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I.

Benedikt hob den Kopf aus den Kissen. Der Winter mußte über Nacht krank geworden sein. Die kleinen Meisen im Parke draußen sangen das feine Taulied, das süße, kindereinfältige, beseligende Mittagslied, wie sie es nur einmal des Jahres singen, das nur einmal des Jahres tröstlich wie ein Psalm in die erwachende Seele hineinleuchtet: wenn der Schnee von der Wurzeln der erwarmenden Bäume zurückweicht und die Bäume selbst zum ersten Male schwarz und ahnungsvoll in der weißen Landschaft stehen und der goldene Strahl aus heißer Schmelzbläue sticht und im Geäst ein violbrauner Duft erwacht und der Schnee über den unruhigen Tiefen ganz hohl wird, narbig und voll alter Blattern.

Das hohe Fenster fällte sein Schattenkreuz über den blanken Fußboden. Man sah der Sonne die Mütterlichkeit des nahen Frühlings an. Der blaue Stäubchentanz in der Lichtbahn: und wie man sich auch mühte, nicht eines der geheimen Flimmerwesen war im Raume zu erspähen. Und dann trug es der Zufall oder irgendein Gesetz in den leuchtenden Strom hinein, und es wurde lebendig und schwärmte mit Millionen anderer hindurch und verschwand. Wo hatte er das zum letzten Male gesehen? … In der Stube des Geisterer. Und was hatte damals der Geisterer gesagt? Nein, er wollte nicht nachdenken; dazu fühlte er sich noch zu schwach. Es war so wohlig, dazuliegen, zu schauen, zu warten und nicht zu denken … Dort, der schöne alte Schrank mit dem reichgefladerten Furnier: wie oft hatte er, Benedikt, die seltsamen Gestalten und Fratzen der Maserung studiert, was hatte er nicht alles gesehen in dieser Welt, Antlitze, Gespenster, Wolken und Märchen! … Und nun erstand das alles mit einem Male, eine ganze Zeit, eine versunkene Tiefe, verhallte Worte, Töne, Stimmen, Gebete, Verheißungen, Vorsätze … Es war wie eine Heimkehr; es war ein Geschenk; es war Genesung.

Benedikt ließ den Kopf wieder in die Polster sinken. Er war doch noch recht schwach. Mit blassen Fingern spielte er auf der Decke irgendeine innere Musik. Ach nein, das Taulied der Meisen, das feine, dankbare Kinderlied, das war ja doch viel schöner. Ob sie in Unzing wohl auch schon sangen? … Ob Kathrein schon wieder im Garten sich umtat? … Und Marianne? … Und Verena? … Und Doktor Wendt? … Und Peregrin Kranich? … Peregrin Kranich, der war ja doch schon längst tot! … Was hatte er alles vergessen in diesen Wochen? … Ach, nicht denken! … Nur warten, warten, geschehen, der Sonne zusehen und den Stäubchen, und den Meisen lauschen …

Eine zarte Hand rührte an der Türe. Benedikt hatte den Bischof gar nicht kommen gehört.

»Bleiben Sie mir ganz ruhig, Benediktule. Wenn Sie nicht brav sind, gehe ich gleich wieder.« Er ließ sich in den breiten Armstuhl zu Seiten des Bettes sinken und lehnte den abgegriffenen Stock mit der Kautschukzwinge sachte neben sich. Der Ring an seiner schmalen Hand blitzte in der Sonne.

»Nun, heute sieht man ja auch schon besser aus. Viel besser. Und hat man Appetit gehabt? Ja? Das ist schön. Nicht wahr, die liebe Sonne. Das ist einmal ein zeitiger Frühling in diesem Jahre. Aber wir wollen uns nicht zu früh freuen. Am Ende kommt das Schlimmste noch nach, und die zarten Triebe erfrieren. Ich habe immer eine geheime Angst vor blühenden Wintern. Das soll nicht sein; die Natur braucht Ordnung. Die Erde muß sich gesundfrieren. Sehen Sie, Benediktule, ich glaube immer, so war es auch mit Ihnen. Diese böse Krankheit, die ist schon seit langem in Ihnen umgegangen, die mußte hinaus. Nun ist es ja überstanden. Aber schöne Sorgen haben Sie uns gemacht, Benediktule, schöne Sorgen. Denken Sie, unser guter Doktor Menzel, der hat schon einen umfänglichen Bericht über Sie vorbereitet, um in Rom Ihre Seligsprechung zu erwirken. Sie kennen ihn ja, unseren Protonotarius – wo die Disziplin aufhört, da fängt bei ihm der Witz an. Wirklich, Benedikt, Sie waren übel daran. Wissen Sie, wann Sie hier eingetroffen sind? Am Abend des Weihnachtsfestes. Und wissen Sie, was heute ist? Sankta Agatha. Aber jetzt geht es ja wieder aufwärts.«

»Wenn es nur wieder schon so weit wäre,« klagte Benedikt; »ich versäume so viel, der Herr Pfarrer ist in der schwersten Zeit ohne Hilfe. Ich glaube, in acht oder zehn Tagen könnte ich wieder nach Unzing reisen.«

Der Bischof beugte sich vor und klopfte beschwichtigend die bleiche Hand des Genesenden. »Von Unzing wollen wir vorderhand noch gar nicht sprechen, mein Lieber. Unzing ist noch weit, sehr weit.«

»Aber ich möchte doch bald wieder dort sein.«

»Haben Sie es denn lieb gewonnen, dieses Unzing?«

Siebenschein starrte seine verschränkten Hände an.

»Jetzt, da ich fort bin, weiß ich es. Früher – da war ich manchmal recht undankbar.«

Der Bischof erhob sich aus dem Lehnstuhle und trat ins Licht des hohen Fensters.

»Wie es von den Dächern tropft, wie die kleinen Vögel singen! Solvitur acris hiems grata vice veris ac favoni. Da möchte man noch einmal jung sein, wie Sie. Sie könnten morgen ein bißchen in der schönen Sonne sitzen, hier am Fenster – das heißt, wenn der Doktor es erlaubt … Ja, was ich Ihnen sagen wollte, Benediktule, Sie erhalten heute noch Besuch. Nein, ich verrate nichts. Eine kleine Überraschung, die Sie schon ertragen können.«

»Aus Unzing?« fragte Benedikt rasch.

»Unzing, immer wieder Unzing. Mir scheint gar, dieses Unzing ist Ihnen lieber als unsere Residenz und Ihre Heimat. Ich bin ganz eifersüchtig geworden auf dieses Unzing, Benediktule. Ja, in diesem Sommer komme ich wohl bestimmt hin. Sie feiern ja in diesem Jahre das große Tausendjahrfest des Sanktrainer Heiligen. Es wird eine sehr große, schöne Veranstaltung werden. Da darf ich nicht fehlen. Erzählen Sie einmal: haben Sie fleißig Musik getrieben in Ihrer Einsamkeit?«

»Mitunter,« gestand Benedikt; »mitunter, ja. Aber dann ist wieder viel dazwischen gekommen. Das heißt – ich meine, der Herr Pfarrer hat es wohl nicht sehr gerne, und da –«

Der Bischof wehrte lächelnd ab. »Ich verstehe schon, Benedikt. Ja, sehen Sie, der Anfang ist immer hart. Wenn es nach mir ginge, ich hätte das ganze Bistum voll wirklich gebildeter, hochkultivierter Priester. Denn sehen Sie, Priestertum und Humanität, Humanität in irgendeiner Form, das ist für mich unzertrennlich. Aber die Praxis sieht anders aus. Und schließlich, das Volk braucht seinesgleichen. Obschon gerade – –« Er unterbrach sich. »Aber das sind keine Krankengespräche. Lassen Sie Unzing und alles das draußen, Benediktule. Ihre Pflicht ist es jetzt, ganz still zu liegen und den lieben Gott für Sie sorgen zu lassen. Ich muß jetzt gehen, wir haben noch am Hirtenbrief zu schreiben. Es gibt viel Sorgen in diesen letzten Monaten. Sie werden ja gehört haben. Überall Unruhe, überall Reizungen. Wir werden ja auch das noch überstehen, wie schon so vieles. Nur gegen den inneren Feind gibt es keine Waffe. Oboedire perinde ac si cadaver esses – blind und taub sein und sich verleugnen, das ist alles, was man tun kann. Sonst lockert sich das Ganze.« Der alte Herr fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Gute Besserung, Benedikt. Und machen Sie nur so weiter, dann fahren wir bald wieder einmal nach unserem Parke hinaus.«

Siebenschein blieb allein.

Oboedire perinde ac si cadaver esses: wie ein Leichnam sollst du gehorchen, willenlos, seelenlos, erstorben und verloschen bis ins Innerste hinein … Hatte ihm nicht der Protonotarius genau das Nämliche gesagt, damals, als er vor seinen Gönner geführt zu werden begehrte, sich zu rechtfertigen – hatte ihm der Protonotarius nicht dasselbe gesagt?

Er erinnerte sich. Es war alles in seinem Gedächtnisse haften geblieben, wie jedes Geschehnis, das unter hoher Spannung sich ereignet. Er erinnerte sich, und das würde er gewiß niemals vergessen.

Der Brief seines fürstlichen Gönners, den er am Morgen des Weihnachtsfestes empfangen: ein langer, gütiger Brief voll treuer Mahnungen und liebreicher, darum so tiefer verletzender Warnung. Zu seinem Schmerze habe er, der Bischof, vernehmen müssen, daß Benedikt in der Wahl seines Verkehres nicht immer die notwendige Vorsicht walten lasse. Er wolle ihm gewiß keinen Vorwurf daraus machen, denn er selbst wisse nur zu genau, daß es oft nichts anderes als zu große Herzensgüte sei, die zu solchen Fehlern führe … Nichtsdestoweniger aber bitte er ihn, auf die Bedürfnisse der Kirche und auf die Würde seines Standes jede Rücksicht zu nehmen. Der Umgang mit kirchenfeindlichen Elementen werde ja ihm, Benedikt, gewiß keinen Schaden an der Seele zufügen, dessen halte er sich für versichert – aber es werde auf solche Weise Ärgernis und schlimmes Beispiel gegeben, und das sei unter jeder Bedingung zu vermeiden. Der Priester, der sich mit einem anerkannten Feinde des Glaubens freundschaftlich einlasse, beraube sich selbst der notwendigen Autorität, während er jenem anderen zu einer Art Legitimation verhelfe … Das möge Benedikt freundlich berücksichtigen, nicht als Verbot noch als Befehl, sondern als wohlmeinenden Rat … Und zum bevorstehenden Feste wünsche er ihm das Allerbeste, in der Hoffnung auf ein nicht allzufernes Wiedersehen …

Benedikt, der sich an diesem Morgen nur mehr mit Mühe aufrecht hielt, war dieses Schreiben wie ein zerreißender Strahl durch die Seele gefahren. Und trotz Schwindel und pochenden Kopfschmerzen faßte er sogleich den Entschluß zu persönlicher Rechtfertigung. Der Fürst mußte ihn selbst hören; er würde ihm alles erzählen, alles, bis auf das eine. Bis auf dasjenige, was unter dem schweren Siegel der Pflicht lag und niemals aus seiner Gruft erweckt werden durfte. Aber was immer er vom Doktor wußte, wollte er seinem Gönner mitteilen; mochte dieser dann selbst urteilen, nachdem er die reine Wahrheit vernommen. Die reine Wahrheit, ja – hier war todsündlich schwer verleumdet und entstellt worden … Mit Mühe brachte Benedikt sein Ansuchen dem Pfarrer vor.

