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III.

Vor seinem Hause auf der Bank sitzt der Marterl-Lukas im frühen, wolkensonnigen Nachmittag.

Nun ist es ja wieder Osterfrühling worden, und da kann man wenigstens einige Stunden des Tages im Freien arbeiten, Waldluft dazu atmen und den Passionsamseln zuhören, wie sie so herzbrechend schön und gläubig in den knospenden Wipfeln singen. Wenn man schon an die Scholle gebannt ist mit seinem Gebrechen und selten über die paar Schrittbreit Gartenland hinauskommt! Und doch, wenn dieser Garten nicht wär, dies kleine Flecklein Vorhimmel mit seiner Bohnenblüh und seinen Nelkenflammen und den paradiesischen Beeten voll Löwenmaulgold und Mohn und bunter Kresse! Dieser Garten, das muß nun die ganze Welt sein für einen, der sein eigen Kreuz nimmer tragen kann, nicht zur Kirche hinab, nicht hinauf zu den Höhen.

Und wäre der Doktor damals nicht gewesen, so bedürfte es heute selbst des Gartens nimmer. So denkt der Marterl-Lukas, wie er den roh vorgeschnitzten Heilandsleib in seinen kundigen Händen wendet und Span für Span vom kernigweichen Schwarzlindenholze abkräuselt unter der emsigen Klinge. Wenn der Doktor nicht gewesen wäre, damals, da sie ihn unter den flackernden Balken hervorzerrten, bis auf den bloßen Gratknochen hinein zermalmt und mit gräßlichen Brandwunden bedeckt! Damals, als dem Rainstaller sein Stadel abgebrannt war – wie lange schrieb sich's dessen? Auf Bartholomäi würden es zwei Jahre sein.

Zwei Jahre! Und davon hatte er mehr denn ein halbes an den Pforten der heiligen Stadt zugebracht, schon angestrahlt vom ewigen Licht, das dort irgendwo vor einem letzten wunderschönen Hochaltare brannte. Und dann ein anderes halbes Jahr Schmerzenslager ohne wirklichen Schmerz, Leben ohne wirkliches Dasein, Genesung ohne wirkliche Heilung. Draußen im Garten der unruhige Frühling, der Wind in den wehenden Blumen, der brütende Sommer, alles nur durchs Fenster! … Droben an der Stubendecke die schwärmenden Fliegen, die einmal in Form eines Tieres sich reihten, einmal die Umrisse eines Hauses zeichneten, eines Gesichtes, einer Wolke. Nichts als diese schwarzen, wandernden Sternbilder. Jetzt standen sie zueinander wie jenes große Doppelviereck, das in blanken Winternächten überm Schmölzhofer aufging und hinterm Gampwald versank, mit einem düsterroten Stern links oben und einem firnweißen rechts unten und drei schönen, ebenbürtigen in der Mitte, wo die beiden Joche aufeinandergestellt waren. Jetzt formten sie jenes andere Sternbild nach, das das ganze Jahr über zu sehen war, von Ansehen einem unbespannten Heuwagen ähnlich oder einem springenden Rosse. Und das war die ganze Abwechslung, die schwarzen Fliegensterne, die Wolkenschatten, die manchmal durchs Zimmer gingen, hie und da ein großes altes Gewitter mit grellen Schmetterblitzen, ein lang ausrauschender Sommerregen – und immer die schwüle, einschläfernde Wanduhr, die schleppende, seufzende Zeit.

Aber er will nicht undankbar sein. Vom Sterben ist er in die stille, händefaltende Geduld gekommen, und vom Schragen schließlich auf die Bank, und von der Bank auf die Krücken, und von den Krücken auf die beiden Handstöcke, die da neben ihm lehnen. Von den beiden Stöcken kommt er freilich nimmer weiter; nimmermehr auf freie Füße, nimmer auf den leichten, aufrechten Gang, der nach den Höhen trägt. Zwischen den beiden Stöcken wird er leben und sterben, die bleiben ihm sicher und treu bis zum letzten Schnitt, bis eine gröbere Klinge die rohen Bretter unter die Schneide nimmt und einfach Schwielenhandwerk ihm das letzte Haus bereitet. Mögen Gutmeinende ihn auch auf fernere Besserung vertrösten, er weiß es anders, und der Doktor selbst hat ja auch kein Hehl gemacht aus dem, was übrig bleibt.

»Laßt's es Euch nicht ans Herz gehn, Lukas,« hat er damals gesagt; »schlimmer wird's nicht werden, und Euch bleibt so viel, was andere gar nicht verlieren können, weil sie's nicht haben. Denkts, wenn's Euch die Händ genommen hätt oder die Augen! Aber Ihr habts ja Eure Kunst und Euren Kopf, da kommen Euch die anderen nicht nach. Die Kunst hat Flügel, und wer fliegen kann, der darf aufs Gehen verzichten. Da seids Ihr frei wie der Falk und mit dem Herzen kommts Ihr über alle Wolken hinaus.«

Da hat der Doktor schon recht, und überhaupt, wie kann der einem inwendig warm machen mit seinen guten, strengen Worten, mit seiner ruhigen Hand, mit dem Blick seiner grauen Augen! Ganz licht wird es einem um die Seele, wenn der einem so zart und behutsam nach dem Puls oder nach der Stirne fühlt. Da weicht die innere Finsternis, und es wird mit einem Schlag heller Osterfrühling, und man fühlt sich wie auferstanden und geborgen für immer.

Ja, da hat der Doktor schon recht behalten mit seinem kräftigen Trost. Was wäre er jetzt ohne seine Kunst und wie hätt er sich durchgerungen durch die lange, lange Nacht seines Siechtums? Wie wär er eingetreten in dies arme verstümmelte Leben, das nur ein Schatten des vorigen ist, und doch auch nicht – doch glücklicher in seiner Enge, reiner und stiller. Das zieht dem Marterl-Lukas immer wieder durch den Sinn, und im Geheimen überrascht er sich oft bei einer gelassenen Zufriedenheit, die früher nicht sein Teil gewesen. Ihm scheint, als könne nun nichts Schlimmes mehr kommen und als habe er die ganze Ewigkeit ungetrübt vor sich.

Dann lacht er mitunter in sich hinein. Marterl-Lukas, diesen alten Namen verdient er jetzt erst recht. Der Urahn hatte ihn erworben mit seinen schreck- und flammenrünstigen Schildereien, deren etliche, in stumpfen Erdfarben ausgeführt, den Gnadenweg zur Wallfahrtskirche verherrlichten. Das gröblich und selbstbewußt daruntergesetzte L wurde wenigstens von den Sachverständigen und nicht zuletzt von den Erben selbst für das Handzeichen Lukas des Schwazers erklärt. Denn aus Schwaz waren sie voralters herübergekommen, es hieß, im Gedränge der lutherischen Auswanderung, und von einem Vorahn ging die Sage, er habe bei den reichen Fuggern in hoher Gunst gestanden, von Herkunft aber sei er nichts gewesen als ein blutarmer frischer Geißbub, in dem die Gabe der Bildnerei plötzlich wie aus langverhaltenen Brunnen emporsprang und der dann nach mancherlei Abenteuer und Irrung in einem wunderschönen Bildstocke das Gelübde seiner Not einlöste. So hoch hatten die nachmals verschlagenen Schwazer sich allerdings nicht verstiegen; als Sarg- und Versmacher, Marterlmaler und Schreiner fristeten sie sich von Geschlecht zu Geschlecht durch die Zeit, bis im Vater der alte Quell wieder erwachte und aus ihm selbst, dem Sohne, der Born mit verjüngter Macht zu drängen anhub. Der Vater hatte das verstümmelte Stoderkreuz an Feierabenden geschnitzt; der Marterl-Lukas entsann sich recht wohl des Stolzes, mit dem der Alte von diesem seinem bleibenden Werke sprach. Und nun sollte der verstümmelte Sohn das Mal erneuern und einen Heiland ans Kreuz schnitzen, so schön, wie noch nie einer gehangen an den Wegen über diese Berge – auch wieder ein Sühnheiland, wie jener des halb sagenhaften Ahnen es gewesen. So kehrte alles wunderlich wieder, und der Marterl-Lukas spann darüber seine einsamen Gedanken.

Selbst das Totenkreuz, das die fromme Wittib des in Sünden zur Hölle gefahrenen Oberzechner dem Gedächtnisse ihres Eheherren und dem Heil seiner armen Seele gestiftet – selbst dieses talum berühmte Kreuzbild sollte im neuerstehenden Stoderkreuz übertroffen werden. Also gebot es der Stolz der Auftraggeber, der vermöglichen Ober-Sanktrainer, die zuerst hundertzwanzig Gulden auszuwerfen sich bereit erklärt, bei längerer Überlegung aber auf fünfundsiebzig Gulden sich zurückgezogen hatten. Für fünfundsiebzig Gulden, so entschieden sie, könne der Marterl-Lukas schon einen Heiland liefern, der sich ansehen lasse, zumal er doch ein Heimischer sei und mit seinem Gebrest der Gemeinde doch noch einmal zur Pflicht fallen werde, und fünfundsiebzig Gulden seien immerhin ein nobler Haufen Geld, wenn man's so bedenke, fünfundsiebzig Gulden, die verdiene man sich heute nicht so im Handumdrehn, besonders so ein lahmer Hascher nicht, die gute Hälfte sei geschenkt, na, aber weil er's sei … Und der Marterl-Lukas hatte den Auftrag mit frohen Händen angenommen und nicht weiter aufgehandelt; schließlich, es war ja so viel Herzensfreude in der zarten Arbeit, die wog allein schon für goldenes Verdienst. Und weil es drängte – auf Fronleichnam schon sollte das Stoderkreuz in neuen Prächten stehen, ein Denkmal bäurischer Glaubenstreue und ein Warner vor dem bösen Geist der Höllbachschlucht – so stellte der Marterl-Lukas alle anderen Aufträge zurück und warf sich mit Inbrunst auf das willkommene Werk, in das er all seine Dankbarkeit und neue Lust hineinbeten, in dem er selbst seine Schuld abstatten und sein stilles Bekenntnis aufrichten wollte.

Schöner noch als das Totenkreuz auf dem Kritzenberg soll es werden, so haben sie ihm mit schweren, hochmütigen Worten eingeschärft. Dessen hätt es gar nicht erst bedurft, das hätt er sich schon von allein zum Ehrgeiz und Ziel gemacht. Denn just unter selbigem Totenkreuz und nicht anderswo ist ihm aus unklaren Wünschen das Licht aufgegangen, der Herzbrunnquell, der nun seine geheimen Mühlen treibt. Dort ist er damals als Sechzehnjähriger gestanden, mit den Sinnen nicht eben bei Handwerk und Zukunft, sondern bei der Fährte des Rehbocks, die hier vom Waldrande her ins Feld wies und dem jungen Freischützen sichere Beute verhieß. Vom Lux Bartl hatte er das Schießeisen, vom Oberwies Franzl die Verführung. So hat er sich am Sonntagnachmittag davongeschlichen, ohne Wissen des Alten; der wär ihm schön gekommen! Da ist dann sein Blick wie von ungefähr auf den Heiland gefallen und er hat sein verwegen Hütel gelupft und ein gedankenloses Kreuzzeichen gezogen. Aber ein Gedanke ist dennoch dabei gewesen, ein ganz zufälliger und verrückter: daß es wohl schöner sein möchte derlei Werke zu schnitzen als unter der gestrengen Meisterzucht des Vaters Sargbretter zu hobeln und Kindergrabkreuze zu sägen. Und dann ist das schwere Bergwetter jäh aufgezogen, der Regen ist herangerauscht wie eine Wolke, eben hat er gedacht unter jene mächtige Schirmfichte zu treten – da wirft ihn ein betäubender Blitz zur Seite, brandige Späne stieben weitum, die Fichte aber klafft weiß bis in die Spreu hinunter. Da hat er nochmal das Hütel gezogen, diesmal mit besserem Sinn, und der Gedanke an das feinere Handwerk der Heilandsschnitzerei ist ihm zwingend wiedergekehrt. Ein dornengekröntes Haupt war das erste, was er in verstohlenen Versteckstunden eines Jahres zuwege gebracht. Oft hat er zum Totenkreuz pilgern müssen, um dem Vorbild das und jenes abzuspähen. Noch ist's nicht vollendet, da entdeckt ihn darüber der Alte, und zur Strafe entläßt er ihn aus der eigenen Werkstatt in die Lehre eines tüchtigen Meisters, weit drüben über den Bergen, wo die Kunst heimständig und noch in sparsamer Blüte steht. Das teure Haupt voll Blut und Wunden, in ein sauberes Tuch geschlagen, ist Lehrlingsbrief und Zeugnis, das er mit sich trägt, und da der alte Meister es sieht und ihn selbst mit einem langen Blicke eingeschätzt, nimmt er ihn ohne viele Worte in Zucht. So war das Totenkreuz ihm zum Weiser seines Lebens und zur Wegscheid geworden.

Der Marterl-Lukas hält das rohflächig vorgeschnitzte Erlöserbild auf Armeslänge von sich weg. Da ist nichts zu tadeln, die Verhältnisse sind richtig, der Meister selbst hätt es besser nicht machen können. Nun beginnt erst die feinere Arbeit, die eigentliche, die beseligende: das Erwecken des Menschenkörpers aus dem toten Stoff, das Schatzgraben, das Herausschälen und sachte Hervorwenden, Sehne für Sehne, Ader für Ader, den ganzen armen nackten Marterleib in seinem bloßen Jammer … Einen Augenblick denkt der Marterl-Lukas nach. Ob er grad heut damit beginnen soll, am heiligen Karfreitag, just um die Stunde, da Er vor verfinstertem Gräberhimmel auf kahlem Schächerhügel hing, die blutige Sonne zur Rechten, den schaurigen Brandmond zur Linken, zu Füßen den spuckenden, fletschenden Pöbel, hinter sich gesprengte Grüfte, daraus die alten Toten lang und stumm in ihren Gespensterlaken heraufwuchsen, den krachend zerreißenden Vorhang und die erschauernde Stadt … Soll er heut sein Werk eröffnen, das Schaffen am unvergänglichsten aller Bilder? … Aber an dieser heiligen Arbeit ist wohl keine Sünde, Tag und Stunde geben gerade die rechte Weihe, niemals wird es dringender über ihn kommen … Er lehnt den vorgeflächten Jesuskörper mit zärtlicher Sorgfalt gegen die Bank und beginnt unter den ausgebreiteten Klingen zu wählen.

Wie still die hohe Stunde! … Wolkenschatten streichen über den kleinen Garten und den goldgrünen Anger, aus dem die blaßgelben Primelbüschel herüberleuchten. Selbst der Schwarzdroßler hält jetzt ein mit seinen Seligpreisungen, und eine dunkle Kühle schauert wie ein Gespenst über Hügel und Rain und Garten und Haus.

Der große schwarzweiße Kater, der auf der Bank neben den ausgebreiteten Schnitzklingen geschlafen, räkelt sich auf, läßt sich den Frühling über den steilgekrümmten Buckel schaudern und hascht nach der Mörtelbiene, die stahlblau und zottig am körnigen Bewurf des Hausunterbaues umherbrummt. Dann kommt er an den Herrn herangeschnurrt und reibt seinen breiten Kopf zärtlich an der Hand, die unter den Messern wählt.

