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1.

Jetzt kommt der Zug!« rief Roselore in höchster Aufregung. Ungeduldig sprang sie um Tante Leontines würdige schwarzgekleidete Gestalt herum. »Ich sehe ja schon den Rauch, Tante Loni! Ach, da …, der schwarze Punkt …, er wird immer größer. Jetzt kann man schon das Rollen der Räder deutlich vernehmen. Hörst du nicht?«

Fragend sahen die dunklen Augen des zehnjährigen Mädchens in das schmale, blasse, engelsgute Gesicht der Tante, das gar nichts Strenges in seinen Zügen aufwies, obwohl Fräulein Leontine Stelling nun schon seit bald zehn Jahren das Amt einer Volksschullehrerin in Biesenthal, einem ländlichen Orte unweit der Großstadt, bekleidete.

Und es klang auch jetzt lauter Güte und nichts von strengem Verweis von ihren Lippen, als sie das aufgeregte Kind wohl zum zehnten Male zu beschwichtigen suchte:

»Bleib hübsch ruhig, Rose! Sieh, dein rotes Mäntelchen steht schon wieder offen! Knöpfe es schnell zu! Was sollen denn Mama und Papa von dir denken, wenn du ihnen so entgegenspringst! Sie waren nun fünf Jahre drüben in Amerika und meinen gewiß, eine große Tochter wiederzufinden, wenn sie heimkehren, und nicht so ein zappeliges Wichtelchen, wie sie es damals verließen!«

»Ach, Tante Loni,« sagte Rose und stand nun plötzlich ganz still. »Ich bin ja auch inzwischen ein großes Mädchen geworden! Du hättest gar nicht mit mir zum Bahnhof zu fahren brauchen, ich hätte mich ganz allein zurechtgefunden. Großmutter meinte das übrigens auch. Oder glaubst du wirklich, daß ihr die Füße so arg weh taten, daß sie nicht hätte mitkommen können? Sie wollte nur nicht! Sie dachte sich: Die Rose mag ihre lieben Eltern allein abholen, die ist ja doch die Hauptsache beim Empfang!«

»Ei, du,« schalt die Lehrerin und versuchte, ein strenges Gesicht zu machen. Doch die Weiterrede erstarb ihr auf den Lippen, denn jetzt brauste der lange Zug, der von Hamburg kam, wirklich in die Halle, die Türen der Abteile sprangen auf, und eine Flut von Reisenden strömte über den Bahnsteig. »Bleibe in meiner Nähe!« sagte Fräulein Stelling, die nun ebenfalls einige Unruhe und Aufregung verspürte. »Komm, Rose, von hier aus übersehen wir die Ankommenden am besten!«

Sie wollte das Mädel an eine etwas abseits stehende Bank führen; aber Rose riß sich von der Hand der Tante los, wies mit ausgestrecktem Finger geradeaus und sagte, die Augen voll Staunen: »Ein Schwarzer! Da, Tante …, sieh doch, ein wirklicher Neger …«

Fräulein Leontine folgte der zeigenden Hand des Mädchens und erblickte auch sogleich, dicht hinter dem Schwarzen schreitend, ihren Bruder Thomas Stelling, der sich, die Rechte auf die Schulter des Schwarzen gelegt, zu den Wartenden hinbewegte und schon von weitem fröhlich grüßte.

»Da seid ihr ja!« sagte er, seiner Schwester die Hand schüttelnd. »Und da ist ja auch unsere Roselore, das große Mädel!« Er beugte seine hochgewachsene Gestalt nieder und küßte sein Kind auf die Stirn, auf die Wange und zuletzt auf den Mund.

»Wo ist Mama?« fragte Rose aufgeregt. »Und wer ist der da?« Schon ruhte ihr Blick wieder staunend auf dem dunkelhäutigen, grinsenden Jungensgesicht.

Herr Stelling lachte.

