stuhle des Apostels folgte, einer seiner würdigsten und ähnlichsten Erben, mild und lauter wie er, sanftmütig und von weitem Wissen erleuchtet, der vierzehnte Benedikt, der noch immer des ebenbürtigen Nachfolgers und Fortsetzers harrte – er hätte vielleicht den Bann gelöst, die verschlossene Pforte wieder geöffnet, wäre ihm längeres Wirken beschieden gewesen.

Siebenschein sah nach der verglasten Tafel der Papstbildnisse hinüber. Der dreizehnte Leo beschloß die langen Reihen; noch fehlte der Kopf des Patriarchen von San Marco.

Wann würde er kommen, der bewußt und vernehmlich den fünfzehnten des Namens sich nannte, der Ersehnte, der Gebenedeite, der Gesegnete nach all den Löwen und Frommen der letzten Menschenalter? Wann würde er kommen, von dem die ganze Christenheit jubeln durfte: Benedictus es qui venit in nomine Domini! …

Siebenschein horchte auf; der Pfarrer mußte Besuch empfangen haben. Er vernahm das Rücken von Stühlen, den schweren Schlag einer Tür. Dann sah er wieder zum Fenster hinaus. Da draußen trieben die unruhigen, schwermütigen Passionswolken die Höhen hinunter, und vor ihnen her schwammen ihre riesigen Drachenschatten über die goldgrünen Saaten, über die braunen Äcker und die kleinen kranken Schneetriften im Schatten der schwarzen Gehölze. Jetzt fiel ein flüchtiger Sonnenstrom vor dem düstern Gewölk in eine Weizenbreite, sie brach in Flammen aus und war mit einem Male das Hellste in der ahnungsvollen Landschaft, und das Feuer glitt über sie hin und sie versank in Asche, während der Brand auf die nächste Wiese übersprang. Die Krähen schwärmten um die fahlen Hügel; hier und dort blitzte ein Frühlingspflug zwischen den Rainen auf; hoch durch die bewegten Himmel stürmte ein Flug fremder, wilder Vögel. In wenigen Tagen war Palmsonntag, und dann begann die heilige Marterwoche, und dann jährte sich der Menschheit wieder einmal die bange Vesper, die Stunde der Wunder und der Erlösung.

Benedikt stützte den Kopf in die hohle Hand. Ein seltsamer Gedanke war durch ihn hindurchgefahren. Er hatte sich mit allem, was um ihn her geschah, in die Zeiten jenes Papstes zurückversetzt, oder in das finstere Jahrhundert jenes Heiligen, der da drunten in der Gnadenkirche seinen sorgsam gehüteten Schlaf schlief … Diese Berge voll starrer, feindseliger Wälder, darin Riesen und geflüchtete Götter und gewalttätig Wildgetier hausten … Schwere vernichtende Notwinter, die von Laubfall bis weit über Ostern hinaus reichten; dazwischen karge, kühle Sommer, so schmal und herb wie das grasige Hochtal zwischen zwei Gletschern … Tiefe, erschütternde Einsamkeit, das stete Geschehen der Jahreszeit, Blütenrauch der Rottannen, blaue Enziankelche in den Halden, der Lachssprung im Wildwasser, der nebelnde Hirschschrei über die Herbstwälder, der pflügende Flug der Wandergänse, die goldenen Sonnenkreise der Adler über den Klippen, die Urstille … Drunten im Tale die Siedelung zottiger Hirten, die ihr und ihrer Herden Leben den Bären und Luchsen abringen, der fernen Abtei pflichtig, scheue, dumpfe Christen, wo die Nähe des Priesters sie zwingt, dem unbegreiflichen Gotte Zeichen der Ehrfurcht zu erweisen, Heiden im innersten Herzen und mit der Tat, sobald sie allein sind mit ihren Wäldern und Herden und Gefahren und rauchgeschwärzten Altären.

Und eines Tages, da baut einer seine Zelle ihren niedrigen Wildhütten zu Haupt, hoch auf vorspringendem Kanzelhügel, wo keiner die Einsamkeit des Psalters und der Geißelzucht stört, und doch nahe genug, daß die Gnade ihren Weg in die rohen, reinen Seelen finde … Das ist er selbst, Benedikt, des Klosters und aller Wissenschaft und Eitelkeit überdrüssig. Und lebt mit den zottigen Hirten und Adlern und Bären, und seine Seele steigt über alle Adler hinaus in den Abgrund des Lichts.

Und dann, eines Tages, ein Wunder. An einem reinen Mädchen geschehen die Zeichen der Erlösung. An einem Nachmittage, da die ersten schweren Taustürme in das Tal sich hereinstürzen und die Berge erbrausen und die Höhen erdröhnen, an solchem Nachmittage der Erweckung brechen am zarten Jungfrauenleibe die Rosen der Wundenmale auf …

Und die arme Hütte ist voll Gold und Verklärung, und die haarigen Hirten im Fellschurz knien erschüttert vor der Heiligen, da jener unbegreifliche Gott ihr Lager zu einem Altar geweiht hat, und da ist keiner, der nicht bis in seine letzten Tiefen hinein zerrissen wäre von Schrecken und Ahnung eines neuen Tages … So ist der namenlose Gott doch stärker als alles, mächtiger als die, denen sie an ihren geschwärzten Altären den Trunk des Blutes dargebracht … Nur einer ist unter ihnen, der zweifelt und höhnt, Wernheri der Weitgereiste, den Schicksal und Dienst und Krieg in die Fernen zu betrüglichen Menschen geführt … Sie möchten sich doch nicht blenden lassen durch mönchisch Meinwerk und Trug; weder dieser Gott der Geschorenen sei wahr noch irgendeiner der alten Götter … Einen Gott nur gebe es, und der sei hier mitten unter ihnen und überall, sie aber könnten ihn nicht erkennen in ihrer schwarzen Blindheit. Und er ergreift die rohgefügte Kreuzrune, die an der Wand der Hütte hangt, und wirft sie verächtlich in den aufstiebenden Herdbrand … Da! Wie es brennt! Die Flamme betet an, ohne die ihr nicht leben könnt, das Feuer betet an, das ist euer Gott, verzehrt Pferdeschädel so gut wie Kreuzrune und Blut … Trotzig steht er unter ihnen, die mit ihren Keulen und Beilen auf ihn eindringen … Auf ihn, dessen geheimes Wissen um Krautes Gift und Saft so manchen schon von Bärenbiß und Steinschlag und Dornschwäre geheilt … Er aber lacht, daß sie erschaudern; wie der Bär die kläffende Meute, so schlägt er sie zur Seite und geht heil zwischen ihnen hindurch.

Aber in der Nacht, da sie heimlichen Meuchelbrand an seine Hütte legen wollen, siehe, da schlägt ihnen schon von weitem die fegende Lohe entgegen, die er selber erweckt. Und er wandert und wandert, über Berge, durch Wälder und fremde Ströme, bis er das graue Nordmeer erreicht … Sie aber wähnen ihn in der heißen Asche begraben und erkennen die strafende Faust, und die Kunde von all diesen Wundern gelangt nach der Abtei, und von da zum Ohre des Bischofs, und der Bischof selbst meldet es dem neuerwählten Papste, da er in des Kaisers Gefolge gen Rom fährt, und ein fleißiger Mönch zeichnet das Geschehnis auf dem Rande des Kalenderblattes auf, vielleicht gerade über einem ausgeschabten Statius oder jener verschollenen Schrift des Cato, da vom Lachen der Haruspices die Rede.

Und dreihundert Jahre später, mitten im starren Bergwinter, siehe, da bricht eines Nachts ein blühender Strauch voll wundmalroter Rosen aus dem vergessenen Grabe der armen Hirtin … Man entsinnt sich der alten Legende, die Mönche stöbern in ihren Archiven, die Mär dringt von Glock zu Glocke bis nach Rom, und nicht lange, so erhebt sich die Halle einer neuen Abteikirche über dem wundertätigen Grabe der Heiligen.

Das wäre am Ende schöner zu bedichten als das Leben des heiligen Vaters Leo IX. Nein, nein; jetzt wollte er wirklich arbeiten.

»Bruno von Toul, oder Leo IX., wie er sich jetzt nannte, sah sich vor eine Fülle der schwierigsten Aufgaben gestellt. Der Pontifikat Damasus II. hatte nur wenige Wochen gewährt; Suidger von Bamberg, der zweite Clemens, hatte trotz ehrlichen Strebens noch nicht einmal die Vorarbeiten zum Neubau leisten können, da er sich in jeder seiner Bewegungen durch den ruhelosen Gegenpapst Benedikt gehindert und gefährdet sah. In dem Empfange, welcher dem dritten deutschen Papste seitens der Römer bereitet worden war, konnte dieser wenigstens die Gewähr …«

Eilige Schritte kamen die Treppe heraufgepoltert. Jetzt stürzte Fräulein Huber mit der Türe in die Stube herein.

»Herr Doktor! Herr Doktor!«

Siebenschein starrte sie an.

»Ja, was ist denn?«

»Der Herr Pfarrer!«

Sie keuchte. Ihre Augen quollen weiß und stier aus den Höhlen. Sie griff sich nach dem Herzen und schwankte.

