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14.

Endlich, endlich kam ein Brief aus Amerika an Frau Winter. Und sein Inhalt war ein hocherfreulicher.

Der Redakteur der Zeitung schrieb ihr ausführlich. Er hatte alle vorbereitenden Schritte erledigt, die Sache beim deutschen Konsul anhängig gemacht, ein Notar, der das Testament des verstorbenen Mr. Sparrow in Verwahrung bekommen, hatte sich gemeldet; und in diesem war Frau Martha Winter, geb. Sperling, aus Magdeburg gebürtig, dann und dann geboren, zur Universalerbin eingesetzt. Da das Vermögen des Mr. Sparrow – es war eine riesenhafte Summe – neben Bargeldern auch große Ländereien umfaßte, die nun wohl alle verkauft und zu Geld gemacht werden mußten, war Frau Winters Anwesenheit dort beim Gericht dringend nötig. Sie mußte ja auch den Beweis ihrer Identität erbringen, also nachweisen, daß sie tatsächlich die Gesuchte wäre.

Roselore war ganz aus Rand und Band vor Freude, daß das so lange Erwartete und Erhoffte nun Erfüllung finden sollte. »Am liebsten möchte ich mitfahren!« rief sie. »Oh, wie herrlich würde das sein!«

Weil sie gar so unbändig sich gebärdete in ihrer Freude, steckte sie die Mutter kurzerhand zur Tür hinaus in die Küche, wo sie nun heimlich grollend auf der Bank saß und die Ohren spitzte, um etwas von dem Gespräch zu hören, das die Großen drin im Zimmer führten.

Oh, sie wußte Bescheid, wie man das anzustellen hatte!

Neben der Küche lag eine Kabine, die ins Wohnzimmer eingebaut war. Hier war die Wand so dünn, daß man ohne große Mühe vernehmen konnte, was drin verhandelt wurde.

Sie schlich sich also hinein, hockte sich auf einen Sack mit Lumpen, der in der Ecke lag, legte das Ohr an die Wand und hörte zu.

Einmal kam ihre Mutter in die Küche und sah die Kabinentür offen stehen. Roselore hatte sie nicht geschlossen, um bessere Luft zum Atmen zu haben.

Die Mutter warf die Kabinentür ärgerlich zu. »Wenn Taddy zufällig hier spielt, kann er leicht in die Kabine rennen und sich irgendwo stoßen,« dachte sie dabei. »Roselore scheint fortgegangen zu sein? Vielleicht ist sie bei Edith Winter.«

Der kleine Taddy saß in der Küchenecke und malte in ein altes Schulheft von Roselore allerhand phantastische Figuren mit dem Buntstift.

»Das hier is die Baut,« sagte er befriedigt und wies der Mutter ein Geringel von krausen Linien vor.

»Sehr schön, mein Junge,« sagte diese zerstreut. »Nun male nur weiter und bleibe hübsch still.«

Roselore hatte sich in die Ecke gedrückt, um nicht von der Mutter als Lauscherin ertappt zu werden. Aber jetzt drohte ihr das Herz stillzustehen.

Die Kabine war von innen nicht zu öffnen. War die Tür zugeschnappt, so blieb man darin gefangen.

Gefangen, bis …

»Ach, du großes Mottenloch!« jammerte Roselore. »Was fange ich nur an?«

Ob wohl Taddy es verstand, wenn sie ihn bat, zu öffnen? Ob das Kind den Schlüssel herumdrehen konnte?

Sie rief durch den Türspalt: »Taddy!«

»Taddy is nich hier,« gab der Kleine zurück, denn es gelüstete ihn nicht, seine Beschäftigung aufzugeben.

»Taddy, höre doch! Rose sitzt hier in der Kabine, und du sollst ihr aufmachen. Nur den Schlüssel herumdrehen sollst du, weiter nichts. Ich schenke dir dann auch etwas ganz Schönes.«

»Will nischt geschenkt,« sagte Taddy. »Du hast ja doch nischt.«

»Nun, dann will ich dir etwas in das Bilderbuch malen, Taddy.«

Der Kleine erhob sich. Der Vorschlag gefiel ihm besser. »Eine Braut sollst du malen, ja?«

»Ja doch, ich male dir eine Braut, so oft du es haben willst.«

»Eine danz richtige?«

»Ja, eine ganz richtige. So, wie Tante Loni.«

»Mit 'ne Sleppe?«

»Ja doch, Taddy! Mach' bloß auf!«

Der Junge kam näher; jetzt stand er dicht an der Tür.