Ja, ja, Peterl. Hab dich gern, Peterl. Nicht da hineintreten, schau, das macht Wehweh am Pratzerl. Du und der Hansl im Käfig, ihr seids die Besten. Um so viel besser als die Nachbarn. Na, der Herr Doktor und das Vronele, Peterl, gelt, die gehen noch voraus. Sonst aber niemand. Ja, ja, aber Herrl muß jetzt arbeiten, Peterl.

Wahrhaftig, wen hat er noch, dem er seine viele Liebe hätte schenken mögen? Die Afra, die vom Überacher, mit der er schon so gut wie eins gewesen, die hat ihn gelassen in seinem Krüppelelend, nach Staudach hinüber hat sie sich mit ihrem Kammerwagen vermannt, ein schwerer Hoferbe, das wog anders als ein lahmer Heilandmacher. Süße Worte hat sie ihm darum gegeben, sie könne nicht anders, und das müsse er doch auch einsehen, und schau und geh und sei net bös, und da hat er sie gern in Frieden gehen lassen, ordentlich froh ist er gewesen, wie sie zum Gartentor draußen war und auch das am Ende. Und die anderen? Mein himmlischer Vater, früher, ja, da hat ihm jeder ein holdes Gesicht gezeigt, wo er hingetreten ist mit seinen graden Gliedern; überall Sonnenschein und Gunst und Lukas hin und Lukas her und heiße Weiberblicke dazu, mehr als notwendig. War ja kein schlechter Fang, das hübsche kleine Haus und ein bisserl ein Sparschatz darunter, das gibt selbst einem minder Ansehnlichen Hintergrund. Nun aber, da er im Schatten lebt, sehen sie ihn nimmer. Jetzt ist er eben nur mehr der Marterl-Lukas, das alte schmucke Schreinerhaus mit dem zierlichen Fürgarten gefällt niemand, zu wenig Grund dabei für einen Lahmen, das müßt anders bezahlt sein! … Was von seinem Paßalter und Nachbarschaft, das schmilzt ab von ihm wie der Schnee, der den Bruder in der kalten Halde allein läßt und den Wolken und Winden sich vermählt. Ganz einsam ist er geworden in diesen einthalb Jahren, wie ein alter, festzusammengekörnter Firnfleck. Sie bedauern ihn, ja, sie lassen ihm ab und zu ein Trostkrümlein von ihren reichen Tischen fallen, und mit jedem Gesicht sagen sie ihm: du gehörst nicht mehr zu uns, die wir an dir vorüber in Putz und Stolz zur Kirchweih gehen, bist abseits liegen geblieben, kannst freilich nichts dafür, siehst, wir aber auch nicht, hast nichts mit uns zu schaffen, schau! … Das sagen sie ihm mit ihren Gesichtern, und da ist er bloß froh, wenn er diese Gesichter nicht sieht.

Herrgott, ja … Aber die Vroni, die höckerige Schwester, die tragen sie ihm doch nicht weg, und den Peterl und den Hansl und die krausen Feuernelken auch nicht, und seine Kunst schon gar nicht und seine heimlichen Gedanken am allerwenigsten. Da sind ja die Hauptsachen beisammen. Da ist er doch noch immer schwerreich gegen sie, und wenn sie im strahlenden Feierstaat unter seinem Hause weg nach Sanktrain hinabziehen, dann kommt ein befreiendes Lächeln über ihn und er streckt die Hand aus und kraut dem schnurrenden Peterl das schimmernde Nackenfell: Gelt, Peterl, wir bleiben zusammen mit unserem besonderen Sonntag!

Oder hat am Ende der da groß Freunde gehabt? Steht ja doch deutlich im Evangelium zu lesen, wie er einsamer und einsamer geworden, je näher es auf Golgatha zu ging. Die Zwölfe, ja; und grad mit denen ist er lang nicht immer zufrieden gewesen. Der hat ihn verraten; der hat ihn verleugnet; der hat nicht an ihn geglaubt; und untereinander haben sie sich um Rang und kommende Erbschaft gezankt.

Oder der Doktor: das war auch so einer. Dem haben sie auch alle Güte mit Falsch vergolten. Der Peter, wenn er den nicht für einen ausgebrühten Lügner kennte! Muß schon an manchen Menschen liegen, daß sie nicht anders als durch schwarzen Haß nach ihrer Höh gelangen und mit jedem Schritt unter ärgere Feinde treten. Was hatte der Doktor denn eigentlich groß verbrochen, daß sie auf ihn haßten wie die Krähen auf den Weih? Daß er auf das heilige Wunderöl gescholten und auf den pechfinsteren Unverstand, war das solche Sünd? … Ihm selbst hat das teure Gnadenöl ja auch nicht für einen Kreuzer geholfen, hundertmal hätt er sterben können wegen dem, und die schönen Gulden, die das Vronele in seiner unvernünftigen Himmelangst an die Gesundbeterin verschwendet, die waren auch zum Fenster hinausgeworfen. Nichts als Lärm gemacht und gewaltig gegessen hat die Emmerenz; so hat das Vronele selbst ihm später eingestanden. In der Früh Kaffee, und mittags wieder einen, und zur Vesper den dritten, und von allem viel und nichts gut genug, und das schöne harte Geld obendrein. Bis der Doktor dann endlich kam. Der hatte geholfen mit seinen geduldigen, treuen Besuchen und seinem einfachen Trost und seinen strengen Weisungen. Und genommen hat er nichts dafür; kaum daß er sich schließlich einen kleinen laubgeschnitzten Rahmen aufdrängen ließ, da er, der Marterl-Lukas, ihm doch in hellen Freuden sein Bestes gegeben hätte, den Sankt Johannes mit Kelch und Schlange und Adler oder den auferstandenen Erlöser mit der wehenden Osterfahne … Ja, geholfen hat ihm nur der Doktor; wenn der nicht gewesen wär mit seinen Salben und Wassern und seiner zärtlich ruhigen Hand, dann b'hüt Gott, Marterl-Lukas, dann hättens dir dein eigenes Kreuz über den Kopf in den Rasen g'setzt, dann könnt ein anderer an deiner Statt einen neuen Heiland schnitzen für den verbrannten. Das Wunderöl, das hätt bloß dem Meßner zu einem Geläut verholfen und dem Totengräber zu einem Gulden und der Erden zu einem neuen Bettgeher. Da stand nichts auf dagegen, das war die Wahrheit. Und ja, das eigene Gebet, das hat gewiß auch geholfen, aber so gar viel beten hat er nicht können in der Nacht seiner Schmerzen, da muß schon der liebe Gott mit dem Herrn Doktor gewesen sein, und wenn der es hat richten gekonnt, dann war Segen bei seiner Hand, mochten die Leut reden, was sie wollten.

Die Späne kräuseln; im offenen Fenster ob der Bank trillert der zitronengelbe Hansel. Ein früher Falter taumelt durch die müde Schmelzluft. Irgendwo im frühblühenden Unkraut summt eine Hummel. Der rosenbraune Häher streicht in hastigen Rucken von Wald zu Wald. Fern im Gehölz heult der wolkenblaue Tauber. Und doch ist die Welt so still, als halte sie in erschauerndem Gedächtnis den Atem an.

Nun haben sie ja wieder ein Wunder. Gerade heute, um diese Stunde muß es sich entscheiden. Da ist er doch neugierig, was da herauskommt. Er kennt sie ja doch, die kleine Regula mit den haselbraunen Flechten und den klaren, wehen Augen. Eben sie ist eine von den Wenigen, an denen er in demütiger Stille sein Gefallen findet; eigentlich die einzige. Ja, wie eine Heilige sieht sie schon aus. Es ist etwas Feines an ihr, das sie von allen anderen unterscheidet. Sie hat solch süßen Schmerz im Blick, und ihre schmalen Hände sehen aus, als könnten sie viel schenken und liebhaben und segnen. Wenn sie ihm einen Tag oder zweie geben möchte, er schnitzte nach ihrem Bilde gleich eine heilige Agnes oder Ursula oder einen seelenzarten Engel. Sie muß von Herzen gut sein. Einmal, eines Herbstsonntags, ist sie gekommen, das Vronele zu besuchen. Aber das Vronele war nicht daheim, hatte sich freie Stunden gemacht, im Walde droben Kronawetbeeren zu sammeln, für die der Apotheker drunten allemal ein schönes Geld bezahlt. Und so war er mit der Regula ganz allein geblieben. Und sie hat ihn gefragt, ob er noch große Schmerzen leide, und wie er gesagt hat, nein, Schmerzen leidet er nicht, nur mit der Freiheit ist's vorbei für immer, da sind ihre Augen ganz groß und tief geworden. Und dann hat sie seine neubegonnenen Schnitzwerke bewundert und sich alles ganz genau erklären lassen, den heiligen Johannes, den Sankt Sebastian – aber vor dem ist sie schier rot geworden, der heilige Märtyrer war noch nackt bis auf den Schurz, es fehlte ihm noch das Gewand der Pfeile und der Glorienreif um den jungen Lockenkopf, so war nichts als ein Mensch, und ein hübscher obendrein. Und den heiligen Antonius und den Sankt Franziskus, den Missionar mit dem kleinen Indianerbuben zur Rechten, und die heilige Notburga, alle ließ sie sich zeigen und ausführlich vorstellen. Und was sie berührte, das schien geweiht oder geheimnisvoll vergoldet, selbst seine Wunden, selbst sein armes Krüppeltum zwischen den beiden Humpelstöcken. Einer war ihm im Eifer entglitten, da bückte sie sich schnell und reichte ihm die Stütze, und von Stund an war ihm der Stecken heilig wie ein Ehrenzeichen.

Ja, sie könnte schon eine Heilige sein, die kleine Regula mit den klaren, traurigen Augen und der Flechtenkrone ihres haselbraunen Haares. Aber was die Leute so erzählen und nacherzählen, das geht ja schier ins Wunderhaftige. Zu ihm drang freilich nur dann und wann ein halbverwehtes Gerücht. Was eben das Vronele auf ihren täglichen Wegen auffängt und heimbringt, das ist alles. Aber das ist schon genug, und in den letzten Wochen hat es sich gemehrt. Von allen Seiten klingt Hall und Widerhall des Wunders durch die Täler, und wenn das Vronele recht berichtet, so gebärden sich die Menschen rein wie toll. Also muß etwas Wahres daran sein. Sie soll sehr krank sein, die kleine Regula; außer Haus hat man sie schon seit Winter nicht gesehen, und seit Fastenbeginn liegt sie zu Bett, ohne Nahrung, fast immerzu im Schlafe. Das allein geht schon nicht mit gemeinen Dingen zu, denn das kann keine gewöhnliche Krankheit sein. Aber damit nicht genug: wenn ein Mensch sich von seinem Lager ablöst, um darüber zu schweben wie ein Blatt im Winde, und er empfängt gar die heilige Zehrung aus der Luft, so hat das keinen Namen mehr als den des Wunders. Und das soll geschehen sein, sagen sie. Aber auch das sei noch nicht das Letzte. Am Blutfreitag werde sie wahr und gewißlich die Gnade der heiligen Wundenmale empfangen wie einst Sankt Franziskus. Der Blutschweiß sei ihr ja schon an den letzten Freitagen aus der Stirne gebrochen. Von nichts anderem gehe die Rede von Hof zu Hof, berichtete das Vronele; und das Vronele war eine Mißtrauische, der grausame Höcker lastete auf ihr und machte sie wachsam gegen jedermann. Die Köpfe der Leute brannten nur so vor Eifer und Neugier, und der Herr Dechant habe in der letzten Predigt von den Zeichen gesprochen, die an diesem Tale geschehen und die in dieser Zeit so selten seien wie die Quellen in der Wüste … Wunder, Wunder, nichts wie Wunder. Wenn sich ja einer zum Marterl-Lukas verirrt, gleich fangt er vom Wunder an. Unten in Sanktrain sollen sie davon reden, auf dem Platz, bei den Krämern, überall. Das Wunder. Die Heilige … Die arme kleine Regula, daß sie an ihrem zarten Leibe die blutigen Kreuzmale erleiden soll! Und wie das nur möglich ist? … Da wird's am Ende doch noch wahr, daß er für einen neuen Altar ihr Bildnis aus weichem Linden- oder dichtkörnigem Zirbenholz schnitzt! Das Bild der armen kleinen Sankta Regula Schwandtner, das Werk des Marterl-Lukas – geht doch seltsamlich zu auf der Welt.

Die tiefe Stille! Der feierliche leise Föhn, der in den Wipfeln der Rottannen braust, so sanft und schläfernd, daß die Wipfel sich kaum neigen. Die braune Gartenerde riecht so gut nach Schmelzfrühling. Fern in den Bergen donnern die späten Lahnen. Und nun geschieht es vielleicht an ihren reinen Jungfrauengliedern, das geheimnisvolle Liebeswunder der Wundenmale, von dem sie alle wochenlang in irrer Hitze gesprochen. Nun geht er vielleicht ein zu ihr, dessen nackte Marterleib da unter seinen Händen zum Bilde erwacht, der Freundlose, der Einsam, der Verratene. Fast grimmig knirscht die Klinge ins willige Holz.

Fällt der Schatten eines Mannes über den Zaun, und wie der Marterl-Lukas aufsieht, steht der Doktor vor ihm. Gleich legt er Messer und Werk beiseite, den seltenen Gast zu begrüßen.

»Jesus, Herr Doktor, ist das eine Freud. Schad, und das Vronele ist grad heut nach Sanktrain hinunter, weil dann doch die Feiertag sind.«

»Hab sie begegnet,« sagt der Doktor; »grad ober der Kirchen sind wir aufeinandergetroffen, hat mir schon alles erzählt. Allweil fleißig, Lukas? Hab schon gehört, fünfundsiebzig Gulden ist denen der Herr Jesus wert, na, vor bald zweitausend Jahren war er noch billiger. Wird's das da?«

Der Marterl-Lukas rückt den vorgeschnittenen Heilandsleib zum Betrachten zurecht.

»Daß der Herr Doktor grad dazukommen muß. Und gleich alles erraten!«

»Kann's doch nicht abwaschen von mir,« sagt der Doktor; »hab's tun müssen, recht oder unrecht. Der ist für alle gestorben, und war ein lebendiger Mensch … Nur nicht zuviel krummsitzen, Lukas, das hat das arme Kreuz nicht gern. Und früh Feierabend machen und ins Haus gehen, eh daß der Tau kommt, Lukas.«

»Wo's so schön ist heraußen,« entschuldigt der Schnitzer; »aber möcht der Herr Doktor nicht hereinkommen? Ich hätt ein paar neue Sachen, der Herr Doktor hat ja ein Verstand dafür. Vier Evangelisten zu einer Neuen Kanzel in Buchau drüben, der heilige Johannes, der ist noch schöner ausgefallen wie der damals, der Herr Doktor erinnert sich. Nur mit dem Matthäus bin ich noch nicht fertig. Da ist das dazwischen kommen. Und zu einem alten Engerl von der Korbinikirchen hab ich ein Paarl g'macht, paßt akkurat, mit ganz dicke Handerln und Wolken wie die Dampfnudeln, wo's alte ganz verzundert war. Wenn der Herr Doktor sich das vielleicht anschauen möcht?«

»Ein andermal, Lukas. Hab noch einen Weg, zu einer Kranken hinauf, darf mich nicht aufhalten, komm sonst spät.«

Der Marterl-Lukas sieht dem Doktor grad ins Gesicht.