Benedikt stieß sich vom Tische ab.

»Was ist denn? So reden Sie doch!«

»Der Herr Pfarrer!«

Benedikt stieß sie zur Seite und rannte hinunter.

Die Türe zu Permosers Schreibzimmer stand weit offen. Hinter dem Mitteltische kniete die alte Petronilla.

Siebenschein prallte zurück. Der Pfarrer lag der Länge nach auf dem Boden, das blaugedunsene Gesicht der Decke zugewandt. Benedikt hörte sein eigenes Herz schlagen. Unheimlich laut tickte die Taschenuhr auf dem Samtplättchen, das an einer Leiste des Schreibtischgefächers hing. Ein Schwarm weißer Haustauben flügelte dem Fenster vorbei. Der Geruch von altem, dumpfem Leder und überwinterten Stubenäpfeln. Jetzt verschwand der Schatten des Fensterkreuzes; die Kühle einer Wolke zog durch die Stube. Jetzt kam die Sonne wieder hervor und überzog das schwarze Gewand des Liegenden mit moosgrünem Schein. Die flinkernde Goldpressung der Buchrücken; eine neuerweckte Frühlingsfliege am Fenster. Die alte Petronilla erhob sich von den Knien und strich die Schürze glatt.

Pfarrer Permoser war tot.

* * *

Dr. Simon Hetz, der Dechant, hatte an diesem trübwolkigen Fastenvormittage seinem abgeschiedenen Amtsbruder Permoser das letzte Geleit gegeben. Nach erledigter Totenfeier fanden sich die hochwürdigen Herren im verwaisten Pfarrhause bei üblichem Imbiß zusammen; nur Abt Berno hatte gleich vom Kirchhofe weg die Rückkehr angetreten.

Fräulein Huber kredenzte mit rotverschwollenen Augen die Erzeugnisse ihrer Trauerkochkunst, und Benedikt Siebenschein mußte in Vertretung des Verstorbenen wie des Zukünftigen den Hausherrn spielen, nötigen, Bescheid tun und die geistliche Ehre von Unzing auf jede Weise wahren.

Es war eine trübfließende und fröstelnde Unterhaltung, die von Glas zu Glas um den schwärzlich belebten Tisch sickerte. Ganz unten, zwischen den beiden Kaplänen Kummer und Strauch, denen der Gram um den beerdigten Permoser besonders tief in den Organismus geschlagen haben mußte, saß der hinterlassene Neffe Hermagor Pichler, trotz seiner trauerfestlichen Bartschur stachlicht anzusehen, einsilbig, dickflüssig und feucht. An jenem Ende der Leichentafel wurde an einem Kuchen um den anderen das Wort von der Hinfälligkeit alles Irdischen in reißend schneller Beweisfolge wahr, und Fräulein Huber, der das schwarze Samtband auffallend gut zum runden Halse stand, wurde es nicht müde, immer wieder neue Aufgaben vor ihren so schweigsamen wie dankbaren Schülern aufzubauen. Selbst ihr alter Groll wider Hermagor Pichler lag heute unter einer sanften Schicht von Wehmut begraben.

Während der Propst in verdunkelnder Würde dem Trauerfrühstück vorsaß, hatte der Dechant Benedikt an seine Seite gezogen. Wie es gekommen, wo, wann und daß es sich zugetragen, das hatte Siebenschein bereits nach allen Seiten erschöpfend geschildert, obschon man natürlich auch die beiden Fräulein Mali und Petronilla nach allen irgendwie lehrreich erscheinenden Einzelheiten ausforschte.

Unter den übereinstimmenden Zeugenaussagen und ihren gleichbleibenden Zügen – dem zuerst vernommenen dumpfen Fall, bei dem sich eigentlich niemand etwas gedacht und auf den man sich erst später wieder besonnen, und der Entdeckung des Unglückes durch die eintretende Petronilla – fand besondere Teilnahme ein von Fräulein Huber mitgeteiltes wehmütiges Detail, daß nämlich zu eben jenem Mittagessen Fräulein Huber das Leibfastengericht des Verstorbenen zugerüstet und dieser es nicht mehr erlebt habe.

»Germknödel soll ich ihm machen, hat er in der Früh g'sagt,« berichtete Mali unter Tränengüssen; »Germknödel soll ich machen, das war ihm halt das Liebste, wie oft hab ich's für ihn gemacht, wie oft, jeses, jeses, wenn man das so denkt, nie weiß man, wann man abberufen wird … Die hat er halt so gern g'habt, Germknödel, viere, fünfe hat er davon essen können und nix hat's ihm g'schadt … Na, hab ich mir dacht, machst halt dem hochwürdigen Herrn Pfarrer seine Germknödel, wenn er's schon gar so gern hat, für a sechse hab ich den Teig ang'richt, der Herr Doktor, der ißt ja so nix, da braucht man bloß zu kochen wie für ein Vogerl, ich sag's schon immer, und jetzt schon gar, wo er zurückkommen is, noch ganz blaß, daß man die Sonn durchsieht … Für a sechse hab ich den Teig ang'richt, ein Lot Preßgerm und ein Löffel Hefen, wie ich's halt gewöhnlich g'macht hab, und ein Viertel Seidel Milch mit ein bisserl Mehl, grad daß sich's treiben laßt … Na, und dann halt zwei Lot Butter mit drei recht schöne Dotter, fein, fein abtrieben, und eineinviertel Seidel feines Nullermehl, mit ein bisserl Salz, der hochwürdige Herr Pfarrer war so heiklich, das hab ich dann dazug'rührt. Wird der Herr Pfarrer eine rechte Freud haben, hab ich mir dacht, grad wo der Germ so schön frisch war, das trifft sich net alle Tag, heut, wo alles schlechter wird und teurer … Na, und da halt das Dampfel dazu und fest, fest abtreiben und am End noch die drei Klar …«

»Mm,« machte Pfarrer Blasius Hierat, der mit aufrichtiger Teilnahme den Bericht verfolgte; »wie war das, Fräulein Mali, einundeinviertel Seidel Mehl, habens g'sagt? Schauens, die Karolin – wissens, die Karolin! – die nimmt halt immer zu viel Mehl und zu wenig Butter, da werdens so schwer, die Knödel … alsdann, am End die drei Klar, habens g'sagt …«

»G'hören aber zwei Lot Butter auf eineinviertel Seidel Mehl,« setzte Fräulein Mali eifrig auseinander; »net mehr und net weniger. Und das Abtreiben und Gehen, das is halt die Hauptsach. Alsdann, grad wie ich den Teig hab gehn lassen, das Wasser war schon zug'setzt – grad da hör ich, als wie wenn ein Kasten umfallet … Na ja, wer denkt denn gleich auf so was?«

Pfarrer Blasius Hierat faltete die Hände unter der hosenflüchtigen Weste.

»Die Karolin wenn mir bloß einer abholen wollet,« seufzte er; »wird sie aber keiner abholen, nicht einmal der Teufel. Dann wüßt ich schon, Fräulein Mali, wen daß ich auf der Karolin ihre Stell setzen möcht.«

» Ceterum censeo hanc ancillam esse amovendam,« flüsterte der Dechant dem Propste zu. Ein Seitenblick glitt über Fräulein Amalie hinweg, die im züchtigen Schmucke ihrer Trauer wesentlich verjüngt aussah.

» Habes rectum,« nickte der Propst; » propter nimiam pulchritudinem.«

Auch Pfarrer Fürnagl, der Amtsbruder von Moosdorf, mischte sich in diese kanonische Frage.

» Ego puto Gebauerum velle eam prendere,« sagte er in seinem stärksten Latein.

» Cur Gebauerus, cur non ego?« lachte Hetz.

» Propter nimiam pulchritudinem et virtutis causa,« belehrte Propst Wendt, während sein kräftig vorkragender Bauch vor innerer Heiterkeit zitterte.

Auch seine eigene Krankheitsgeschichte, auf die vom Aufenthalte im bischöflichen Palaste und neuerlichen Gunstbeweisen her ein ganz besonderes Licht fiel, war Siebenschein bereits mehr oder weniger gründlich abgefragt worden. Nun wandte sich der Dechant der praktischen Seite der Ereignisse zu.

»Vorläufig bleibt wohl alles wie es ist,« sagte er zu Benedikt; »vorläufig, nicht wahr, ja.« Er rollte ein kleines Kuchenkügelchen und verfolgte aufmerksam das Spiel seiner Finger. »Nämlich, bis Seine Eminenz uns nähere Verfügungen zu wissen gibt. Ich denke wohl, Sie werden bis zur Neubesetzung als Pfarrverweser hier belassen werden. Sie dürften ja der Aufgabe gewachsen sein, nicht wahr, und schließlich, Aushilfe und Rat haben Sie ja immer zur Hand.«

»Ich hoffe meine Pflicht erfüllen zu können,« versetzte Siebenschein kühl; »ich denke, daß ich keinen der Herren werde bemühen müssen.«

»Kein Zweifel, Herr Doktor Siebenschein,« versicherte Hetz; er legte eine vertrauliche Hand auf Siebenscheins Arm – »die rein pastorale Seite der Frage will ich ja gar nicht berühren. Ich weiß sie in guter Hut, zumal ja dieser Herr Doktor Wendt endlich sich selbst der Möglichkeit beraubt hat, Ihnen oder irgendeinem von uns noch besondere Schwierigkeiten zu bereiten.«

»Wird er also die Gegend verlassen?« fragte Benedikt geradeaus.