»Ist eigentlich nicht üblich, solch plötzlicher Urlaub, ist nicht üblich,« zweifelte Permoser; »und gerade jetzt, in der anstrengendsten Zeit. Ist nicht üblich, ist eigentlich gegen meine Grundsätze. Könnte vielleicht aufgeschoben oder schriftlich erledigt werden, jawohl, im schriftlichen Wege.«

»Das ist unmöglich,« bestand Benedikt mit heiserer Stimme; »schriftliche Erledigung ist da ganz ausgeschlossen, und ebenso jeder Aufschub.«

»Ist eigentlich nur in sehr dringenden Fällen zulässig, solch ein Urlaub,« erwog der Pfarrer; »nur in den allerdringendsten Fällen, jawohl, in Todes- und Erbschaftsfällen.«

»Es handelt sich um keines von beiden,« beharrte Benedikt; »es sind private Angelegenheiten, für mich von höchster Wichtigkeit. Und außerdem möchte ich in der Stadt einen tüchtigen Arzt zu Rate ziehen.«

Der Pfarrer überlegte eine beträchtliche Weile. » Concedo,« sagte er dann übellaunig, »wegen des Arztes. Wäre gut für Sie. Haben wahrscheinlich die Tuberkulose. Wäre gut für Sie. Sehen ganz so aus wie ein Lungensüchtiger. Concedo. Das kommt, weil Sie zu viel bei den Büchern sitzen, bei den Büchern, jawohl.«

So hatte Benedikt seinen Paß. Wie er die Schlittenfahrt nach dem Bahnhofe und dann die mehrstündige Bahnfahrt überstehen würde, daran dachte er gar nicht. Als er aber dann im schlecht erwärmten Abteil saß und die Drähte und Stangen und die weißen Flächen und Qualmschwaden an den Fenstern vorüberschwindelten, da wurde ihm wieder so kläglich, daß er die Lider schließen und in fröstelndem Halbschlummer das Ende der Reise abwarten mußte. Dann und wann schlug er die Augen auf. Ferne im dämmernden Schneegelände zogen weihnachtsheimliche Dörfer vorbei, überragt von grauen und gelben Kirchtürmen. Das große Netz der Menschenfischer, in dessen Garnen er ein winziges, nebensächliches Fädlein war, ein Haar, eine Faser, nichts weiter! … Namen taumelten in irren Fluchten durch seine fiebernden Gedanken. Paschalis – Chrysostomus Menzel – Nestorius – Doktor Werner Wendt – die Vulgata – Pater Sebaldus Weinzierl – Sankta Regula – Ikonoklasten – – und alles verwob sich endlich zu einer fast wohligen, lähmenden Wirrnis.

Der Protonotarius war es, dem er zuerst sein Anliegen vortrug.

»So. Und nur deshalb sind Sie gekommen? Ich habe es Ihnen immer schon gesagt, peramate, hab ich's Ihnen nicht gesagt, daß für Sie die Mönchsdisziplin das Richtige ist? Keine Gefahren, friedliche Regelmäßigkeit, jeder in seinem Berufe. Wenn schon ein freundschaftlicher Brief des Alten – Seiner Eminenz – Ihnen solche Anlässe gibt, wie erst ein strikter Befehl oder ein unbedingtes Verbot? Ich kann Ihnen nur sagen, perdilecte, da gibt es nichts. Zucht muß sein. Gehorchen, sich fügen, sich aufgeben, mit allem, was man hat und was man will und was man möchte, das ist das Erste! Gehorchen, gehorchen, gehorchen. Und wenn man tausend Gründe dagegen weiß. Oboedire, perinde ac si cadaver esses. So heißt es in der Regel des heiligen Ignatius. Und dieser Heilige war ein Menschenkenner, ein Genie. Ein Genie der Disziplin. Disziplin vor allem! Wir leben in einer Zeit, die uns die Disziplin doppelt zur Pflicht macht. Disziplin und Stil, Stil und Disziplin. Was man tut und was man sagt, das muß seinen sorgfältigen abgewogenen Stil haben. Mit gutem Stil kann man viel tun und alles sagen. Aber im übrigen Disziplin.«

»Ich will ja nicht widersprechen,« verteidigte sich Benedikt; »ich will mich nur rechtfertigen und aufklären.«

»Still. Aufklärungen brauchen wir nicht. Was wir wissen wollen, das wissen wir. Wir brauchen auch keine Rechtfertigung. Wir wollen nichts anderes als unbedingten Gehorsam. Und wenn Ihnen Ihr Vorgesetzter sagt, Sie haben den Pelikan auf dem Tabernakel oder den Hahn auf dem Kirchturme anzubeten, so haben Sie es zu tun. Und wenn Ihnen ein Vorgesetzter befiehlt, einen Altar niederzureißen, so haben Sie es zu tun. Und wenn zum Beispiel Jesus Christus leibhaft wiederkäme, und Ihr Vorgesetzter findet den Umgang mit ihm bedenklich, so haben Sie zu gehorchen und diesen Verkehr abzubrechen. Die Verantwortung trifft ja nicht Sie, sondern uns. Wir aber wissen, was wir zu tun haben.«

Der Protonotar stand erregt vor Benedikt. Mit seinen Knöcheln hämmerte er jeden der scharf und stahlklar gesprochenen Sätze in einen schweren Folianten, der gerade vor ihm auf dem Tische lag. Seine Augen blitzten. Seine Stimme klang eisern.

»Sehen Sie sich doch einmal die Herren von der sogenannten evangelischen Freiheit an. Evangelische Freiheit, das ist ja ganz schön und klingt sehr bestechend – aber wo ist da Zusammenhalt, wo ist da Zucht? Da gibt es weder Disziplin noch Stil. Und was ist die Folge? Sie alle zusammen haben weder eine Kirche noch einen Gott noch einen Christus. Der ganze Protestantismus ist heute ein Religionsmarkt voll wüster Glaubensreklamen. Jede Sekte bietet einen anderen Christus und einen anderen Herrgott an. Das bißchen Geschrei nationaler Heißsporne, die da Glaube und Volkstum verwechseln, das wird uns nicht heiß machen. Das ist Kinderei, das ist Spielerei. Der Protestantismus, das sage ich Ihnen heute, der Protestantismus verwest in sich selbst, wie jedes Gebilde, das nicht von Zucht und Kraft zusammengehalten wird.«

Der Protonotarius schöpfte Atem; auf seiner Stirne kreuzten sich die Blitze eines inneren Gewitters.

»Denken dürfen Sie, was Sie wollen, mein Lieber. Das machen Sie mit dem lieben Gott ab. Wir können in Ihre Gedanken nicht hineinsehn, und wir sind nicht so töricht, unkontrollierbare Verbote aufzustellen. Diesen einen Weg lassen wir den Unsrigen frei. Wir wissen, daß es notwendig ist. Gegen stille Gedanken ist die römisch-katholische Kirche allezeit sehr liberal gewesen. Den Vorwurf protestantischer Aufdringlichkeit kann man uns nicht machen. Über Gedanken wird vor anderen Gerichtshöfen entschieden. Aber gegen Wort und Tat müssen wir mit nachsichtsloser Strenge vorgehen, von Seiner Heiligkeit herunter bis zum Dechanten. Worte klingen weiter, Taten handeln weiter, und dieser Gefahr beugen wir vor. Denken Sie immer, was mit Ihrem Gewissen vereinbar ist. Gedanken sind unsichtbar. Wir aber weiden und hüten die sichtbare Herde. Und in Sachen des Wortes wie der Tat werden Sie sich uns fügen, was immer wir Ihnen befehlen oder verbieten. Und was sich uns nicht fügt, das beugen wir, und was sich nicht biegt, das wird gebrochen.«

Der Protonotarius schlug auf den ledergepanzerten Kodex, daß eine dichte Staubwolke aufschwärmte. Mit kurzer, scharfer Gebärde wies er dem todmüden Benedikt einen Stuhl an.

»Setzen Sie sich.« Er selbst nahm im gebieterischen Armsessel am Kopfe des Tisches Platz. Seine brennend klaren Augen ließen nicht von Siebenscheins Stirne ab. »Seine Eminenz hat Ihnen in einem Schreiben bedeutet, daß Ihr Verkehr mit jenem Herrn uns unerwünscht sei und mit unseren Absichten sich nicht vereinen lasse.«

Benedikt versuchte einen schwachen Einwand. Sein Kopf flammte in hohem Fieber.

»Von einem wirklichen Verkehr kann da doch gar nicht –«

Der Protonotarius schnitt mit strenger Handbewegung ab.

»Keinen Widerspruch, bitte. Es ist Seiner Eminenz zu Wissen gekommen, daß Sie das Haus jenes Herrn wiederholt besuchten, ja eine ganze Nacht dort verbrachten. Bitte, behalten Sie Ihre Gegenrede vorläufig für sich. Wir wollen Ihnen gegenüber unseren Standpunkt präzisieren, nicht weil wir es für notwendig halten, sondern damit Sie verstehen, um was es sich uns handelt. Wir wollen Ihnen den Gehorsam erleichtern. Sie haben mit dem genannten Herrn auch sonst gelegentlich Zusammenkünfte gehabt. Ja oder Nein?«

»Aber doch ganz harmlose,« sagte Benedikt mit sinkender Kraft; »nur ganz zufällige, in Gesellschaft anderer.«

»Gleichviel. Sie haben die Berührung mit diesem Herrn nicht vermieden, obwohl Sie über ihn unterrichtet waren und auch vor ihm ausdrücklich gewarnt worden sind. Ja oder Nein?«

»So hat also Herr Dechant Hetz …«

»Ja oder Nein?«

»Ja – aber das alles beruht doch –«

»Bitte, jetzt rede ich. Sie sind gewarnt worden. Auf die einfachen Tatsachen kommt es an. Und die Tatsachen sind die. Jener Herr wäre uns herzlich gleichgültig, hätte er es sich nicht zur Aufgabe gemacht, das Ansehen der Kirche auf alle Weise zu untergraben. Das Ansehen der Kirche, verstehen Sie. Er hat sich an unseren Machtmitteln vergriffen. Die Glaubenslosen unter sich mögen reden, was sie wollen, die gehen uns nichts an. Und Sie dürfen von uns aus mit den schlimmsten Ketzern und wildesten Atheisten verkehren, wenn es nur stille Leute sind. Dieser Mann aber wendet sich an das Volk, und deshalb dürfen Sie, der Volkspriester, ihm keinen Kredit verschaffen. Oder meinen Sie ihn vielleicht zu bekehren? Daran glauben Sie doch selbst nicht im Ernste.«

»Ich dachte allerdings daran.«

»Mein Lieber, das sind Schwärmereien. Das Proselytenmachen, das überlassen Sie ruhig den Herren von der evangelischen Freiheit. Halten Sie die Herde in Ordnung und sehen Sie, daß kein Wolf einbricht und stellen Sie nicht ausgerechnet den Wolf zum Schäferhunde an. Das ist alles, was wir von Ihnen verlangen. Wir sind ein Staat, merken Sie sich das. Der Staatsbegriff, das ist das Ideal; der Staat, das ist der Stil der Kraft und Macht. Vom Staatsbegriffe hat modernes Priestertum auszugehen. Und wir sind ein Staat, der beständig in aufgezwungenem Kriegszustande lebt. Daher gilt das Kriegsrecht, das Standrecht. Wer den Angehörigen feindlicher Mächte Unterstützung gewährt und unser eigenes Heer gefährdet, der ist ein Hochverräter.«

»Der Doktor meint es nicht so,« verteidigte Benedikt; »er ist vielleicht heftig, er meint vom Standpunkte des Arztes gegen gewisse Auswüchse des Aberglaubens einschreiten zu sollen, aber alldem stehen doch seine guten Werke gegenüber.«

Der Protonotarius verneinte mit dem Zeigefinger.