»Muß der Herr Doktor grad heut hinauf?«

»Man muß, wann man gerufen wird, Lukas.«

»Grad heut, da g'fallt's mir nicht, wenn der Herr Doktor hinaufgeht.«

»Kann mir schon denken, Lukas. Eben darum. War einer, ist auch grad auf Ostern mitten unter seine Feinde gegangen. Weil er gerufen war.«

»Weil die Leut so garschtige Sachen g'redt haben.«

»Laß sie, Lukas, haben immer viel geredet.«

»Wo sie rein narrisch sind, die Leut. Nix wie Wunder, auf und nieder, die reine Sucht.«

»Ist auch eine. Laß sie halt, Lukas. Wenn sie schon rein närrisch sind. Und gelt, du hättst mich nicht allein gelassen, wärst auf gesunde Füß gestanden, in selbiger Christnacht?«

»Herr Doktor,« ruft der Marterl-Lukas, »meine ganzen Heiligen und mich selber hätt ich ang'zündet, wenn's hätt sein müssen.«

»Dir glaub ich's, Lukas. Mich selber angezündet, siehst, das hab ich auch. Aber das gilt nichts, wird nicht gerechnet … Alsdann gute Feiertag, Lukas, und keine Sorg, bis an mich reicht die Sucht nicht heran. Und mach ihn halt so schön, als du kannst, den neuen Heiland, und vergiß mich nicht dabei.«

Die Gestalt des Doktors verschwindet im Anstieg des schmalen Rainpfades. Der Marterl-Lukas bleibt allein mit seinen Gedanken und mit seinem Werk.

Wieder wächst ein Wolkenschatten über Gehölz und Saat und Garten heran. Der Tauber hält ein mit seinem brünstigen Ruf, der Schwarzdroßler birgt sich verschüchtert im knospenden Gesträuch, und der zartgeblümte Anger sieht aus, als wäre ein kalter Aschenschauer über ihn hinweggegangen.

* * *

Jetzt läuft ein tödlicher Schauer durch den jungen, blaßblühenden Leib.

Die Bettstatt knarrt, als stemmte sich die Gewalt eines Erstarrens gegen ihre Wandungen.

Ein Sonnenstrahl trifft in die Stube; der versilberte Leib des Gekreuzigten zu Häupten des Lagers entzündet sich, flammt auf und verlischt.

Am Fußende steht die Emmerenz, den Rosenkranz in den knochigen Händen, den Blick starr auf ihr Kind gerichtet.

In der offenen Türe drängen sich die Knienden.

»Heilige Agnes,
Heilige Cäcilia,
Heilige Katharina,
Heilige Anastasia,
Alle heiligen Jungfrauen und Witwen – bittet für uns …«

Der junge Schmölzhofer kauert hart am Türpfosten.

Ihm ist nicht nach Litanei um die Seele. Zu tief greift das heilige Schauspiel in ihn hinein. Jetzt und jetzt kann es geschehn. Er wird es vielleicht gar nicht mitanschauen können. Sein Atem stockt; auf seiner eigenen Stirne klebt der eisige Schweiß. Das Herz schmiedet und versinkt von Schlag zu Schlag. Die Zähne klappern aufeinander; er kann die Kiefer nicht halten. Nur gebannt hinstieren, das muß er immerfort.

Ein tiefes, todwundes Stöhnen, wie das einer Sterbenden.

Die Schwandtnerin rührt sich nicht.

Der Schmölzhofer würde ums Leben gern aufstehen und fliehen, vermöchte er es. Aber da ist eine Gewalt, die ihn mit fürchterlicher Schwere niederhält. Etwas Grauenvolles geht um in der Stube. In seinen eigenen Händen brennt es, als sollten da rote alte Wunden aufbrechen. Das Herz krampft sich schneidendweh zusammen. Über all dem ein steinerner Zwang im Nacken, der ihn schwindeln und fast einschlafen macht und dennoch die Augen fast aus den Höhlen treibt, daß er stieren Blicks nach dem Bette starren muß.

»Von allem Übel,
Von aller Sünde,
Von deinem Zorne – erlöse uns, o Herr.«

Die Uhr tickt so furchtbar grell. Jetzt weist der Zeiger den Beginn der dritten Stunde.

Wieder das jammervolle Ächzen.

Gerade ins verzerrte Gesicht der Schlafenden kann der Schmölzhofer sehen. Die Stirne unter den braunen Flechten blank von Tau; um die blassen Lippen die Bitternisse einer furchtbaren Angst.

Da: sie rührt die dünnen Arme.

Es graut ein Kampf durch ihren Körper.

Die Litanei verstummt.

Erstickend still. Herzen schlagen. Draußen der Hahn. Eine Diele knackt schreckhaft laut. In der Uhr überspringt etwas mit scharfem Eisenschlag.

»Das Blut steht ihr auf der Stirn,« sagt eine Stimme mitten hinein.

Es hallt wider wie in einer Kirche.

Wirklich, das Blut steht ihr auf der Stirne.

Man sieht es ja ganz deutlich.

Große, rosenfarbene Tropfen, einzeln und schwer.

Das Haar darüber genau wie eine Dornenkrone.

Die geschlossenen Lider in tiefen, schattenblauen Höhlen.

Wieder kräht draußen der Hahn.

Durch einen schmalen Spalt an den Schiebefürhängen vorbei blitzt die schmale, scharfe Sonnenklinge herein, verklärt wimmelnden Staub zu blauem Weihrauch und trifft zum anderen Mal den versilberten Leib des Gekreuzigten.

Dann kommt die Wolke, und die Stube versinkt in schwüle Krankendämmerung.

Sie hält noch immer die schmächtigen Arme emporgestreckt.

In der Uhr schnarcht die Feder.

Stunden gehen. Ewigkeiten.

Das tiefe, rauhe Atmen der Kranken.

Jetzt kriecht der große Zeiger auf die Mitte zu, der kleine auf das Viertel.

Die Gesundbeterin steht unbewegt am Fußende des Bettes. Die einzige, die nicht kniet.

Wieder die Stimme, plötzlich, überlaut und erschreckend.

»Es hat sie ja völlig aufg'hoben. Sje liegt ja nimmer auf.«

Der Schmölzhofer strengt sich an.

Wirklich, jetzt sieht er's auch.

Man sieht es sogar ganz deutlich.

Es ist etwas zwischen ihr und den Kissen.

Das Bett scheint unter ihr versunken zu sein. Und sie ist in der Luft hangen geblieben.

Es sind nicht nur Menschen in der Stube.

Es ist noch etwas da, was man nicht sieht. Etwas Großes, Übergewaltiges.

Eine schreckliche Gegenwart. Eine berstende Spannung. Ein Sturm.

Etwas, das über dem Bette schwebt.

Ein gespenstiger Schatten davon fällt auf die Heilige. Wie der Schatten eines ungeheuren Adlers.

Die eingesperrte Luft ist voll kaltem Flügelschlagen.

Man vernimmt das leise Klingen eines Kelches. Entferntes Hämmern und Pochen. Das zögernde Sickern roter Quellen.

Die Stimme: »Jetzt is der Herr Jesus bei ihr.«

»Durch dein Kreuz und Leiden,
Durch deinen Tod und dein Begräbnis,
Durch deine heilige Auferstehung,
Durch deine wunderbare Himmelfahrt – erlöse uns, o Herr.«

»Jetzt kommt der Herr Jesus zu ihr … Jetzt wird er sie zu sich nehmen … Jetzt wirds zum Himmel auffahren …«

»Am Tage des Gerichtes – erlöse uns, o Herr!
Wir Sünder – wir bitten dich, erhöre uns!
Daß du uns verschonest,
Daß du uns verzeihest,
Daß du uns zur wahren Buße führen wollest – wir bitten dich, erhöre uns …«

Plötzlich Unruhe, Murmeln, Drängen. Als stürzte sich eine Gefahr oder eine Angst über die Knienden.

Als brauste von draußen eine heiße Flamme zwischen sie hinein.

Einige poltern auf. Schreie, Flüche. Rasseln von Rosenkränzen. Stauen und Zurückstarren.

Die Schwandtnerin prallt zornig herum.

Auch den Schmölzhofer reißt's empor. Ah, das ist wie eine Befreiung.

Da steht schon der Doktor mitten unter ihnen.

Die Schwandtnerin ihm entgegen. Ihre Augen sprühen.

Er aber kehrt sich nicht an sie.

Jetzt beugt er sich über das Lager der Heiligen.

»Regula. Regula! Wach auf! Ich bin bei dir!«

Und dann zu den anderen:

»Das ist kein Wunder, sondern ein Verbrechen!«

Die Gesundbeterin stößt zu wie eine Adlerin.

»Du … du … du Christusschänder … du Heide … du Satan …«

Das reißt ein Tor in die Stille. Der Sturm brüllt los.

»Hinaus mit ihm! … Schlagts ihn tot!«

»Wo is die Hacken? … Schwandtnerin, wo hast die Hacken?«

»Das is der, der den Herrn Jesus anzündt hat …«

»Der g'sagt hat, daß keine Heiligen gibt und kein Herrgott net …«

»Wie ein Hund schlagen mir ihn tot.«

»Ihn selber nagelts auf, damit daß er's g'spürt.«

»Aufnageln ja! Auf den Zaun. Wie die Eulen und Habicht!«

»Wo du g'sagt hast, daß du selber der Herr Jesus bist!«

»Aufnageln, daß er die Wundmal verspürt, die Kleider reißts ihm vom Leib, dann soll er zeigen, was er is!«

»Ah was, lieber derschlagen, wie an süchtigen Hund!«

Die Stube ist schwarz von Gebrüll.

Verzerrte Fratzen, geifernde Mäuler, blutglotzende Augen. Gierige Geierinnenkrallen.

Die Stimme des Überacher, lauter als alles Geheul:

»Derschlagts ihn. Tuts ein guts Werk. Mit der Hacken übern Schädel.«

Ein bohrender Weiberschrei: »Aufnageln, aufnageln! Nacketer! Daß Blut rinnt! Aus seine Wundmale! Is ja heut Karfreitag! Damit er sein Karfreitag hat.«

Hart vor ihm die Schwandtnerin:

»Was sagst? … Verbrechen sagst? … Du … du …«

Sieht mit keuchendem Blick um sich.

Reißt das Kruzifix von der Wand. Holt aus.

Ein heller Schrei: Mutter! … Mutter! …

Brüllender Sturm: Derschlag ihn, Schwandtnerin! … Derschlag ihn! … Mit dem Kreuz, ja! …

Der Doktor weicht nicht zur Seite. Streckt nicht einmal den Arm vor. Tritt noch dichter an sie heran. Ganz ruhig.

»Schlag zu, Emmerenz … Hau ihm's übern Grind …«

Aber die Emmerenz schlagt nicht zu. Weicht zurück.

»Hau ihm's, Emmerenz! … Den Schädel drisch ihm ein! … Den Grind drisch ihm ein, dann nageln mir ihn an den Türpfosten!«

Sie weicht zurück.

»Hau zu! … Gib ihm's … Blut, Blut! … Die Hacken holts …«

Das Kruzifix klirrt gelähmt zu Boden.

Die Schwandtnerin greift nach dem Herzen. Dreht sich. Schlägt dumpf hin.

Betäubende Stille.

»Regula, fürcht dich nicht. Ich bin bei dir. Sie tun dir nichts.«

Da hat er sie schon in den Armen.

Ein Griff, ihr Hemd zerreißt.

»Ist das auch ein Wunder, diese Wundmale? Kommen auch vom Herrn Jesus, die Fleck und Striemen? Ich sag Euch, die echten Wundenmale, die kommen von innen heraus. Wer die nicht hat, der hat auch die an Händen und Herz nicht. Das Kind da hat schon die echten Male, aber ihr wißts es nicht und sehts es nicht. Seids keine Narren, Leut, gehts nach Haus, und betets zum lieben Gott um Vergebung eurer Sünden.«

Er schlägt die blasse Heilige in seinen weiten, grauen Wettermantel.

Ihr Blick ist offen und voll Tod und Tiefe und weiß nichts von der Blöße ihres wunden Leibes.

»Fürcht dich nicht, Regula. Ich halt dich. Geschieht dir nichts mehr.«

Dumpf und starr weicht das Volk zurück.

Und er trägt sie durch die finstere Gasse hinaus, in des Frühlings schattende Kreuzigungsstunde.

* * *

Was eigentlich geschehen, das weiß niemand.

Der Doktor ist mitten unter ihnen gewesen, und das Bett der Heiligen liegt leer, und dort liegt noch immer die Schwandtnerin als dunkler Hauf, und draußen kräht der Hahn.

Mitten durch sie ist er geschritten. Und sie haben ihn nicht erschlagen. Haben ihn nicht am Türpfosten gekreuzigt. Haben ihm nicht ein Haar gekrümmt. Und vor ihm her ist etwas gegangen, was sie lähmte und beiseite drängte und jeden Arm sinken ließ.

Die meisten verziehen sich, still, wie nach einem verdonnerten Fest.

Der Schmölzhofer der erste.

Da war etwas nicht mit rechten Dingen geschehen.

Das Weitere würde sich schon dazufinden, wenn man erst einmal darüber zusammensaß und die abgerissenen Fäden wieder verknotete.

Einige bleiben, der Überacher, der Rainstaller, die Rottenbacherin, der alte Geiting, der Fern, die Totenpackerin, die alte Ebner-Zenz, die Grießbäuerin.

Da rührt sich die Emmerenz.

»Hab schon gemeint, daß aus is mit dir und fertig,« sagt die Totenpackerin; »hing'schlagen bist wie ein Baum. Hab net gemeint, daß dich wieder aufklaubst.«

Die Schwandtnerin stiert wild um sich.

»Wo ist die Regula? Was habts mit ihr gemacht?«

Der Fern zuckt die Achseln.

»Wegtragen hat ers halt.«

»Wer? Wegtragen! Wer?«

Niemand antwortet.

Endlich der Überacher:

»Na, der – der Doktor.«

»Und ihr – ihr habts ihn lassen?«

Der Rainstaller versorgt den Rosenkranz in der Hosentasche.

»Ja, sixt, was kannst da machen? Das mußt halt selber mit ihm abmachen, Schwandtnerin, du selber. Is ja dein Kind, net? Alsdann. I bin halt für kein Skandal net, was kannst da machen?«

Die Emmerenz starrt fassungslos.

»Und ihr – ihr habts ihn lassen? Die Regula wegtragen? Ihr habts ihn lassen?«

Der Überacher steckt sein Gebetbuch ein.