»Wie lang is denn deine Sleppe, die du mich malen willst?«

»Ach, Taddy, ganz, ganz lang! Und nun drehe den Schlüssel um.«

Der Kleine stellte sich mit dem Rücken gegen die Tür, holte tief Atem und schrie aus Leibeskräften: »Mammy! – Mammy!«

Frau Stelling kam herbeigestürzt. »Um Himmels willen, Kind, was ist dir denn geschehen?«

»Schließ' mal hier auf, Mammy, bitte ja? Taddy kann nich.«

»Du Schlingel du! Weißt du nicht, daß du nicht in die Kabine hinein sollst?«

Taddy sah seine Mutter aus großen, unschuldigen Augen an.

»Wenn aber Rose drin is und nich raus kann? Und mir eine Baut malen will mit Sleppe, soooo lang, wenn sie erst wieder raus is aus dem Loch?«

Frau Stelling begriff. Lächelnd drehte sie den Schlüssel um, die Tür sprang auf, Roselore trat heraus.

»Warum hast du das denn nicht gleich gesagt, daß du hier drin bist, du dumme Pute?« schalt Frau Stelling. »Nun lauf' mal schnell und hole Edith herauf, damit sie hört, was wir über die Reise verhandeln.«

Roselore eilte zu Edith Winter und holte sie. –

Als die beiden Mädchen nun im Kreise der übrigen Großen Platz genommen hatten, sagte Herr Stelling zu Edith Winter: »Sie sind ja nun über alles unterrichtet, liebes Fräulein, und wissen, daß die Hoffnungen schöne, beglückende Wahrheit geworden sind. Ihre Frau Mutter wird in den nächsten Tagen nach Rio abreisen, und es ist ihr von seiten des Testamentsvollstreckers, der mit dem Redakteur meiner amerikanischen Zeitung eng befreundet ist, so reichliches Reisegeld überwiesen worden, daß Sie Ihre Mutter begleiten und alle Annehmlichkeiten der Reise auf dem Dampfer mitgenießen könnten. Ich habe Ihrer Frau Mutter aber abgeraten, Sie mitzunehmen. Das Wetter ist um diese Jahreszeit auf dem Meere sehr stürmisch, und die Reise könnte Ihre zarte Gesundheit gefährden. Wären Sie nun wohl geneigt, auf die Reise nach Rio zu verzichten und sich für die Zeit der Abwesenheit Ihrer Mutter unserer Obhut anzuvertrauen? – Meine Frau würde gern bereit sein, für Sie mitzukochen …«

»Nein, ich will für Edith kochen!« rief Roselore.

Frau Stelling lächelte nachsichtig. Etwas wie Schuldbewußtsein mochte in ihr aufgestiegen sein, weil sie Roselore in der dunklen Kabine eingeschlossen hatte.

»Natürlich kannst du für Fräulein Edith kochen, wenn du magst,« sagte sie freundlich.

»Dann müssen Sie mir alle Ihre Leibgerichte aufschreiben!« drängte das Mädel eifrig und ergriff Ediths Hände.

»Bscht!« sagte Herr Stelling. »Ich bin noch nicht zu Ende. Wenn wir die Obhut und Sorge für Ihr Kind übernehmen, Frau Winter, so hätten wir dagegen eine Bitte an Sie. Darf ich sie äußern?«

Frau Winter nickte und sagte lächelnd: »Ich erfülle Ihnen gern jede Bitte, wenn es in meiner Macht steht.«