»Das ist … nein nein, nicht dein Bruder, aber der beste Freund von ihm!« Er schob den sich verlegen windenden Burschen vor sich her. »Schau, Rose, der Boy hier heißt Pitt. Wäre er nicht gewesen, dann wäre unser Taddy nicht mehr am Leben; nicht einmal, nein, wohl ein dutzendmal hat er ihm das Leben gerettet. Er hat ihn aus dem Wasser gezogen, ihn aus der schleichenden Umschlingung einer Otter befreit, er hat ihn in seinen Armen aufgefangen, als er aus dem Fenster unserer Hütte stürzte … na, das laß dir nur alles später von Taddy erzählen, er plappert ja allzu gern von seinem Freunde Pitt. – Doch seht ihr wohl, da kommt ja Mama! Sie hat gewiß noch an Taddy herumzuzupfen gehabt, darum blieb sie mit ihm im Abteil zurück. – So, nun voran! Hier sind die Gepäckscheine, Loni, sei so gut und nimm mir das erst einmal ab. Wir haben drei Koffer, alles übrige kommt später nach.«

Frau Stelling war mit dem Kleinen näher gekommen, und Rose eilte mit einem lauten Jubelruf der Mutter entgegen. »Oh, wie schön sieht Mammy doch aus!« dachte das Mädel. »So schön, wunderschön ist sie geworden, wie eine Blume ist sie aufgeblüht da drüben!« Sie küßte die Mutter zärtlich und schmiegte sich an sie. »Ach, Mammy, daß du endlich wieder da bist!« stammelte sie hochbeglückt.

Da fühlte Rose plötzlich, daß jemand sie heftig ins Bein kniff. Sie sprang zurück. Zwei große, blaue Kinderaugen starrten zu ihr hin, trotzige Tränen schwammen um die lichten Blausterne, kollerten über die rosigen Wangen, und der Dreikäsehoch krähte, indem er energisch mit dem Fuße aufstieß:

»Ich mag dich nicht. Go on! Du bist ja so droß!«

Frau Stelling lachte.

»Da hab' ich nun einen Fehler begangen,« sagte sie im Weiterschreiten, während sie den vierjährigen Knaben der führenden Hand des schwarzen Boy überließ. »Ich habe unserem Buben so viel von seinem kleinen Schwesterchen in der Heimat erzählt und dabei selber nicht bedacht, wie sehr du inzwischen gewachsen bist. Nun ist er gewiß enttäuscht, denn er hat gehofft, mit dir ›Pferdchen‹ spielen zu können. Aber ich denke, ihr werdet bald gute Freunde miteinander werden.«

Roselore verzog den Mund. Na, das waren ja nette Aussichten! Sie sollte mit dem Bruder spielen, der sie gleich bei der ersten Begrüßung ins Bein gekniffen hatte! Sie war ihm zu groß? Deshalb mochte er sie nicht leiden? Hoho, er sollte es schon merken, daß er eine »große« Schwester hatte.

»Hier in Deutschland gelten andere Sitten als in Übersee drüben, mein Junge!« dachte sie überlegen.

Brennend gern wäre nun Roselore mit den Ihrigen in die neue Wohnung gefahren. Sie hörte darüber aus dem Gespräch der Eltern mit Tante Loni. Die Wohnung lag inmitten der Stadt. Ein Freund des Direktors der großen Kabelwerke, für die Roselores Vater mit einigen anderen Angestellten fünf Jahre drüben tätig gewesen war, hatte von seiner Wohnung ein abgesondertes Zimmer nebst Küche an Stellings abgegeben. Dort sollten sie nun hausen: Vater, Mutter, Rose, Taddy und … natürlich auch der schwarze Pitt.

»Es ist ein Jammer mit der Wohnungsnot,« sagte Herr Stelling. »Wir müssen froh sein, überhaupt ein Unterkommen sogleich zur Hand zu haben. Angenehm ist es mir freilich, daß unser Quartier nahe der Fabrik gelegen ist, und daß auch die Schule nicht weit entfernt liegt, die Rose nun besuchen wird. Das Mädel ist doch bereits dort angemeldet?« fragte er seine Schwester.

Leontine bejahte.

»Rose hat nur noch die Aufnahmeprüfung vor sich, ich denke aber, sie wird für die vierte Klasse reif sein. Ich habe mir viel Mühe mit ihr gegeben.«

»Das danke ich dir ganz besonders,« sagte Herr Stelling. »Du hast fürs Geistige gesorgt bei unserem Mädel, wie mir scheint, und Mutter für das leibliche Wohl. Und wie, das sieht man ja. Treibt Großmutter noch so eifrig Blumenzucht?«

»Mit Begeisterung ist sie nach wie vor darin tätig!« berichtete Leontine. »Aber ich glaube, Rose war ihre liebste Blume.«

Frau Stelling drückte ihr Mädel herzlich an sich. »Wirst du nun auch gern zu uns kommen, Kind?« fragte sie. »In Biesenthal war es schöner als in der Stadt, da hattest du Wald und Feld und einen großen Blumengarten.«

»Oh, was das betrifft,« sagte Roselore offen, »so meine ich, daß man Blumen überall pflanzen und pflegen kann. Nicht nur auf dem Lande, sondern auch in der Stadt. Ich habe mir schon eine Menge Blumensamen eingepackt, und einen großen Kasten Erde aus Großmutters Garten bringe ich mit. Da werdet ihr allerlei Wunder erleben!« Die Augen des Mädels leuchteten.