»Freili woll, Schwandtnerin, was willst da machen, hä? Du bist ja net bei dir g'wesen, und das is all's so auf amal kommen. Kannst ja du rechten mit ihm. Wannst magst. Leicht is so am besten, weißt, krank is halt doch, die Regula, was man so g'sehn hat, ganz zerschlagen, wie ein stützigs Roß.«

»Ja, ja,« seufzt die alte Ebner-Zenz, während sie das Paternoster sorgfältig ins umfangreiche Schnupftuch einwickelt; »das is halt ganz anders ausgangen, als wie man sich's verhofft hat.«

»Na, ja, freilich, und du selber hast ja aa net zuschlagen können,« sagt die Grießbäuerin; »das, wie's di draht hat und wiest hing'schlagen bist, das war am grauslichsten zu sehen. Da hat man halt an nix andres mehr dacht. Am besten, weißt, man hat nix zu schaffen mit solche Sachen. Jesses, schon dreie um. Da muß i schauen, daß i mach, der weite Weg und am End is die braune Henn herunter vom Korb, wenn i net da bin, paßt keiner auf, das is schon so ein Luder, das net sitzen mag.«

»Ja, sixt, Emmrenz,« entschuldigt der Fern, »mir haben halt g'meint, den wird gleich der Herrgott selber mit sei'm Donnerwetter derschlagen. Hätt ja g'schehn müssen, eigentli, net, da hätt eigentli was g'schehn müssen, wann's schon so war. Dann hätt der die Regula gar net auf'n Arm nehmen können und dertragen als wie nix. Aber siehst, da hat si nix g'rührt, na, und bal der Herrgott selber net mag, was willst nacher machen? … Ham mir'n halt g'lassen, sixt, wie du umg'fallen bist, da ham mir uns dacht, besser net dreinmischen, könnt schiech wern, und wo der Herrgott selber nix dergleichen tut, und heiliger Karfreitag a no, da werd ma do net raufet wern, ane Todsünd, no schöner, wegen aner Sach, die an gar nix angeht.«

»Da hat er recht, der Fern,« bestätigt der Rainstaller; »i bin halt für kein Skandal net, bloß Weg und Zwidrigkeit, und nix hast davon.«

Greift nach seinem Hute, der auf dem Ziehspind liegt.

Die Emmerenz steht noch immer starr.

»Und ihr habts ihn lassen? … Die Regula wegtragen lassen? … Ludern seids, falsche, alle mitsamm … Ludern seids, Mistviecher, falsche, verlogene! … Eh, schauts, daß weiterkommts … Brauch euch nimmer, Bagasch.«

Tritt der Üheracher breit vor.

»Du, G'sundbeterin – tu fei obacht geben, was redtst, ja? Dös werd si ja aufweisen, ob du so was frei behaupten derfst … Dös werd si no aufweisen, verstehst … Wie is denn dös nacher mit dem Wunder, hä? … Und mit dem zerschlagenen Buckel von der Regula, hä? … Wie werd dir denn da, hä? … Aber mir, mir hätten für di d' Suppen ausbrocken dürfen, hä? … Dös hätt d'r paßt, gel? … Alsdann tu du fei obacht geben, was redtst, ja? … Dös merk dir. Schwindel z'erscht, weiß Gott, was da ang'stellt hast, und nacha no aufbegehren! Dös könnt ma brauchen … Besser, mir gehn. Jetzt hast es g'hört, weilst auf andre Art net hast's schmecken wollen. Gehn mir, is g'scheiter.«

»Wahr is,« bekräftigt der Rainstaller; »wo i eh no den Klee g'schwind anbauen möcht vor die Feiertäg, auf der oberen Birketbreiten, weißt.«

Die Emmerenz erwidert nichts zu alldem. Hebt das Kruzifix vom Boden auf und hängt es dem Schragen zu Haupt. Zieht die zerknitterten Laken zurecht, legt die Kissen gerade. Steht unbewegt und stiert in das offene Bett hinab, das noch immer die Formen des jungen Körpers zeigt. Bricht plötzlich in die Knie. Wühlt ihr Gesicht in die warmen Laken, verkrallt sich in Kissen und Decken. Über ihre harten Schultern ein wütender Schauer nach dem anderen.

»Lassen mirs gehn,« mahnt der Überacher; »ham eh nix mehr zu suchen dahier.«

Der Fernbauer geht voraus, und die anderen folgen.

Vor dem Zaun steht der Geisterer, als habe er auf sie gewartet.

»Mei, der Geisterer. Lebst denn allweil noch?«

»Weckt mich halt auf von einem Frühjahr aufs andre. Dazwischen bin ich halt tot.«

»Was suchst denn dahier?«

»War einer, der hat bei hellem Tag Menschen g'sucht mit der Latern. Könnt sein, daß ich dasselbige such.«

»Den Geisterer hörts an. Aber Wurzen und 's Geld von die, wo net aufhören, das findst am End ohne Latern, gel?«

»Grad wie andre. Alles is Wurz. Solang daß Mensch bist, so lang mußt von die Menschen und ihrer Narrheit leben. Du und ich, und die da drin und alle.«

»Was weißt von der da drin.«

»Mei, was ich die längst schon weiß.«

»Gehst Wurzen graben?«

»Hab die meine schon graben. Ganz eine b'sondre, wachst net jeden Karfreitag, alle hundert Jahr einmal. Und findt auch net ein jeder, da muß man schon anders geboren sein.«

»Geh, tu bloß net so g'scheit, Geisterer. Wo bist denn du nacher geboren. Wost selber net weißt, woher daß bist und wie daß heißen tust.«

»Braucht's auch net. Wo ich her bin, da geh ich hin, und ihr dergehts es euer Lebtag net. Besser kümmerts euch net drum, habts mich nie nach dem Trauschein g'fragt, wann ihr mich braucht habts, alsdann laßts es g'scheiter. Wann ihr den Geisterer rufts, komm ich, auf ein anderen Namen hör ich net.«

»Je, dir sein ja die Zähn g'wachsen auf deine alten Tag,« spottet der Rainstaller; »hast völlig wieder beißen g'lernt übern Winter.«

»Leicht möglich. Dem einen wachsen die Zähn, und dem andern der Geldsack, und dem wachsen die Ohren zu und dem die Augen und den allermeisten das Herz. Kindern gibst ein Wurz zum Zahnen, bei die Alten geht's von selber. Grad gegens Blindsein und Taubsein und Schlechtsein, da gibt's keine Wurzen, sixt. Außer die man selber grabt, aber als a Blinder findt man's net, und als a Tauber hört man net davon reden, und als a Schlechter sticht man daneben und grabts Gift statt der Arznei. Alsdann 's God, und wann ihr bitteren Enz brauchts, schickts bloß um den Geisterer, der brennt noch allweil ein scharfen.«

Der Alte wendet sich und steigt gemach den Feldpfad hinan, der sinkenden Sonne nach.

»Den haben die Jahr a ganz verdraht g'macht,« sagt der Rainstaller; »so lang leben und blöd werden, heißt a nix.«

»Mi g'freut heut 's Ganze nimmer,« meint der Überacher und spuckt breit und braun aus.

»Besser net dran denken, jetzt,« mahnt der Fern; »in a Täg a zwei da kommen mir schon aufs Rechte. Dös muß beredet werden, so werd net aufg'spüllt mit uns.«

»Lass'n mir fein die Hand von der Sach,« warnt der Rainstaller; »dös geht uns gar nix an, und dös werd si ja aufweisen, was da all's aussawachst. I bin für kan Skandal net, nix hast davon als wie Lauferei und Sekkatur und Zwidrigkeiten, und nix schaut dabei heraus. I bin schon amal für kan Skandal net.«

* * *

Der junge Pfarrverweser saß tiefbetrübt über den Matrikelfolianten.

Verena Kathrein war gestorben, an diesem Mittwoch nach Sankt Markus, um neun Uhr vormittags, versehen mit den Tröstungen der heiligen Sakramente.

Verena Kathrein war gestorben.

Am sechzehnten Mai hätte sie ihr einundzwanzigstes Jahr vollendet.

Langsam füllte Benedikt die unbarmherzig steifen, kaltbehördlichen Rubriken aus.

Verena Maria Martha Kathrein … Tochter des Florian Kathrein, Oberlehrer zu Unzing, und der weiland Helena Kathrein, geborenen Pachtler …

Und draußen psallierten die Amseln, und die Stare schmatzten, und die Hecken blühten, und das Winterkorn schoß bald in Ähren; und Verena Kathrein war gestorben.

Wie der Alte es genommen, das war beinahe das Erschütterndste.

»Ich habe es ja gewußt. Aber was hätte ich mich voraus grämen sollen? Ich habe mich über jeden Tag gefreut, der ihr und mir geblieben ist. Von jedem Menschen weiß man, daß er stirbt; darum soll man ihn genießen, solange er blüht. Sie hat es ja gut, die Verena. Sie hat alles vor sich, die ganze andere Ewigkeit. Was soll ich traurig sein? Was sie war, das bleibt bei mir, das habe ich jeden Tag, solange es mit mir durch die Sanduhr geht. Und daß sie einmal hat sterben müssen, das war so wie so gewiß. Sie wäre vielleicht enttäuscht worden. Je besser einer ist, desto mehr wird er enttäuscht. Jeder Mensch lebt gern, aber doch nur wegen der einen Stunde Freude auf hundert Stunden Weh. Bis man sich da hinauflernt, das zu verstehen und überall seine Mitte zu finden, das währt bitter lang. Unsere Verena hat's gut, sie ist durch die Klamm hindurch. Jetzt ist sie daheim, im Meer.«

Und er holte Gartenmesser und Bast hervor, um nach seiner Gewohnheit den Frühlingsmittag bei Erde und Pflanze zu verbringen.

»Ich danke Ihnen schön, Herr Doktor Siebenschein. Daß andere den Verstorbenen geliebt haben, das sieht man gerne. Kommen Sie doch manchmal zu uns, daß wir von unserer Verena sprechen. Sie wird uns nicht verloren gehen, nicht wahr?«

Dann war Benedikt mit Marianne allein geblieben.

»Aber doch empfindet er es anders als er sagt,« seufzte Marianne; »ich weiß ja, nach dem Tode der Mutter, da war er gerade so, da ist er vom Sterbebett weg zur Heftlade gegangen, als ob er gerade nur ein Licht verlöscht hätte. Jetzt wird er bis in die Nacht hinein seinen Gram in die Erde graben und neuen heraufwühlen. Er mag es nur nicht zeigen und flieht sich selbst.«

»Er ist ein Christ, wie es nur wenige gibt,« sagte Siebenschein warm; »wir haben vom echten, starken Christentum viel eingebüßt, darum sind wir so haltlos in unserem Leid. Er ist ein Vorbild, sehen Sie. Wir betrauern ja immer nur uns selber, nicht den Dahingegangenen.«

»Ist aber doch eine furchtbare Ungerechtigkeit, daß solch ein blühendes junges Leben mitten im Frühling gebrochen wird,« widersprach Marianne bitter; »da geht einem bald noch das bißchen Christentum unter. Kinder wissen nicht, was sie lassen, alte Leute haben alles hinter sich. Aber ein junger Mensch, der eben erst in die Sonne hineingeht!«

Benedikt senkte den Kopf. Hier sah er sich an der Grenze. Was sollte er sagen? Die Bauern hatten für ihre Schicksale stets ein hartes, kurz abfertigendes Wort zur Hand. Sie duldeten still und säeten und ernteten weiter; sie ließen sich selbst in ihrer Erdschwere geschehen und waren Geschöpf, das nicht klagt und nicht jubelt, sondern wird und vergeht. Da fand ein Bibelspruch Halt und Widerhall; da kam man im Unvermeidlichen zusammen und reichte sich übers Grab weg die Hände und ging auseinander, jeder seinem Alltag nach. Aber Anklagen gegenüber sah er sich gänzlich wehrlos, mehr noch, da er selbst so voll Bitternis sich fühlte. Diesem Mädchen von den Seligpreisungen des Todes sprechen und Demut lehren, das hieß hohes Lebensfeuer mit trockner Spreu löschen wollen. Das ahnte er, und darum suchte er gar nicht erst nach der Weisheit des Hiob oder nach den Verheißungen des Evangeliums. Zu nahe war das alles, viel zu nahe, Mitleid, Jugend und Verlust; hier redete das Leben selbst mit allen seinen Rechten gegen den Tod, und vor seinen heißen Anklagen mußte jede Verteidigung verstummen.

»Wollen Sie sie nicht noch einmal sehen? Sie ist so schön.«

Benedikt folgte ihr ins Sterbezimmer.

Da lag nun Verena Kathrein, einen weißen Blütenkranz im ostermorgengoldnen Haar, angetan mit dem Schmuck ihrer lichten Jugend, die selbst den Tod abendlich verschönte. Nicht als hagerer kalter Greis schien er zu ihr gekommen zu sein, sondern als blumengekränzter Bräutigam. Als sei sie an den Seligkeiten eines Kusses gestorben, so sah die zarte Tote aus, und ihre Ruhe umgab sie nicht mit der Feierlichkeit eines schwarzen Mantels, sondern mit der Reinheit heller, wehender Seelengewänder. Sie lug im vollen Strahlenstrom der Nachmittagssonne, umwölkt vom feinen Weihrauch Millionen lebenstrunkener Stäubchen. In dieser Fülle von Glorie sahen die blassen Kerzen aus, als ob sie schliefen, krank und überflüssig wie der schwindende Mond im Tageshimmel.

Verena Kathrein war gestorben.

Benedikt erhob sich aus seinem stillen Gebet. Er hatte immerzu ins Angesicht der Toten sehen müssen, als sprächen ihm die blütenblassen Lippen aus ewigen Höhen herab das alte Vaterunser und den Mariengruß vor.

»Hier möchte man wohl sagen: Tochter des Jairus, steh auf!«

Marianne stand tränenlos am Fußende des Totenbettes.

»Arme Veri, so glücklich hätte sie werden können. Und nichts ist ihr in Erfüllung gegangen.«

»Vielleicht doch, Fräulein Marianne. Wir wissen es nur nicht. Was ist Erfüllung? Was wissen wir überhaupt? Wissen wir, ob nicht am Ende sie die Lebendige ist, und wir sind die Toten?«

»Vielleicht ist sie die Lebendige, und wir sind die Toten … Verlassen wenigstens Sie mich nicht, Herr Doktor.«

Siebenschein suchte nach ihren Händen.

»Ich bin ein Mensch, Fräulein Marianne, und Menschen haben die Wege ihrer Pflichten. Ich will gar nicht daran denken, daß ich über kurz oder lang diese liebe Fremde verlassen muß. Aber so lange ich hier bin, Fräulein Marianne, will ich Ihnen gerne alles geben, was ich in meiner Armut zu geben habe.«

Marianne wandte ihr Antlitz ab, der Toten zu; aber ihre Hände ließ sie ihm. Alles zuckte und brach in ihr. Und wenn er auch fühlte, was sie ihm in ihren beiden Händen gab, es war ja doch gleichgültig. Alles nur Einbildung und Wahn, echt nur das Leben selbst.