»Ich täte es an seiner Stelle,« erwiderte der Dechant; »ich! … Aber das sind dann Sachen des Takt- und Ehrgefühls, nicht wahr. Es wäre für beide Teile nachgerade das Beste. Angesichts der herrschenden Erbitterung kann ich für nichts bürgen … Aber reden wir von nächstliegenden Dingen. Wie gedenken Sie sich es mit dem Haushalte einzurichten?«

»Muß denn da eine Änderung eintreten?«

»Muß nicht. Aber Sie kennen doch die Menschen. Das Fräulein Huber übernehme ich einstweilen, sie kommt mir eben recht. Das heißt, wenn sie will. Sie kennen ja die Leute, wie sie sind. Ich bin eben in Dienstbotennot. Hohe Ansprüche und geringe Leistungen, da ist dieses Fräulein eine wahre Perle. Vielleicht tritt sie dann wieder beim Amtsnachfolger an.«

Allein als Dechant Hetz Fräulein Amalie auf die Seite nahm, um ihr in vertraulicher Aussprache seine Entschlüsse vorzutragen, erfuhr er nachhaltigen Widerstand.

»Wann ich dahier net bleiben kann, dann nehm ich überhaupt kein Dienst net. Ich hab's ja nimmer notwendig, Gott sei Dank, der hochwürdige Herr Dechant entschuldigt schon. Aber wann ich dahier net bleiben kann, dann laß ich's halt stehen und zieh in den Eggerhof, steht so leer.«

Der Dechant rieb sich wohlwollend die Hände.

»Es ist wegen des Geredes, Fräulein Huber, Sie verstehen, nicht wahr. Der Herr Doktor ist noch sehr jung – nun, und Sie, Fräulein Huber, sind schließlich auch noch recht jung.« Er verbeugte sich ritterlich.

Fräulein Mali vollführte eine ihrer wegwerfenden Handbewegungen.

»Wanns wegen dem ist! … Über das, na, über das sein mir doch schon drüber hinaus, na, und der Herr Kaplan, der Herr Dechant entschuldigt schon, der is noch drunter! … Wo der doch bloß den ganzen Tag in die Bücher herumriecht. Da könnt man ja gleich den heiligen Aloisi vom Manderaltar mit der heiligen Agnes von der Weiberseiten ins G'red bringen, wär grad so wahr.«

Dechant Hetz räusperte sich und sah über die Brille hinweg auf Fräulein Mali herunter. »Nämlich, ich möchte nicht, daß Sie, Fräulein Huber, verstehen Sie, Sie« – er tippte mit dem Finger gegen den blühenden Halsausschnitt – »irgendwie belästigt werden. Darum ist es mir zu tun, ehrlich gestanden.«

»Na, da darf sich der Herr Dechant bloß keine Sorgen machen. Den möcht ich sehen!«

»Gewiß, gewiß, Fräulein Huber. Wir müssen nur die Lage auch mit den Augen der Mitwelt betrachten, nicht wahr. Sehen Sie, es wäre für den Herrn Dr. Siebenschein äußerst unangenehm« – er sah auf seine gepflegten Finger herab – »und am Ende sogar nicht ganz ohne mißliche Folgen« – er schürzte die Brauen und spähte wieder über die Brille hinweg nach Stimmung und Haltung seiner gereizten Gegnerin – »wenn er ganz unschuldigerweise – ganz unschuldigerweise! – der Klatschsucht Böswilliger zum Opfer fiele … Welches Licht fiele da auch auf mich!« … Er rieb sich mit wohlwollendem Nachdruck die nervigen, starken Hände … »Und Ärgernis, Fräulein Huber, Ärgernis muß unter allen Umständen vermieden werden … Also vorläufig bleibt ja auch dieser Herr Neffe unseres teuren Verstorbenen im Hause, bis der Nachlaß geordnet ist und so weiter. Ich dringe ja auch nicht auf augenblickliche Veränderung, gewiß nicht. Ich weiß, daß Sie hier mit den Jahren sozusagen Wurzel geschlagen haben, nicht wahr, und daß der Abschied Ihnen schwer fällt. Sie können ja doch auch nach Neubesetzung hieher zurückkehren. Der Nachfolger unseres verewigten Amtsbruders Permoser wird sicherlich Wert darauf legen, einer mit den Verhältnissen bereits vertrauten Person die Führung seines Hauses zu übergeben, und sich also nach einer solchen umsehen … Aber bishin, ich meine, inzwischen, falls Sie nichts Besseres zu tun haben, Fräulein Huber, nicht wahr – bishin wäre es mir eine aufrichtige Freude, wenn ich Ihnen ein Heim und leichte Beschäftigung bieten dürfte …«

Der Dechant verbeugte sich flüchtig und nahm eine freundlich zuwartende Haltung ein.

Die Mali lachte auf.

»Und wenn ich wollt, da käm der hochwürdige Herr Dechant doch zu spät. Der Herr Dechant entschuldigt schon – aber der Herr Dechant is jetzt der dritte, der mir das Nämliche sagt.«

»Nun sehen Sie, daß ich mit meiner Auffassung nicht allein stehe, und daß wir alle Ihnen wohlwollen, Fräulein Huber.«

Sie drehte am Ring mit dem erblindeten Türkis.

»Das glaub ich ja schon, daß die hochwürdigen Herren mir nix Schlechtes wollen. Aber damit is nix. Beim seligen Herrn Pfarrer wär ich blieben, von mir aus noch zehn Jahr, aber so – für ein neuen Dienst bin ich halt zu alt, und für den alten zu jung, wie der Herr Dechant sagt.«

»Ich kann Sie natürlich nicht zwingen, Fräulein Huber,« schloß Dechant Hetz in liebenswürdiger Schärfe; »tun können Sie freilich, was Sie wollen. Ich glaubte nur einer Art Pflicht gegen meinen verstorbenen Freund und Amtsbruder zu genügen, nicht wahr.«

»Ich dank dem Herrn Dechanten recht schön für den guten Willen. Aber wann's der alte Dienst nimmer sein kann, nacher mach ich mir einmal selber den Dienst. Wo der Eggerhof so leer steht, da hab ich so schon die längste Weil drauf g'spitzt, is so froh, der Tafern, der ihn kauft hat, daß das wer auswohnt, net, no, und ein Garterl dabei, grad was für die alten Tag …«

»Soso. Der Eggerhof. Das ist doch das Anwesen, das jene fremde Dame einige Wochen hindurch in Miete hatte, nicht? Frau Sartorius, wenn ich nicht irre?«

Nach gleichgültigeren Schlußfragen trat der Dechant den Rückzug an.

Benedikt hatte indes die Annäherung des Propstes zu überstehen gehabt.

»Und Seine Eminenz, immer wieder die Gicht? Ja ja, wird nimmer lang mitmachen, Seine Eminenz. Sollt sich meinen Herrn Vetter, den Wunderdoktor, verschreiben. Die G'schicht habens ja g'hört, die er aufg'führt hat, ein starkes Stückel, net? Na, am End können wir ihm noch dankbar sein dafür. Jetzt hat er auspfiffen bei die Leut, jetzt kann er einpacken, sein ganzes Werkel, vox populi, da gibt's nix, von dem laßt sich keiner seine Katz mehr kurieren … Haben ihn ja kennt, den Herrn, net? … Also, den seins jetzt auch los.«

»Derweil sitzt er noch fest,« bemerkte Pfarrer Fürnagl; »ausräuchern wie einen Fuchs kann man ihn auch nicht.«

»Kann lang sitzen,« lachte der Propst gröblich. »Wird ihm schon noch heiß werden, die Höll. Na also, das hat man ja schon immer g'wußt, daß aus dem nix wird, die Seiten von der Famili, die war schon einmal extra und hat nie was g'heißen. Der Alte war grad so, allweil oben hinaus oder auf die Seiten hinaus, nur net wie die anderen. Is aber net weit kommen damit, der Apotheker und der Baurat, die haben sich hinaufg'arbeitet, und der hat das Häusel vom Alten verkaufen müssen, so war's verschuldet.«

»Ist ihm aber doch noch was geblieben davon,« erinnerte Pfarrer Gebauer.

»Heißt ja, daß er das Graffische Haus in Sanktrain drunten kaufen will,« sagte Fürnagl; »der Strecker, der Notär, hat so was erzählt, wie er das letzte Mal auf Kommission bei uns gewesen ist. Einige fünfundzwanzigtausend Gulden soll er geben wollen. Wär so halb geschenkt.«

Hier trat Dechant Hetz wieder in die Unterhaltung ein.

»Das ist nur Gerede,« versicherte er; »ich glaube, Fräulein Graff hat mit dem Hause ganz andere Absichten. Und wenn! Er müßte doch wieder verkaufen, und das mit Schaden.«

Es wurde aufgebrochen, und der Dechant verabschiedete sich von Siebenschein.