»Die Liebe zu den Blumen hat sie von unserer Mutter geerbt,« meinte Leontine lächelnd. »Und das Geschick, sie zu pflegen, ebenfalls. Was Rose pflanzt, das gedeiht auch. Es ist schade, daß an eurem Hause kein Garten gelegen ist. Rose wird das sehr vermissen.«

Herr Stelling zuckte die Achseln.

»In der Stadt ist jedes Fleckchen Land allzu kostbar!« sagte er. »Doch nun für heute Schluß, meine Lieben. Wir sind allesamt müde von der Reise, und morgen gibt es viel mit der Einrichtung der Wohnung zu tun. Auf Wiedersehen also, liebe Roselore. Grüße die Großmutter und berichte ihr, daß wir heil und gesund eingetroffen sind.«

Roselore sah den Vater und dann die Mutter betroffen an.

»Darf ich denn nicht gleich mit euch fahren?« fragte sie enttäuscht.

»O nein, dich kleinen Quirl können wir nicht bei unseren Arbeiten brauchen,« meinte Frau Stelling. »Du wirst bis zum nächsten Sonntag noch bei der Großmutter in Biesenthal bleiben. Sie wird dich dann zu uns begleiten, und auch du wirst mitkommen, liebe Loni, nicht wahr?«

Leontine sagte freudig zu. »Könntet Ihr nicht auch den Kleinen samt dem Nigger da einstweilen mit uns gehen lassen?« meinte sie hilfsbereit. »Dann hättet ihr es doch bedeutend leichter!«

Aber davon wollten sowohl Vater Stelling als auch die Mutter nichts wissen. »Das Kind ist noch zu fremd hier,« sagte Frau Stelling. »Es wäre für euch eine Qual, und für Taddy auch. Dagegen ist er an Pitt gewöhnt, und wir können den Boy zu allen möglichen Handreichungen sehr gut brauchen. Er ist anstellig und sehr geschickt. Kannst du dir vorstellen, Loni, daß unser Pitt … er ist noch nicht ganz vierzehn Jahre alt … trefflich zu kochen versteht?«

Leontine lachte, und Roselore verzog das Mäulchen und dachte: »Wenn der unser Essen rühren sollte, dann rühr' ich keinen Bissen an. Nicht einmal Milchreis, obwohl das meine Leibspeise ist.«

Ein wenig neidvoll sah sie dem schwarzen Bengel zu, als dieser stolz und wichtigtuend auf dem Rücksitz des Autos neben Taddy Platz nahm. Wie seine Augen funkelten vor Freude! Und wie alle Kinder ringsum gafften! In Roselore erwachte die Kampflust. »Ich werde dich schon meistern, du schwarzer Bengel!« dachte sie überlegen. »Du kannst gewiß kaum bis zwanzig zählen, und ich kann schon das große Einmaleins, vorwärts, rückwärts und außer der Reihe.«

Schweigsam schritt Rose neben der Tante durch die Straßen nach dem Vorortbahnhofe, von wo sie heimfahren mußten. Die bunten, wechselvollen Bilder der letzten Stunde zogen nochmals durch ihre Seele, und sie bemühte sich, sie in ihr neues Leben einzugliedern.

Ja, ein neues Leben begann für sie. Würde es ebenso froh und friedlich sein, wie es bis jetzt bei der Großmutter und ihren Blumen gewesen war?

Roselore seufzte leise. »Bist du müde?« fragte die Tante freundlich.

»O nein,« entgegnete Rose schnell. »Durchaus nicht. Aber den Pitt hätten Papa und Mama doch drüben lassen können!«

»Es wird sich schon alles zum Guten wenden!« tröstete die Tante.