Herr Stelling verneigte sich dankend. »Es handelt sich um Pitt. Der arme Kerl muß wieder in seine Heimat zurück; dort ist er am Platze, und da fühlt er sich am wohlsten. Mein Freund, der Redakteur der deutschen Zeitung, will ihn zu sich nehmen und für seine fernere Ausbildung sorgen. Hier in dem rauhen Klima könnte der Junge am Ende noch krank werden. Mein Freund ist bereit, das Reisegeld für Pitt wiederzuerstatten, wenn dieser mit Ihnen zusammen eintrifft. Und Sie, liebe Frau Winter, hätten auf der Fahrt einen sicheren Schutz in Pitt, denn der Bengel ist das, was man bei uns ›eine treue Haut‹ nennt. Drüben aber auf dem festen Lande kann er Ihnen gute Führerdienste leisten, er spricht geläufig Spanisch und Portugiesisch, was zur Verständigung mit den Brasilianern von großer Wichtigkeit ist.«

Er hielt inne, sah Frau Winter fragend an, und diese sagte ernst und freundlich: »Sie erweisen mir damit einen großen Gefallen, Herr Stelling. Ich habe in Pitt dann doch jemand bei mir, der mich an mein Zuhause erinnert, der mich kennt und den ich kenne. Und all die kleinen und großen Dienste, die er mir erweisen wird, sehe ich schon jetzt voraus. Es käme also nur darauf an, ob Pitt wieder mit hinüber möchte.«

Sie blickte sich fragend im Kreise um.

»Na, und ob!« sagte Frau Stelling. Sie war herzlich froh, den dunkelhäutigen Kerl auf diese bequeme Weise loszuwerden. Fast täglich bohrte Meister Fleck an ihr herum, daß das »schwarze Ungeheuer« nicht wieder ins Haus komme. Und die alte Frau Stelling wollte den unnützen Esser durchaus loswerden, Pitt lungerte dort herum und langweilte sich.

»Roselore könnte also am nächsten Sonntag nach Biesenthal fahren und Pitt herbeiholen,« meinte Herr Stelling. »Ob der Junge will oder nicht, er muß einfach! Es drohen mir auch mit der Polizeibehörde Schwierigkeiten, wenn er hier bleibt, man ist jetzt gegen Ausländer sehr streng.«

Roselore fühlte sich sehr wichtig in ihrem Amte, Pitt aus Biesenthal zu holen, und sie konnte den Sonntag kaum erwarten.

»Ich sag' ihm aber nichts vorher,« meinte sie. »Das von der Reise mußt du ihm selbst sagen, Papa.«

»So ist es auch das Richtige!« meinte der Vater. –

Pitt begleitete Roselore sehr willig in die Stadt zurück. Der arme Kerl fror draußen auf dem freien Lande ganz entsetzlich und hoffte, in der Stadt würde es wärmer sein. Er nahm leichten Herzens Abschied von Liesel Wandler, von Papchen und von Großmutter Stelling, packte seine Siebensachen in ein Köfferchen und fuhr mit Roselore nach der Stadt zurück.

Und als Herr Stelling ihm eröffnete, was man über ihn beschlossen habe, machte Pitt einen Luftsprung, so hoch, daß Taddy bewundernd sagte: »Der Pitt kann höher springen als mein Gummiball.«

»Nun muß ich also doch die Reise nach Übersee machen,« sagte Frau Winter bewegt, als sie sich von Stellings verabschiedete. »Meister Fleck würde sagen: ›Was kommen soll, das kommt auch.‹ Hätte ich doch die Fahrt gewagt, als mein guter Onkel noch lebte! Wie würde er sich gefreut haben! Und wie anders hätte sich dann wohl das Los meiner Edith gestaltet!«

»Nun ist ja doch noch alles zum Besten gediehen,« tröstete Herr Stelling.

Und alle, die Pitt sahen, als er stolz und glücklich in das Bahnabteil kletterte, konnten von seinen Mienen die Gedanken ablesen: »Ich reise in meine Heimat zurück, weil man mich dort braucht. Oh, was wäre Brasilien ohne den schwarzen Pitt!«

Edith weinte, als sie ihre Mutter zum letzten Male küßte. Aber Frau Stelling und Roselore standen neben ihr und trösteten sie. Es sollte ja auch nur wenige Monate dauern, und die Trennung würde bald wieder überstanden sein. Dann aber, dann sollte für sie beide ein Leben in Glück und Sonnenschein beginnen.