»Also diesmal muß ich sagen: Herr Amtsbruder! Le roi est mort, vive le roi. Ich komme demnächst einmal nachsehen. Nicht visitieren! Und im übrigen bleibt es bei unserer Verabredung, nicht wahr. Ne res clerica quid detrimenti capiat.«

* * *

An diesem Nachmittage rüstete Dechant Hetz zu einem lange geplanten, lange schon pflichtigen Besuche.

Er überlegte vielerlei.

Auf dem Schreibtische lag ein Stoß von Zeitungen der verschiedensten Färbung, da und dort angerötelt oder zum Bedarfe zerlegt. Der Dechant rückte die Blätter vor sich hin und begann zu wählen. »Konflikte des Christentums« hieß es hier in fetter Überschrift; das eignete sich allenfalls, sofern man dartun wollte, daß selbst eine sehr freisinnige Presse hier von Konflikten sprach. »Der Held seiner Pflicht« – dieses Blatt legte Hetz beiseite. »Der brennende Heiland«; auch diese Notiz war kein brauchbares Belegstück, das man hätte in Stellung bringen können. »Der Doktor von Sanktrain – ein Gegenstück zum Wunder von Sanktrain«; da klangen die richtigen Register. Und dann, dieser schon in der Überschrift so wirksame Bericht eines Provinzblattes: »Die Christnacht von Sanktrain … Ein Fall von seltener Schwere beschäftigt seit geraumer Zeit die engere und weitere Öffentlichkeit unserer Provinz, ja, unserer ganzen Glaubensgemeinde.« Mit diesen Zeilen ließ sich wohl etwas einleiten.

Immerhin, die Erschütterung hatte doch nicht ganz den erwarteten Verlauf genommen. Es waren Ungeschicklichkeiten begangen worden; man hatte manches überhitzt und damit sogar eine rückläufige Bewegung ausgelöst. Das wäre nicht notwendig gewesen. Daß der Nuntius eine den Fall mit ins Gespräch ziehende Broschüre aus eben diesem Punkte her angriff und damit vorzeitig Widerstand erregte, Studentenkrawalle zum Ausbruch reizte und eine weitgereifte, jetzt nach vielen Seiten hin ausstrahlende Spannung deutlich hervortreten ließ, das war herzlich überflüssig und unfein. Besonders jetzt, vor den Sanktrainer Tagen, vor dem Katholikentag! Es zeugte von schlechter Politik, und überhaupt, an der Politik Roms gab es neuerdings mehr zu tadeln als zu loben. Es war nicht gut, wenn man zu solch kritischer Zeit die Hebel an bedenklichen Bruchgebieten einsetzte, an wunden und vulkanischen Stellen. Suaviter in modo, fortiter in re: damit trug man die härtesten Stellen ab, die den blindwütig Anprallenden gelähmt zurückstießen.

Hatte er zum Beispiel seine Waffen und Mittel nicht geschont, bis er sie gegen die Blößen des Gegners würde wenden können? … Er hatte nur leise gewarnt, eingekreist und im übrigen manches geschehen lassen, und hätte er nicht von Anfang an seine stete, enthaltsame Taktik geübt, es wäre manches verdorben und gewiß nicht die Gelegenheit herbeigeführt worden, eines glücklichen Zufalls als der tödlichen Waffe sich zu bedienen.

Dechant Hetz lehnte sich in seinem Stuhle zurück. Eine Wolke ging schwarz und kalt durch seine Gedanken. Der alte Meßner: der Doktor war Zeuge seiner letzten Stunden gewesen. Wenn jener Mann nun Gewalt über ihn besaß! Dieses Gespenst war ihm schon oft erschienen. Aber dann hatte er sich wieder darüber hinweggetröstet, tausend Wahrscheinlichkeiten gegen die eine entfernte Möglichkeit gefunden, gewägt und mit sich selbst durchberaten. Und schließlich, wer schenkte jenem noch Glauben, wer hielt seine Aussagen noch für unverdächtig? In diesen Tälern würde Werner Wendt keinen Eideshelfer mehr finden; nun sicherlich nicht mehr. Werner Wendt! … Nein, der Name war als solcher vergessen. Werner Wendt war jetzt nur mehr der Doktor, der Feind, der Widersacher auf Leben und Tod.

Gespenster! … Früher waren sie in jeder Nacht an seinem Bette gestanden. Es hatte eine Zeit gegeben, da jeder Atemzug der Nacht wie ein eisiger Schauer durch ihn hindurchrieselte, jede der unsichtbaren Spinnen, die in der Stille knisternd durch Spind und Dielen laufen und ihre grauen Garne um den Menschen ziehen, ihn aufscheuchte aus seiner künstlichen Beruhigung. Dann hatte sein Blut gestockt und in starrem Grauen hatte er nach der Türe oder nach dem Fenster gesehen: dort hatte es sich geregt, hier war ein Gesicht hinter dem Spiegelbilde der Lampe erschienen; ein unfühlbarer Sturm fuhr durch das Haus und rührte an die Dinge, daß sie erschauerten und tausend verborgene Uhren mit einem Male erwachten … Und das jahrelange Zusammenleben mit dem Helfershelfer, die jagende Versuchung, diesen quälenden Vertrauten zu entfernen … Von einem Tage zum anderen der Entschluß, diesen verdüsterten Ort, den verratenen Beruf zu verlassen … Und immer wieder die siegreichen Gegengründe: der Feind im Rücken, das Zerreißen angezwirnter Fäden, die Unlust, den mühsam bestellten Boden preiszugeben, bevor die Saat in Halm und Korn geschossen war … Und dann war er geblieben. Und dann hatte er seine geheimen Ernten abgewartet, aufsteigend mit jedem neuen Jahre, allseits geehrt und des öffentlichen Vertrauens wert befunden … Gespenster! … Wer Gespenster sieht, der blickt nach rückwärts, und wer nach rückwärts blickt, der nimmt seines Weges nicht wahr, der strauchelt und stürzt oder wandert in die Irre. Nein, für ihn gab es keine Gespenster mehr!

Dechant Hetz strich sich die Gedanken von der Stirne. Er nahm die ausgewählten Zeitungsblätter an sich und stand auf. Vielleicht, daß ihm der Plan im ersten Anlaufe gelang; vielleicht auch, daß er wirklich zu spät kam und auf andere Wege sinnen mußte.

Er nahm Hut und Stock, warf noch einen Blick in den Spiegel und schritt dann die sauber gebohnte Treppe hinab.

* * *

Fräulein Therese Graff saß eben über ihrem Nachmittagskaffee und Hanns Jagenteufel, genannt der schwarze Satan, und die rote Marie, die Tochter des Scharfrichters von Prag. Nebenher strickte sie mit sehr groben Nadeln an einem äußerst lockeren Gewebe, das die Bestimmung hatte, die Blößen irgendwelcher schwarzer Weltmitbürger zu bedecken, irgendwelcher Senegambier oder Kruneger oder Papuas, die dort wohnen, wo die Schokolade wächst und die großen Affen vergnügt auf den Kokospalmen sitzen.

Von oben kam ab und zu der Hall schwerer, ruhiger Schritte. Nun hatte er ja wenigstens seinen Frieden, der arme gute Doktor; nun holten sie ihn nicht mehr mitten aus seiner Nacht heraus, drei, vier Stunden weit ins Gebirge, durch Schnee und Sturm und Gefahr. Nur daß es sich so gewendet hatte, das betrübte Fräulein Graff aufs tiefste; der Stanzer und der Falzinger würde sie ihre Haltung nie verzeihen, sah sie sich gleich zu ihrem ohnmächtigen Zorn von den Zimtladen und Kaffeesäcken und Petroleumfässern der ersteren abhängig. Aber sie würde ihren Bedarf künftighin auf andere Weise decken, aus dem Städtel oder aus der Hauptstadt, und wenn es das Dreifache kostete. Und wenn die Stanzer dann am Ende aus Neugier auf einen Kaffee kam, und sie, Fräulein Graff, setzte ihr einen so feinen, fetten Sud vor, wie ihn nur der Mogul oder der Kalif von Mokka trinkt, und die Stanzer wunderte sich und meinte, das sei aber doch eine andere Bohne als die von ihr geführte: dann würde Fräulein Graff ihr sagen, ja, den Kaffee beziehe sie neuerdings aus Damaskus und den Tee aus Peking und den Kakao aus Holland und das Petroleum aus Baku, da sei alles besser und billiger, und dort seien anständige Leute zu Hause, denen man gerne einen kleinen, ehrlichen Gewinn gönne – und die Stanzer würde sich enger in ihr graues Häkeltuch frösteln und gähnen: Gehens! …

Damals, die Christnacht: wie sie gewartet hatte, Jesus, Jesus! … Der arme kleine Weihnachtsbaum, den sie ihm zur Heimkehr geputzt, tot und fremd in der erkaltenden Stube … Und dann die Unruhe, halb Freude, halb Sorge: ob er am Ende gleich in Unzing geblieben war? … Wenn er nun erst morgen kam und den breiten Hut auf den Tisch warf und sagte: Jetzt hat's mich doch eingefangen! … Und sie hatte gewartet und gelesen und gehorcht und gestrickt, und schließlich war ihr der Kopf mitsamt der schwarzen Haube vornüber gefallen und erst am grauenden Morgen war sie erwacht, steif, kalt und übernächtig. Jesus, Jesus, und der Herr Doktor wartete vielleicht längst schon auf das Frühstück! … Aber wie sie mit den dampfenden Kannen in die frühsonnige Stube trat, da war noch immer kein Doktor da! Jesus, Jesus. Und dann hatte sie erfahren, daß ein fremder Mann aus einem fernen Dorfe ihn unterm Tore abgefangen. Der Mann sitze noch immer beim Stern und habe sich in dieser Nacht rechtschaffen warmgetrunken, hieß es. Und der Doktor, durch Schnee und Wind und Finsternis über die Berge, Jesus, Jesus! … Der Abend sank, der Doktor hatte noch immer nicht heimgefunden. Da war ein Unglück geschehen. Sicherlich lag er irgendwo unterm Schnee, in der Tiefe einer Schlucht vielleicht, oder er hatte sich verirrt und war in unbegangener Wildnis erfroren.