*

Liesel Wandler, Roselores beste Freundin, erwartete die beiden auf dem Bahnhof in Biesenthal, und es war Fräulein Leontine ganz recht, daß ihre Nichte nun jemanden zur Heimbegleitung hatte, denn sie wollte gern den Abend voll ausnutzen, um noch zu lesen. Nachher, wenn der Verkehr mit Stellings im Gange war, kam sie ja doch nicht mehr dazu. Sie wohnte im Oberstock des Gasthauses, in dem sich auch die Schule befand, da das neue Schulgebäude nahe dem Walde noch nicht fertig war. Das Gasthaus »Zum wilden Jäger« lag nicht weit vom Bahnhofe entfernt, und somit war Tante Loni gleich zu Hause, während die beiden Mädel Hand in Hand, mit den Armen schlenkernd, im dämmrigen Abend durch den Ort wanderten bis fast ans andre Ende, wo das Haus der Großmutter gelegen war, in dessen Nähe auch Liesel Wandler mit ihren Eltern wohnte. Liesels Vater war Bäcker.

Die blonde Liesel verzehrte sich fast vor Neugierde über das kommende Schicksal ihrer Freundin. Und da Roselore selber noch nichts weiter wußte, als daß ihre Eltern in der Schivelbeinerstraße eine Wohnung gemietet hatten und sie selbst von Ostern ab die Volksschule besuchen sollte, die in derselben Straße gelegen war, so malte sie das wenige, was ihr bekannt war, in den buntesten und verlockendsten Farben aus.

»Mein kleiner Bruder Taddy ist ja einfach süß!« beteuerte sie. »Und so verständig ist er! Er wollte gleich mit mir spielen. Er hat einen Boy, das ist also ein Diener, ganz für sich allein. Denke nur, einen schwarzen Neger mit großen, wundervollen Zähnen und dicken roten Lippen.«

»Puh!« machte Liesel schaudernd. »Wozu haben deine Eltern denn den Schwarzen mitgebracht? Er soll wohl dem Taddy das Boxen beibringen?«

Roselore schrak zusammen. Himmel, daran hatte sie noch gar nicht gedacht, daß die Nigger ja ausgezeichnete Ringkämpfer waren! Wenn nun Pitt einmal seine Kräfte ihr gegenüber geltend machte! Sie verspürte keine Lust, von seinen derben schwarzen Fäusten geboxt zu werden.

»Ach wo!« widersprach sie überlegen. »Zum Vergnügen ist der schwarze Bengel nicht auf der Welt. Der muß arbeiten! Er soll meinen Bruder tragen, wenn dieser müde ist, und er muß den Wagen ziehen, wenn Taddy kutschiert, und die Spielsachen aufheben, die er herunterwirft.«

Da Liesel all diese Arbeiten bei ihren kleinen Geschwistern verrichten mußte, imponierte ihr das Vorhandensein eines schwarzen Dieners in dem neuen Heim ihrer Freundin sehr, und sie sagte begehrlich: »Wenn du erst bei deinen Eltern wohnst, besuche ich dich, ja?«

»Ich werde dich dann einmal einladen!« entgegnete Roselore, die sich in diesem Augenblicke ganz als junge Dame fühlte.

Großmutter Stelling stand wartend vor dem Hause und schaute nach ihrer Enkelin aus. Es kam selten vor, daß das Mädel um sieben Uhr noch nicht daheim war. Da sah sie das Jungvolk, wie sie die zwei nannte, die Straße entlang geschlendert kommen. Sie winkte ihnen mit der Hand zu. »Nur schnell, nur schnell, Kinder! Ich warte schon so lange!« rief sie ihnen zu. »Und was hast du denn gemacht, Rose? Du hast ja die Blumen vergessen! Narzissen und Veilchen! Nun steht der schöne Strauß in der Stube, und wir müssen das Fenster auflassen, weil es so stark riecht.«

Roselore wollte es nicht merken lassen, daß sie sich selber über ihre Vergeßlichkeit ärgerte. Sie sagte: »Papa und Mama hatten ja so viel zu tragen, und ich sollte nicht mit in die neue Wohnung. Am nächsten Sonntag sollst du mich hinbringen, Großmutter. Dann nehme ich den Strauß mit.«

»Einen schwarzen Mohren haben sie von Übersee mitgebracht!« krähte Liesel vorlaut dazwischen.

»So? Na ja, drüben laufen sie ja herdenweise herum. Das paßt dir wohl, Rose? Du ißt ja ›Mohrenköpfe‹ so gern!«

»Erst welche haben!« meinte Rose sehnsuchtsvoll und sandte ihrer Freundin, der Bäckerstochter, einen schnellen Blick zu.

