Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11.

Es war Oktober geworden. Im Freien draußen färbten sich die Blätter und zeigten ihr buntes Herbstkleid; aber in den Gärten, die eingeschlossen lagen, blühten noch farbenfrohe Blumen in nimmermüder Gebefreudigkeit. Auch auf Roselores Beet im Hofe sah es noch nett aus. Die Geranien prangten im schönsten Rosarot, sie hatten sich prächtig entfaltet, und Meister Fleck sagte zuweilen mit stolzer Freude: »Der kleine Garten da drüben ist wie eines guten Menschen Herz.«

Von dem Plane, einen Dachgarten anzulegen, hatte Meister Fleck vorläufig abgesehen; aber den Hof wollte er umgestalten lassen. Roselores kleines Beet hatte es ihm angetan. An jeder Flügelfront des Hinterhauses sollten nun solche kleine Gärten erstehen, so daß der Hof davon eingerahmt war wie von einem bunten Kranze.

Roselore stand bei Meister Fleck am Fenster und beriet mit ihm über die Blumenarten, die im Frühjahre in den neuen Beeten gepflanzt werden sollten.

»Ich bin für Stiefmütterchen,« sagte Herr Fleck gefühlvoll. »Stiefmütterchen waren die ersten Blumen, die ich von dir bekam. So ein ganzes Beet mit bunten Stiefmütterchen muß wunderschön aussehen.«

»Vergißmeinnicht sehen aber auch schön aus,« meinte Roselore. »Und dann die hübsche Edelwicke, die so süß riecht. Und ›das fleißige Lieschen‹, kennen Sie die Blume, Herr Fleck?«

»Na, wir wollen mal sehen,« meinte der Hauswirt. »Was kommen soll, das kommt auch.« Er fing wieder an zu nähen, und Roselore wandte sich den spielenden Kindern zu.

Taddy spielte, durch die ganze Breite des Hofes von Roselore getrennt, unverdrossen mit seinem Gummiball. Jetzt war er schon kühner im Wurfe, schleuderte den springenden Ball weit von sich. Die spielenden Kinder, dadurch in ihrem Laufe gestört, begannen zu schelten. Aber Taddy wurde immer kecker und warf den Ball von sich fort mit aller seiner Kraft.

Der Ball flog gegen die Hausmauer, prallte ab und fiel nieder; mitten in das Beet blühender Geranien hinein.

Das Kind lief, ihn zu holen. Ungeschickt stieg es auf die Blumen, der kleine Fuß stolperte, und Taddy setzte sich platt auf die Erde. Wollte hochkrabbeln, kroch auf allen Vieren weiter, um seinen Ball zu fassen …

Da sprang Roselore herzu, ergriff ihr Brüderchen am Arm, zog den kleinen Schlingel auf die Füße und versetzte ihm einen herzhaften Klaps.

Aber was half das? Das Unheil war geschehen. Die hübschen Blumen, noch vor wenigen Minuten der Menschen Augenfreude, lagen zerknickt, zertreten am Boden. Das hübsche Beet war zerstört, es war hin.

Und Taddy brüllte, brüllte, daß es häuserweit schallte.

Roselore, selber in heller Aufregung, wollte den kleinen Kerl ins Haus bringen, um ihn der Mutter zuzuführen, damit diese ein gerechtes Urteil spreche, da vertrat ihr Pitt den Weg.

Hu, was für ein Gesicht machte Pitt! Er sah ganz entstellt aus. »Du meinen Taddy geschlagen hast!« rief er wütend Roselore zu und hob die Hand, um sie nun ebenfalls zu schlagen. Roselore war gewandt und kräftig. Sie wich dem Schlage Pitts aus. Er versuchte sie zu greifen, sie wehrte sich. Sie gerieten ins Ringen miteinander.

Der ganze Hof war voll Kinder, und alle standen da und schauten starren Blickes zu, wie Roselore mit Pitt rang.