»Bringen Sie mir einen Papagei von da drüben mit,« hatte die junge Lehrersfrau, Frau Loni Dorn, gebeten. »Ich will ihn sprechen lehren. Er soll dann allmorgens meinem Manne zurufen: ›Faul–pelz! – – Auf–stehen!‹ Denn es ist schon zweimal vorgekommen, daß Egon ein Auto nehmen mußte, um zum Unterricht nicht etwa zu spät zu kommen.«

»Na, das wäre doch weiter kein Unglück!« dachte Roselore aufrichtig. »Im Gegenteil, es ist manchmal ganz fein, wenn der Lehrer nicht allzu pünktlich zur Stelle ist.«

Aber sie behielt diese Meinung wohlweislich für sich.

»Soll ich dir eine Blume mitbringen, Roselore? Du hast dir das doch damals von deinem Vater gewünscht, als er mit deiner Mammy hinüberreiste.«

»Ach nein,« meinte das Mädel. »Eine Wunderblume mag ich nicht wieder haben. Bringen Sie uns lieber einen großen Sack schöne Kaffeebohnen mit, damit Papa nicht jedesmal erst Geld spendieren muß, wenn Mammy Appetit auf Bohnenkaffee hat. Und ein Viertelpfund ist ja so schnell verbraucht.«

»Kleiner Materialist!« neckte Herr Dorn, und Herr Stelling sagte: »Sie beginnt, hausfraulich zu denken.«

Edith hatte sich schnell in dem gemütlichen Kreise der Familie Stelling eingelebt. Sie verpflichtete sich Frau Stelling und Roselore zu großem Danke, weil sie Klein-Taddy so nett zu beschäftigen wußte und ihm lauter schöne Bilder in sein altes Heft malte. Herr Stelling spendierte dann ein neues Heft für diese Malereien, damit sie ein bleibendes Andenken an diese Zeit wären. – Taddy wollte jetzt nicht lauter »Bauten« mit »Sleppe« gemalt sehen, sondern allerhand Tiere, Hunde, Gänse, Hühner und Katzen.

»Nächstens läßt du dir noch Fliegen malen!« neckte ihn Roselore.

»Ach nee, dazu brauche ich Edith nich!« widersprach der Kleine. »Fliegen kann ich allein malen. Da mach' ich einfach 'nen Klecks … so, da is 'ne Fliege an der Wand.«

Und richtig! Er hatte mit dem schwarzen Kohlestift einen schwarzen Klecks an die weißgetünchte Küchenwand gedrückt.

»Ja ja, man hat seine Schwierigkeiten mit ihm,« gab Edith ihrer kleinen Freundin Roselore recht, die beistimmend nickte und ein Stückchen altes Weißbrot nahm, um den häßlichen Fleck wieder abzureiben. – – –

Das Bild der Conchita hatte bei Lehrer Dorn einen hübschen Platz gefunden. Edith hatte sich aufrichtig gefreut, daß es Roselore dem jungen Paare zum Geschenk gemacht hatte. Oft stand Lehrer Dorn vor dem Bildchen und betrachtete es.

»Blume ›Menschenauge‹, auch ›Sonnenschein‹ genannt, mach', daß immer Sonne in unserem Hause sei,« mochte er dabei wohl denken.

Aber einmal, als Roselore neben ihm stand und sie beide das Bild betrachteten, sagte er mit einem Klang in der Stimme, die ihm tief aus dem Herzen zu kommen schien:

»Jetzt fange ich an zu verstehen, was mir die Blume sagen will. Sie singt das Lied von der Liebe zur Heimat. Das ist die wahre Wunderblume, kleine Roselore: daß ein Mensch, der aus der Heimat fortwandert, sie niemals vergessen kann. In seinem Herzen trägt er die Knollen dieser Wunderblume mit sich herum, und wenn sie auch durch manchen Wetterschlag vernichtet wird, sie erblüht ihm immer wieder neu. Nun denk' einmal weiter mit mir, Mädel: Die Heimatliebe hat den alten Mr. Sparrow damals zu deinem Vater und seinen Leuten geführt, denn was wäre sonst die Veranlassung gewesen, daß er sich in der Gesellschaft der Deutschen so wohlfühlte? Er hat ihnen Gutes erwiesen, weil er in ihnen seine Heimat liebte; und so ist es gekommen, daß dein Vater sich den Namen Sparrow unauslöschlich einprägte und sogleich von seinem Freunde aus Übersee zu sprechen begann. Die Conchita hat also dazu beigetragen, daß zu Edith Winter und ihrer Mutter das Glück gekommen ist, jene unsichtbare Conchita, die der alte Mann in seinem Herzen trug.«