Liesel fing den Blick auf, und in der Voraussetzung, daß eine süße Spende die versprochene Einladung nach der Stadt beschleunigen werde, versprach sie: »Ich bringe dir morgen zwei Mohrenköpfe, sobald sie fertig sind.«

»Drei!« forderte Roselore. »Großmutter soll auch einen haben. Und dann feiern wir unseren Abschied.«

»Na, nun geh' nach Hause!« sagte Mutter Stelling zu Liesel. »Ich muß noch einmal in den Hühnerstall, es kommen heute nacht die jungen Küken raus.«

»Ich hab' noch Schularbeiten zu machen!« gestand Liesel kleinlaut. Und Roselore rief triumphierend:

»Ätsch, ich nicht! Ich hab' schon frei, weil ich in eine andere Schule komme.«

Die Mädel reichten sich die Hände. Roselore legte blitzschnell den Finger auf die Lippen, dann ans Ohr und an die Stirn und sagte bedeutungsvoll: »Vergiß nicht, Liesel!«

Liesel verstand den Wink. Es war die Zeichensprache, mit der sie sich verständigten, die bedeutete »Mohrenkopf«. – –

Müde und fröstelnd strich Roselore am nächsten Morgen im Hause umher. Sie hatte es sich nicht verwehren lassen, sondern den Hühnerstall bewacht und aufgepaßt, wie eines nach dem anderen der kleinen gelben Küken mit leisem »Piep« aus der engen Hülle der Eierschale ans Tageslicht schlüpfte und sogleich auf den strohhalmdünnen Beinchen herumtaumelte. Alle waren gut ausgekommen, sechs an der Zahl. Nun brauchte man keine Sorge mehr zu haben, die Hühnermutter würde ihre Kleinen schon versorgen.

Roselore wollte fröhlich sein, so recht von Herzen fröhlich, wie immer, wenn sie Augenzeuge eines solchen Naturwunders gewesen war. Aber in ihre Freude mischte sich herber Schmerz. Sie dachte: »Nun muß ich das alles hier verlassen und kann das Wachsen der kleinen Hühnchen nicht beobachten, kann ihnen kein Futter streuen. Ich kann's nicht mehr erleben, wie im Garten die grünen Keime alle unter dem Strahl der Sonne sich entfalten! Ach, mir ist, als müßte ich sterben, um auf einem öden Sterne neu geboren zu werden.«

Immer von neuem wanderte sie durchs Haus, durch den Garten, setzte sich in der Küche auf den Hocker nieder, wo sie so gern gekauert hatte, während die Großmutter am Herde herumwirtschaftete; ging in den Keller, zählte die Vorräte an Kohltöpfen, musterte den Rest von Winteräpfeln auf dem Sims und ließ einige davon in ihre Tasche gleiten. »Nachher bekomme ich ja doch keine mehr davon,« dachte sie betrübt. –

Währenddessen ging Liesel mit den anderen Schulkindern die Straße entlang und berichtete ihnen in tönenden Worten von Roselores neuem Heim. »Eine vornehme Wohnung haben sie dort,« erzählte sie, »mit elektrischem Licht und Zentralheizung, und schwarze Dienerschaft haben sie sich von Übersee mitgebracht.«

»Was hat denn Rose sonst noch mitgebracht bekommen?« erkundigte sich ein Mädel neugierig.

»Das ist noch nicht ausgepackt,« sagte Liesel ausweichend. »Die großen Kisten kommen noch nach. – Oh, da wird schon viel zu sehen sein! Papageien und Affen, und vielleicht gar Schlangen! Ich bin schon zu Roselore eingeladen!« schloß sie wichtig.

»Sie wollte doch eine schöne Blume mitgebracht haben!« plauderte eine andere Kleine. »Das hat sie mir einmal erzählt. Sie liebt ja Blumen so sehr.«

»Davon weiß ich gar nichts,« schnitt Liesel diese ihr unbequeme Frage ab und fing wieder an, von dem schwarzen Neger zu schwärmen, der eine Haut habe, so blank wie gewichste Stiefel, und der Kräfte besitze wie ein Riese. Und da dieses Thema die übrigen mehr interessierte als Blumen, war der schwarze Pitt der Gegenstand des Gespräches, bis sie vor der Schultür standen.

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Meister Fleck hob beschwichtigend die Hand und sagte: »Mach' dir nischt d'raus. Was kommen soll, das kommt auch.«


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