Da kam er endlich, um Jahre gealtert, ganz grau vor Müdigkeit und wie gebeugt von einer schweren Last. Nichts hatte er gesagt, den Hut hatte er auf den Tisch, den Stock in die Ecke, die Tasche auf den Stuhl und sich selbst ins Bett geworfen, nichts gegessen, nichts gesprochen, nur geschlafen, geschlafen, sechsunddreißig Stunden in einem Zuge, Jesus, Jesus; wie einer, der sich in eine Todkrankheit hineinschläft.

Und ihm nach kam das Gerücht, und die Stanzer kam, und die Falzinger, und die eine sagte: Gehens, und die andere: Sehens, und der ganze Markt stand plötzlich in hellem Aufruhr.

Ein Verbrechen sollte er begangen haben, ein Verbrechen, auf das vieljähriger schwerer Kerker bei Wasser und Brot und verschärften Fasttagen stand …

Alle sagten es, alle schrien es von Haus zu Haus, auf dem Marktplatze standen sie zuhauf und tuschelten und deuteten nach den Fenstern herauf, hinter denen der Doktor schlief.

Am Stephanstage rüstete sich eine große Prozession von Neugierigen, um trotz Schnee und Berg bis zur entweihten Stätte vorzudringen und den Augenschein aufzunehmen. Einige Gendarmen mit steilstarren Bajonetten und glitzernden Helmspitzen führten den Zug der entrüsteten Gläubigen, und in ihre dickmächtigen Sündenbücher trugen sie feierlich die Ergebnisse ihrer schwierigen Erhebungen ein … Gendarmen, Jesus, Jesus, die Gendarmen würden am Ende auch in ihr Haus kommen! Bei diesem Gedanken wurden selbst die abnehmbaren Haartouren des alten Fräuleins um einen Strahl weißer, und einige Augenblicke lang bedauerte sie es, Herrn Julius Emil Zipperer nicht Gehör geschenkt und an seiner Seite ein gutbürgerliches Ende gefunden zu haben.

Dann war der Sturm abgefallen; lauernde Stille eingetreten; brütendes Schweigen. Niemand mehr hatte des Falles erwähnt, aber auf jedem Gesichte, in das Fräulein Graff im Laufe ihres Alltags sehen mußte, stand der Ausdruck jenes boshaften Bedauerns, das schweigendes Mitgefühl mit hämischer Neugier widerlich vermischt. Da und dort stach eine spitze Anspielung auf: ob sie dann wieder vermieten werde? ob sie dann selbst das Obergeschoß zu bewohnen gedenke? ob sie nicht zufällig wisse, zu welchem Preise der Herr Doktor – man sprach das sehr förmlich und mit spitzen Lippen aus – seinen Grauschimmel feilhalte? … Alle diese siegesgewissen, schadengenießenden Vorandeutungen zielten mit tödlicher Sicherheit auf ein unabwendbares Ereignis, mit dessen Erfüllung für Sanktrain gleichsam eine neue Zeitrechnung anheben würde … Das fühlte die alte Dame nur zu deutlich; und selbst die, welche in dieser Krise nicht dem Dechanten zufielen, selbst diese wenigen, der Apotheker, der Sternwirt, der Fleischermeister Schlögel – auch sie rückten kalt und ausdrücklich vom Doktor ab, wie von einem Aussätzigen, mit dem es überhaupt keine Gemeinschaft mehr gibt. Schließlich sagte sogar die Anna auf. In diesem Hause bleibe sie nicht länger; bei der Stanzer, beim Gattlinger, an der Fleischbank, überall hagelten die Anzüglichkeiten auf sie herab. Und überhaupt, das sei gegen ihre Ehre, recht was recht, aber wenn sie nicht aufkündigte, so fände sie überhaupt keinen Dienst mehr, das hänge ihr dann zeitlebens nach – und in vierzehn Tagen mache sie Lichtmeß … Mochte sie, zürnte das alte Fräulein inwendig; der dumme Trampel, hatte sie ihr nicht damals die große Flasche mit dem feinen Bertramessig zerschlagen, am Freitag nach dem Tode des seligen Firmian? Sollte sie in aller Heiligen Namen gehen – aber äußerlich gab Fräulein Graff gute und fruchtlose Worte, und vierzehn Tage später nahm die Anna beim Fleischermeister Schlögel ihren Einstand.

Und dann hatte der Doktor selber das Siegel darunter gesetzt.

»Wollens mir also das Haus verkaufen oder nicht?«

Fräulein Therese hielt sich die erschrockene Haube fest.

»Na ja. Ich bin doch nicht blind. Ausreißen werd ich nicht, Ihnen möcht ich nicht länger zur Last fallen. Also was kostet's, der ganze Krempel?«

»Aber, Herr Doktor, daran denk ich doch nicht …«

»Aber ich. Sollens mir wenigstens das eigene Dach überm Kopf anzünden.«

Aber da kannte er sie schlecht.

»Nein, und da wird nichts daraus, Herr Doktor. Und wenn sie alle schimpfen und schwätzen, ich halt's mit dem Herrn Doktor. Ich hab schon keine Angst. Und was die Leut sind, die werden schon wieder zu Verstand kommen …«

Da hatte er ihre Hand genommen und ihr ein paar gute, kurze Worte gesagt, daß ihr die heiße Rührung in die Augen schoß, die mahnende Erscheinung des Herrn Zipperer aber allsogleich versank. Wie sie aber dann unter fließenden Tränen nach jenem Verbrechen fragte, das ihr guter Herr Doktor doch gewiß nicht bösen Willens begangen haben konnte, da war er aus der Stube gegangen, hart und unzugänglich wie immer. Das Kreuz sei um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Kreuzes willen; das war alles, was er rauh entgegnete.

Aber darin wenigstens hatte sie recht behalten: der Rückschlag trat ein. Die Zeitungen bliesen Sturm, und gelindes Tauwetter setzte ein. Ein milderes Besinnen ging in den Seelen um; hie und da zeigte sich wieder ein verstohlener Patient, man sprach von anderen Dingen und wandte die öffentliche Aufmerksamkeit anderen Ereignissen zu, dem schweren Grubenunglück in Lothringen, der Pest in Ostasien, dem letzten Schiffbruch und den Stürmen der Reichspolitik. So besonders, seitdem das Gericht ein mehr ausweichendes als verdammendes Urteil gefunden und die Geschichte weitere Kreise zog. Nun tastete der Apotheker sich wieder vorsichtig heran, und der Sternwirt gab es vorläufig auf, nach dem Preise des Grauschimmelchens zu forschen. Aber das Tierlein stand zumeist müßig im Stalle und fütterte sich einen steifen Heubauch heran; höchstens, daß der Doktor es anspannen ließ, um nach Unzing hinaufzufahren. Der jüngeren Kathrein sollte es seit Weihnacht wieder recht wenig gut gehen, und die davon erzählten, gaben ihr keine ganze Jahreszeit mehr.