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Sie wissen ja nicht, wie das für mich sein wird, ohne Veri. Wollen Sie sich nicht ein kleines Andenken von ihr aufbewahren? Sie hat so gerne an Sie gedacht, sie hat sich um Sie gesorgt, damals als Sie krank waren, sie hat sich immer so auf Sie gefreut, Sie haben ihr mit Ihrer Musik so viele schöne Stunden geschenkt. Wollen Sie sich nicht ein kleines Andenken mitnehmen? Hier, ihr Gebetbuch?«

Benedikt zögerte.

»Aber ist es denn Ihnen nicht zu wert? Und Ihr Vater – ob es ihm recht ist?«

Marianne schüttelte den Kopf.

»Nehmen Sie es ruhig. Einem anderen gäbe ich's nicht. Wenn ich's in Ihren Händen weiß, ist's ja für mich nicht verloren. Ich weiß, Sie werden's in Ehren halten. Das habe ich selbst ihr zur ersten heiligen Kommunion geschenkt, ich darf es also nehmen und weitergeben. Daß jemand außer mir noch Teil hat an ihr, das ist mir ein Trost. Vielleicht wird das Buch Sie manchmal an unsere arme Verena erinnern. Sehen Sie hier, das Gebet des heiligen Bonaventura, das war ihr Lieblingsgebet.«

Sie blätterte um und fand die Stelle, die ein zartes gebräuntes Blümchen, mit einem falben Vierblatt zusammengebunden, zeichnete.

»Und ist so bald erhört worden,« sagte Benedikt; »nun ist sie aufgelöst und ist bei ihm.«

»Und sehen Sie, die kleine Blume und der Klee, mit einem Faden aus ihrem schönen Haar zusammengebunden. Behalten Sie auch das.«

Benedikt sah sich unwillkürlich nach der Toten um.

»Ja, ihr wunderschönes Haar. Mein Gott, mein Gott.«

Marianne schob die geöffnete Lade des Ziehspinds wieder zurück.

»Kommen Sie, Doktor Siebenschein. Es wird sonst zu schwer. Daß Sie mit mir bei ihr gewesen sind, ich werde es Ihnen nicht vergessen.«

Er nahm seinen Hut vom Stuhle.

»Nur daß ich zu tief mit Ihnen im Schmerze bin, mitten darin, Fräulein Marianne. Sonst wäre ich Ihnen zu dieser Stunde ein besserer Freund.«

»Das waren Sie auch so, und so erst recht. Übermorgen sehen wir uns ja wieder. Dann nehmen wir zusammen Abschied von ihr.«

»Nicht Abschied,« verwies Benedikt; »Abschied, das soll man Toten nie ins Grab sagen. Am Abende soll man nicht an die Nacht denken, sondern an den Morgen.«

Er stand mit ihr unter der Schulhaustüre.

»Sie haben recht. Nein, nicht Abschied. Und vielleicht kommen Sie dann ein bißchen zu uns. Ich bitte Sie darum. Der Alte wird es Ihnen auch danken. Ich weiß, sie sind so schauerlich und öd, diese ersten Abende. Immer sucht man und ruft man, und dann erinnert man sich. Vielleicht kommen Sie nachher ein bißchen zu uns.«

Siebenschein versprach es. Dann schritt er langsam dem Pfarrhause zu, und der ganze weißblühende Frühling war ihm fremd und unverständlich geworden.

Verena Kathrein war gestorben.

Da stand es nun in harten, teilnahmslosen Buchstaben, und er selbst hatte es geschrieben. Lange starrte er den frischglänzenden Eintrag an, bis die Tinte erblindete. Dann wuchtete er den staubenden Folianten mit einem Seufzer zu und versorgte ihn zu anderen Büchern der Lebendigen und der Toten.

* * *

Eben jetzt, zu sehr ungelegener Zeit, erhielt er den Besuch des Dechanten.

»Ich höre von einem erschütternden Trauerfall,« sagte Hetz nach der ersten Begrüßung; »ein Mädchen in der zartesten Blüte – das geht einem wider das gesunde Empfinden, nicht wahr, das ist immer furchtbar … Sie haben es ja sehr nett hier oben, Herr Doktor Siebenschein. Sehr nett und wohnlich. Ei, und die vielen Bücher! Alles Ihr Eigentum?«

»Das habe ich mir so zusammengespart,« gestand Benedikt; »die Güte Seiner Eminenz hat mir manches ermöglicht. Ich dachte, hier in der Einsamkeit …«

»Ganz recht. Jetzt werden Sie allerdings kaum dazukommen, was? Wirklich eine stattliche Bücherei. Selbst die Werke von Schell! Eine Rarität unter unsresgleichen. Tatsache.« Er wandte sich wieder vom Bücherspind zurück. »Sagen Sie, diese arme Verstorbene – der arme Doktor tut mir da wirklich leid. Nächst dem Vater. Sehen Sie, so bin ich. Aus seiner Haut kann der Mensch nicht heraus. Fräulein Kathrein war doch sozusagen die heimliche Braut des Herrn Doktor Wendt?«

Benedikt kämpfte seine ärgerliche Unruhe gewaltsam zurück.

»Ich weiß nicht das mindeste davon.«

Der Dechant rieb sich herzlich die Hände.

»Ich hörte so. Geht mich ja auch nichts weiter an. Menschliche Teilnahme – weiter nichts. Wahrscheinlich wieder nur so ein Gerücht … Diese Redereien. Nämlich, um es offen zu gestehen, ich bin eigentlich nur gekommen, in solch einer peinlichen Angelegenheit Ihren Rat einzuholen.«

Benedikt trat zurück. »Meinen Rat?«

Der Dechant rückte sich einen Stuhl zurecht. »Ja, Ihren Rat. Ich komme direkt, um Ihre Meinung zu hören. Vorausgesetzt, daß ich Sie nicht störe oder irgendwie aufhalte –?«

»Aber ich bitte, ich bitte. Ich stehe vollkommen zur Verfügung.«

»Also mit Ihrer gütigen Erlaubnis.« Der Dechant ließ sich umständlich nieder, wie zu einem peinlichen Verhör.

»Nämlich, es handelt sich da um einen Gegenstand von hoher Wichtigkeit. Ich setze Ihre Teilnahme und Ihr Verständnis für diesen Fall voraus. Sie haben wohl schon alles gehört. Die Wundmalgeschichte?«

»Nicht alles, Herr Dechant, und nur sehr mittelbar. Außerdem sehr widersprechend. Ich habe mich lieber in gar keine Gespräche über diese Ereignisse eingelassen.«

»Das war entschieden klug,« lobte der Dechant. »Aber wir werden doch irgendwie Stellung dazu nehmen müssen. Aber bevor wir weitergehen – was haben Sie gehört?«

»Nichts, als daß diese Gesundbeterin doch eine Schwindlerin und ihr Kind mißbraucht haben soll.«

»Doch, sagen Sie. Also Sie haben die Frau von allem Anfang an dafür gehalten?«

»Nein. Nicht geradezu.«

»Eben. Sehen Sie. Schwindlerin – Schwindlerin ist vielleicht zu viel.« Der Dechant nahm seine goldene Brille ab und putzte sie sorgfältig. Dann zielte er mit dem Blicke gekniffenen Auges durch die blitzende Linse hindurch nach irgendeinem Punkte.

»Schwindlerin – Schwindlerin ist vielleicht zu viel. Eine Schwindlerin möchte ich sie nicht geradezu nennen. Und Ihre Ansicht?« Der Dechant schien zerstreut.

»Ich habe vorläufig noch keine.«

Der Dechant setzte die Brille wieder auf und war nun wieder ganz bei der Sache.

»Also Schwindel – Schwindel ist nicht das richtige Wort. Nicht einmal Betrug. Nicht ich oder die anderen wurden betrogen, sondern diese Person hat sich selbst betrogen. Haben Sie sich zufällig einmal für Hypnotismus und dergleichen interessiert?«

»Nur soweit es im Unterrichte vorkam. Also Hypnose?«

»Tja. Eines abschließenden Urteils möchte ich mich vorläufig enthalten. Sie müssen wissen, daß ich der ganzen Sache mit voller Absicht ferne geblieben bin. Das war gut und nicht gut. Gut, weil es sich nun zeigt, daß jeder engere Zusammenhang mit diesem – nun, sagen wir meinetwegen: Wunder – mir selbst und dem ganzen Stande sehr leicht hätte falsch ausgelegt werden können. Sie kennen ja die Stimmung. Nicht gut: weil ich den wahren Sachverhalt sofort erkannt und diese, also gut, Enthüllung von recht unerwünschter Seite verhütet hätte.«

»So war also der Doktor tatsächlich im Recht,« stellte Benedikt fest.

»Im Recht und im Unrecht, wie Sie es nehmen. Objektiv war er vielleicht im Recht. Rein sachlich, so möchte ich es abgrenzen, ja, nicht wahr. Aber unsere objektiven Standpunkte sind wesentlich andere …« Er unterbrach sich. »Haben Sie zufällig ein Lehrbuch der Psychologie zur Hand?«

Siebenschein trat an das Bücherspind.

»Wenn Sie die Frau sähen, würden Sie mir beipflichten,« sprach der Dechant halb nach rückwärts. »Sie wird vielleicht gewisse Erfahrungen gesammelt haben, die – ah, ich danke.«

Er nahm den dargereichten Band und blätterte.

»Hypnotismus, Seite 331. Hypnotismus. Da haben wir's … Der Hypnotismus besteht darin, daß ein Mensch durch verschiedene Manipulationen – also das fällt weg …«

»Aber das Mädchen soll doch schwer mißhandelt worden sein,« wandte Benedikt ein.

Der Dechant winkte ab.

»… oder auch durch den bloßen Willensakt« – er betonte das Wort scharf und nickte beifällig – »des Hypnotiseurs in einen somnambulen Zustand, den sogenannten magnetischen Schlaf versetzt wird, um damit gewisse Wirkungen an und mit ihm zu erzielen …« Er las murmelnd weiter. Dann wieder laut: »Für jedes Wort, ja für jeden Willensakt des Hypnotiseurs ist er empfänglich und befolgt ihn, ja, muß ihn befolgen. Dieser kann mit ihm anfangen, was er nur immer will …« Er schlug den Band zu, klappte ihn wieder auf und las das Titelblatt. »Bitte, und das ist das Werk eines Professors an einer bischöflichen Akademie. Also ein für uns durchaus maßgebliches Buch. Sie machten vorhin einen Einwurf, Herr Doktor Siebenschein?«

»Das Kind soll aufs Blut geschlagen worden sein.«

»Das hat mit der ganzen Angelegenheit nicht notwendig etwas zu schaffen. Aber es paßt gut ins Bild, das ich mir selbst gemacht habe. Bitte, wollen Sie wieder Platz nehmen. Für mich liegt nun die ganze Sache so: –«

Er rückte enger an den Tisch heran.

»Wir müssen zunächst einmal die Lage übersehen. Es ist doch unbedingt notwendig, daß wir zu diesem aufsehenerregenden Ereignisse Stellung nehmen, nicht wahr. Wir können es nicht totschweigen. Wir müssen dem Volke Erklärungen geben; sonst hält es sich an jene Erklärungen, die zu verbreiten eine gewisse Presse nicht säumen dürfte. Bitte …« Er schnitt mit höflicher Gebärde einen drohenden Einwand ab. »Also. Für uns liegt die Sache so. Wir haben es hier mit einem in seiner Frömmigkeit überreizten Frauenzimmer zu tun. Dergleichen kommt ja vor, ja, nicht wahr. Wie Sie wohl wissen, äußern sich ja gewisse physiologische Veränderungen an Mädchen der Reifezeit und an welkenden Frauenzimmern mitunter in hochgradiger Steigerung, um nicht zu sagen Trübung des religiösen Bewußtseins, nicht wahr, unter uns! … Also diese Emmerenz Schwandtner hat in ihrer überreizten Frömmigkeit, bleiben wir dabei, gewisse ihr innewohnende Kräfte dazu benutzt, um ihren eigenen religiösen Willen, den Willen zum Stigma, zum Wundmal, auf ihr Kind zu übertragen. Die Tochter ein sehr zartes, kaum erst vollentwickeltes Geschöpf; die Mutter sehr willenskräftig und überzeugt von der Heiligkeit ihres Tuns …«

»Und wie sollten wir das dem Volke begreiflich machen?« unterbrach Siebenschein.

»Das eben wollen wir festlegen.« Der Dechant ließ eine leichte Reizung in seine Stimme hineinschlagen. »Das ist ja die Hauptfrage.«

»Und werden die Leute diese Gesundbeterin nicht erst recht für eine Schwindlerin halten?«

»Das eben möchte ich verhüten. Wenn Sie mich nur ausreden ließen. Für mich ist es Tatsache, daß diese Frau sozusagen unbewußt handelte. Darin liegt ihre Schuldlosigkeit. Sie sah eines Tages ihre eigenen Vorstellungen an ihrem Kinde verwirklicht und erlag dann der Versuchung. Versetzen wir uns doch einmal in die Lage dieser armen Person. Nehmen wir einmal an, Sie zum Beispiel wären mit dieser außerordentlichen Kraft der Willensübertragung begabt und ich –«

Siebenschein ließ den Dechanten nicht ausreden.

»Wäre es nicht besser und einfacher, wir blieben bei der Wahrheit, Herr Dechant?«

Hetz kniff die Lippen aufeinander. Seine Brillengläser glitzerten böse.

»Ich bin eben auf der Spur der Wahrheit,« sagte er dann geduldig. »Jeder von uns würde in gleichem Falle einer derartigen Versuchung unterliegen. Das steht für mich fest. Und wir sind gebildete Menschen voll Verantwortung und Pflichtbewußtsein. Die Schwandtner aber ist eine arme Häuslerin, in ihrer Einsamkeit verhärtet und vielleicht seelisch schwerkrank. So liegt die Sache. Sie wissen, wie vorsichtig heute die Justiz zu Werke geht; die Grenze der Verantwortlichkeit wird immer genau untersucht. Das müssen auch wir tun. Und wir müssen dafür Sorge tragen, daß dieses Opfer des Selbstbetruges nicht auch zum Opfer übereilter Urteile wird.«

»Und woher wissen Herr Dechant, daß es sich da um Hypnose handelt und nicht um wirklichen Betrug?«

»Woher ich das weiß?« Hetz rückte leicht vom Tische ab und pochte einen leisen Wirbel auf die Platte. »Woher ich das weiß? Von der Schwandtner selbst. Sie war bei mir. Sie hat mir alles gestanden.«

Siebenschein griff nach dem Worte.

»Gestanden? Also fühlt sie sich schuldig?«

»Warum Sie aus der armen Person durchaus eine Verbrecherin machen wollen?« wunderte sich der Dechant. »Sie hat mir gestanden, ja. Aber dieses Geständnis war weniger eine Anklage als eine Erklärung. Sie hat mir alles erzählt; wie es gekommen ist; wie sie der Versuchung nicht hat widerstehen können; wie sie selbst allen Halt und ihre Zurechnungsfähigkeit verloren hat. Es war erschütternd, dieses Bekenntnis.«

Benedikt schwieg.

»Sie glauben noch immer nicht?« drängte der Dechant; »ich finde, daß gerade unser Beruf uns dazu verpflichtet, dieser Unglücklichen zu helfen.«

Siebenschein schüttelte den Kopf.