»Gute Werke hin oder her. An den Glauben des Volkes darf in solcher Weise nicht gerührt werden. Wenn es der Herr so gut meint, weshalb hat er sich nicht von vornherein mit dem örtlichen Klerus in Fühlung zu setzen versucht? Weshalb wendet er sich unmittelbar an die Landbevölkerung? Sie sind kein Politiker, peramate, ich habe Ihnen das schon immer gesagt. Sehen Sie denn nicht, welche Zwecke dieser Herr verfolgt? Welchen Willens und Sinnes seine guten Werke sind? Und Sie gehen hin und machen vor allen Leuten offene Gemeinschaft mit diesem Menschen! Lassen sich mit ihm des Langen und Breiten ein und billigen so vor dem ganzen Volke seine Wühlarbeit! Helfen so mit untergraben! Legitimieren diesen Feind durch Ihre Gesellschaft! Werden ausdrücklich gewarnt und setzen den unliebsamen Umgang trotzdem fort! Werden liebevoll ermahnt, und kommen mit einem heißen, roten Kopfe hierher und wollen uns eine unverlangte Rechtfertigung aufdrängen! … Sie werden den Verkehr mit diesem Manne aufgeben, mein Lieber, oder wir werden Sie aufgeben. Und wenn der Mann Jesus Christus in Person wäre, ich wiederhole es Ihnen, und wir verbieten Ihnen den Umgang mit ihm, so haben Sie blind zu gehorchen. Wort und Tat stehen unter der Disziplin, und wäre das nicht, wohin wären wir gekommen in diesen Zeiten? Nur Gemeinschaften von eiserner Zucht sind dauernd und lebensfähig, merken Sie sich das. Und wer einer solchen Gemeinschaft dienen will, der hat alle seine Wünsche und Ansichten für sich zu behalten, mit Wort und Tat aber für das große Hauptziel sich einzusetzen. Entweder – oder. Tertium non datur. Die eigene Meinung können wir Ihnen nicht verbieten, aber Sie haben sie zu unterdrücken und die unserige auszuführen.«

Benedikt senkte den glühenden Kopf.

»Ich hatte ja nicht die Absicht, ungehorsam oder undankbar zu sein. Ich hoffte auf meine Weise der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen. Wäre nur Doktor Wendt hier, er würde sich zu rechtfertigen wissen. Er ist verleumdet worden.«

»Seine Rechtfertigung verlangen wir nicht. Wir würden ihn gewiß sehr höflich anhören, im übrigen aber auf unserem Standpunkte verharren. Es gibt da nur einen Standpunkt. Wer nicht mit uns ist, der ist wider uns. Und gerade den Unterbau in den tieferen Schichten dürfen wir unter keinen Umständen erschüttern lassen. Da gibt es keine Verleumdungen. Um den Lebenswandel dieses Herrn kümmern wir uns ja gar nicht. Der ist uns höchst gleichgültig. Aber als Arzt hat er Zugänge in die Tiefen des Volkes, und Sie selbst wissen ja, worauf der Glaube des Volkes vornehmlich beruht. Also! … Wie gesagt, Sie dürfen unsertwegen mit Ketzern und Antibaptisten und Hussiten verkehren, wenn es stille Leute sind. Aber nicht mit einem solchen Manne, den Sie durch Ihren Umgang gewissermaßen anerkennen und dem Sie damit Kredit verschaffen.«

Alles Weitere hatte Siebenschein nur noch durch einen wallenden Nebel hindurch vernommen.

»Und warum ich Ihnen das sage? Weil Seine Eminenz viel zu sanft ist, es Ihnen mit voller Schärfe zu sagen. Weil Seine Eminenz schon über die kleinen Notwendigkeiten des politischen Alltags hinaus ist. Verstehen Sie mich. Für jetzt genug. Sie sind wohl recht müde?«

Hier hatte sich Benedikt mit letzten Kräften zusammengerafft. Heiße Schauer und glühende Fröste schüttelten ihn, sein Kopf schmiedete, jedes Wort dröhnte ungeheuer wider.

»Nicht müde. Aber – ich bin vielleicht nicht ganz wohl. Vielleicht könnte ich …«

Da stand schon der Protonotarius neben ihm.

»Wahrhaftig!« Es klang irgendwo hoch im Raume. »Der

[Hier fehlt – zumindest – eine Zeile im Originaltext, statt ihrer wurde die vorhergehende wiederholt. joe_ebc für Gutenberg]

An dieser Stelle verlosch alles Erinnern. Nur noch ein matter Widerschein des Erkennens, als er in seine vertraute Stube am Ende des hallenden Flurs gebracht wurde. Dann viele, viele, unendlich ferne Stimmen … Überflackerte Gesichter, die aus der Finsternis über ihn sich herniedersenkten … Jagende Fröste. Ewige Nächte, ungezählte … Böse Traumfratzen in der Tapete, in der Holzmaser des alten Schrankes, in den Schattenblasen der Fenster … Dann und wann ein kühles Glas, das aus dem Abgrund an seine Lippen heranschwebte … Hie und da eine kühlende Hand auf seiner Stirne … Einmal das Aufblitzen eines Ringes mit fliederfarbnem Stein daran … Das Wort: Doktor … Da hatte er die Augen mit Anstrengung geöffnet … Aber es war ein anderer, es war ein kleiner, freundlicher, sauberer Mann mit großem Hornzwicker und glänzendschwarzem, sorgfältig gescheiteltem Haar. Die Erscheinung verschwand. Dann wieder eine Stimme: »Na, wie geht's denn, wie geht's denn? … Nur schön ruhig bleiben, so, so, nur nicht zu viel nachdenken, das ist überhaupt schädlich …« Eine vorsichtige Hand tastete unter seine Achsel. »Neununddreißig drei, gestern war's ja noch vierzig eins, na also, na also … Nur schön weiter Umschläge und viel schlafen …« Und dann, auf einmal, ein Morgen, an dem alles neu war, die Sonne, die Menschen, das Leben!

* * *

Benedikts Erinnern wurde unterbrochen. Ein bekanntes Räuspern und Schnauben vor der Türe, ein Laut, der irgendwie an ein ungeheures Schnupftuch gemahnte – und gleich darauf trat Wunibald Kern in die Krankenstube.

»Ja, kleiner Hochwürden! Ja, was ist denn das für eine Aufführung! … Was sein denn das für G'schichten! … Also, Sie sein mir der Rechte … Da hört man, ein lieber alter Freund is kommen, man bereit' sich, man zieht sein bestes G'wand an, man stellt ein Flascherl aufs Eis, man hat eine rechte Freud … Wieder einmal ein bisserl Musik, bin doch neugierig, ob der net alles verschwitzt hat in sei'm Unzing, ob der noch was weiß von ei'm Vorhalt und einer anständigen Modulation … Net so, wie sie's jetzt machen, die Modernen, so modulieren kann ein jeds Hendel und jede Katz, wann's auf die Tasten umanandkrailt … Man wart' und wart', die Leut wackeln mit dem Kopf, ujeh, schon nix Guts, der hat sicher was ang'stellt, der muß am End von Unzing gar zu die Papuas, wo die Leut noch Eier legen … Man will einer – nix da, heißt's, Sie, bleibens draußen, das könnt den Herrn Patienten aufregen, und überhaupt, mit der Musik, da hat's jetzt ein End, der hört schon die Engerln singen mit einundvierzig Grad Fieber, und den König David auf seiner alten Hosiannaklampfen, und die Sankta Cäcilia, und den Schubert, wie der in der großen Domkirchen zum heiligen Geist seine deutsche Meß dirigiert, und der liebe Gott, der liest selber das Hochamt, und der Herr Jesus, der predigt … Bleibens nur draußen mit Ihnerer weltlichen Musik, das is nix für einen, der schon halbet in Himmel hineinlost … Also sehens, so bin ich behandelt worden wegen Ihnen, Herr von Siebenschein, und jetzt sagens, hab ich net recht g'habt damals, wie ich g'sagt hab, das Unzing paßt net für Ihnen? Ausschauen tuns wie eine Sechzehntelpausen, so armselig.«

Benedikt lachte. So wohltätig und aufhellend war er schon seit langem nicht erschüttert worden.

»Der Herr Abt und Pater Hucbald lassen herzlichst grüßen,« bestellte Benedikt.

»Gehens. Also Sie waren dorten. Da habens g'spitzt, geltens?«

»Großartig. Ich habe immer an Sie denken müssen. Aber nicht nur damals.«

Der Alte zog das unendliche Schnupftuch aus der Schoßtasche hervor.

»Gehens. Schauens, das freut mich. Die Leut, die sonst an mich gedacht haben, denen hat der liebe Gott schon allen die Register zug'stopft … Mit Verlaub; derf man dahier schnupfen? Könnt das net am End in Ihnere Stimmpfeiferln hineinkitzeln? Alsdann, mit Ihnerer Erlaubnis. Vielleicht g'fällig? Net? Ich sag's ja immer, es gibt keine soliden Kontrapunktiker mehr auf der Welt. Ohne Schnupftabak, da gibt's kein Kontrapunkt.«

Sie sprachen lange in den sinkenden Abend hinein: von der Abteiorgel, von Pater Hucbald dem jüngeren und Nehubaldus dem älteren, von neuer Musik und alten guten Stunden; dann trat Meister Kern schonend den Rückzug an.

»Alsdann Servus. Und ich komm schon wieder. Alsdann das hab ich Ihnen noch g'schwind erzählen wollen, denkens Ihnen, mit dem Schnupfen während der Predigt ist jetzt nimmer viel los, die alte Krißmann-Orgel, die möchtens jetzt gar nimmer erkennen, so sauber is repariert und aus'putzt, drei Scheibtruhn Brisil und Dreikönig und Raps waren zwischen die Pedäler, aber jetzt laufens wieder, daß meine Füß bald nimmer mitkönnen. Nämlich, das war so. Am weißen Sonntag, vorigs Jahr, da hat der Herr Prälat Fröschl seine letzte Predigt g'halten, war auch seine längste, ich hab glaubt, ich erleb's nimmer, das Amen. Na, soll ihm sein, am Dienstag war er schon tot und am Donnerstag war die Leich. Und was glaubens, zehntausend Gulden hat er der Orgel hinterlassen, nobel, geltens, nur damit daß sie wieder repariert wird und in Stand kommt. Zehntausend Gulden, Sie! Na, was glaubens, da hat gleich einer von die Walckerischen kommen müssen, und jetzt erkennt man die Alte bald nimmer, so is herg'richt. Na, Sie werden ja selber sehn. Jetzt bleibens doch dahier, wo die Leut ein Verstand haben und Ohren am Kopf? Alsdann Servus.«

* * *

Heute hatte Benedikt zum ersten Male einen Spaziergang wagen dürfen, und bei Meister Kern, seinem getreuen Krankenbesucher, machte er längere Rast.