»Wenn er jetzt nur nicht sagt, daß ich daraus einen Aufsatz machen soll!« dachte Roselore bekümmert. »Nein, so schöne und tiefe Worte, wie Herr Dorn sie soeben sprach, vermöchte ich nicht zu finden, wenn ich auch nicht so schlechte Aufsätze schreibe wie Liesel Wandler …«

Etwas Wahres fühlte Roselore aber doch aus den Worten des Lehrers heraus, denn sie sagte:

»Unser Pitt hat sicher auch eine solche Wunderblume in seinem Herzen getragen. Und nun wird die bei ihm neue, schöne Blüten treiben; wenn's aber drüben einmal nicht ganz glatt geht, wird seine Blume verwelken und er denken: ›Bei Stellings in der Schivelbeinerstraße war es doch auch ganz nett.‹«

»Recht so!« lobte der Lehrer. »Mädel, du verstehst mich. Nun denk' einmal nach, ob du deine Heimat liebst, und ob du selbst auch eine Conchita in deinem Herzen wachsen fühlst?«

Roselore hob die dunklen, großen Augen zu ihm auf und entgegnete:

»Ja, meine Wunderblume heißt ›Biesenthal‹.«

»Biesenthal?« fragte er betroffen. »Was ist an dem häßlichen Reste denn Schönes dran?«

»Oh, Sie ahnen … du ahnst es nicht, Onkel Dorn,« sagte Roselore mit Überzeugung. »In Biesenthal habe ich die schönste Zeit meines Lebens zugebracht. So schön, wie es dort war, wird es nirgends wieder sein.«

Er sah das Mädel an. »Natur!« dachte er. »Glückseliges Kind du, die du die Freude an der Natur allen Freuden vorziehst, die dir die Großstadt bietet!«

»Was habt ihr denn miteinander zu beraten?« fragte Tante Loni, die in der Küche mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt gewesen war.

»Oh, wir haben ein sehr interessantes Gespräch zusammen geführt, nicht wahr, Roselore?« sagte Lehrer Dorn und reichte dem Mädel mit freundschaftlichem Drucke die Hand.

Seitdem sagte Roselore öfters zu ihren Freundinnen in der Schule: »Lehrer Dorn ist ein feiner Charakter. Er hat so tiefe und schöne Gedanken. Ach, wenn er uns das doch beibringen könnte, wie man solche tiefsinnige Gedanken schöpft!«

Sie hatten aber jetzt nur die Rechenstunde und die deutsche Grammatik bei ihm; und hier wäre es mit tiefen Gedanken meist Essig gewesen.

Herr Dorn war nämlich seit einigen Tagen in die dritte Klasse als Ordinarius versetzt worden, und Roselore freute sich darüber um so mehr, als sie ja selbst zu Ostern in die dritte Klasse versetzt zu werden hoffte.

Sie war in den letzten Monaten sehr schnell gewachsen, und ihre blühende Gesichtsfarbe war allmählich verblaßt. Ihre Wangen waren schmaler geworden.

»Im nächsten Sommer muß Roselore ganz bestimmt irgendwohin ins Freie zur Erholung,« sagte Herr Stelling zu seiner Frau.

Edith Winter hörte es und legte Frau Stelling ihre Hand auf den Arm, mit bittender Gebärde.

»Es ist doch selbstverständlich, daß Roselore mein Gast sein wird, wenn ich im nächsten Jahre eine Reise nach dem Süden mache!« sagte sie. »Das hatte ich ihr schon seit langer Zeit zugedacht.«

Frau Stelling drückte Edith dankbar die Hand.

»Wir wollen hoffen, daß alles gut geht und die Erbschaftsfrage nun bald zum endgültigen Schlusse kommt!« sagte sie.