Seine übrigen Stunden aber verbrachte der Doktor mit Vorliebe bei jenen verdächtigen Säuren und Salzen, die dem alten Fräulein von Anfang an solchen Respekt eingeflößt, daß sie die gelben und blauen Glasgefäße mit zitternder Vorsicht abstaubte, als säße der leibhaftige Tod darinnen. Was der Doktor mit diesen unheimlichen Stoffen trieb, das entzog sich Fräulein Graffs Wissenschaft vollkommen. Sie sah nur, daß er die durcheinandergemischten Geister bald über die Flammenhöllen seines kleinen Herdes, bald in den künstlichen Winter eines Eiskübels setzte, um dann wieder ein Pröbchen auf eine rätselhafte blaue Platte zu bringen und diese unter das gelbe Rohr des Mikroskops zu schieben. Der ganze Raum schien von bösen Gasen geschwängert, und wenn die alte Dame eintrat, schlug ihr eine Wolke saurer Dämpfe entgegen. Jene schöne Geschichte vom mittelalterlichen Goldmacher kam ihr wieder in Erinnerung; auch hatte sie zu mehreren Malen in ihrem Leben Goethes Faust zu lesen versucht, hatte sehr vieles darin rührend und echt, das meiste aber durchaus unklar und unzugänglich gefunden. Immerhin, Faustens Bild war ihr aus mancherlei Gemälden und besonders aus dem schönen Titelkupfer in dem von ihrem Bruder benutzten Exemplar geläufig genug, um den Doktor mit jenem wirren Geisterbeschwörer vergleichen zu können. Wenn er in seinem langen fahlen Mantel zwischen Herd und Mikroskop auf- und niederging, den vollen Blondbart steil abgesträubt, zur Seite ein aufgeschlagenes Buch voll unverständlicher Zeichen und Ziffern, in die er bisweilen hineinmurmelte, dann sah er wirklich nicht besser aus als jener Dr. Faust, der sich, wie Fräulein Graff genau wußte, dem Teufel mit eigenem Blut verschrieben und von diesem denn auch pünktlich abgeholt worden war. Und um die packende Ähnlichkeit voll zu machen, grinste vom Bord ein bleckender Totenschädel in die qualmende Hexenküche herab. Mit Bezug auf diesen friedlosen Armensünderkopf hatte die alte Dame einmal einige Worte der Ermahnung gewagt: wo denn die zugehörigen Gebeine am jüngsten Tage diesen ihren Führer finden würden, und daß man den Verstorbenen doch ihre Ruhe gönnen möge. Aber da hatte der Doktor etwas beiseite geknurrt, worin ein Unterklang von alten Weibern und Betschwestern, und Fräulein Graff hatte vor diesen ersten Vorzeichen des Ausbruchs schleunigst das Weite gesucht … Trotz alldem, er war und blieb einmal ihr guter lieber Doktor, ob er nun Gold machte oder Gifte braute oder den Leuten ihre Zwölffingerdärme vernähte, und wer an ihm sich vermaß, der hatte es mit ihr verdorben. Insonderheit dem Herrn Dechant, dem würde sie es bei nächster Gelegenheit sagen, aber wie! Nicht einmal zum Niedersitzen würde sie ihn auffordern, wenn er einmal kam, nicht einmal einen Kaffee würde sie ihm anbieten, nicht einmal einen Likör! Stehend würde sie ihn empfangen und stehend entlassen, und ihm ihre Meinung ins Gesicht sagen, daß er sich's für ewige Zeiten merkte.

Fräulein Graff sah aus Buch und Strickerei auf. Dort kam ja der Dechant über den Marktplatz gegangen, gerade auf das Haus zu. Da vernahm sie ihn auch schon im Flur, und gleich darauf trat er in die Stube. Die alte Dame fühlte sich in Ehrfurcht und Staunen einknicken; es geschahen Zeichen an ihrem Dache.

»Nein, der Herr Dechant, die Ehre, wer hätt sich das gedacht, grad hab ich hinausg'schaut, wirst sehen, hab ich mir gedacht, wohin der Herr Dechant geht … Aber bitte doch abzulegen, bitte, bitte. Der Herr Dechant tragt mir sonst den Schlaf weg. Und bitte doch Platz zu nehmen! Darf ich dem Herrn Dechanten einen Kaffee machen? Ganz, ganz frisch, ja?«

»Danke, gnädiges Fräulein, ich danke wirklich. Ich komme eben von Tische. Aber ich habe Sie gestört? Und immer so fleißig!«

Er deutete auf den zukünftigen Kaffernschurz.

»Ja, wenn man nicht einmal das tät, was sollt man dann mit seinem Tag anfangen,« protestierte das Fräulein, während sie die Tochter des Scharfrichters von Prag eilfertig beiseite räumte; »gar kein Fleiß ist das, nur damit man etwas in der Hand hat … Also darf ich dem Herrn Dechanten wirklich keinen Kaffee machen? Ganz, ganz geschwind! Der Herr Dechant schaut derweil das Album an! Nein? Aber ein Glaserl Likör? Ein ganz, ganz kleines Glaserl Likör? Kaffeelikör? Oder vielleicht einen Weichselschnaps? Ganz ein kleines Glaserl? … Aber ich bitt doch Platz zu nehmen … Also nicht wahr, so ein ganz kleines Stamperl, nur wie ein Fingerhut? … Aber, bitte doch Platz zu nehmen …«

Schon hatte sie eine uralte, vertrauenswert aussehende Flasche und das angekündigte Fingerhutgläschen in Händen.

Der Dechant stand noch immer inmitten der Stube und sah sich nach allen Seiten um.

»Alles geblieben, wie ich es zum letzten Male gesehen! … Ja, also bitte, wenn es durchaus nicht anders sein kann. Sie verwahren immer so köstliche Schätze, gnädiges Fräulein … Ja, alles so geblieben, wie ich es damals gesehen. Wie lange ist das her, gnädiges Fräulein?« Er seufzte. »Mir scheint, seit dem allzufrühen Tode Ihres seligen Herrn Bruders habe ich dies Haus nicht mehr betreten.«

Fräulein Graff stellte Likörbrett, Gläschen und Flasche auf den Tisch und zupfte den Läufer auf der roten Decke zurecht.

»Aber bitte doch Platz zu nehmen … Und bitte sich zu bedienen … Ja, gerade damals ist das gewesen. Ich erinner mich ganz genau, auf einen Freitag, ja, das wird schon stimmen … Aber bitte doch Platz zu nehmen und sich zu bedienen … Auf einen Montag ist der selige Firmian gestorben, und auf den Freitag ist der Herr Dechant hier gewesen. Ich erinner mich ganz genau, das war derselbe Freitag, wo mir damals die Anna, der dumme Trampel, die große Flaschen mit dem guten Bertramessig zerbrochen hat, Jesus, Jesus, was ich da noch für einen Schaden gehabt hab zur Trauer.«

Dechant Hetz rückte sich einen der niedrigen Besuchsstühle zurecht.

»Aber will der Herr Dechant nicht auf dem Diwan …«

»Nein, bitte, gnädiges Fräulein, lassen Sie sich doch nicht inkommodieren.«

Er winkte mit seiner gepflegten Hand die alte Dame in ihr Kanapee, lüpfte die Hosenknie, spreitete die Rockschöße und pflanzte sich auf dem bereitgerückten Sessel fest.

»Nämlich, gnädiges Fräulein, es beschwert tatsächlich mein Gewissen, Sie so lange vernachlässigt zu haben. Aber Sie werden es gewiß begreifen, daß ich die Möglichkeit einer peinlichen Begegnung lieber vermied als suchte.«

Er räusperte sich beziehungsvoll.

»Der Herr Doktor war früher sowieso nie zu Haus,« sagte Fräulein Graff.

»Immerhin, nicht wahr. Es tut mir ja herzlich leid, aus solchem Grunde mich selbst um eine wertvolle Ansprache gebracht zu haben. Aber schließlich, ich wußte den Herrn Doktor hier gut aufgenommen, nicht wahr – und ich selbst hätte doch nicht gut anders können, als Ihnen die offene Ansicht eines Freundes zu sagen, ja, nicht wahr … Anlässe, denen man gerne ausweicht. Nun, das ist ja jetzt sozusagen erledigt …« Er trank das Gläschen auf einen Ruck aus. »Ausgezeichnet. Wirklich … Nun, heute komme ich zunächst, um es gleich zu gestehen« – er legte eine Hand glättend auf den Tisch – »in einer geschäftlichen Angelegenheit.«

Die alte Dame verspürte das Aufklopfen ihres Herzens. Was irgend mit Geschäft und Gesetz, Behörde und Steuer zusammenhing, das regte sie allemal stark auf.

»Der Herr Dechant meint gewiß wegen der Einlogierung im Sommer.«

»Nein, gnädiges Fräulein. Das heißt ja, auch das. Wenn unser Geschäft zustande kommt, nämlich. Gerade heraus« – er lehnte sich im Stuhle zurück und begann mit neuem Tonfall – »wären Sie geneigt, Ihr Haus zu verkaufen?«

Fräulein Graff schrak aus dem Studium des Tischläufers auf.

»Das Haus verkaufen?«

»Der Gedanke ist Ihnen noch nie gekommen?«

»Oh schon, Herr Dechant. Ich hab schon Angebote gehabt, nicht lang, daß ich das letzte hab abweisen müssen. Nein, das Haus verkauf ich nicht, Herr Dechant.«

Der Dechant kreuzte behaglich die Beine.

»Nun ja, diesen Bescheid habe ich fürs erste erwartet. Pietät gegen Ihren seligen Herrn Bruder, nicht wahr … Ich begreife das vollkommen. Käufer wäre ich selbst.«

Fräulein Graff versenkte sich wieder in den Tischläufer, als fahndete sie in seinen Revieren nach einem seltenen mikroskopischen Insekt.

»Der Antrag ehrt mich, Herr Dechant. Ich wüßt das Haus dann gewiß in den besten Händen – aber verkäuflich ist es mir nicht. Nein.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nämlich, gnädiges Fräulein – ich nehme Ihre Weigerung natürlich vollinhaltlich zur Kenntnis – nämlich ich hätte Sie zeit Ihres Lebens in Ihrem alten Hause gelassen – ich meine, ich hätte es Ihnen, unter gewissen Einschränkungen, nicht wahr, zu freier Verfügung gestellt … Aber Pardon, ich möchte mich in Ihre Absichten nicht weiter eindrängen. Sie sind ja vielleicht auch testamentarisch gebunden, nicht wahr, ich kann das ja nicht wissen – es sind Ihnen Nacherben gesetzt oder dergleichen …«

Fräulein Graff war rosenrot geworden.