»Alsdann, wie is das jetzt?« fragte der graue Organist – »wann gehn mir ihn an, den doppelten Kontrapunkt? Grad in der Mitten sind mir damals stehn blieben.«

Siebenschein lächelte schwach.

»Es wird wohl nicht gehen. Sowie man mich entläßt, kehre ich zurück, vielleicht in einer Woche schon. In zehn Tagen aber spätestens.«

»Sie, Sie, da wird der alte Kern wohl auch noch ein Wörtel reden dürfen. Schaut aus, als hätt ihn der liebe Gott als an Unreifen zurückg'schickt, und redt was daher von einer Wochen. Sie sein mir ein Rechter! … Ja, wie is denn das, warum seins dann eigentlich kommen? Bloß zum Kranksein oder wie?«

Da brach etwas in Benedikt auf, und er erzählte dem grauen Meister alles. Wie er den Doktor durch die Musik kennen gelernt; wie er vorher und noch später vor ihm gewarnt worden war; wie er ihm in Peregrin Kranichs Sterbenacht noch tiefer ins Herz geblickt hatte; wie ein Gespinst von Lüge und Gerücht um diesen Mann sich zusammenstrickte – alles berichtete er, bis auf die Geheimnisse, die unter den Siegeln seiner Pflicht und Scham lagen. Von Pfarrer Permoser. Von Florian Kathrein und den beiden Mädchen. Von seiner Vereinsamung, von seinen Enttäuschungen, von seiner stillen Arbeit. Von Ingeborg Sartorius.

»Und sehen Sie, darum muß ich nach Unzing zurück. Ich muß, ich muß. Um der Wahrheit willen. Ich weiß, ich kann da nichts tun. Und doch, ich habe hier keine Ruhe. Ich fühle es, dort wartet noch eine Aufgabe auf mich. Ich kann selbst nicht sagen, was. Ich ahne es nur. Ich muß zurück. Und wenn ich Seine Eminenz fußfällig darum anflehen werde.«

Meister Kern spielte eine stumme Toccata auf der Tischplatte.

»Das is ja ein verflixter Kontrapunkt,« sagte er dann; »so jung, der Mensch, und laßt sich schon in so verflixte Doppelfugen ein. Dieser Herr Doktor, das is der Dux, und Sie sind der Comes in der Oberdominant, und der Herr Lehrer Kathrein, das is wieder der Dux in der dritten Stimm. Und dieser Herr Dechant, der is das Gegenthema. So versteh ich die ganze Sach, wie Sie mir's da erzählen. Und der Herr Domscholaster, sagens, hat Ihnen fest herunterputzt? Schauens, das hätt ich am End auch getan, wanns mir wo hineinspieleten, wo's bloß zuhören sollen und lernen. In eine fertige Sach eine Stimm hineinspielen, das is immer z'wider, entweder man verschandelt's, daß nimmer zum Kennen is, oder man macht die dümmsten Batzer, die ei'm sonst im Traum net einfalleten.«

»Aber ich kann doch die Wahrheit nicht verleugnen. Ich darf doch nicht zusehen, wie ein Mensch von Lügen und Verleumdungen eingesponnen wird! Wie man ihm seine Existenz untergräbt und zugrunde richtet!«

»Aber ich bitt Sie! Wozu habens denn die Musik, wenn net dazu, daß Sie die Leut mit ihre Dummheiten drunten lassen? Und so als a schlecht Gestimmter, da werdens auch kein großen Staat machen in Ihnerer Doppelfug. Was redens denn net mit seiner Eminenz?«

»Ich kann nicht; da sind Dinge, die ich überhaupt nicht sagen kann. Und Seine Eminenz hat auch an ganz andere Dinge zu denken.«

»Jetzt, das is wahr. In Rom drunten, da seins rein narrisch worden, die Leut. Allweil was Neues, allweil bloß aufmischen, heißt auch nix. Sollens doch froh sein, daß einmal eine Ruh geben, die Menschen. Aber der, den ich nie aussprechen kann, is gar net zum Merken, der verflixte Namen, na, Sie wissen schon, welchen daß ich mein, dem möcht man bald ein Flügel ausreißen, hol's der Teufel, will sagen, Gott gib's. Wenn den der heilige Vater net als an Ausg'stopften auf die Peterskirchen hinaufsetzt oder in die Katakomben einsperrt, dann weiß ich nit was.«

»Gibt es denn wieder etwas Neues?« fragte Benedikt; »ich bin ganz herausgekommen durch meine Krankheit.«

»Is so besser. Man tut sich ja so nix wie giften, ich bitt Sie. Skandal, wo man hinschaut. Krawall auf die Schulen, schon die Rotzbuben bekümmern sich um alles. So is heut die Welt. Und wo's doch gar net notwendig is. Als wenn der liebe Gott was davon hätt! Gar nix hat er davon. Statt daß die Menschen ein Fried geben, und jeder schaut die G'schicht von seiner Seiten und aus seine Augen an. Na, da bin ich bloß froh. Mit der Musik, da kann man dem lieben Gott bloß eine Freud machen.«

Aber einige Tage darauf sprach Benedikt doch mit dem Bischof.

Es war ein düsterer, sturmwolkiger Tag, der dunkle Föhn kämpfte schwer gegen den hellen Nordost, und aus dem keuchenden Ringen zwischen Mittag und Mitternacht schlugen sich immer wieder flüchtige Schneeschauer nieder, gefolgt von plötzlichen Sonnendriften, die ebenso jäh ein unwirsches Graupelwetter scheuchte: alles durcheinander in unentschiedener Frühlingsschlacht.

Solche Witterung brachte dem alten Herrn unweigerlich einen bösen Anfall. Auch diesmal hatte es ihn nicht verschont, und nun lag er zwischen erwärmten Kissen im weich ausgepolsterten Armstuhle, von Arzneien und Büchern umgeben, den Ratschlägen Doktor Himmelreuters, der immer wieder völlige Untätigkeit als Allheilmittel anpries, zum Trotze.

»Aber ich kann nicht so unbeschäftigt bleiben, lieber Doktor,« klagte der Fürst; »dann denkt man nur über seine eigene Wehleidigkeit nach, und es wird immer schlimmer.«

Doktor Himmelreuter schüttelte den Kopf, daß der große Hornkneifer über der Nasenwurzel bebte.

»Ich weiß nicht, Ew. Eminenz. Ich habe die stärksten Kopfschmerzen immer bei der griechischen Grammatik bekommen, und wenn ich damit aufgehört hab, war's gut. Darum habe ich immer noch vor dem Anfang aufgehört. Die Menschen denken überhaupt viel zu viel. Wenn auch die Tiere so viel denken wollten, dann würde kein Huhn mehr ein Ei legen und keine Kuh melken. Ich glaube immer, die Teuerung kommt von hysterischen Hühnern und neurasthenischen Kühen.«

»Sie sind also für vollständige Untätigkeit? Vielleicht haben Sie recht. Die Lilien auf dem Felde sind immer gesund … Übrigens, lieber Doktor, da wir schon einmal dabei sind: was halten Sie von unserem kleinen Siebenschein? Ich meine, wird man ihm wieder eine Verwendung geben können? Er kommt mir noch recht elend vor.«

Dr. Himmelreuter rieb sich die kleinen, strammen Hände.

»Aber nein. Also natürlich, eine gewisse Dämpfung ist ja noch immer vorhanden. Vielleicht sogar ein bißchen sakkadiertes Atmen, ein klein wenig kleinblasiges Rasseln … Schwache systolische und diastolische Geräusche über der Herzspitze … Leichte Verstärkung des zweiten Tones der Pulmonalis im zweiten linken Zwischenrippenraume … Vorübergehende Insuffizienz der Mitralis und ganz unbedeutende Stenose des linken venösen Ostiums … Aber das gibt sich. Das gibt sich!«

Der Fürst legte seine schmale, welke Hand auf den Arm des Arztes.

»Lieber Freund, wenn Sie glauben, daß ich davon ein Wort verstanden habe! … Ich will keine Anatomie, sondern ich möchte wissen, ob ich diesem jungen Menschen etwas zumuten kann?«

»Aber ja. Das gibt sich. Aber natürlich. Heutzutage ist eine Insuffizienz der Mitralis eigentlich die Norm. Das gibt sich alles.«

»Mir scheint immer, daß Sie an Ihre ganze Medizin nicht sehr innig glauben, lieber Doktor.«

Dr. Himmelreuter lachte. Er hatte eine eigene stille Art zu lachen, wobei er den großen schwarzen Hornklemmer auf der bebenden Nasenwurzel angestrengt zurückhalten mußte.

»Ich glaube hauptsächlich an die Krankheiten nicht, und an die Patienten am allerwenigsten. Ich sage immer, die Leute denken viel zu viel nach, das ist schädlich, das macht unheilbar. Heute weiß bald schon jeder, was eine Paranephritis oder ein Ikterus ist. Früher, da hat man bloß so ein Wort aussprechen dürfen, und ein wenig gefärbtes Kreosot dazu, und der Mensch war gesund. Aber heute ist ja nichts mehr anzufangen. Die Leute kurieren immer gleich mit.«

Der Bischof wechselte unvermittelt das Gespräch.

»Sagen Sie, lieber Doktor, Sie kennen doch Ihre Kollegen …«

»Auf der Gasse kenne ich sie am liebsten nicht,« unterbrach Himmelreuter.

»Im Ernst, lieber Doktor. Kennen Sie vielleicht zufällig einen gewissen Doktor Wendt?«

Himmelreuters rundes, rosiges Gesicht wurde plötzlich ernst.