Weihnachten war vorüber, und der Frühling nahte.

Wiederum stand Roselore auf dem Bahnsteig des Fernbahnhofes, um den Eilzug aus Hamburg zu erwarten, genau so wie vor einem Jahre, wo sie ihre Eltern zu begrüßen gekommen war.

Aber heute stand nicht Tante Loni neben ihr, sondern Edith Winter.

Das junge Mädchen sah kräftig und blühend aus, und das Rot, das ihre Wangen färbte, hatte nicht nur die Erwartung hervorgezaubert, es war auch das Zeichen ihrer Gesundheit und Frische. Im Kreise der Stellingschen Familie war Edith froh und kräftig geworden. Frau Stelling hatte streng darauf geachtet, daß Edith nicht zu viel arbeitete, sie hatte sie oft mit dem kleinen Taddy an die frische Luft geschickt. Und die frohe Aussicht auf eine sorgenfreie Zukunft hatte mit dazu beigetragen, den Gesundheitszustand des jungen Mädchens zu festigen.

Frau Winter hatte oft aus Rio geschrieben. Sie war dort im Hause des Redakteurs der deutschen Zeitung gastlich aufgenommen worden; der Nachlaßverwalter und Notar ebenfalls ein Deutscher, in dessen Hause sie schnell heimisch geworden war. Sobald die nötigen Formalitäten erledigt waren, hatte Frau Winter dann wieder an die Heimfahrt gedacht, aber den dringenden Bitten einiger deutscher Landsleute nachgeben müssen und war noch vier Wochen als Gast in Rio geblieben. Sie hatte schöne und glückliche Tage verlebt.

Nun kehrte sie wieder nach Hause zurück, eine andere als vor einem Jahre, wo sie Roselores Bekanntschaft machte. Nicht mehr die arme, unbemittelte Kriegerswitwe, die mit der kargen Pension auskommen mußte, sondern eine reiche Frau, im Besitze eines großen Vermögens, das ihr und ihrer Tochter ein Leben in Behaglichkeit gestattete und es ihr ermöglichte, Gutes zu tun an den weniger vom Glücke Begünstigten, und Not zu lindern, wo sie ihr begegnete.

»Nun werdet ihr doch nicht länger dort wohnen bleiben?« fragte Roselore, der alle Entscheidungen viel zu langsam voran gingen. »Ihr werdet euch ein schönes Haus kaufen irgendwo in der weiten Welt und als feine und reiche Leute in den höchsten Kreisen Eingang finden. Und du wirst vielleicht dann einen Mann heiraten, der … ach, ich wünschte es dir von Herzen … einmal Minister wird.«

»Kindsköpfchen!« schalt Edith lächelnd die Freundin aus. Sie sagten jetzt »du« zueinander, Edith hatte Roselore darum gebeten.

»So wie ich meine liebe Mutter kenne, denkt sie nicht daran, die reiche Frau herauszustecken. Sie wird einfach bleiben, wie sie es immer war, und nur die Möglichkeit, ohne Sorgen in den Tag sehen zu können, wird sie befriedigen, denn so hat sie den Blick für die Sorgen anderer frei und kann helfen, wo es nötig ist.«

Aber Roselore ließ nicht locker.

»Soll ich Papa einmal bitten, daß er mit dir und deiner Mutter gemeinsam ein Häuschen kauft, wo wir dann zusammen wohnen können? Es gibt ja jetzt überall solche netten Zweifamilienhäuschen. Jedesmal, wenn ich ein solches sehe, steigt der Wunsch in mir hoch: Ach, wenn du wärst mein eigen!«

»Ich glaube nicht, daß deine Eltern dem Plane günstig gestimmt wären,« meinte Edith. »Du darfst es nicht so weit zur Schule haben.«

»Ach was! Schulen gibt es überall!« widersprach Roselore.

»Aber Lehrer Dorn ist nur an einer einzigen Schule!«

»Na ja!« meinte Roselore gedehnt. Daran hatte sie nicht gedacht.

Der Zug lief ein, keuchend wie ein braves Zugtier, das einen weiten, beschwerlichen Weg hinter sich hat. Dicke Dampfschwaden quollen über den Bahnsteig.