»Oh nein, der Herr Dechant irrt sich. Ich wüßt nicht, wer von unsere Verwandten da der Erbe sein sollt … Aber will der Dechant nicht noch ein Glaserl trinken? Sind doch so klein, die Glaserln … Nämlich, es sind nur ganz weitschichtige Verwandte da, davon ist der eine in Amerika, der braucht's nicht, und der andere ist Geistlicher, was sollt der mit dem Haus anfangen … Nein, also an die Verwandten, an die hab ich gar nicht gedacht.«

Der Dechant nickte gütig.

»So so. Nun, ich habe ja keinen Einblick in diese Verhältnisse. Also vermutlich eine milde Stiftung. Dann muß ich freilich zurücktreten. Dann habe ich gar kein Recht, mein Angebot zu wiederholen. Wollen Sie es als ungeschehen betrachten, gnädiges Fräulein.«

Die alte Dame knitterte die frischgeplättete Läuferspitze unbarmherzig zwischen den Fingern.

»Auch keine milde Stiftung, der Herr Dechant haltet mich für besser als ich bin.«

»Nun, ich will nicht weiter in dieses Geheimnis eindringen …« Der Dechant lächelte. »Sie werden ja selbst am besten wissen, was Sie mit Ihrem Eigentum beginnen wollen, nicht wahr, ja. Nur das möchte ich noch erwähnen: werde ich bei der kommenden Unterkunftsfrage auch auf Ihr Haus rechnen können, gnädiges Fräulein, oder nicht? Sie wissen wohl, die Unterbringung der Pilger bereitet mir schon jetzt ernstliche Schwierigkeiten.«

»Werden denn gar so viele Leut kommen?« fragte Fräulein Graff; »man hört so reden, ja, daß viele kommen sollen, aber was Gewisses erfahrt man ja doch nicht.«

»Ich rechne auf mehrere Tausende,« sagte der Dechant leichthin; »es können zehntausend werden, auch mehr, auch zwanzigtausend, fünfundzwanzigtausend, alles in allem.« Er zuckte die Achseln und schürzte die Brauen über die Brillengläser empor.

»Jesus, Jesus. Zwanzig-, Fünfundzwanzigtausend! Da wird ja gar nichts mehr zu kriegen sein beim Schlögel und bei der Stanzer! Kein Petroleum, keine Eier, kein Kaffee, nichts nicht. Und teuer wird alles werden!«

»Sie sind weitschauend, gnädiges Fräulein. Aber ich glaube, unsere Kaufleute werden sich schon beizeiten mit allem Nötigen reichlich versorgen. Und das ganze große Fest bedeutet ja einen unberechenbaren Gewinn für ganz Sanktrain. Das nur nebenbei. Die meiste Sorge bereitet mir, wie schon gesagt, die Unterkunftsfrage. Ich habe fast in allen Häusern schon Quartier gemacht, unsere Sanktrainer sind ja von rührender Opferwilligkeit und Einsicht. Es lohnt sich ihnen schließlich, nicht wahr, ja. Nun dachte ich, ob ich vielleicht doch auch hier einige Räume verfügbar finden würde. Oder wenigstens ein Kabinett oder dergleichen …?«

Fräulein Graff überlegte.

»Ich könnt mich ja am End ganz einschränken. Ich. Ich brauch ja nichts. Wenn es dem Herrn Dechant darum zu tun ist. Aber ob es dem Herrn Doktor wird recht sein, das ist die Frag.«

»Dem Herrn Doktor? … Ich denke, der Herr Doktor zieht mit Ostern aus? … Natürlich, das weiß ich nur so vom Hörensagen. Also der Herr Doktor bleibt noch über den Sommer hier? So so! … Eigentlich ist mir das recht angenehm. Ob sich so rasch Ersatz gefunden hätte, nicht wahr, und bei dem großen Fremdenzuzug so ganz ohne ärztliche Hilfe …«

»Der Herr Doktor denkt ja überhaupt nicht ans Weggehen!« stellte die alte Dame mit einiger Energie fest.

»Nicht? Ich dachte, nach den Ereignissen der letzten Monate …« Der Dechant hob eine zweifelnde Hand und ließ sie wieder auf die Stuhllehne fallen. »Das waren doch recht peinliche Sachen, nicht wahr, Gerichtsverhandlungen, das empörte Volk und so weiter. Es hat mich wirklich unangenehm berührt, daß er sich seine eigene Stellung so verderben mußte … Tja …« Er seufzte ab.

Fräulein Graff schlug den Blick zur roten Tischdecke nieder.

»Da hat der Herr Dechant recht. Schad ist es, daß das alles gekommen ist. Aber die Leut sind halt auch schlecht. Und wegen der Schlechtigkeit von den Leuten braucht der Herr Doktor doch nicht wegzugehen. Was kann er da dafür?«

Der Dechant spielte mit dem Likörgläschen.

»Freilich, freilich. Es ist eine besonders unglückselige Verkettung von Umständen. Wie gesagt, mir selbst tut es herzlich, herzlich leid. Ich beklage es aufrichtig, daß die Gegensätze sich so bösartig zugespitzt haben.«

»Das wird sich schon wieder abschleifen,« versicherte die alte Dame; »es ist ja schon jetzt nicht mehr so arg wie im Anfang. Die Leut werden auch stuff, vom Schlechten wie vom Guten. In ein paar Monaten, da weiß man bald nichts mehr davon.«

Der Dechant kniff zweifelnd die Lippen und zog die Augenlider hinter der Brille eng zusammen.

»Ich fürchte, gnädiges Fräulein, da sehen Sie zu rosig. Dergleichen vergißt sich nicht leicht. Und dann …« Er tastete nach seinen Rocktaschen. »Tatsächlich, das ist ein Zufall. Ganz zufällig habe ich einige Zeitungsausschnitte bei mir, die sich mit dem häßlichen Falle beschäftigen. Es ärgert mich selbst ja am meisten, daß die Öffentlichkeit mit solcher Gier sich dieser Geschichte bemächtigt hat. Aber das war nicht aufzuhalten. Nun hat dieser kleine Luftzug aus unserem Sanktrainer Winkel einen großen Sturm entfesselt.«

»Ach, die Zeitungen!« schalt Fräulein Graff; »die Zeitungen, die lügen ja was zusammen, nur daß die Leut was zu lesen haben.«

»Ganz recht haben Sie, gnädiges Fräulein,« nickte Hetz; »glauben Sie, ich gebe etwas darauf? Nur daß sie eben Stimmung machen, und daß ihre Macht heutzutage entscheidet. Zum Beispiel hier, das ist so ein übertriebener Wisch: die Christnacht von Sanktrain. Wenn ich das hätte niederschlagen können, ich hätte es getan. Aber gegen die Presse ist man wehrlos.«

Das alte Fräulein vertiefte sich wieder in das Klöppelgeflecht des Läufers.

»Davon versteh ich nichts, Herr Dechant. Ich kann nur sagen, was die Wahrheit ist, daß ich vom Herrn Doktor nie nichts Schlechtes gesehen hab, seit was wir uns kennen. Ein bisserl scharf ist er halt manchmal, mein Gott, aber die Leut machen's ihm auch schwer mit ihrer Bosheit und Dummheit. Der Herr Dechant wissen ja selber, wie die Leut manchmal sind, nichts wie Undank und Lüge, da kommt man nicht auf dagegen, wenn man sich noch so anstrengt. Die Wahrheit, die hat halt immer die schwächere Stimm, weil sie den Wenigsten paßt.«

Der Dechant verbeugte sich in seinem Stuhle.

»Das alles gebe ich zu, gnädiges Fräulein. Aber Tatsachen – Tatsachen können eben nicht aus der Welt geschafft werden, und der Herr Doktor hat sich selbst mit schweren Tatsachen belastet. Darum ist er von der Öffentlichkeit gezüchtigt worden. Ich gebe ja zu, daß vieles auf unglücklichen, sagen wir, Zufällen beruht, gut. Aber er hat von vornherein Stimmung gegen sich selbst gemacht, so daß jetzt hinter allem die böse Absicht gesehen wird.«

»Ja, ja,« seufzte das Fräulein; »hätt er von allem Anfang an mit jedem sich gemein gemacht und süße Worte gegeben, niemand hätt ihm was nachgeredet. Die größten Sünden könnt er begehen, und wär doch alles gut und schön. Zu wenig falsch ist er, zu wenig politisch, ich hab's ihm ja schon immer vorgeworfen.«

»Schade, daß es nicht gewirkt hat. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schmerzlich es mir ist, eine solche Stellung wahren zu müssen.«

Er seufzte schwer und sah bekümmert in das Muster des geblümten Fußteppichs hinab.

»Und wo wir uns obendrein von früher her kennen, der Doktor und ich.«

Fräulein Graff wuchs erstaunt aus ihrem Kanapee heraus.