»Wendt? Wendt? … Werner Wendt, nicht? … Ich glaube – hat er nicht vor einigen Jahren in einer klinischen Wochenschrift eine aufsehenerregende Untersuchung über die Beta-Oxybuttersäure und ihren Nachweis durch Polarisation veröffentlicht? … Mir scheint, die Arbeit ist dann auch als Broschüre erschienen, nicht? Aber stark angegriffen worden, nicht? Wenn das derselbe Werner Wendt ist?«

»Davon weiß ich nichts. Und anderes haben Sie nie über ihn gehört?«

»Ich glaube, nein. Nämlich, die Probe durch Polarisation nach Ausfällung mit Blei-Azetat und Ammoniak ist doch nicht so verläßlich wie der Nachweis durch Destillation mit Schwefelsäure, wobei die Beta-Oxybuttersäure in Alpha-Krotonsäure …«

»Lieber Doktor! … Nämlich, dieser Herr Doktor Wendt bereitet mir große Unannehmlichkeiten und Sorgen. Er soll der Sohn eines Arztes aus alter Bauernfamilie sein und hat sich jetzt in Sanktrain eine Praxis gegründet. In Sanktrain, wissen Sie, dem berühmten Wallfahrtsort, wo in diesem Sommer das große Tausendjahrgedächtnisfest des Ortsheiligen gefeiert wird. Nun ist es da zu unerfreulichen Reibungen zwischen diesem Herrn Doktor und dem dortigen Klerus gekommen. Sehr unerquickliche Sachen, lieber Doktor! Wäre dieser Herr mit seiner Buttersäure nur geblieben, wo er früher war. Wenn man es bloß allen recht machen könnte … Nämlich darum wollte ich mit Ihnen über den Fall sprechen. Sie müssen schon gehen? … Ein schlimmer Fall, dann darf ich Sie natürlich nicht aufhalten … Aber, bitte, wenn Sie schon die Güte haben wollten … Sie werden ja sicher irgend jemand unterwegs antreffen … Oder wenn Sie die paar Schritte für mich machen … Sie wissen doch, wo unser kleiner Siebenschein wohnt? … Er möchte einmal zu mir kommen, ja? … Wenn Sie die große Güte haben …«

Himmelreuter entfernte sich eilig. Werner Wendt, natürlich! Wenn er nicht mit ihm zusammen in einer Abteilung gearbeitet hätte, unter dem grimmen alten unfehlbaren Professor, der mit seiner ungeheuren, elfenbeinblanken Schädelkappe und dem stahlgrauen Chirurgenbart selber aussah wie die erbarmungslose Objektivität und eisige Prognose in Person, und der mit seiner eisernen Kürze sie alle derart in Angst erhielt, daß sie unter dem Schatten seiner Brauen die schwersten Fehlschlüsse begangen hätten – nur eben dieser Wendt, der einzige unter ihnen! … Dieser Werner Wendt wagte es, dem weltberühmten Alten zu trotzen, und eines Tages kam die schleichende Entzündung zu jähem Durchbruch. Weder eine Hepatitis suppurativa liege hier vor, noch könne von Hydatiden die Rede sein, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach habe man es mit einem Carcinoma hepatis im primären Stadium zu tun; so behauptete der blutjunge Arzt. Der Alte drohte auf wie ein Löwe. Wenn Sie es besser verstehen als ich, Mensch, dann brauche ich Sie nicht auf meiner Abteilung, und Sie brauchen mich nicht auf Ihrer Abteilung. Und als Wendt ohne Gruß, ohne Gegenrede, ohne ein Wort des Abschieds gegangen war, da zeigte die objektiv tadellos gelungene, nur eben von ungünstigem Heilungsverlauf gefolgte Operation, daß dieser Mensch mit seiner frechen Diagnose recht gehabt hatte! … So erbittert war der Alte, daß er, ohne übrigens seinen Irrtum einzugestehen, das Messer mit diesem Tage in Ruhe setzte und dem Lehramt wie der Praxis auf immer entsagte … Natürlich, das war immer noch derselbe, immer wieder derselbe Werner Wendt, für und gegen den jetzt ein Sturm durch die Presse wütete, der den einen ein Held war, den anderen ein Verbrecher, um den ganz plötzlich der Kampf sich zusammenballte, in dem all die alten schweren Widersprüche mit einem Male sich entluden – immer der nämliche Werner Wendt, der harte, trotzige, unerbittliche Eigenmensch! …

Benedikt trat bei seinem kranken Gönner ein.

»Ja, Benediktule, der Frühling, der schlimme liebe Frühling. Da blühen auch die Gifte auf. Der gute Primarius hat Sie geschickt. Also, der Primarius hat mir eben zu meiner Freude bestätigt, daß Sie wieder soweit hergestellt sind. Und jetzt, Benedikte, wollen wir einmal ganz klar und deutlich miteinander reden. Ganz ernstlich und klar. Und Sie müssen aufrichtig sein. Wollen Sie es wirklich wieder mit Unzing aufnehmen?«

Benedikt sah zu Boden.

»Ich habe keinen anderen Wunsch.«

»Haben Sie sich das reiflich überlegt?«

»Reiflich, Ew. Eminenz.«

Der Bischof langte seinen getreuen Stock mit der Kautschukzwinge hervor. Bedächtig tippte er einen langsamen Takt gegen den Fußboden.

»Setzen Sie sich, Benedikt. – Benedikt, wir wollen jetzt einmal offen sein. Wir wissen ja, weshalb Sie eigentlich gekommen sind und so weiter und so weiter. Unser guter Domscholaster hat Ihnen auch den Standpunkt vollkommen klar gemacht. Es fragt sich jetzt, ob Sie meinen Brief und Rat und die Strafpredigt des Protonotarius beherzigen wollen oder nicht. Sagen Sie mir es lieber gleich: verstehen Sie, um was es sich uns handelt – handeln muß? Muß, Benedikt, muß! Verstehen Sie das oder nicht?«

»Ich verstehe es, Ew. Eminenz.«

»Benedikte, schauen Sie nicht den Fußboden an, sondern mich. Ich sehe doch, was in Ihrem Gesichte herumzuckt. Der innere Widerspruch. Habe ich recht oder nicht? Seien Sie offen!«

»Ich widerspreche nicht, Ew. Eminenz.«

»Aber Sie widerdenken. Das können Sie nicht leugnen.«

»Darauf kommt es ja nicht an, Ew. Eminenz.«

Der Fürst stampfte mit der Kautschukzwinge ärgerlich auf.

»Benedikt, wenn ich etwas hasse, so ist es Kopfscheu und Hinterhältigkeit. Das kann ich gar nicht leiden. Am wenigsten aber an Menschen, deren Natur es nicht ist. Von Ihnen kann ich offene Rede verlangen. Wenn unser Protonotarius keine andere Wirkung erzielt hat –! Also, Benedikt! Ich sehe, daß Sie eine Meinung haben. Warum hinterm Berge halten? … Ich will es Ihnen leichter machen. Sie zweifeln noch immer daran, daß jener Herr, um den es sich da handelt, wirklich öffentliches Ärgernis gegeben hat. Sie sind der Meinung, daß er verleumdet worden ist. Aus privater Gehässigkeit oder aus Übereifer. Stimmt das, oder nicht? Kopf hoch, Benedikt, sehen Sie mir in die Augen!«

Siebenschein gehorchte. Plötzlich kam ihm die Sprache.

»Es ist mir von Herrn Dr. Menzel eingeschärft worden, daß ich keine Meinung äußern, sondern diese für mich behalten dürfe. Daß ich blind und stumm gehorchen solle. Ich werde es tun, Ew. Eminenz.«

Jetzt sah der alte Herr zur Seite herab.

»Benedikt, ich habe Sie nicht als meinen Untergebenen zu mir rufen lassen, sondern als meinen Sohn. Ich will jetzt als Vater mit Ihnen reden, nicht als Bischof. Glauben Sie, daß es mir leicht fällt, zwischen allen Pflichten die Mitte zu finden? Also helfen Sie mir, wir wollen die Wahrheit und Gerechtigkeit suchen. Sie sind der Meinung, daß gerade dasjenige, was mich bewogen hat, Sie vor diesem Umgang zu warnen, auf Verleumdung oder Mißverständnis beruht. Warum glauben Sie das? Haben Sie einen Anhaltspunkt? Reden Sie offen, Benedikt.«

Siebenschein begann stockend.

»Ich habe von Herrn Doktor Wendt bisher nur Gutes gesehen, Ew. Eminenz. Er ist opferwillig im Dienste seiner Kranken. Er erläßt vielen den Lohn seiner Bemühung. Er verteilt Arzneien aus eigenen Mitteln. Er hilft, wo er kann. Er hat einen Schwerkranken aus dem Straßengraben aufgelesen und ihm auf seinem eigenen Bette ein ruhiges Sterbelager bereitet. Er würde seinen letzten Rock verschenken, wo ein Bedürftiger friert. Er hat in einem Bergdorfe eine schleichende Seuche dadurch erstickt, daß er die Schädlichkeit einer bestimmten Quelle nachgewiesen hat. Er hat aus eigenen Mitteln einen gesunden Brunnen bohren lassen. Und das alles weiß ich aus dem Munde der Leute selbst, Ew. Eminenz, zum Teil auch aus eigenem Augenschein.«

Der Bischof lehnte den Stock wieder zur Seite.

»Gut, Benedikt, ich glaube Ihnen. Aber sagen Sie mir, wie kommt es dann, daß gerade diese Leute ihren Wohltäter, ihren Freund und Helfer des Ärgernisses, der religionsfeindlichen Stimmungsmacherei, der Gotteslästerung anklagen? Wie kommt das? Erklären Sie mir das! Auf solchen Klagen beruhte eben mein Brief. Solche Klagen liegen in Menge vor. Das hat mich bewogen, Sie zu warnen und zu ermahnen – aus treuer Fürsorge, glauben Sie mir, als Ihr Vater und nicht als Ihr Bischof.«

»Ich weiß es, Ew. Eminenz. Und gerade das fiel mir so schwer aufs Herz.«

»Gut, Benedikt. Lassen wir das für jetzt. Sagen Sie mir, wie kommt es, daß gerade gegen diesen Wohltäter und Volksfreund solch ein Sturm von Anklagen losbrechen konnte? Wie ist denn das möglich? Ihrer Schilderung nach wäre jener Mann ein vorbildlicher Christ, ein Christ der werktätigen Liebe. Ist es da anzunehmen, daß er in den Weizen des Glaubens und der Liebe mit Fleiß Unkraut einsäet? Bitte, helfen Sie mir; diesen Widerspruch kann ich nicht lösen. Sie sind ja Zeuge. Ich stehe den Verhältnissen zu ferne, um mir ein Urteil anzumaßen. Auch bin ich zu alt, das noch zu wagen. Also, helfen Sie mir. Lassen Sie uns gemeinsam das Wahre finden, Benedikt. Ich stehe an der Schwelle und möchte nicht ungerecht sein. Sagen Sie mir doch einmal ruhig alles, was Sie denken und was Sie wissen.«

Siebenschein suchte nach einem Anfang.

»Es liegt wohl manches an der Bevölkerung selbst.«

»Inwiefern? Sie müssen sich doch schon einen Überblick verschafft haben.«

»Das Volk ist unbeständig und undankbar, Ew. Eminenz. Die Leute reden zum Munde und sind für jeden Wind zu haben.«

»Aber es sind doch gute, treue, herzensfromme Christen, Benedikt.«

»Ja, Ew. Eminenz, es sind fleißige Kirchenbesucher. Aber innerlich sind sie voll Falsch.«

»Sie sind der erste, der mir das sagt.«

»Es ist so, Ew. Eminenz. Ich habe es selbst einsehen gelernt. Gerade in der Sache des Herrn Doktors. Er wird mit voller Absicht verleumdet. Man nimmt, was er gibt, und hinter seinem Rücken wird ihm jedes Wort gedeutet und gedreht.«

Der Bischof seufzte vor sich hin.