»Hau ihn, hau ihn tüchtig!« feuerte Meister Fleck Roselore an. »Er hat's reichlich verdient.« Und die Meisterin, Frau Genovev', zeterte dazwischen: »Laß ab, Roselore, laß ab! Der hat ja mehr Kräfte als du!«

»Ein Ringkampf!« dachten die Kinder ringsum und staunten. »Ein richtiger Ringkampf, wie auf dem Sportplatz.«

Taddy hatte vor Staunen vergessen, daß er brüllen wollte. Er stand da neben dem zertrampelten Blumenbeet, mit offenem Mäulchen, den Ball in der Hand.

Und Meister Fleck, der den Blick ihm zuwandte, bemerkte es, welche Veränderung in dem lieblichen Kindergesicht vor sich ging. Mit sichtlichem, steigendem Grauen sah der Kleine zu seinem Freunde Pitt hin. Keine Spur mehr von der früheren Hingabe an seinen schwarzhäutigen Freund war bei ihm zu erkennen, die Abneigung gegen Pitt prägte sich immer deutlicher in Taddys Antlitz aus. Man konnte ihm die Gedanken von der Stirn lesen: »Nein, so einen Freund mag ich nicht haben. Hu, was für ein schreckliches Gesicht der Pitt macht!«

Und es dämmerte ihm wohl die Erinnerung an eine gute Lehre, die ihm Vera Teuerkaufs Bruder Bert einmal gegeben, als er in einer nichtsnutzigen Anwandlung den Korb mit Kartoffeln umgeworfen hatte, die Roselore beim Händler gekauft. Bert hatte gesagt: »So etwas tut man nicht, Taddy. Ein Bruder muß seine Schwester immer in Schutz nehmen, er darf ihr aber niemals einen bösen Streich spielen.«

Ja, Bert Teuerkauf war jetzt sein Freund. Von Pitt mochte er nichts mehr wissen.

Entschlossen hob er die Hände, die den Ball hielten, und schleuderte ihn gegen Pitt, damit dieser zu Fall käme.

Aber Roselore hatte ihren Gegner schon niedergerungen. Wie war es nur möglich gewesen! Pitt lag auf dem Boden, und Roselore prügelte ihn, so daß er heulend bat: »Gut sein, gut sein!« und wie ein Häuflein Unglück ins Haus humpelte. Roselore aber stand inmitten des Hofes, von den Kindern umringt, und weinte.

Ihre schönste Freude, ihr Blumenbeet war vernichtet!

»Das ist schlimmer und tut mir noch mehr weh als die Geschichte mit meiner Conchita,« klagte sie dem Meister Fleck. »Ach, keine Freude bleibt mir, alles wird mir zerstört. Ist es denn immer so im Leben, Meister Fleck?«

Er strich begütigend über ihr dunkles Köpfchen.

»Mach' dir nischt d'raus!« sagte er. »Was kommen soll, das kommt auch. Die Blumen hätten ja doch bald sterben müssen. In den nächsten Tagen kann Frost kommen, dann ist es mit der Blumenherrlichkeit vorbei. Aber dann is es immer so: aus dem Leide blüht Freude.«

»Der schwarze Bengel müßte weg,« fiel Frau Fleck ihrem Manne in die Rede. »Er ist mir schon lange ein Dorn im Auge.«

Meister Fleck nickte.

»Der Pitt ist ein Ungeheuer. Ja, Genovev'. Der gehört hier nicht unter unsere Kinder. Der muß fort!«

Das war leichter gesagt, als ausgeführt.

Frau Stelling erklärte ganz entschieden, daß sie Pitt nicht entbehren könne, denn er sei für sie eine billige Hilfskraft. Er könne schwerste Lasten tragen, ohne müde zu werden, und er tue alles, was sie ihn heiße. –

Die Frage wegen Pitt blieb also bis auf weiteres unerledigt.

Als die Tage kürzer wurden und trübes Wetter einsetzte, als die Kohlen herangeschafft waren, Holz genug geschlagen war, mischte sich endlich Großmutter Stelling ein und erbot sich, Pitt aufzunehmen, bis eine andere Unterkunft für ihn gefunden sei. Tante Loni nahm den schwarzen kleinen Kerl, der über die Trennung jämmerlich winselte und heulte, an einem Sonntagabend mit hinaus nach Biesenthal, wo er nun zwar gute und reichliche Kost, aber auch tüchtig Arbeit fand.