»Was, die Herren kennen sich von früher?«

Der Dechant spähte unter den geschürzten Stirnfalten hervor nach der förmlich aufzischenden Neugier der alten Dame.

»Er hat es Ihnen nie erzählt? Er hat jedenfalls allen Grund, es zu verschweigen. Und ich hatte die Rücksicht, es zu tun. Lassen wir das lieber.«

Er schob die unerfreuliche Erinnerung mit seiner gepflegten Hand beiseite und versank wieder in starrende Bekümmernis. Nach kurzem Schweigen nahm er das Gespräch an anderer Stelle auf.

»Und alles das in diesem Jahre! Gnädiges Fräulein haben es wohl schon gehört, welchen Umfang unser Festprogramm angenommen hat. Anfänglich war ja nur eine ganz häusliche, schlichte Feier geplant. Und jetzt wird ein Ereignis daraus, das unser Sanktrain geradezu in den Mittelpunkt der katholischen Interessen rückt. Seine Eminenz werden selbst vor der Wallfahrtskirche predigen. Auch andere berühmte Prediger haben ihr Erscheinen bereits angekündigt. So wird unser Sanktrain zu einer Berühmtheit gelangen wie etwa Lourdes oder Loretto. Denn zu alldem kommt noch jenes seltene Gnadenwunder, von dem gnädiges Fräulein gewiß auch schon vernommen haben …« Er dämpfte seine Stimme und brach in halber Höhe ab.

Die alte Dame nickte.

»Ja, natürlich, ich hab davon gehört. Aber was Genaues erfahrt man ja nie von den Leuten, und ich komm halt wenig hinaus, jetzt schon gar.«

»Ich selbst kann allerdings auch noch nichts Abschließendes sagen, gnädiges Fräulein. Ich bin im vorigen Jahre nicht zugegen gewesen, und es ist noch nicht gewiß, da die Erscheinung am kommenden Karfreitag sich wiederholt. Ich werde übrigens auch diesmal aus Gründen der Klugheit – gnädiges Fräulein verstehen? – es mir versagen müssen, aus eigenem Augenschein eine Meinung zu gewinnen. Aber ich kann mich ja auf meine Zeugen verlassen. Also das Mädchen soll sich seit Aschermittwoch wieder in einem Zustande befinden, der bestimmt kein normaler ist … In einem Zustande der Steigerung und Abwesenheit.«

Fräulein Graff beugte sich weit in den Tisch hinein.

»Jesus, Jesus, was der Herr Dechant sagen. So daß sie gar nichts von sich weiß?«

Dechant Hetz hielt den Kopf schräg zur zweifelnden Schulter.

»Es scheint,« sagte er mit einem gepreßten Lächeln; »es scheint. Tatsächlich nimmt das Mädchen kaum Nahrung zu sich. Und an Freitagen verfällt sie in eine Art von Verzückung …«

»Jesus, Jesus. So wie die heilige Kathrina von Siena? Oder die heilige Rosa von Lima?«

Der Dechant verbeugte sich höflich.

»Wie gut Sie bewandert sind, gnädiges Fräulein! Ja, also, um darauf zurückzukommen: so etwas wie eine Heilige aus alter Zeit scheint dieses Mädchen aus dem Volke tatsächlich zu sein. Natürlich, ich bin sehr zurückhaltend in dieser Hinsicht. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«

»Der Herr Dechant meint, es könnt ein Betrug sein, nicht, wie das schon öfters vorgekommen ist? Daß sie sich so was herrichtet? Vor ein paar Jahren, ist da nicht so etwas gewesen? Da haben ein paar Weiber so etwas gemacht, Blut geschwitzt hat die eine, bis daß man ihnen draufgekommen ist, und sogar die geistlichen Herren sind ihnen aufgesessen.«

»Ja, ja, ich erinnere mich. Das war ein bedauerlicher Fall. Betrüger und Taschenspieler gibt es überall. Aber das ist hier ausgeschlossen. Ganz ausgeschlossen! Denken Sie nur, ein armes ungebildetes Mädchen! Und die Mutter eine einfache, fromme Frau! Also das ist ganz ausgeschlossen. Wo sollten die dergleichen lernen? Aber um etwas wie eine Krankheit, sagen wir einen besonderen Fall von Hysterie oder Starrsucht oder Epilepsie, ich kenne mich da nicht besonders aus – um etwas Ähnliches könnte es sich unter Umständen wohl handeln. Jedenfalls stehen wir hier vor einem Rätsel. Sie soll schweben, bitte, schweben, und das vermag kein Mensch aus eigener Kraft.«

»Jesus, Jesus, daß so etwas überhaupt möglich ist! So mit ausgebreiteten Händen? Daß so etwas heutigentags noch möglich ist!«

»Ja, nicht wahr? In der eigenen Gegenwart sieht sich solch ein Wunder noch ganz anders an als in der Legende. Doch eine Bitte, gnädiges Fräulein. Es wäre mir lieb, wenn Sie diese Sache mit äußerster Zartheit behandeln wollten. Im meine, dem Herrn Doktor gegenüber.«

»Aber mit dem sprech ich doch gar nie über so was.«

»Das ist auch besser. Handelt es sich um eine Krankheit, dann mag der Fall für den Herrn Doktor ja Interesse haben, nicht wahr. Kein denkender Mensch könnte gleichgültig daran vorübergehen. Aber die Voreingenommenheit dieses Herrn könnte seine Urteilskraft und am Ende auch seine Handlungsweise trüben. Darum rate ich ihm dringend, an diese Dinge, die dem Volke heilig sind, weder im Wort noch in der Tat zu rühren. Wenn er schon hier bleiben und sich wieder eine Stellung schaffen will! Das Volk versteht in derlei Fragen keinen Spaß, besonders da es doch schon aufs schwerste gereizt ist. Schon um Ihretwillen, gnädiges Fräulein, fühle ich mich verpflichtet, diese wohlgemeinte Warnung mit allem Nachdruck auszusprechen.«

»Vor mir hat er ja noch nie darüber geredet,« sagte die alte Dame; »ich glaub nicht, daß er sich dadrum bekümmern wird. Wo ihm so schon bald alles gleich geworden ist durch die Schlechtigkeit von den Leuten. Wo sie noch falsch schwören und aussagen gegen ihn. Für die Wahrheit gibt's keinen Weg daherein, das hat er schon immer gesagt, der Herr Doktor. Wenn die Leut durch das Wunder doch sehen möchten, daß es noch einen Gott gibt auf der Welt.«

Der Dechant erhob sich.

»Ja, gnädiges Fräulein, das sage ich auch. Aber nun muß ich mich leider verabschieden. Sie ahnen gar nicht, wie viel es zu tun gibt, Vorbereitungen, Korrespondenzen, nebenher die laufenden Amtspflichten. Aber es gilt schließlich unserem Sanktrain, nicht wahr, und solchen Anlaß gibt es nicht alle Tage. Das Tausendjahrfest und das Wunder der heiligen Wundenmale, das wäre ein schönes, seltenes Zusammentreffen … Nun, es freut mich, Sie bei beruhigender Gesundheit angetroffen zu haben, gnädiges Fräulein … Wie gesagt, es tut mir selbst bitter leid, durch diese ärgerlichen Verhältnisse um einen anregenden Verkehr gebracht worden zu sein. Erst neulich habe ich es Frau Falzinger gesagt, wie sehr ich es bedaure, ein mir so wertes und altvertrautes Haus aus solchen Ursachen meiden zu müssen … Nun, vielleicht wird da doch eine Änderung zum Besseren eintreten …«

Das Fräulein stand hinter ihrem Tische.

»Aber will der Herr Dechant wirklich schon gehen … Vielleicht doch noch einen Kaffee, jetzt, wo so schon Jausenzeit ist, ganz geschwind, einen ganz, ganz frischen Kaffee … Und da könnt mir der Herr Dechant noch ein bisserl erzählen, wär ein gutes Werk, wo ich so wenig hinauskomm und gar nichts hör, was in der Welt geschieht, und in den Zeitungen immer nur dieses Marokko und die Modernisten, da versteh ich gar nichts davon, interessiert mich auch nicht …«

Der Dechant ergriff herzlich die rundgepolsterte Hand der alten Dame.

»Das nächste Mal, gnädiges Fräulein, das nächste Mal. Da werde ich Ihnen auch mehr berichten können, nicht wahr, ja. Ich habe mich ohnehin schon weit über Absicht und Gebühr verweilt. Was, schon so spät? Da muß ich eilen. Die paar Zeitungen lasse ich Ihnen hier, manches dürfte Sie interessieren, Sie erfahren daraus mehr, als ich erzählen könnte. Bei Gelegenheit hole ich sie ab. Und nun, falls ich bishin nicht wieder das Vergnügen haben sollte – gesegnete, schöne Feiertage, gnädiges Fräulein. Wirklich froh, Sie bei so rüstigem Befinden angetroffen zu haben. Das heißt Frische und Widerstandskraft! … Das Geheimnis möchte ich Ihnen ablauschen! … Ja, und jetzt Gott befohlen, und nochmals recht, recht gesegnete Ostern!«


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