»Tja, Benedikt. Das Volk, das Volk.« Er begann von neuem. »Und Sie sind der Ansicht, daß der Herr Dechant Hetz Wahr von Falsch nicht zu unterscheiden vermag? Der Herr Dechant Hetz ist doch schon lange am Orte. Er muß also die Leute noch besser kennen wie Sie. Und außerdem hat er doch den Doktor sozusagen zum Nachbarn. Wenn es sich wirklich so verhält, wie Sie sagen, dann muß der Herr Dechant Hetz doch diese Werke christlicher Nächstenliebe mit eigenen Augen sehen. Oder nicht? Erklären Sie mir das.«

»Erklären kann ich das nicht, Ew. Eminenz. Ich kenne die Beweggründe des Herrn Dechanten nicht.«

»Beweggründe?«

»Ja, Ew. Eminenz.«

»Nun, und?«

»Ich kann mir nur das Eine denken, Ew. Eminenz. Der Herr Doktor ist mitunter kurzangebunden, und er sagt ohne Umschweif gerade heraus, was er denkt.«

»So. Hm. Und?«

»Und die Leute halten nun einmal sehr viel auf den Heiligen von Sanktrain und das alte Gnadenbild.«

»Und dagegen geht der Doktor vor?«

»Soweit es eben seine Pflicht ist, Ew. Eminenz. Er bekämpft nur den Leichtsinn des Volkes … Ich meine, er sucht gewisse Wucherungen zu beschränken … Das heißt …«

»Hm. Ich sehe. Das ist allerdings kein einfacher Konflikt. Ich sehe.« Der alte Herr brach ab; trübe sah er ins Ungewisse hinaus. Dann setzte er, plötzlich wieder gegenwärtig, mit erfrischter Stimme ein: »Nun, wie stellen Sie sich aber dazu: der Herr Dechant behauptet, daß es dem Doktor nicht sowohl um seine Kranken zu tun sei als vielmehr um die Erzeugung einer gewissen Spannung? … Um Brunnenvergiftung?«

Benedikt fuhr heiß dazwischen.

»Das ist eine Lüge!«

Der Fürst warnte mit der schmalen Hand.

»Wissen Sie, was Sie da sagen, Benedikt?«

Siebenschein sank wie ein sprühender Brand zusammen.

»Ich weiß es, Ew. Eminenz.«

»Sie halten es aufrecht?«

»Ich wollte es längst schon sagen, Ew. Eminenz.«

»Sie halten also dafür, daß der Doktor mit seiner Wohltätigkeit weder politische Zwecke noch solche einer, bleiben wir bei dem Worte, religiösen Brunnenvergiftung verfolgt?«

»Es ist meine feste Überzeugung, Ew. Eminenz. Diese Wohltätigkeit kommt einfach aus dem Herzen, aus dem Mitleid, aus dem guten Willen.«

»Hm.« Der Bischof nahm ein Buch vom Tische und klappte es unruhig auf und zu. »Wie käme dann also Herr Dechant Hetz zu solchen Behauptungen?«

»Das kann ich nicht sagen, Ew. Eminenz.«

»Auf Grund falscher Zeugnisse?«

»Es ist möglich, Ew. Eminenz.«

»Der Herr Dechant wäre also gegen den Doktor gereizt und künstlich voreingenommen worden?«

»Es ist nicht ausgeschlossen, Ew. Eminenz.«

»Durch Lügen, Verleumdungen, Wortumdeutungen, Übertreibungen? Durch Dritte, durch böse Zungen; Brandstifter?«

»Vielleicht, Ew. Eminenz.«

Wieder schwieg der alte Herr, sehr lange, beängstigend lange, wie es Benedikt däuchte. Ein Schneeschauer stöberte den hohen Fenstern vorüber. Die schwere Domglocke schlug schleppend die Nachmittagsstunde. Jetzt zog der Bischof den beiseitegelegten Stock wieder vor. Er stemmte ihn gegen den Boden und verschränkte die beiden welken, schmalen Hände über der Krücke.

»Benedikt: – gibt es vielleicht etwas, was den Schlüssel zu alledem hält? Etwas, was Sie mir verschwiegen haben? Was Sie mir verschweigen müssen? Sehen Sie mich an.«

Siebenschein schmolz auf in jäher Glut. Sein Herz schlug in seiner Stimme.

»Ja, Ew. Eminenz.«

»Auch mir verschweigen müssen?«

»Ja, Ew. Eminenz.«

»Es ist gut. Ich frage nicht weiter.«

Der Fürst lehnte sich wieder in die Kissen zurück.

»Aber wir sind nicht fertig, Benedikt. Wir haben mit neuen Tatsachen zu rechnen. Es hat sich inzwischen so manches ereignet, davon Sie noch nichts wissen. Sie haben die Zeitungen nicht gelesen. Dieser Herr Doktor hat inzwischen seine Stellung noch weit schwerer erschüttert. Es hat etwas gegeben, was ihm von Böswilligen nicht anders als ein Verbrechen gedeutet werden kann.«

Vorsichtig setzte er Benedikt von den Ereignissen der Christnacht in Kenntnis.

Benedikt schüttelte den Kopf.

»Wenn das wahr ist – ohne zwingende Not hat er es nicht getan. Sicherlich nicht.«

»Das eben wollte ich Sie fragen. Ihre Ansicht ist, daß der Herr Doktor in der äußersten Not zu diesem Mittel griff? Daß man hier fast von einer Art Notwehr gegen widrige Umstände sprechen kann?«

»Dafür möchte ich mich einsetzen, Ew. Eminenz.«

»Kennen Sie denn die Stelle, wo sich das alles zugetragen?«

»Nur dem Namen nach, Ew. Eminenz.«

»Sie können also nicht sagen, ob der Doktor nicht einen anderen Ausweg hätte finden können? Wenn es ihm schon darum zu tun war?«

»Nein, Ew. Eminenz. Aber ich möchte mein Leben darum verpfänden, daß es einen solchen Ausweg nicht gab.«

»So. Nun hören Sie aber weiter. Die Sache konnte nicht verschwiegen werden, schon um des Volkes willen nicht. Sie können sich denken, welche Wirkung diese Tat hervorgerufen hat, welche Empörung! Das Volk verlangt nach Exempeln, sein beleidigtes Empfinden will Genugtuung. Das ist nur verständlich. Und wenn der Herr Dechant die Anzeige hätte zurückhalten wollen und dürfen, er hätte es nicht gekonnt. So hat er schon mit Rücksicht auf seinen Stand und sein Ansehen die Staatsanwaltschaft in Kenntnis setzen müssen. Sie begreifen doch? Die Geschichte sprach sich ja im Sturm herum. Das ließ sich nicht umgehen, der Fall ist zu kraß. Hier entscheidet die Rücksicht auf das religiöse Heil und Recht des Volkes. Das Volk hat eben ein Recht auf seine Religion.« Der Bischof änderte seufzend seine Lage. »Kurz, beim gerichtlichen Nachspiel trat ein Zeuge gegen den Doktor auf, der einzige Augenzeuge. Dieser sagte unter Eid aus, daß das Ärgernis hätte vermieden werden können.«

»Und der Herr Doktor?« fragte Benedikt gespannt.

»Er wußte eigentlich nichts zu erwidern. Er ist ja auch verurteilt worden. Nur formhalber, verstehen Sie, um dem Rechte des Volkes Genüge zu leisten … Denken Sie, ein Freispruch in solcher Sache! … Aber doch: er ist verurteilt worden, zu einer leichten Geldbuße.«

Benedikt schüttelte den Kopf.

»Dieser Mensch hat einen Meineid getan. Aus Bosheit oder aus Schwäche. Er hat falsch ausgesagt.«

»Sie haben ja ein unbegrenztes Vertrauen in den Doktor, Benedikt.«

»Ich kann nicht dafür, Ew. Eminenz. Wenn Ew. Eminenz ihn selbst kennten … Es ist wie eine innere Stimme.«

»Ach, Benedikt, die innere Stimme!« Der alte Herr winkte etwas von sich ab. »Der Doktor hat ja auch Berufung eingelegt. Und jetzt hat sich sogar die Öffentlichkeit des Falles bemächtigt. Es wird ordentlich ein Kampf um das Kreuzbild und um den Doktor geführt, und natürlich brennt die Politik hinein … Der Fall ist beinahe zum Symbol geworden … Und da wollen Sie wirklich nach Unzing zurück; Benedikt?«

»Ja, Ew. Eminenz.«

»Zu diesen Menschen, von denen Sie selbst sagen, sie seien falsch und verlogen?«

»Gerade darum. Ich möchte sie die Wahrheit lieben und Dankbarkeit üben lehren.«

»Ach, Benedikt, ich sehe in einen Spiegel! … Und diesen heißgewordenen Boden wollen Sie wieder betreten? … Kind, zum Politiker taugen Sie nicht. Soll ich Ihnen sagen, so wenig wie ich … Ach ja, wenn Sie wüßten …«

Der alte Herr schob wie in zürnendem Überdruß das Tischchen mit den Büchern und Arzneien weit von sich ab.

»Werden Sie sich meinen Wünschen fügen können, Benedikt?«

»Ich werde mich unbedingt fügen, Ew. Eminenz.«

»Und wenn es gegen Ihr Gewissen geht?«

»Ich bin überzeugt, daß Ew. Eminenz von mir nichts verlangen werden, was mit meiner Pflicht und mit meinem Gewissen nicht vereinbar wäre.«

»Ach, Benedikt, machen Sie es mir nicht noch schwerer. Sehen Sie denn nicht, was Sie tun? Sie appellieren von der Kirche an den alten Bischof, vom Ganzen an den einzelnen Menschen, von Ihrem Vorgesetzten an Ihren Freund! … Wirklich, manchmal ist es hart, der zu sein, der man sein möchte, und doch auch nicht der zu sein. Und auch nicht der zu sein, den man zeigen muß … Sehen Sie, Benediktule, wir beide müssen uns in die große Sache fügen. Sie, der Kaplan, und ich, der Erzbischof. Dem großen Zwecke, der großen Pflicht! … Wenn doch schon einmal der liebe Gott seinen alten Diener abberufen wollte!«

Benedikt stieg es heiß in die Augen. Es war rührend und erschütternd, den Kämpfen dieser zarten, gerechten Seele zuzusehen.

»Wenn ich etwas sagen dürfte, Ew. Eminenz.«

»Aber nur nicht die abgeschmackte Redensart, daß Gott mich noch recht lange erhalten soll. Bitten Sie lieber den lieben Gott, daß er mich bald meiner Pflichten entbindet. Ich bin doch nicht blind! Ich sehe ja, was kommt!« Er ermannte sich wieder. »Diese Krankheit! Die macht mich immer schwach! … Also, was wollten Sie mir sagen, Benedikt?«

Siebenschein suchte nach Mut.

»Wenn Ew. Eminenz vielleicht einmal – ich meine, wenn Ew. Eminenz selbst mit dem Doktor sprechen könnten …«

Der Bischof beugte sich aus dem Armstuhl, um Benedikt sacht auf die Schulter zu klopfen.

»Mein Lieber, wenn ich das dürfte! … Ich täte es, lieber heute als morgen. Schon um der Gerechtigkeit willen … Aber ich bin da nicht Richter. Und ich darf nicht, ich kann nicht, sehen Sie – es ist unmöglich … Das müssen Sie ja selbst einsehen … Jetzt, nach allem, was geschehen und noch geschieht …«

»Ich glaubte nur – ich dachte, das heißt – um der Wahrheit willen, Ew. Eminenz …«

Der Bischof wiegte leise den schmalen Kopf mit den dünnen Silberlocken.