Im nächsten Augenblicke fanden sie Frau Winter in der Schar der Ankommenden heraus, und Edith lag am Herzen ihrer Mutter.

Nachher saß Frau Winter mit ihrer Tochter wieder im Kreise der Familie Stelling, und Frau Winter sagte, glücklich lächelnd:

»Es war herrlich drüben. Klima, Natur, Menschen, alles wetteiferte, mich zu beglücken und zu erfreuen. Und doch muß ich in die Weise des alten Volksliedes einstimmen, die in meiner Seele widerklingt:

Ist's auch schön im fremden Lande,
Doch zur Heimat wird es nie!

Sogar Pitt, der es drüben wirklich nicht leicht hat, weil er tüchtig arbeiten muß, entgegnete mir auf meine Frage, ob er wieder mit mir zurück möchte: ›No, no!‹«

»So schlecht hat es ihm bei uns gefallen?« scherzte Herr Stelling. »Ei ei, der Undankbare!«

Frau Winter lachte heimlich.

»So ganz abgeschworen scheint er seine Neigung für unser Land nicht zu haben, denn er sagte einmal ganz feierlich: ›Ich will arbeiten, um reich zu werden. Und wenn ich werde sein reich, dann ich mir holen eine weiße Frau von da drüben.‹«

»Mich etwa?« platzte Roselore heraus und bog sich vor Lachen. »Oder gar Edith?«

»Nein, keine von euch beiden. Ja ja, denkt nur, er hat sein Herz … in Biesenthal verloren!«

»Das kann ich ihm nicht verdenken!« meinte Roselore. »In Biesenthal ist es auch sehr schön.«

»Liesel Wandler hat er gemeint …«

Nun schwieg Roselore aber doch ein wenig betroffen. Es war ihr zum ersten Male in ihrem Leben begegnet, daß Liesel ihr vorgezogen wurde. Sie hatte immer auf das einfache, ein wenig einfältige Mädel herabgesehen. Und nun dachte jemand ihrer in der Ferne und … hatte sie ins Herz geschlossen, so daß es leise klopfend sprach: »Ich hab' dich ja so lieb!«

Und sie nahm sich vor, den schwarzen Pitt nicht zu vergessen; ihm einmal einen herzlichen Brief zu schreiben und ihm zu erzählen von Taddy und der Großmutter Stelling und dem klugen Papchen und Liesel Wandler, die im Sommer wieder die Gänse hüten mußte und wohl nie, niemals einen ordentlichen Aufsatz zustande bringen würde. Aber sie war nett zu dem armen Pitt gewesen, und ihre Güte hatte es zuwege gebracht, daß er sie nicht vergessen konnte.

Ganz leise, aber eindringlich kam dem vorlauten, törichten Mädel eine Ahnung von dem edlen Kern eines Menschendaseins, wenn das Herz die Wunderblume der Güte pflegt und hegt, bis sie sich zur herrlichen Blüte entfaltet und wie ein treues Menschenauge den Reichtum des Herzens widerspiegelt. –

Meister Fleck nahm mit freundlicher Würde die Kündigung der kleinen Hofwohnung aus Frau Winters Munde entgegen.

»Ich kann jetzt auf mein Kind Rücksicht nehmen,« sagte die ernste Frau. »Ich bin in der Lage, eine bessere Wohnung mieten zu können, um dadurch der Gesundheit Ediths helfend beizukommen. Sie soll nicht mehr so viel Treppen steigen müssen, und Licht und Sonne sollen ins Zimmer scheinen, wo sie weilt.«

»Das ist aber schade, daß Sie wegziehen wollen!« sagte Frau Genovev'. »Sie waren so angenehme und stille Mieter.«

»Mach' dir nischt d'raus,« fiel Meister Fleck seiner Frau ins Wort. »Was kommen soll, das kommt auch.«

Er wandte sich wieder an Frau Winter.