»Alles, was ich in dieser Angelegenheit tun kann, ist vorsichtiges Schweigen.«

»Schweigen? Das dürfen wir nicht. Wir müssen dazu Stellung nehmen.«

»Ich nicht, Herr Dechant; ich war nicht Zeuge.«

»Sehr gewissenhaft. Aber das ist ja ganz gleichgültig …«

»Es ist nicht gleichgültig, Herr Dechant erlauben.« Siebenschein sprach ausgesucht höflich. »Die Auffassung, die Herr Dechant vorgetragen haben, kann ich dem Volke nicht verständlich machen. Das ist das eine. Und das andere ist, daß ich dieses – dieses verdächtige Ereignis nicht noch bemänteln oder irgendwie autorisieren möchte.«

»Dann geben Sie also dem Doktor geradezu Recht?« fragte der Dechant verletzt.

»Nicht Recht, weil ich hier nicht entscheiden darf,« entgegnete der junge Pfarrverweser vorsichtig; »ich stehe dem ganzen Falle fern und werde mein Gewissen nicht mit einer – mit einer Entstellung der Tatsachen belasten.«

»Entstellung der Tatsachen!« Der Dechant brauste auf. »Machen Sie vielleicht mir diesen Vorwurf?«

Siebenschein hielt sich tapfer zurück.

»Gewiß nicht, Herr Dechant. Herr Dechant haben eben eine eigene Ansicht. Und ich habe gar keine.«

»Sie würden mich aber sehr verbinden, wenn Sie meine Ansicht zu der Ihrigen machen wollten.«

»Das kann ich leider nicht, Herr Dechant.«

Hetz spielte eine Weile müßig mit dem Buchdeckel.

»Ich kann Sie natürlich nicht zwingen,« sagte er dann ruhig. »Zwingen kann ich Sie nicht. Aber vielleicht sehen Sie nicht genau, um was es sich handelt. Die ganze Sache hängt denn doch irgendwie mit uns zusammen. Mit dem Ansehen der Kirche. Also mittelbar auch mit unserem großen Sanktrainer Feste. Sie verstehen? …«

»Ich verstehe, Herr Dechant. Und gerade darum wäre es entschieden besser, Hände und Lippen vollkommen rein zu erhalten.«

Hetz machte eine ungeduldige Gebärde.

»Aber wir wollen uns doch gar nicht mit dieser Frau da identifizieren. Das meine ich doch nicht. Wir wollen auch nicht dieses – na also, dieses Wunder autorisieren. Wunder. Wunder! Das ist überhaupt so eine Sache. Standpunktsache. Von unten her besehen ist manches Wunder, was von oben her sich anders zeigt, ja, nicht wahr. Jedenfalls hat dieses Mädchen an seinem Körper Veränderungen gezeigt, die in anderen Zeitaltern als Merkmal einer übernatürlichen religiösen Steigerung, der compunctio, hätten bezeichnet werden können. Aber lassen wir das … Es handelt sich einfach darum, der Person zu ihrem Rechte zu verhelfen. Der Doktor hat ihr das Kind weggenommen und hält es zurück. Die arme Schwandtnerin fürchtet die Klage einzubringen. Die ganze unliebsame Geschichte hat sie den Ruf und die Freundschaft der Nachbarn gekostet. Jetzt geben alle auf einmal dem Doktor Recht. Da möchte ich doch, daß wir sozusagen vermitteln. Schon mit Rücksicht auf die allgemeine Stimmung, ja, nicht wahr. Im Schweigen läge ein bedenkliches Zugeständnis. Und zugleich ein Geständnis. Sie begreifen doch. Wir dürfen diesen neuen gehässigen Angriff nicht so ganz unbeantwortet lassen. In dieser Frau verteidigen wir schließlich den Glauben des Volkes. Das religiöse Prinzip, sozusagen …«

Siebenschein sah dem Dechanten strahlgrad in die Brille.

»Das finde ich eben nicht, Herr Dechant. Ich finde im Gegenteil, daß gerade der Doktor im Sinne des Glaubens gehandelt hat. Im Sinne der Kirche, im Sinne Christi.«

Der Dechant zog wieder das Buch heran, klappte es mehrmals auf und zu und legte es dann mit Nachdruck hin.

»Wir wollen uns verstehen, Herr Doktor Siebenschein. Was Sie da sagen, ist alles recht schön und gut, aber es ist – verzeihen Sie den harten Ausdruck – – es ist doch ein bißchen sehr naiv. Auf diese Seite des Falles kommt es ja gar nicht an. Ich habe mich mit allen meinen Amtsbrüdern ohne Schwierigkeit über die Sache verständigt. Darum sehe ich nicht recht ein, weshalb gerade Sie, der Jüngste« – der Dechant ließ eine schwerbetonte Pause einfallen – »weshalb Sie als der Jüngste auf ihrem Standpunkte beharren sollten …«

Benedikt schüttelte entschlossen den Kopf.

»Ich glaube, Herr Dechant, daß ich nicht gezwungen werden kann, von einer Sache, in die ich gar keinen Einblick habe, in dieser Weise Kenntnis zu nehmen. Ich glaube mich nicht dazu verpflichtet, in einem mir ganz fernstehenden Falle öffentlich ein Urteil zu äußern, das geeignet wäre, die ohnehin vergiftete Stimmung noch mehr zu vergiften. Ich bin fest davon überzeugt, daß Seine Eminenz eine solche Handlungsweise mißbilligen würden.«

»Ich habe Seiner Eminenz natürlich sofort genauesten Bericht erstattet,« warnte der Dechant.

»Trotz alledem. Ich werde zu diesem Ärgernis nicht noch anderes Ärgernis hinzufügen, Herr Dechant.«

»Ja, dann!« … Der Dechant brach scharf ab. »Zwingen kann ich Sie natürlich nicht, wie schon gesagt. Und wenn ich es könnte, so wollte ich es nicht. Es kommt ja wohl nicht ausgerechnet auf Sie an … Aber, Pardon, ich bitte: Hochachtung vor Ihrem Standpunkt! … Vollkommene Hochachtung! … So bin ich nicht! … Ich wollte es Ihnen nur nahelegen, ja, nicht wahr. Sie sagen Nein – erledigt.« Er fegte das abgefallene Gespräch mit seiner gepflegten, beredten Hand vom Tische. »Nur das noch – das sehen Sie wohl ein, daß ich die Partei dieses Herrn nicht so ohne weiteres ergreifen kann. Ja, nicht wahr. Und diese gute Frau da ist wirklich mehr Opfer als Sünderin. Opfer sind freilich auch die anderen. Aber die Last trägt sie …« Der Dechant stand auf. »Nun, genug davon. Ich bin doch zu sehr Menschenkenner, nicht wahr, um nicht zu wissen, daß es einem so hochgesinnten jungen Priester schwer ankommt, die eigene Ansicht gegen die scheinbar weniger ideale eines nüchternen Vorgesetzten einzutauschen.«

Siebenschein stand schmal und aufrecht.

»Auf ideal und nicht ideal kommt es mir da nicht an, Herr Dechant. Einzig auf die Wahrheit.«

Hetz klopfte dem Zurückweichenden freundschaftlich auf die Schulter.

»Wahrheit? … Wo ist Wahrheit? … Was ist Wahrheit? … Wahrheit der Sache oder des Einzelnen? … Wahrheit! Großes Wort! Aber nicht viel damit anzufangen, in der Praxis. Wahrheit muß oft durch Unwahrheit hindurchgehen, um zu siegen. Sehen Sie dort die alten Herren!« Er wies nach der verglasten Tafel mit den Papstbildnissen. »Nicht halb so lang wäre die Reihe geworden, wenn nicht die kleinere Wahrheit bisweilen der größeren geopfert worden wäre … Und überhaupt … Aber lassen wir das. Ich muß wirklich gehen. Es gibt so viel zu tun. Sie wissen ja, unsere Jahrtausendfeier … Ja, das wollte ich noch sagen. Eine sehr unbescheidene Bitte. Möchten Sie nicht einmal die Orgel der Gnadenkirche versuchen? Ich glaube, etwas an dem Werke ist in Unordnung. Und dann – aber ich bin wirklich recht bescheiden, das muß ich schon sagen! Würden Sie nicht den musikalischen Teil unseres Festprogramms übernehmen? Unser Herr Organist, nämlich Herr Drexler von der Bürgerschule – ein sehr braver Mann für den alltäglichen Gebrauch, aber bei dieser Gelegenheit möchte ich doch erstklassige Kräfte beschäftigen.«

»Ich bin aber gar keine Kraft, Herr Dechant. Hier in Unzing habe ich fast alles verlernt.«

»Allerdings, gewiß, ja. Dieses Unzing. Jammerschade um Ihre Talente, wie oft habe ich das schon gesagt. Aber Sie kämen doch sofort wieder hinein. Manchmal bewirkt eine kleine Pause direkt Fortschritte. Man reift. Also, Ihre Zusage, nicht wahr, die habe ich, ja? … Pater Hucbald? … Pater Hucbald wird eben den Sängerchor leiten, ja … Also, die Orgel wird hergestellt. Denken Sie nur, die Freude Seiner Eminenz! … Ja, also das Programm! … Es wird großartig werden. Eine allkatholische Demonstration von höchster Bedeutung. Ich bin ganz überzeugt, daß dieses Fest nicht ohne kirchenpolitische Folgen bleiben wird. Das läßt sich heute noch gar nicht abschätzen. Denken Sie nur, der Zusammenfluß von tausend und aber tausend Gläubigen am Grabe unseres Heiligen, an diesem Mittelpunkte! … Was glauben Sie, wieviel Ansagen ich bis jetzt schon erhalten habe? … Über fünfzehntausend! … Fünf – zehn – tausend! Und darunter Namen von Klang und Gewicht! … Jeden Tag bringt die Post solche Stöße!« … Der Dechant hielt die Hände weit auseinander … »Ich weiß mitunter nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Und noch kein Ende abzusehen.«

»Und das Programm der Festlichkeiten?« fragte Siebenschein mit kühler Teilnahme.

»Liegt noch nicht ganz fest. Es wird gar nicht möglich sein, alle Pilgerströme an der Feier des eigentlichen Gedächtnistages teilhaben zu lassen. Das Ganze muß auf Haupt-, Vor- und Nachfeste verteilt werden, auf einen Zeitraum von etwa zehn Wochen. Eine Art von Dauerwallfahrt. Ein Gnadensommer. Pater Sebaldus Weinzierl, Sie kennen ihn ja, wird einen ganzen Zyklus von Predigten halten. Er ist ja der Biograph unseres Heiligen, ja, nicht wahr, der zuständige Fachmann also. Und die musikalischen Predigten, sozusagen, in Ihren Händen! … Den Höhepunkt bezeichnet natürlich der Tag, an dem Seine Eminenz selbst vor der Gnadenkirche sprechen … Über das Nähere werden wir uns schon noch verständigen. Es hat ja noch einige Wochen Zeit. Hoffentlich läßt die zarte Gesundheit Seiner Eminenz dann nichts zu wünschen übrig. Und Gott gebe einen schönen Sommer … Bishin wird man auf das mißglückte Wunder, ich nenne es noch immer so, wohl schon vergessen haben.«

Hetz lachte laut und anhaltend.

»Jetzt muß ich aber ernstlich gehen … Nun, und wie kommen Sie aus mit der alten, wie heißt Sie schon, Petronilla? Nun sehen Sie, sehen Sie … Mein Himmel, es ist schon spät geworden … Nein, das erlaube ich nicht, daß Sie sich hinausbemühen. Unter keiner Bedingung. Ich finde schon selbst, bin doch hier zu Hause. Und das gute Fräulein Huber? Noch immer im Eggerhofe? … Wie hübsch der arme weiland Permoser den Pfarrhof hergerichtet hat! … Na, Petronilla, guten Abend, ist er auch schön brav, unser Herr Pfarrverweser? Gilt schon, Petronilla, gilt schon. Daß Sie mir ihn gut füttern, unseren Herrn Doktor da. Nun schauen Sie, nun sind Sie wirklich mit vors Haus gegangen, und ohne Hut! … Also nochmals, auf Wiedersehen. Und nichts für ungut. Simon der Eiferer, wissen Sie, ist mein Namenspatron. Parce domine, quia Dalmata sum. Ja, nach Hause, Bartel. Gute Nacht, lieber Doktor; Gott befohlen, Petronilla.«

Die runden Rößlein zogen schwerfällig an, das saubere Kaleschchen kam ins Rollen, der alte blinde Pfarrhund belferte in zahnloser Wut, der Dechant winkte huldvoll zurück, bevor er die nämliche Hand zur Faust ballte. Dann bog die Kutsche um das Hoftor, und Benedikt Siebenschein stieg langsam die enge Treppe zu seiner Einsamkeit hinan.

Verena Kathrein war gestorben. Die Benedicti vita Regulae würde ungeschrieben bleiben. Und andere Bücher wuchsen Blatt um Blatt, mit jedem neuen Tage.

* * *

Mit halber Aufmerksamkeit las der Dechant die der Erledigung harrenden Briefe.

»Hochverehrter Herr Amtsbruder – Auch meine Seelen wünschen es glühend, dem großen Wundertäter von Sanktrain zu seinem tausendsten Feste einen frommen Huldigungsbesuch abzustatten …« Schon gut. Wie viele? Etwa fünfzig Pilger. Das ging bald ins sechzehnte Tausend hinein. Und kein Ende.

Das übertraf nachgerade jede Voraussicht. Hier ein Schreiben aus Limburg an der Lahn, dort eines aus Oberschlesien, da eines aus der Eifel, da eines aus Westfalen, hier ein französisches aus Belgien, eines aus Irland, aus dem Bistum Limerick, eines aus Brasilien, zwei aus Argentinien, eines von Erzbischof Kardinal Gibbons unterzeichnet; aus den Vereinigten Staaten, mehrere aus Afrika, aus dem heiligen Lande sogar! Zweihundert brasilianische Katholiken wollten schon um den dreißigsten Juli mit der »Henriette« in Bremen eintreffen! Gläubige aus dem Lande des heiligen Grabes verschmähten es nicht, dem Heiligen von Sanktrain einen Gegenbesuch abzustatten. Der Katholikentag von Sanktrain! … Wenn das nicht ein Triumph war! … Mochte Werner Wendt aus dem Fenster dem großen Umzuge zusehen, dem Wehen von hundert Seidenfahnen, dem Brande der goldenen Fackeln, dem Schwung und Qualm der Weihrauchfässer! Mochte er ihn sehen, den vieltausendköpfigen Heerwurm der Gläubigen, wie er sich unter Triumphpforten hindurch über den großen Marktplatz wand, dem schwerbrokatnen Baldachin des Erzpriesters nach, den Gnadenweg hinan: die Prozession des Sieges!