»Es geht nicht. Es geht nicht. Das ist es ja eben. Darum dürfen auch Sie die Gesellschaft dieses Mannes nicht suchen … Wenn Sie ihm schon durchaus nicht ausweichen können … Aber besser wäre, Sie täten es, Benedikt. Denken Sie an das Volk, denken Sie ans Ganze. Sie dürfen nicht Gemeinschaft haben mit einem, den das Volk selbst als Ihren natürlichen Feind ansieht. Wenn Sie mit diesem Manne verkehren, so heißt das nichts anderes, als daß Sie als Priester alle seine Meinungen und Taten gutheißen. Könnten Sie das verantworten? Und die Folgen, können Sie die auf sich nehmen? … Wenn ich Sie jetzt nach Unzing entlasse, so tue ich es, weil ich darauf rechne, daß Sie mir meine Aufgaben erleichtern und nicht noch erschweren werden.«

»Ich werde gewiß nichts tun, was ich vor Ew. Eminenz nicht verantworten könnte.«

»Nicht vor mir, Benedikt, vor meinem Nachfolger. Denken Sie immer an den Schwur, den Sie in meine Hand geleistet, und manches wird Ihnen leichter werden … Aber überlegen Sie sich es, mein Sohn. Sie haben ja noch Zeit. Ich könnte Sie in meiner Bibliothek verwenden. Sie könnten hier die Schrift vollenden, von der Sie mir neulich erzählt. Und das werden Sie mir auf alle Fälle versprechen, daß Sie diese Arbeit wieder aufnehmen und mir zuschicken. Ich habe Interesse daran. Wenn Sie Behelfe brauchen, wenden Sie sich an meine Kanzlei … Also, Benedikt, überlegen Sie sich's noch reiflich.«

»Ich habe nichts mehr zu überlegen, Ew. Eminenz.«

»Ja, dann …« Der alte Herr richtete sich mühsam auf; mit seltsamer Kraft umspannte er beide Hände des Jüngeren im Griffe seiner Linken. »Benedikt, sehen Sie mir in die Augen! Ihr Versprechen habe ich, nicht wahr? Ich weiß, Sie werden es mir nicht brechen. Sie werden mir helfen; Sie werden in der eigenen Pflicht auch die meine erfüllen! Denken Sie immer, daß Sie an meiner Statt handeln und leiden. Ja, Benedikt, leiden, leiden! … Glauben Sie mir, ich verstehe alles. Ich fühle alles mit Ihnen. Aber hier heißt es …« Er zeichnete das Kreuz über die Lippen des jungen Priesters. »Alle erleben es, Benedikt, die es überhaupt erleben können. Es ist immer wieder das Gleiche, der große Kampf zwischen Kind und Familie, zwischen Haus und Stadt, zwischen Familie und Volk, Volk und Welt, Erde und Weltall … Sehen Sie, mein Kind, hier ist es, wo der Leidensweg des Priesters beginnt. Viele gehen an diesem Kreuzwege vorbei; die es aber nicht tun, die nicht auf der bequemen, flachen, ausgetretenen Straße bleiben wollen, weil sie ihnen nicht zum wirklichen Ziele zu führen scheint: das sind die, welche den Wegweiser als ihr Marterholz mitnehmen und nach ihrem Golgatha sich hinaufschleppen, das sind die, welche zwischen Himmel und Erde hangen und in ihrer großen Not sich sogar von Gott verlassen wähnen … Ich habe es Ihnen damals gesagt, erinnern Sie sich noch: des Priesters höchster und eigentlichster Beruf ist, ein Beispiel zu geben, ein Vorbild zu sein. Und nun sehen Sie, wie unendlich schwer es ist, das Kreuz seines Beispiels durch das Gedränge der Menschen und Pflichten nach seinem Kalvarienberge hinaufzutragen. Und Sie stehen noch am Anfange, Benedikt. Aber ich will Sie nicht entmutigen, verstehen Sie mich recht. Im Gegenteil, ich möchte Ihnen Mut zusprechen, Sie trösten und stärken. Ich verstehe alles, Benedikt, alles. Ich möchte Ihnen noch vieles sagen – – – aber – –« Er zeichnete seinen eigenen Mund mit der Rune des Schweigens. »Wir müssen, mein Sohn, ganz gleich, ich und Sie: wir müssen! Es gibt nur das Eine: Schweigen und in der Stille das Rechte tun. Helfen Sie mir darin, Benedikt. Denken Sie an mich; ich gehorche auch. Und jetzt gehen Sie in Gottes Namen, mein Kind. Bevor Sie abreisen, will ich mit Ihnen noch ein paar Worte sprechen.«

Siebenschein ging, und der greise Bischof sank ermüdet in den Armsessel zurück. Der rauhe Tag hatte sich gegen sein Ende in herben Sonnenschein geklärt; jetzt verlosch auch der wagrechte Feuerbalken in der Fensternische. Schwarz und naß standen die Bäume des Residenzparkes in der Vordämmerung.

Der Fürst grübelte vor sich hin, in ungewisse Fernen hinaus, in die eigene Vergangenheit hinab. Was ihm an diesem jungen Menschen so wert, so schmerzlich lieb gewesen von Anfang an: nun wußte er's – die Ahnung gleichen Erlebens, die Voraussicht derselben Wege und Stationen. In vielen schon hatte er es gesucht, von manchem, den er seiner Gunst würdig hielt, hatte er es erwartet, erhofft, befürchtet. Aber sie alle waren mit der Zeit von ihm gegangen, fremd und irre geworden, abgekühlt oder verdorben. Dieser Eine aber war sein wirklicher Sohn; in diesem Einen erblickte er gerührt und erschüttert sein eigenes Spiegelbild. Die anderen: – der eine war über seine abgeworfenen Vorsätze in den Schlamm gestürzt, um sich nicht wieder zu erheben; der zweite hatte sich von seinen Idealen weg zu giftigem Hohn und zynischen Lastern verbittert; der dritte war erkaltet und erstarrt; und die allermeisten hatten den steilen Anstieg vor dem ersten Hindernis aufgegeben, um reumütig in die bequeme Bahn der glatten, verläßlichen und streng vorgeschriebenen Geleise einzumünden … Aber dieser Eine: das war der, nach dem er sein Leben lang in der Angst seiner Vereinsamung ausgespäht, nach dem er schon so oft seine ermüdeten Hände ausgestreckt, nach dem er in die Finsternis hinausgetastet hatte. Dieser Eine, das war einer von den Gezeichneten, gleich ihm selbst, einer, dem die Glut des unstillbaren Widerspruchs fast die Seele zerschmolz, einer, der den furchtbaren Vernichtungskampf des allgemeinen Interesses gegen die einzelne Wahrheit, des allgemeinen Vorteils und der allgemeinen Not gegen das einzelne Recht und die einzelne Gerechtigkeit, des Staates und der Gesellschaft gegen Jesum Christum am eigenen Gewissen empfand und fast zerrissen wurde vom Sturme der feindlichen Pflichten. Und nun er ihn endlich hatte, seinen Sohn, sein Ebenbild, seinen Erben, nun durfte er nicht einmal offen zu ihm reden, nun mußte er wieder schweigen, wie er fünf Jahrzehnte lang geschwiegen – schweigen, schweigen, und immer wieder schweigen! … Nun mußte er es erleiden, daß auch hier der Schatten des bösen Willens, aus dem alle Härten und Notwendigkeiten kommen, wie ein Abgrund zwischen ihm und seinem jungen Schützling dunkelte. Immer wieder die Lüge, immer wieder das Verschweigen, immer und überall die Zensur, die das klare Wort verbietet, die feile Redensart züchtet und doch nur Mißtrauen und Widerstand erzieht, den guten Willen erstickt, das Feuer der echten Liebe verlöscht! … Nur damit nicht an die tausend Bruchstellen des mühsam gekitteten Gefäßes gerührt werde, nur damit der Lügenfirnis nicht abblättere von ungezählten Sprüngen! … Och! der Fürst seufzte aus tiefem Ekel herauf … Und war nicht dieser junge Mensch heute ein anderer als vor Jahresfrist? … Nur, weil das Ganze mit seinen brutalen Ansprüchen zwischen ihn und jenen getreten war, der riesige Bettler mit seiner Unverschämtheit und seinen Lügenkrücken! … Ja, die Abkühlung war schon da; der Bischof fühlte es. Aber sollte er diesem jungen Untergebenen sagen, was er dachte und sah und ersehnte und vermißte? … Durfte er ihm hinter der Autorität den Menschen zeigen, das brennende Herz, die heißen, bitteren Wünsche seiner geheimsten Gebete? … Schweigen, schweigen – immer nur dies eine: schweigen! … Wieviel hatte er verschwiegen in diesem halben Jahrhundert, und wie entsetzlich schwer hatte er an dieser Pflicht getragen, da er doch mit einem einzigen Worte unsägliches Unheil hätte verhüten und sich selbst erlösen können! …

Der Bischof schrak aus seinen Gedanken auf; der graue Kammerdiener kam mit dem schweren, silbernen Teetablett, und der Fürst war es ordentlich froh, als jener die hohen Lichter ansteckte und mit gewohnter Sorgfalt den dampfenden Sud in die geblümte Tasse goß.

* * *

»Also die zweite Ekbasis cujusdam clerici,« sagte der Protonotarius; »ich weiß nicht, ob ich Ihnen alles wiederholen soll, was Sie an jenem Abende wahrscheinlich überhört haben? Ich wünsche Ihnen viel Glück, peramate, und vergessen Sie nicht, daß ich es gut mit Ihnen meine. Wenn Sie in Ihrem Berufe vorwärts kommen wollen, so denken Sie daran, daß der liebe Gott in dieser Zeit keine Heiligen braucht, sondern vornehmlich Soldaten, gute, straffe, mutige, gehorsame Soldaten, auf die seine Feldherren sich verlassen können. Außerdem natürlich auch Diplomaten, Politiker, Statthalter und so weiter. Die besorgen den Stil; ohne Stil kommen wir nicht weiter, das sieht man jetzt deutlicher denn je. Aber was der Kanzlei der Stil, das ist der Armee Disziplin. An der Front muß straffe Zucht herrschen; und Sie gehen ja wieder an die Front, perdilecte. Also lassen Sie sich's in gutem gesagt sein. Was Ihr General oder Oberst oder Hauptmann befiehlt, das wird ausgeführt, und wenn Sie nach Ihrem besten Freunde schießen müssen! Für kleine Skrupel ist da kein Platz. Wenn Sie grübeln und spekulieren wollen, so treten Sie in ein Kloster. Aber an der Front gibt's keinen Zweifel und keinen Widerspruch. Ist Ihnen dieser Dienst zu schwer, so kommen Sie zu uns in die Kanzlei. Vielleicht erweist sich Ihr Stil als brauchbar. Wir haben auch Raum für Leute, die mit dem Papier mutiger sind als mit der Waffe. Wollen Sie aber im Gelände wirken und mit dem Feinde in Fühlung bleiben, so lernen Sie von der Zeit die Notwendigkeit straffer Disziplin. An unseren Grenzen und in unseren Festungen brauchen wir keine Philosophen, sondern Soldaten, und Soldat sein heißt Werkzeug sein. Verstanden? Soweit das Dienstliche … Und nun kommen Sie her, peramate, und lassen Sie sich ansehen. Noch immer ein wenig vergeistigt, aber mir scheint, das Gift haben Sie ausgeschwitzt. Und wenn es Ihnen einmal an Herz und Hals und Kopf geht, so wenden Sie sich an den Protonotarius und Domscholaster Doktor Chrysostomus Menzel, der es herzlich gut mit Ihnen meint. Den Herrn Kaplan Siebenschein ermahne ich zu unbedingtem Gehorsam, den Benedictum peramatum Septemlampadium werde ich immer unterstützen, wo ich es darf, und wo er es braucht. Verstanden? Ich höre ja, Sie sind unter die Kirchenhistoriker gegangen? Stimmt das?«