»Hören Sie 'mal, da fällt mir was ein. – Die Herrschaften, die die Hauptwohnung an Stellings Wohnung innehaben, werden mit Verwandten gemeinsam ein Landhaus beziehen. Diese schöne Wohnung würde ich Ihnen zuweisen. Sie besteht im ganzen aus fünf Zimmern; von diesen haben Stellings ein großes Zimmer mit Küche abgemietet. Herr Stelling würde nun gern noch ein zweites Zimmer dazunehmen, und dann würden für Sie drei schöne, sonnige Zimmer bleiben.«

»Das wäre aber wieder vier Treppen hoch!« wandte Frau Winter ein.

Der Meister nahm umständlich eine Prise, und als ob ihm dadurch eine Erleuchtung gekommen wäre, fuhr er fort:

»Da sind Doktors im ersten Stock, die mit Bekannten die Wohnung tauschen möchten. Ich würde Ihnen also diese herrliche Wohnung überlassen, wenn Stellings Ihre Mitbewohner werden. Sie vertragen sich doch miteinander ganz gut? Na also. Die Tauschmieter sind jungverheiratete Leute, die zwei oder drei Zimmer abvermieten möchten. Dazu wäre mir aber die schöne Wohnung im ersten Stock zu schade. Sie mit Stellings zusammen würde ich lieber darin sehen, und die Fremden können in die Viertreppenwohnung mitsamt ihren möblierten Herren oder Damen einziehen.«

»Und wie ist es dann mit der Küche?« fragte Frau Winter, die an alles dachte.

»Eine Küche lasse ich Ihnen einbauen, eine eigene Küche! Das geht zu machen. Alles ganz neu und propper. Na, sind Sie nun einverstanden, Frau Winter?«

Nun hatte die Mieterin nichts mehr einzuwenden, und die Aussicht, mit den lieben Stellings so nahe zusammen wohnen zu können, hatte viel für sich.

Roselore hätte über die Fülle dieser neuen Ereignisse fast den Kopf verloren, und dann wäre ihre Versetzung zu Ostern gefährdet gewesen. Aber sie kam glücklich in die dritte Klasse hinüber, und in Anerkennung hierfür durfte sie mit Edith Winter zunächst eine Osterfahrt während der Ferien in die Sächsische Schweiz unternehmen. Während ihrer Abwesenheit wurde der Umzug in das erste Stockwerk bewerkstelligt.

Ihre größte Freude war es, wenn man sie und Edith für Geschwister hielt, obwohl sie einander doch gar nicht ähnelten. »Die Wunderblume von Übersee hat uns zusammengebracht!« sagte dann Roselore oft.

Das Mädel hatte große Pläne für die kommenden Wochen. Es galt ja, den Hofgarten zu bestellen, wie Herr Fleck ihr ausgetragen hatte. Wie herrlich war es, daß sie deswegen dann nicht mehr vier Treppen hinunterzusausen brauchte!

Als sie mit Edith dann von der Ferienfahrt heimkehrte, fanden die beiden Mädel bereits eine fertig eingerichtete Wohnung vor; und Roselore konnte sich überzeugen, daß alle ihre kleinen Besitztümer wohlerhalten befördert worden waren. Auch die Knollen der Wunderblume von Übersee fand sie in einem Kästchen wieder.

»Vielleicht pflanze ich sie doch wieder ein,« dachte sie. »Es hat mir damals viel Spaß gemacht.«

Frau Winter hatte bei den amerikanischen Freunden von der Conchita erzählt; aber merkwürdig! – niemandem war diese Blume bekannt. Auch den Namen meinte noch niemand gehört zu haben.

»Der brasilianische Urwald birgt noch so manche Geheimnisse,« hatte der Redakteur der deutschen Zeitung gesagt. »So mag es wohl möglich sein, daß die Blume ›Menschenauge‹ dort wirklich wächst. Erzählt hat mir einmal jemand davon; aber ich gehöre zu den Leuten, die da sagen: ›erst sehen, dann glauben!‹«

»Vielleicht hat unser schwarzer Pitt mehr darüber gewußt als alle anderen, gebildeteren Menschen,« sagte Herr Stelling. »Aber mag nun ihr Name ›Menschenauge‹ lauten oder ›Sonnenschein‹, lassen wir sie als Symbol gelten für das Glück, das den Weg zu uns in die Heimat gefunden hat!«

 

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