Schade nur, daß die Emmerenz ihm diese Blöße geboten – ihm, dem Feinde. Ungeschicktes Frauenzimmer. Überhaupt, die Emmerenz! … Hetz schob die Gedanken zur Seite und vertiefte sich in die Zeitungen. Angerötelte Stellen. »Ein hohes und denkwürdiges Fest wird in den kommenden Sommerwochen …« Schon gut. Die Zeitungen taten wirklich das Ihre. Was? Das »Wunder von Sanktrain«? Der Dechant überflog den ziemlich langen Bericht. »Sanktrain, dieser kleine, durch seine alte Wallfahrtskirche und die dort verwahrten Reste eines heiligen Wundertäters zu gewissem lokalem Rufe gelangte Ort …« Weltruf, Herr Artikelschreiber, Weltruf! … »Kreuzungspunkt der verschiedensten religiösen Strömungen und Gegenströmungen … neue Ruhmestitel … Christnacht des vergangenen Jahres … gerichtliches Nachspiel …« Ach so, die alte Geschichte! Nein, da unten kam noch etwas anderes. »Gesundbeterin … Seuche der religiösen Verirrung … Großangelegter Schwindel … Opfer hypnotischer Experimente … das Wunder einer sogenannten Stigmatisierung … das arme Opfer durch Hunger und Schläge in eine Art Schwächezustand versetzt … der Hokuspokus … Dazwischenkunft jenes mutigen Arztes, des schon bekannten Herrn Dr. ††† … das unglückliche Kind aus den frommen Klauen der Rabenmutter errettet … darf den Nachspielen dieses Ereignisses mit um so größerer Spannung entgegensehen, als das in religiöser Beziehung, wie es scheint, geradezu mittelalterlich romantische Sanktrain in eben diesem Jahre, in wenigen Wochen schon, das große, laut vorbereitete Tausendjahrfest seines Heiligen und Wundertäters begeht – ein Fest, über das aus der Erweckung einer neuen Heiligen unstreitig ein ganz besonderes Licht gefallen wäre …«

Dechant Hetz legte auch dieses Blatt wohlgefaltet beiseite. Das verdammte Weibsbild, die Schwandtner. Nun hatte sich die Geschichte richtig bis ins Gefäll der Neuigkeiten durchgefressen! Der Doktor selbst? Nein, Werner Wendt schoß nicht mit solchen Pfeilen. Aber wo solch spitze Bolzen schwirrten, durfte man sich vorsehen; es war Unheil an diesem Frühjahr.

Es klopfte. Der Dechant erkannte die harte Faust des späten Gastes und erschrak. Er räusperte sich, ehe er Einlaß rief. Es hätte dessen gar nicht erst bedurft. Die Schwandtnerin trat ohne Umstände ein. Groß, hager und drohend stand sie im dumpfen Lampenlicht. Ihr Schatten wuchs riesig über die Wand in die Decke hinauf. Ihr gealtertes Gesicht war voll Tiefe und Finsternis.

Der Dechant sah zerstreut auf.

»Ihr, Schwandtnerin? Muß das heut sein? Schauts nur einmal auf meinen Schreibtisch, die Arbeit. Na also, von mir aus. Aber lang Zeit hab ich nicht, das sag ich gleich.«

»Frag grad viel danach, ob der Herr Dechant Zeit hat oder net. Können's auch kurz machen. Gleich stehender. Alsdann was is?«

»Was soll sein. Ich kann Euch da nicht helfen. Das hab ich Euch ich weiß nicht wie oft schon gesagt.«

»Der Herr Dechant wird mir aber helfen müssen. Das weiß der Herr Dechant selber ganz genau.«

»Mit euch Weibern, das ist ein G'frett. Bis man euch was beibringt. Was soll ich denn noch zusammenlügen? Den Leuten hab ich schon g'sagt, daß Ihr nicht schuld seids. Also was noch?«

»Brauchts gar net lügen. Die Wahrheit sagen.«

»Was für eine Wahrheit?«

»Wer daß mi abg'richt hat zum Ganzen.«

»Wer denn zum Beispiel?«

»Das fragt der Herr Dechant no?«

Hetz stand auf. Er öffnete eine kleine Schreibtischlade und entnahm ihr einen Schlüsselbund. Mit diesem schritt er zur Panzerkasse, die dunkel und wuchtig in der Ecke des Zimmers stand. Lautlos schoben sich die Stahlriegel zurück, lautlos schwang das schwere Eisentor auf. Der Dechant erschloß im Inneren eine zweite Tür. Papiere rauschten. Unhörbar versanken die Erzpforten in ihrem Rahmen.

»Da. Aber dann Schluß. Schauts es Euch gut an, Emmerenz. Könnt mich sonst noch gereuen. Damit könnts Euch ich weiß nicht was kaufen. Aber dann will ich nichts mehr hören und sehen. Verstanden?«

Die Gesundbeterin stand und starrte auf die buntgefleckten Papiere herab.

Damit konnte sie sich ein stattliches Anwesen kaufen, nicht hier in den kargen Bergen, sondern draußen in den breiten Tälern, wo die Bäume früher blühen und der Winter lange auf sich warten läßt. Solch ein freundliches, geräumig-warmes Haus wie dem Marterl-Lukas seins, mit einem breiten Blumengarten davor und einem zierlichen Fürgang und einem sauberen Stall mit drei bunten Kühen darin … Vielleicht würde in einem solchen Hause alles gut, an der Regula und an ihr selbst. Vielleicht heilten da alle Wundenmale. Der Regula sollte es gehören, und sie würde nichts sein als ihre dankbare Dienerin. Dann nicht dieses verhaßte Brot, dieser elende Betrug. Nicht mehr diese gräßlichen Räusche des Ekels und der Verzweiflung; nicht mehr die Wochen aussengender Reue … Ein anderes Leben, ein Schimmer von Glück, wenn auch mit Sündengeld erkauft!

Die Stimme des Dechanten klang in die fliehenden Träume hinein.

»Überlegts es Euch gut, Schwandtnerin. Es ist mein letztes Wort. Nehmts es, ich rat Euch im Guten.«

Die Emmerenz atmete schwer. Ihr Schatten regte sich riesengroß an der Stubenwand.

»Und die Ehr? Wie eine Zigeunerische steh ich da vor alle Leut. Und die Ehr? Wo bleibt denn die? Was zahlst mir denn für die, hä?«

»Jetzt auf einmal die Ehre! Jetzt auf einmal. Wo's Euch paßt. Ehre hin, Ehre her. Habts Euch nicht so viel darum bekümmert, als unterm Nagel Schmutz geht, früher. Warum denn jetzt auf einmal …?«

»Und dös sagst du mir …«

»Warum denn jetzt auf einmal? … Das ist ja alles wahnsinnige Übertreibung. Kommts mir vor wie der Bauer auf dem Rindermarkt, wenn's zum Abschluß kommt und er riecht das Geld, gleich melkt die Kuh um drei Liter mehr.«

Er lachte schneidend.

»Und dös sagst du mir ins G'sicht … Du … Du! … Steck's ein, dein Saugeld, dein schmutzigs, weiß Gott, was da all's dran pickt. Nix will i haben. Gar nix. Mein Ehr will i zurück und mei Kind.«

»Unsinn. Alles zusammen Unsinn. Jeder vernünftige Mensch möcht das Geld da nehmen und froh sein. Und schweigen.«

»Soll mi gern haben, der vernünftige Mensch …«

»Hätts die Regula nicht blutig g'schlagen, wär nichts. Hält kein Mensch was sagen können. Was warts so dumm.«

»Mein Ehr will i haben, nix weiter. Und die Regula.«

»So laß in drei Teufels Namen, wo's is.«

»Das sagst du, der Vater? So schön, no besser …«

»Ich möcht noch ein bissel mehr schreien …«

»Und grad schrei i. Damit daß alle Leut hören.«

Der Dechant nahm ein breites Falzbein vom Tische. Damit schlug er sich in die gespannte Hand.

»Meine Liebe, die Geschicht machen wir sehr einfach. Ich laß die Gendarmen holen, und die Sach hat ein End. Die sind gleich da, die Gendarmen. Kostet mich nur ein Wort, und sie sind hier. Und ich laß Euch zum Dreythaller führen und schreib ihm ein paar Zeilen. Und der sperrt Euch ins Narrenhaus. So.«

»So. Narrisch soll ich sein, weil ich mein Recht will und mein Ehr …«

»Seids auch. Wahnsinnig.«

»So. Und ich sag den Schandarm alles. Alles, verstehst.«

Der Dechant schlug noch immer mit dem Falzbein in seine gespannte Hand. Ganz gleichmäßig.

»Einer Wahnsinnigen glaubt kein Mensch was.«

»Dös werd si no aufweisen …«

»Und überdies, dann seids Ihr auch exkommuniziert.«

»Was weiß ich, was das heißt.«

»Das heißt, daß Ihr dann zu keinem Sakrament mehr dürfts und zu keiner Meß, in keine Kirchen, in keinen Beichtstuhl. Kein Priester hört Euch die Beicht ab. Keiner, der Euch die letzte Ölung bringt. Ausg'stoßen seids, mit einem Wort. Das heißt das.«

Die Gesundbeterin stemmte die knochigen Arme ein.

»Glaubst, dadran liegt mir was? Soviel liegt mir dran. Eure Sakramenter und Messen! … Alsdann net amal anzeigen derfet man so an Kujon. So gern hat euch der liebe Gott? Pfeif was drauf.«

»Werds nicht bald aufhören zu schreien?«

»Jetzt werd g'schrieren. Und laut, daß alle wissen, was für aner daß bist. Hab eh geschwiegen, mein halbes Leben, verdorbenes.«

Ihre Brust ging in schweren Wogen.

Hetz schwieg eine Weile.

»Schwandtnerin,« begann er von neuem; »überlegt's Euch. Da ist das Geld.« Er fächerte die Banknoten liebevoll auseinander. »Dreizehn, vierzehn, fünfzehn.«

Die Emmerenz lachte auf.

»Is das all's, was du hast? Hast ja viel mehr. Bist ja schwerreich. Hast ja die Kramerin beerbt und die Stumpperger. Glaubst, i bin so dumm?« Sie zischte ihm ins Gesicht. »Die Hunderttausender gib mir, diest hast. Was, die paar Fetzen!«

Hetz stieß einen ungeduldigen Fauchlaut aus.

»Mit einem verrückten Weib ist nichts möglich.«

»Wer ist verrückt?« loderte die Gesundbeterin zurück.

»Du bist verrückt!« zischte ihr der Dechant mitten ins Gesicht.

»Damit fangst mi net. Die Regula schaff mir. Die Schand wasch weg von mir.«

Hetz fächelte sich mit den auseinandergeblätterten Scheinen Luft zu.

»Also was denn, was denn? Soll ich vielleicht auf meine alten Tage meinen schwarzen Rock ausziehen und ein Lutherischer werden und dich heiraten? Oder was denn?«

»Das wär erst die rechte Ehr.«

»Ich sag dir, hättst die Regula nicht blutig geschunden, alles wär anders ausgegangen.«

»Wann's aber anders net hat gehn wollen! Und hat sein müssen! … Alles hat sein müssen, wie du hast wollen! … Meinst, das hab i vergessen? Hä, da irrst di … Jetzten is all's aufg'wacht. Wiest mi schlecht g'macht hast. Einig'jagt in das Leben da! … Glaubst, die Frömmigkeit, die kommt vom Gutsein? Vom Schlechtsein kommt's, von der vielen Sünd, von der Himmelangst! Meinst, die vielen Räusch, die i mir wegen dem antrunken hab, die kommen davon, daß mir der Branntwein schmeckt? Kommen grad daher wie die Frömmigkeit, von dem, was allweil hergeht hinter meiner … Manchigsmal, da hab i g'meint, es wär begraben. Ja, begraben! Auftut si die Erden und da steht's! … Das war mein Leben, verstehst? … Meinst, i hab mi so ang'halten an den lieben Herrgott aus lauter Lieb und Tugend? … Aus Angst und Jammer, inwendigem! … Meinst, i hab die Heilige g'spielt um Geld? … Aus Angst hab i mir's selber vorg'macht … Heiligsein, Beten, Räusch und Schlechtigkeit, all's is aus demselben kommen, aus der inwendigen Finster … All's von dem, was du aus mir g'macht hast, du alleinig! … Und jetzten die Komödi mit der Regula … Die Schand jetzt … Grad daß mir net ins G'sicht g'spuckt ham, damals … Wie aner Wetterhex gehns mir aus dem Weg … Kaner, der mir recht gibt … Six ja in ihre G'sichter … Meinst, i kenns net? … Und da kommst du jetzt daher mit deine Fetzen … Daß i net lach! … Tu's nur zurück in deine eiserne Sündentruh, das Geld. Daß dir's ja net davonlauft … Viel zu viel Sünd, was da dran pickt. Das und anrühren … Steck's ein, dein Blut- und Tränengeld, daß i's nimmer siech … Meinst, i weiß nix von die vierzehn Prozenten, diest nimmst … Sechse nimmt eure Kassa und vierzehne nimmst du, und mit deim Geld zu vierzehne zahlen die Leut ihre Schulden zu sechse … Wie wird dir denn, hä? … Der Stöckelbauer, der si derhängt hat? … Der Schrott, der als Bettler im Graben derfroren is … Hat a Nasen, die Emmerenz, gelt? … Und da sein no andere Sachen … Ganz andere … Und wanns mi selber aufhenken, du kommst als erster dran … Die Regula schaff mir und die Ehr … Wann aner an Stan ablaßt, der Stan is net schuld … Der muß zahlen, der den Stan abgraben hat und ablassen … Jetzt kommt halt die Rechnung, Dechant, und die wird lang, die Rechnung …«

Sie holte Atem.

»Seids endlich fertig?« fragte Hetz kalt.

»Fertig? … Fertig bin i net, und wann i hundert Jahr red … Die Regula … Wegen deiner hab i's tan … Wegen deiner … Jetzten is ja eine Heilige worden … Durch deine Schlechtigkeit … Auf die Knie möcht ichs um Verzeihung bitten, das Hascherl, die Füß möcht i ihr küssen wie aner Muttergottes … Die kommt in Himmel, für g'wiß, die Regula … Wo's an Schuften zum Vatern hat und ein Luder zur Mutter … Aber du … Du kommst zu unterst in d' Höll, wo der Judas brennt und der Teufel selber … Wann's net aara Schwindel is und die ehrlichen Leut kommen in d' Höll, und ihr Schuften kommts in Himmel …«

Die Schwandtnerin hielt mit einem Blick nach der Türe ein. Dort regte sich jemand. Die Wirtschafterin tastete im Dunkel nach der Klinke. Jetzt streckte sie den Kopf herein.

»Es is ang'richt, Herr Dechant.«

Hetz nickte ihr zu.

»Gleich, Sefi, gleich. Ich komm schon.«

»Der Herr Kaplan wartet schon,« mahnte die Sefi; »und es sein Wasserspatzen mit Einmacht, die wern so schnell kalt.«

Der Dechant stampfte auf.

»Gleich. Sie sehen doch, daß ich zu reden hab. Der Herr Kaplan soll sich setzen.«

Die Sefi seufzte hinaus.