»Nur ein bescheidener Versuch,« zögerte Siebenschein; »eigentlich nur eine Art Rechenschaftsbericht, ein Auszug …«

»So, so. Und Ihr Held?«

»Leo der Neunte.«

»Bravo. Ein Mann, von dem Sie sehr viel lernen können. Was gefällt Ihnen gerade an ihm so gut?«

»Ich finde – das heißt, ich habe das Gefühl, daß er eigentlich die Reihe der großen Päpste einleitet, daß er eigentlich den Grundstein zum Neubau gelegt hat. Und dann, er war doch ein Deutscher.«

»Ganz recht. Nun, ich wünsche Ihnen Glück und Gelingen. Vielleicht bekomme ich das Opus einmal zu sehen. Was sagt denn der Herr Pfarrer dazu?«

»Er weiß gar nichts davon.«

»Eine Überraschung?«

»O nein. Er hat kein Interesse daran.«

»So. Ja, man kann das nicht von jedem einfachen Landgeistlichen verlangen. Dazu sind sie ja auch nicht da. Also, peramate, allen Segen über Ihren zweiten Auszug. Halten Sie sich gut. In Ihrer Nachbarschaft werden ja in diesem Sommer große Dinge geschehen. Dann auf Wiedersehen. Und im übrigen: » Videant consules, ne respublica quid detrimenti capiat – verstanden?«

* * *

Meister Kern erhob leidenschaftliche Einwände:

»Alsdann da hat man sich schon wieder umsonst g'freut! Jetzt wo die alte Krißmann-Orgel so sauber beieinander is, daß die Pedäler nur so von selber kontrapunktieren! Ich bitt Sie, lassens mich aus mit Ihnerem Unzing. Als wann dorten net an anderer das Evangelium lesen könnt, ein G'scheiterer als wie Sie sein … Wos Ihnen doch eh net auskennen bei dem doppelten Kontrapunkt in der verzwickten Sach! Der Eminenzherr, der muß auch schon nimmer rot von weiß unterscheiden können, wenn er Ihnen wieder da hinauflaßt zu die Unzinger Kaffern, hol's der Teufel, das heißt Gott g'segn's Ihnen, oremus, mea culpa. Oder vielleicht gehens nur einpacken, wär so das G'scheitste, was machen können.«

»Nein, vorläufig bleibe ich wohl noch dort. Und ich werde meine Stimme in der Doppelfuge schon halten, wenn sie noch so schwer ist.«

»So. Na, das möcht ich hören. Überhaupt, ihr g'fallts mir gar nimmer, alle zusammen. Früher, da war alles so sauber beinander, wie wann's der selige Bach selber komponiert hätt, jede Stimm in der Ordnung, zuerst der Dux, dann der Comes in der Oberdominant oder in der Unterquart, dann die dritte Stimm, und alles ordentlich durchg'führt, wie sich's schickt. Na, und jetzt, da wurlt all's so durcheinand, daß net der liebe Herrgott selber mehr eure verzwickten Partituren lesen kann. Das is wie die neumodische Musik, wie die Tripel- und Quadrupel- und Strupelfugen von dem narreten Modernisten da, wo's einem ganz schwarz inwendig wird, als hätt man alle Sechzehntelnoten verkehrt g'schluckt, mit die Hakerln nach oben, wann man dem sein Zeugs anschaut. Grad so kommts ihr mir vor. Und da is einmal einer, der hat vom lieben Gott was Besseres auf den Weg gekriegt, kennt sich schon bald ein bissel aus, könnt bei der Musik sein Frieden und sein Himmel haben – nix da, muß auch schon mitzwielen in dem schwarzen Strupelkonzert, und schaut selber elendig aus wie eine verhungerte Achtelpausen, hol's der Teufel, das heißt Sie nehmen's mir net übel, geltens. Aber ich paß schon lang nimmer daherein. Früher, da hat man seine Freud gehabt, wann man so mit die dicken Prinzipäler die Meß ang'brummt hat, machst dem lieben Gott eine Freud, hat man sich dacht, na, und überhaupt. Und jetzt? Da weiß man bald net, ob der liebe Gott noch auf die verrückte Erden herunterhört. Na, deo gratias, bei mir is auch schon die Engführung da.«

»Es gibt aber eine Fuge von Bach, die mit der Engführung anfängt, lieber Meister Kern.«

»Gehens, was Sie net alles wissen! Alsdann die Fug, die paßt auf Ihnen. Mit der Engführung, da haben Sie gleich ang'fangen.«

»Das ist leider wahr. Aber ich hoffe doch noch auf ein Wiedersehen. Vielleicht kommen Sie im Sommer zum Sanktrainer Fest? Dann könnten wir einmal zusammen den Pater Hucbald und seine Wunderorgel besuchen.«

»Ja, Sie, das wär so was. Der Herr Abt von Heiligenzell, der hat noch ein Verstand. Da is man noch zu Haus mit seiner altmodischen Musik. Gehens oft hin?«

»Bis jetzt war ich ein einziges Mal dort.«

»Sie sein mir auch ein Rechter. Muß ein Kaffernlandel sein, das Unzing. Schauens, seiens g'scheit. Bleibens da. In einem Jahr, da richt ich Ihnen ab, daß Sie gar nimmer denken, daß wo anders zu Haus sein als wie hinter der alten Krißmann-Orgel.«

»Wenn es möglich wäre, lieber Meister Kern. Glauben Sie, ich habe oft Sehnsucht nach unseren Lehrstunden gehabt, ordentliches Heimweh.«

»So. Und g'schrieben habens mir drei Ansichtskarten und einen halbeten Brief. Schauens, aber das freut mich, was Sie da sagen. Ich hab schon allweil g'meint, der is auch froh, daß er dein Brisil nimmer schmecken muß.«

»Gerade das Gegenteil. Sie wissen gar nicht, wie bitter ich oft Musik entbehrt habe.«

»Ja, zu was hat Ihnen der Eminenzherr nacher das schöne Harmonium g'schenkt? Zu was hat Ihnen der alte Kern die Finger ausg'renkt? Kurioser Herr, der Sie sein.«

»Man ist eben nicht immer sein Herr.«

»Und da wollens wieder zurück in das Kaffernlandel? Wann der Herr Jesus noch einmal gekreuzigt wird, Sie wären wert, daß man Ihnen auf der linken Seiten aufhängt. So ane Sünd!«

»Es ist nicht anders.«

»Na, und der Herr Lehrer, der Comes, mit seiner Geigen? Und der Herr Dux mit sei'm Cello?«

»Das hat jetzt alles ein Ende.«

»So. Na, ich sag's ja, die schwarze Strupelfug. Nur ja recht viel Dissonanzen, das is modern. Statt Vorhalt lauter Vorbehalt und Hinterhalt, und statt aner Auflösung ein Doppelkreuz, wo's gar net hing'hört. Ich sag's ja, in eurer Partitur, da kennt sich kein Herrgott mehr aus … Alsdann wirklich, Sie wollen gehen? Dann gehens halt, in Gotts Namen, wanns schon glauben, daß bei der Prügelfug mitsingen müssen. Das weiß ich, daß ich mich da auf der Seiten halten tät. Wann man schon was Besseres auf die Welt mitbracht hat. Auf Wiedersehen? Wird net halten, mein Lieber. Bis Sie wiederkommen, da spielt an anderer auf der Krißmann-Orgel. Aber wann er falsch spielt oder neumodisch und wann er schlecht registriert, dann hau ich ihm aus dem Himmel herunter auf die Pratzen.«

»So arg wird es wohl nicht sein, lieber Meister Kern. Ich hoffe, daß Sie noch viele begraben werden.«

»Schöner Wunsch, das muß man sagen. Nein, wissens, mit mir geht's schon auf die große Fermaten zu. Der Scherzosatz in meinem Leben, der war halt gar ein bisserl lang und presto und fortissimo, viel dreiviertel Takt, eins, eins, eins – das geht ei'm auf den Blasbalg. Sind schon so ein paar verstopfte Laden – und die Prinzipäler wollen halt nimmer recht mit. Mir scheint, inwendig bei mir, da gibt's nur mehr Gedakte und Mixturen. Is ja eh recht, bin schon lang begierig, auf was für ei'm Werk daß droben der alte Bach bei die Himmelshochämter spielt. Ah so, ja richtig, der spielt ja bei die Protestanten, ewig schad, net, zu aner guten Orgel, da g'hört ein ordentlichs Meßkleid mit recht viel Gold und Weihrauch drum herum; wann ich so an Schwarzen seget mit seinem Serviettel, da kämet bloß allweil die feste Burg heraus. Na, auf unserer Seiten, da spielt halt der Mozartel, is ja wahr, da brauchen mir uns gar net zu schämen.«

»Und wahrscheinlich spielen und sitzen und singen alle auf demselben Chor,« sagte Benedikt; »aber jetzt muß ich mich verabschieden.«

»Der Teufel soll Ihnen holen,« versicherte der alte Organist gerührt; »das heißt, in Gottes Namen, gehens halt zu Ihnere Unzinger Kaffern. Gott verzeih Ihnen die Sünd, dies an sich selber begehen – aber weils das g'sagt haben von dem großen Chor da droben, deswegen will ich schon nix mehr reden. Nur passens auf mit solchene Wörtln; heutzutag da wird scharf braten … Was? Danken wollens? Für was denn? … Für die paar B'such? Ja, meinens, daß ich wegen Ihnen kommen bin? Das war bloß wegen dem Herrn Abt Berno, daß ich was von ihm hör … Redens net so dumm daher.« Der Alte zückte das ungeheure Taschentuch. »Und jetzt schauens, daß hinauskommen. Wird mir der Mensch noch solche Sachen sagen, daß einen der falsche Brisil in die Augen zwickt! Marsch. Glückliche Reis'! Addio.«

Hastig schob er seinen Schüler zur Türe hinaus.

Endlich der Bischof:

»Ich habe Ihnen noch vieles sagen wollen, Benedikt. Aber nun ist mir alles zu einem einzigen Spruche zusammengeschmolzen: In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus autem caritas. Wenn Sie das richtig anwenden, können Sie nicht fehlgehen. Sehen Sie die große Notwendigkeit auf der einen Seite, sehen Sie die Pflicht der duldenden Liebe auf der anderen. Da gibt es keinen Zweifel. Werden Sie nicht irre an Ihrem hohen Beruf, werden Sie auch nicht irre an Ihrem alten Freunde. So. Und nun ziehen Sie in Gott. Schweigen verbindet uns mehr als Reden.«


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