Als Pitt fort war, fand Roselore bedeutend mehr zu Hause zu tun als früher. Schon die Bewachung des kleinen Bruders, das Spielen mit ihm, die täglichen Spaziergänge erforderten viel Zeit und Mühe. Jetzt erst wurde Roselore gewahr, was Pitt geleistet hatte und wie nützlich er ihrer Mutter gewesen war. Aber sie überwand ihren Unwillen und zeigte sich stets willig und bereit zu allem, was die Mutter von ihr forderte. Sie wollte Siegerin über Pitt bleiben auf der ganzen Linie, wollte ihn ganz entbehrlich und überflüssig machen. Das war ihr Ehrgeiz, ihr ganzes Streben.

Infolgedessen kam sie jetzt weniger häufig zu Edith Winter; und wenn sie einmal wieder bei Winters vorsprach, dann schnitt es ihr tief ins Herz, daß die junge Malerin jetzt so wenig zu tun hatte und daher auch ihr Verdienst recht karg war. Mit krampfhafter Hoffnung hielt Roselore an dem Gedanken fest, daß für ihre liebe Edith nun bald die Stunde schlagen würde, wo sie keine Sorgen mehr trug, sondern sich frei und ungehindert der Ausbildung ihres Talentes widmen konnte.

Aber Edith Winter sah so bleich aus, so schmal … würde sie den Anbruch dieser Stunde noch erleben?

Roselore meinte, die Verhandlungen in der Erbschaftsangelegenheit könnten nicht langsamer und schleppender gehen, als es hier der Fall war.

Auf den Brief der Frau Winter und das Telegramm des Herrn Stelling hatte der Redakteur der amerikanischen Zeitung zwar geantwortet, daß er sich für die Sache interessiere und ihre Weiterverfolgung in die Hand nehmen würde; aber seit dieser Nachricht war schon wieder geraume Zeit verflossen, und man erfuhr nichts mehr. In einer deutschen Zeitung jedoch hatte man überhaupt noch nichts von einem Aufruf gelesen, daß sich die Erben des Herrn Sperling melden sollten.

An einem milden, klaren Sonntag befand sich Roselore wieder einmal in Biesenthal bei der Großmutter. Tante Loni war beim Räumen, sie rüstete zur Übersiedlung in ihr eigenes Heim, denn im November sollte Hochzeit sein. Das Lehrerpaar hatte eine hübsche Wohnung in einem Landhause gefunden, auf halbem Wege zwischen Biesenthal und der Stadt gelegen. Die Braut war nun willens, an Roselore einiges aus ihrer bisherigen Einrichtung abzugeben; das Mädel sollte eine Wäschekommode und einen kleinen Bücherschrank erhalten, und über die Auswahl der mitzusendenden Bücher wollte sich die Tante mit Roselore besprechen.

Im Flur der Gastwirtschaft »Zum wilden Jäger«, die Liesels Eltern seit Oktober übernommen hatten und wo Leontine Stelling wohnte, kam Liesel ihrer Freundin entgegengesprungen.

»Fräulein Stelling sitzt bei uns in der Gaststube und trinkt Kaffee,« meldete sie. »Sie läßt dir sagen, du möchtest ebenfalls mit hereinkommen und dich laben. Mutter hat Kuchen gebacken.«

»Fein!« sagte Roselore und öffnete die Tür zur Gaststube. Aber sie blieb auf der Schwelle vor Überraschung stehen. Da stand ja Pitt, ihr schwarzer Pitt, mit weißer Jacke, Schürze und Mütze angetan, und trug den Gästen Kaffee und Kuchen herzu; und sein Gesicht lachte dabei so froh, daß die weißen Zähne mit dem weißen Zeug, das er trug, um die Wette leuchteten.