»Also was noch?« fragte Hetz. »Das Geld oder nichts?«

»Einstecken sollst das Fetzengeld. Oder probier, ob's dem Doktor sein Maul verpflastern kannst damit. Meins schon net. Zum Doktor geh und krieg die Regula frei – oder i geh zu ehm … Und dann weißt, wieviel daß geschlagen hat.«

Der Dechant hob die Hand und ließ sie schwer auf die Schultern der Emmerenz fallen.

»So. Also dem Doktor möchst mich auch ausliefern. Das is ja schön, daß ich das jetzt so genau weiß.«

Die Schwandtnerin trat zurück.

»Zeit hast genug g'habt zum Bedenken.«

»Hab's auch bedacht. Also ich werde selbst zum Doktor gehen. Ich selbst.«

»G'scheitste, was machen kannst.«

»Und heute abend noch. Gleich nach dem Essen. Ich bring dir dann selbst den Bescheid. Heut nacht. Wart auf mich. Wenn ich nicht komm, dann kannst machen, was du willst. Was dir beliebt. Mich anzeigen, mich bloßstellen, alles. Kann sein, daß ich die Regula gleich mitbring. Kann sein.«

»Von der Regula laß du nur die Finger. Genug, die Mutter.«

»Red keinen Unsinn. Glaubst, ich hab keine anderen Sachen im Kopf.«

»Glaub's gern, daß andre Sachen im Kopf hast. Möcht's net in dem meinigen ham, die Sachen.«

»Siehst doch, ich tue, was ich kann. Mehr kannst nicht verlangen. Und du wart auf mich.«

»Warten kann i dahier.«

»Das wirst nicht. Ich werd dir was sagen: wenn's ums Reden geht – reden kann ich auch. Verstehst?«

»Wirst di hüten.«

»Werden wir ja sehen, meine Liebe. Aber ich tu dir den Willen, damit Fried ist. Ich habe Arbeit vor mir, ich brauche Ruhe.«

»Hä, wegen dem Fest, gelt? Daß wieder recht den Heiligen aufspielen kannst. Der Herr Dechant von Sanktrain, wie der gut is und der all's fürsorgt! Schöner Dechant.«

»Reiz mich nicht, du. Ich sag's dir im Guten … Also ist dir's recht oder nicht?«

Die Gesundbeterin starrte eine Weile ins Licht.

»Soll sein,« sagte sie dann. »Soll sein in Himmelherrgottsnamen. Aber wann's wieder nix is und du haltst bloß so hin, dann bist am längsten Dechant, das weißt.«

»Darüber reden wir in ein paar Stunden weiter. Wart auf mich, dann wirst ja sehen, ob ich dich hinhalt oder nicht. Wenn ich dir die Regula nicht bring oder den Bescheid, dann kannst du machen, was dir beliebt.«

Die Emmerenz hüllte sich enger in ihr Tuch.

»Du hast's g'sagt, merk dir's. Bis morgen früh wann mir net fertig sein mitanand, dann geht's auf andre Weis.«

»Bis morgen früh sind wir fertig, oder du kannst mir den Hals brechen.«

»Verdienen tust es. Gelt, das schmeckt, Herr Dechant von Sanktrain, so was ins G'sicht kriegen und net aufkönnen dagegen? Der großmächtige Herr Dechant, der gute Herr Dechant, der brave, der heilige Herr Dechant, und muß si so was von einer armen Häuslerin ins G'sicht sagen lassen! Hähä! … Geh halt jetzt zu deine Wasserspatzen mit Einmacht, daß i dir den Gusto net verdirb. Und den Herrn Doktor kannst schön grüßen von mir, und i laß ehm sagen, der Besser von euch zwei wär no allweil er.«

* * *

»Die arme Frau,« sagte Dechant Hetz zu seinem Kaplan; »die arme Frau – das ist eine unangenehme Geschichte. Sie wissen ja, wie ich mich dazu stelle, nicht wahr. Nun bohrt mir das arme Frauenzimmer auf den Nerven herum, will Genugtuung haben und plagt sich gleichzeitig mit den schauerlichsten Selbstvorwürfen. Ich fürchte immer, das nimmt kein gutes Ende, ekstatische Zustände, zuerst religiöser Wahnsinn, jetzt Verfolgungswahn. Sie hat ja eigentlich die Narrenstirn, ist Ihnen das nie aufgefallen?«

»Ich habe sie niemals so genau angesehen,« sagte Gfrörer.

»Doch. Sie hat über der Nasenwurzel verwachsene Brauen, den bösen Blick. Das ist ja natürlich ein alter Aberglaube, nicht wahr. Aber es ist doch Tatsache, daß Menschen mit solchen Gesichtern einen gewissen, nennen wir es: einschläfernden Einfluß auf empfängliche Leute ausüben. Es ist wenigstens die Regel. Wenn ich der Frau lang ins Gesicht sehe, empfinde ich selbst etwas wie Lähmung, ein unbezwingliches, krampfartiges Schlafbedürfnis. So erklärt sich manches. Dazu hat sie noch die Narrenfalte und jene verdächtig regelmäßigen Züge, die beinahe immer ein übles Merkmal sind. Ich gebe ja nicht allzuviel auf dergleichen, nicht wahr, aber schließlich, man zieht aus vielen Fällen seine Erfahrungen. Ich fürchte immer, mit diesem Frauenzimmer nimmt es kein gutes Ende … Gehens, Sefi, Sie können mir heute noch eine Flasche vom Goldeck bringen … Sie trinken doch auch ein Glas mit. Ich weiß nicht, ich habe heute das Bedürfnis … Gaffens mich nicht so an, Sefi, ich werd vielleicht doch noch zwei Flaschen Wein trinken dürfen. Also! … Ja, ich glaube immer, mit dem Frauenzimmer nimmt's kein gewöhnliches Ende. Merken Sie auf, was ich Ihnen sage: die tut sich noch etwas an.«

»Was will sie denn eigentlich?« fragte Gfrörer.

»Was sie will? Das ist's ja eben. Das weiß sie selbst nicht. Sie sieht sich überall von Feinden umgeben und hat eine entsetzliche Angst vor den Gerichten. Dabei will ihr doch niemand etwas zuleide tun. Es weiß doch jeder Mensch, daß die Person krank ist. Sie bildet sich ein, daß der Teufel sie verfolgt. Der ausgesprochene religiöse Verfolgungswahn. Eigentlich ein sehr interessanter Fall. Natürlich ist das jetzt erst zum offenen Ausbruch gekommen. Die letzte furchtbare Erschütterung – der Auftritt am Karfreitag – der Ohnmachtsanfall – das alles hat die, ich möchte beinahe sagen: Psychose aus einem Stadium ins andere gesteigert. Sie weiß selbst nicht, was sie will. Überläuft jetzt mich mit ihrem irren Gerede … Ah, ich danke, Sefi … Na, trinken Sie nur ruhig noch ein Glas, wird Ihnen nicht schaden … Ich bin direkt bedürftig nach diesem wahnsinnigen Geschwätz …«

Der Dechant hielt sein Glas mit dem goldblanken Weine behaglich gegen das Licht.

»Im Mittelalter, da hätte man mit so einer kurzen Prozeß gemacht. Die wäre schon vor Jahren als Hexe verbrannt worden. Das ist ganz der Hexentypus. So stelle ich sie mir immer vor. Sie sieht vielleicht unheimlicher aus, als sie ist. Mit ihren verwachsenen Brauen und dem Narrenmal auf der Stirne. Die Medea, die könnte man sich auch so denken. Selber schon halb Drache … Am besten wäre es, könnte man sie unter Beobachtung stellen. Denn närrisch ist sie, das laß ich mir nicht nehmen. So reden nur Narren. Jetzt weiß sie, was sie will, und jetzt weiß sie's nicht, einmal will sie den Doktor klagen, und ich soll ihr dazu helfen, eine Minute darauf kriegt sie's mit der furchtbarsten Angst, daß der Doktor sie anzeigt, und da soll ich ihr auch helfen – und dazwischen die schrecklichsten Selbstvorwürfe, daß sie eine furchtbare Todsünde begangen, und daß alle Leute mit Fingern nach ihr zeigen, Himmel, alles durcheinander. Es ist manchmal direkt unbehaglich … Trinken Sie aus, ein Glas bekommen Sie noch, und dann gehen wir schlafen … Ah jaaah – ich bin auch müde … Diese vielen Briefschaften …«

Als dem Kaplan die Augen zufielen und er zwischen zwei rotverschwommenen Blicken immer wieder vorneüber nickte, hob Dechant Hetz die Tafel auf.

* * *

Die Nacht vom letzten April auf den ersten Mai, eine schwarze Nacht.

Mond hinter Wolkenschlachten, Sturm in den Höhen, am Rande der Welt ein blasser Schwefelschein.

Die Weiler schlafen. Dann und wann springt Wetterwind im Tann auf. In der Ferne ein Hund.

Dieser Weg ist immer einsam. Weitab die Gehöfte. Und die Menschen sind müde vom Frühling und der harten Arbeit des steigenden Tages.

Nur der Teufel ist unterwegs. Hexen, die den Gehorsam weigern, muß man holen, eh' daß sie geständig werden. Eins oder das andere. Die Hexen sind immer selbst schuld daran. Kommt's an den Tag, man findet den Teufel nicht mehr ober der Erde. Kommt's nicht an den Tag, um so besser.

Ein langer Blitz schlägt blau durch die Wolkenberge; schwüler Schwefeldunst; nach langer Stille das Murren des fernen Wetterlöwen. Große Vögel nesteln unruhig in den Wipfeln. Der tiefe, dunkle Sturm stöhnt auf. Die braune Eule schreit.

Endlich ein Lichtschein, das Hexenhaus. Sie hat gewartet, kauert in der offenen Tür.

»Hast die Regula?«

»Nein, die hab ich nicht.«

»Warst beim Doktor?«

»Nein, bei dem war ich auch nicht.«

»Was willst dann?«

»Zu dir bin ich gekommen.«

»Was willst von mir?«

»Dich holen.«

»Holen, wohin?«

»Wirst gleich erfahren. Laß mich hinein.«

»Hinein kommst mir nimmer. Kannst es dahier grad so sagen.«

»Das wär nicht gut. Ich hab mir's überlegt.«

»Schon wieder. Bloß Sprücheln?«

»Nein, keine Sprücheln. Wirst sehen.«

Die Hexe steht groß und hager auf. Hinter ihr versinkender Herdschein.

»Du! … I weiß, was du mir willst! … Komm mir net in die Näh! …«

Lacht der Teufel auf:

»Hast Angst vor mir? Schau, also doch Angst?«

Die Hexe weicht zurück.

»Du! … Nimm di in acht! … I hab die Hacken in der Hand!«

Da tritt er ein.

»Ah was, Hacke. Fragen will ich dich was! Also du bleibst bei dem, was du gesagt hast? Du willst mich dem Doktor verraten oder dem Gericht?«

»Bei dem bleibt's.«

»So. Ist recht. Dann werd ich dir etwas sagen.« Der Teufel schlägt der Hexe die Tatze schwer auf die Schulter. »Hin bist du dann auch. Aber zweie auf einmal, das ist zu viel. Du hast ja gesagt, daß ich der Teufel bin. Und weißt du, was der Teufel tut? … Solche Weiber wie dich holt er … Dreht ihnen den Hals um. Ja, den Hals. So, jetzt red! Jetzt red! … Jetzt! … Solchen Weibern wie dir dreht man den Hals um … Du wirst mich angeben! … Hättest das Geld genommen! … Ich hab's dir im Guten geraten … Solchen Weibern dreht man den Hals um!«

Der Sturm stößt schwer in den Wald … Blaublitzfeuer verlöscht den dumpfroten Herdbrand … Einen Herzschlag, einen erstickten Schrei lang springt schreckliches Ringen ins Helle; dann blinde Finsternis, schwelende, zuckende Dämmerung. Nach langer Weile das gereizte Knurren der Wetterpanther … Jetzt schwüle Stille; die Sturmwoge verbrandet im Berg.

Einsam steht das Hexenhaus in der verrufenen Nacht. Drunten im Weiler heult noch immer der Hund. Im Wacholderstrupp zwischen den schauernden Frühlingsbirken gehen die Geister um.

* * *

Von Haus zu Haus hetzt die Kunde, von Mund zu Mund, von Dorf zu Dorf.

»Marandjosef! Aufg'hängt?« … »Wahr und g'wiß, am Weidstrick. Hat'n jeder kennt. Und ganz blau war's und kalt, zum Grausen.« … »Zwei Tag müßt's schon g'hangen ham, sagt der Überacher …« »Ja, und in selbiger Nacht hat sei Hund kane Ruh geben wollen, rein narrisch, gar net schlafen hat er können, der Überacher …« »Jesses, jesses … Ja, is ja wahr, hat ja der Rottenbacher verzählt, daß bei ihm der Hahn mitten bei der Nacht ang'hoben zum Krähen …« »Na ja, freili. Freili! … Meinst, die Viecher g'spüren so was net? … Wo der Gottseibeiuns umgangen is in selbiger Nacht.« »Ah geh, dös werd dir aner glauben.« »Na, so geh und frag an Rainstaller. Wo er's ganz deutlich g'segen hat, die Fährten vorm Haus, ein nacketer Fuß mit lange Krampeln und darneben an Tritt wie von an großen Geißbock …« »Net Geißbock, hat der Fern g'sagt. Wie von an Roß.« »Der hat's g'holt, die Emmerenz.« … »Muß schon so sein. Schlechtes Luder, das sie war …« »Dös glaubst. Und der Schwindel mit dem Wunder. Dös hab i ja eh glei g'sagt, daß dös an Schwindel is, an aufg'legter …« »Na, jetzt is ihr heimzahlt.« … »Ja, und die Krallen vom Ungut soll ma g'segen ham an ihrem Hals. Umdraht hat er's ihr, das G'nack, wie damals dem Stoderbauern.« … »Was meinst, ob die an christlichs Begräbnis kriegt?« … »Jetzt wird erst der Bestand aufg'nommen.« … »Sein eh schon oben g'wesen, die Schandarm.« … »Und der Doktor von der Stadt drunten.« … »Warum denn der?« … »Na, weil das so ane Gerichtssach is.« … »Und was hams g'sagt?« … »Selbstmord hams g'sagt. Daß si selber derhängt hat.« … »Na, freili, was wollens denn sagen? Den Teufel könnens do net vorladen und einsperren.« … »Recht hast. Na, i ha mir ja glei dacht, daß so was geben wird. Und wann net der andere, so hat's der inwendige Teufl g'holt.« »Freili der inwendige. Den hat's so in ihr g'habt.« … »Und in ihrer Goschen.« … »Damals, wie si's draht hat, wie der Doktor auf ihrer zu gangen is. Wie sie's hing'schmissen hat. Da hat's ang'fangt.« … »I hab eh nie dran glaubt. Grad spüren bin i gangen, damals, gehst amal losen, hab i mir dacht, wie dös is mit dem Wunder. Hab i mir dacht. Aber glaubt dran, na, dös hab i nie net.« … »Glaubst, i? … Aba wann die andern so verrückt daherg'redt ham … Na, jetzt hats's, ihr Wunder. Gott geb ihr die ewige Ruh, wanns der Teufel net g'holt hat, und das ewige Licht leuchte ihr …«


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