Sie begrüßte die Tante … dann reichte sie Pitt die Hand, denn er stand dicht neben dem Tische, die Serviette schwenkend, der Wünsche des neuen Gastes gewärtig.

»Pitt,« sagte sie herzlich. »Ich freue mich, dich wiederzusehen!«

Dem schwarzen Bengel schossen die Tränen in die Augen.

»Oh, Rose lieb, gut sein, immer gut sein, Rose lieb!« stammelte er.

Und er war schon wieder davongesprungen, um ihr Kaffee und Kuchen zu bringen, ehe Roselore es sich recht versah. –

Man sprach von dem Abschiedsfeste für die fortziehende Lehrerin. Die Braut wollte ein Kinderfest im Saale des Wandlerschen Gasthauses veranstalten; Großmutter Stelling hatte sich mit den übrigen Lehrern in Verbindung gesetzt, die ein Programm vorbereiten wollten.

»Wir sammeln auch für ein Abschiedsgeschenk! – Ach nein, ein eigentlicher Abschied wird es ja nicht – also für ein Hochzeitsgeschenk. Aber was wir schenken werden, das verrate ich dir nicht. Du plauderst es sonst vielleicht aus,« erzählte ihre Freundin Liesel Wandler.

Roselore schien etwas beleidigt. »Hab' ich schon jemals …?« fragte sie.

»Ich kann's dir nämlich wirklich nicht sagen,« lachte Liesel, »weil wir selber ja noch nicht wissen, was wir schenken werden. Es kommt darauf an, wieviel Geld zusammengebracht wird. – Was wirst du denn zur Hochzeit schenken?« fragte sie neugierig.

Roselore hatte darüber noch gar nicht nachgedacht. O weh! Zu einer Handarbeit war es jetzt viel zu spät. »Das weiß ich selber noch nicht,« sagte sie zaghaft.

Nachher gingen sie im Garten spazieren, denn die Witterung war noch mild und klar.

»Wir haben einen neuen Ziegenbock,« sagte Liesel. »Den muß ich dir einmal vorstellen.«

Sie öffnete die Stalltür, Roselore staunte.

»Was für ein schönes Tier! Und was für große Hörner er hat! Darf man ihn einmal streicheln?«

»Er ist ganz zahm,« beruhigte Liesel.

Aber, oh weh! Die Stalltür war offen geblieben. Das Tier schnupperte die frische Luft, die hereindrang, und der Strick, der es an seinem Platze festgehalten hatte, mochte nicht gut geknotet gewesen sein … mit einem kecken Satze sprang der Ziegenbock zur Tür hinaus. Kreischend schossen die beiden Mädel hinter ihm her.

Eben kam Pitt des Weges, ein Tablett mit Geschirr in den Händen tragend. Vor dem Gasthause hielt ein Auto, dessen Insassen nach einer Stärkung verlangten.

Der Ziegenbock, wohl überrascht durch die weißschwarze Erscheinung des Kellners, sprang hinter Pitt her. Und Pitt fing an zu laufen, daß die Tassen auf dem Tablett nur so klapperten.

»Welch' ein Held!« sagte Liesel beherzt, bückte sich nach dem nachschleifenden Strick, gab ihn Roselore zu halten, sprang voraus, so daß sie vor dem Ziegenbock stand, faßte seine Hörner und sagte nur: »Du, du!«

Und das Tier rieb seinen Kopf an ihrem Kleide und ließ sich gutwillig in den Stall zurückführen.

Pitt stand da und starrte den beiden Mädels nach.

»Weiße deutsche Mädchen sein mutig und tapfer,« sagte er. »Haben Kräfte wie Riesen. Und sein so lieb, so lieb und gut!« Und er summte wieder die wehmütige Weise seines Lieblingsliedes.

Die Insassen des Autos steckten die Köpfe zusammen. Eine Dame hatte mit Geistesgegenwart eine Momentaufnahme von der kleinen Szene gemacht.

»Hier wollen wir öfters herfahren!« hörte Roselore sie sagen. »Da bringt man wenigstens nette Bilder mit heim.« Und das Auto stob wieder davon.


 << zurück weiter >>